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Hans Wahl


VARIATIONEN VOM

TOTENTANZ


Mit ERINNERUNGEN AN HANS WAHL

Redigiert, kommentiert, illustriert und ediert von Hans Peter Wahl



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Gewidmet sei die kleine Schrift meiner Schwester Suzannah Fleming-Wahl, welche sich leidenschaftlich mit dem Kultischen befasst, aber dennoch couragiert und neugierig mit Rollstuhl und Rollator im Diesseits herumkutschiert. «

O wundersüeßer Odem, o bitterschwartzer Tod, Ausz beydem ist gebacken das hartte Aerdenbrod» (Hans Wahl aus *Der Unscheinheilige»)

©2015, ZO Zürcher Oberland Medien AG /ZO-Verlag, CH-8620 Wetzikon ZH

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Satz und Druck: DT Druck-Team AG, 8620 Wetzikon ZH

ISBN: 978-3-85981-272-7



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VARIATIONEN VOM TOTENTANZ


l. TEIL: MEMENTO MORI (ein Spielfragment)


1. Vorhaben

Unter den nachgelassenen Schriften des Schaffhauser Märchen- und Legendendichters Hans Wahl (1902-1973) fand sich auch ein maschinenschriftlich ausgefertigtes, zwölfzeiliges Gedicht, das einen Totentanz thematisiert. Da mich der eindringliche Sprachrhythmus nicht mehr losliess, beschloss ich, die Verse im Gedichtheftchen «gesponnen und gereimt» zu veröffentlichen (2011); zwei Jahre später habe ich diesen Text meines Vaters im ähnlich betitelten Hörbuch «gestrickt, gesponnen und gereimt» vorgetragen (2013). Kürzlich ist im gleichen Nachlass ein unauffälliges, liniertes Schulheft aufgetaucht, das auf den ersten 10 1/3 Seiten handgeschriebene Entwürfe zu einem eigentlichen Totentanz-spiel aufweist. Freunde der Dichtkunst von Hans Wahl haben mich gebeten, diese Bruchstücke eines Spieles zu rekonstruieren und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Ja, wenn das alles so einfach wäre! Wenn ich mich auf dieses Vorhaben einlasse, dann geschieht dies ohne wissenschaftliche Ambitionen, betrete ich doch damit von meiner Ausbildung und bisherigen Tätigkeiten her gesehen Neuland. Was mich antreibt ist, zu erfahren, «ob der Tod... viele Masken» hat, wie mein Vater im Märchen «Das Patengeschenk» versichert, und ob das Makaber- Thema eine Entwicklung durchläuft, womit der Titel «Variationen vom Totentanz» gerechtfertigt wäre.

Schliesslich geht es mir auch um das Vergnügen des geneigten Lesers, wenn das dann überhaupt die richtige Bezeichnung für das ist, was man sich bei der Lektüre von Totentanz-Literatur erhoffen mag... Für Aufhellung soll die nähere Bekanntschaft mit meinem Vater, dem Dichter und Zollbeamten (der mit dem Diebsbein in der Brust?), im zweiten Teil meiner Schrift sorgen.


2. Vorgehen

Es darf nicht übersehen werden, dass es sich bei den handschriftlichen Notizen von Hans Wahl um ENTWÜRFE handelt und ein Konzept für ein Totentanz-Spiel allenfalls als Rohskizze erkennbar ist. Die Lesbarkeit leidet teilweise unter dem flüchtigen Schriftbild. Um die dem Spiel zugrundeliegende Fassung zu verdeutlichen, lege ich die Manuskripte meines Vaters faksimiliert auf der linken Seite unserer Publikation vor und stelle ihnen auf der anderen Seite die (nach meinem Dafürhalten) am meisten überzeugenden Versionen in Maschinenschrift gegenüber. Das Leseverständnis soll weiter erleichtert werden, indem über die einzelnen Gespräche Zwischentitel gesetzt und die Personenkürzel ausgeschrieben werden. Rechts von der maschinenschriftlichen Textversion werde ich einige Kurzkommentare im Schriftbild der ANTIQUA anbringen, frisch von der Leber weg, wenn diese Formulierung bei den makaberen Themen statthaft ist. -Ich habe übrigens nicht vor, den verschiedenen Textvarianten bis in alle Verästelungen nachzusteigen; ich überlasse dies lieber dafür besser geschulten und am Gegenstand besonders interessierten Lesern. Ich werde indessen meine (zugegebenermassen subjektive, ja vielleicht sogar parteiische) Meinung kundtun, wenn es um die Bewertung der Schriften meines Vaters geht.



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Nochmals sei daran erinnert, dass es sich bei fast allen Texten des Totentanzspiels um blosse, zuweilen offenbar in Zeitnot verfasste Entwürfe handelt, und bei Sturzgeburten wirkt das Neugeborene zunächst oft etwas zerknittert und ungepflegt. Es sollen hier nicht die aus der Literaturgeschichte hinlänglich bekannten Dichternöte nochmals aufgetischt werden, doch ich fühle mich stets befangen und etwas beschämt, wenn ich die Zeilen lese, die mein Vater am 6. Mai 1960 seinem damaligen Verleger Dr. Walther Meier vom Morgarten-Verlag Zürich geschrieben hatte:

«Mit den «Märchen» komme ich langsam voran. Ich habe nun ca. zehn Stück überarbeitet und es verbleiben wohl weitere zehn, die ich noch striegeln und kämmen muss. Beruf und Familie beanspruchen eben einen grossen Teil meiner Zeit und zwischen diesen zwei gewichtigen Wackersteinen vermag das Kräutlein oder Unkräutlein Poesie nur spärlich gedeihen, was vielleicht auch kein Schaden ist.))

Und dennoch verdrängt das Gefühl des Dankes für die geistige Hinterlassenschaft alles an Selbstzweifeln oder Schuldempfinden auf wundersame Weise.

Im zweiten Teil der kleinen Schrift soll die Erzählung «Das Patengeschenk» von Hans Wahl erscheinen -quasi als Gegenstück zu seinem «Spielfragment». Die Erzählung ist 1981, also erst acht Jahre nach dem Tode des Verfassers, zusammen mit 46 weiteren Kunstmärchen, im Sammelband «Der Kristallene Schlüssel» veröffentlicht worden. Es sollen zwischen den zwei Dichtungen, die sich beide u. a. mit Totentänzen befassen, Gemeinsamkeiten und Abweichungen ermittelt werden auffällig ist z.B. im «Patengeschenk», dass die Initiative zum Totentanz, nicht wie üblich, vom Knochenmann ausgeht, sondern von zwei Menschen: Im ersten Fall erkennt zwar die junge Frau erst nach geraumer Zeit, wer ihr gewünschter Tanzpartner wirklich ist; im zweiten Fall zwingt junge Mann in vollem Bewusstsein, mit wem er sich einlässt - den finsteren Gevatter sogar zum Totentanz...

Der dritte Teil unseres Heftes mit dem Titel «Einige Stimmen zum Schrifttum von Hans Wahl» weist nach, dass die literarischen Texte des Dichters heute noch so geschätzt werden wie ehedem; dieser ANHANG zu den Teilen 1 und 2 ist auch als selbständiger Separatdruck konzipiert worden.

3. Vorreden, Bereden, Widerreden, Zureden usf.

Dem Sensenmann sei endlich das Recht eingeräumt, eine Vorrede zu halten, spielt er doch -auch heute noch! - bei Totentänzen einen wichtigen Part. Sein Prolog bilde das eingangs sub Ziffer 1 erwähnte Gedicht, das von Hans Wahl bereits auf der Maschine weitgehend «ins Reine» geschrieben worden ist. Wenn man diese Verse in Faksimilie zeigt, gewahrt man wenige handschriffliche Korrekturen, die das Rhythmische noch markanter zur Geltung bringen. Im Gegensatz zu den im Schulheft aufgefundenen Versen sind beim «Prolog» an den Zeilenenden Interpunktionen gesetzt wir übernehmen ihn in dieser Form unter dem Titel: a) Der Tod spricht zu den Menschen.



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EINSCHIEBSEL:

Blick auf das Osterspiel von Muri/AG 2014 (muritheater)

Unter dem Motto: «La mih berüren dih» rasen im Klostertor Muri/AG vom 23. Juli bis 30. August 2014 Freilichtafführungen der Oster-Spiele Muri 2014 stan, und zwar in Form einer Neuiterpretation des im 13. Jahrhundert entstandenen, gleichnamigen ältesten Theaters in Deutscher Sprache - Bei diesen, von der Kritik sehr wohlwollenden beurteilten Aufführung im stimmungsvollen Klosterhof, bildete das Gedicht «Totentanz» von Hans Wahl jeweils einen der markanten Schlusspunkte.

Abdruck der Fotos, der Zeichnung und der Texte aus dem Programmheft 2014 in unserer Broschüre mit freundlicher Genehmigung von Frau Barbara Schlumpf, Autorin und Regisseurin des Osterspieles Muri 2014.



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So

muritheater


HOFERHASES TOTENTANZ MIT SOPHIE


TOTENTANZ

Schweigt, schweigt, schweigt,
Gekommen ist die letzte Not,
Ich bin bei euch, ich bin der Tod.
Und was ihr tragt in eurer Brust,
Ich spiel's euch auf zur letzten Lust.
Ihr habt getanzt ein Leben lang,
So tanzt auch jetzt beim letzten Gang
So tanzt und tanzt und tanzt.
Und hebt das Bein zum letzten Schritt
Und tanzt allein, tanzt alle mit,
Und tanzt hinein, zur letzten Ruh,
Auch du und du und du.

Hans Wahl (1902-1973)

1944 erhielt der Schaffhauser Dichter den Buchpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Abdruck und Verwendung im Spiel mit freundlicher Erlaubnis seines Sohnes, Hans Peter Wahl. Komponiert von Jimmy Gmür, fürs Osterspiel 2014.

Gesungen und gespielt von Hoferhase/Niklaus Meyer.

Schweigt, schweigt, schweigt,
Gekommen ist die letzte Not,
Ich bin bei Euch, ich bin der Tod.
Und. was ihr trägt in eurer Brust,
Ich spiel es auf, zur letzten Lust.
Ihr habt getanzt ein Leben lang,
So tanzt auch jetzt beim letzten Gang,
Tanzt, tanzt, tanzt.
und hebt das Bein, zum letzten Schritt,
  Und tanzt allein, tanzt alle mit,
Und tanzt hinein, zur letzten Ruh,
Auch du und du und du.


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a) Der Tod spricht zu den Menschen

Schweigt, schweigt, schweigt,
Gekommen ist die letzte Not,
Ich bin bei euch, ich bin der Tod.
Und was ihr tragt in eurer Brust,
   spiel's euch auf zur letzten Lust.
Ihr habt getanzt ein Leben lang,
So tanzt auch jetzt beim letzten Gang,
So tanzt und tanzt und tanzt.
    hebt das Bein zum letzten Schritt,
Und tanzt allein, tanzt alle mit,
Und tanzt hinein, zur letzten Ruh,
Auch du und du und du.

Das ist der gefürchtete Finsterling mit Sense oder Grabscheit, der Würger und Herr der Schlachten und Pestilenzen. Mit unwirscher Stimme fordert er die angstbebenden Menschen zum Schweigen auf und nötigt sie gleichzeitig zum Totentanz. Die bedrohliche Wucht der Aussagen macht beklommen - man hört bei der letzten, dunkel gefärbten Zeile förmlich, wie die Erdklumpen mit dumpfem Klang ins Grab kollern. Ob es dem Tod bei Hans Wahl jemals gelingen wird, seinen finsteren Schatten abzuwerfen?

Einen derartigen Ausbruch von verbaler Gewalt im künstlerischen Bereich habe ich eigentlich nur erlebt, wenn in Wagners Götterdämmerung der Bassist Gottlob Frick als Hagen beim Mannenruf seine nachtschwarze Stimme erschallen liess...

Die Zeichnung auf der Frontseite stammt, leicht überarbeitet, aus dem Märchenbuch «Der kristallene Schlüssel» von Hans Wahl (S.107). Hier soll sie den unheimlichen und gewalttätigen Tod im Sinne des obigen Prologes darstellen: Eben hat er sein Werk getan, die Gräber mit Toten gefüllt und hernach zugeschüttet; jetzt macht er sich auf zu einer anderen Wirkungsstätte.

Nebenstehend und unten finden sich Ausführungen aus dem Programmheft zum OSTERSPIEL VON MURI 2014 über die Verwendung des von Hans Wahl verfassten Prologes auf der Bühne (S. 19). Das Gedicht «Totentanz» wurde am Schluss der Vorstellung in gesungener Form von einem Schauspieler vorgetragen; nach meinem Eindruck nahm die geschmeidige Komposition von Jimmy Gmür dem Text etwas von seiner Schärfe, so dass eine zarte Hoffnung auch auf das Jenseits aufzukeimen vermochte eine Schlussempfindung, die ja einem Osterspiel nicht schlecht anstehen dürfte.


HASE ALS TOTENTÄNZER HUND ALS SEELENFÜHRER

Der Hase ist ein häufiges Bildmotiv, in den verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Aus der Antike kommt die Deutung des Hasen als Sinnbild von Lebenskraft, Wiedergeburt und

Auferstehung. Hier liegt die Wurzel für Darstellungen im Zusammenhang mit dem christlichen Osterfest. Es gibt aber auch das Bild des Angsthasen, Symbol für Furchtsamkeit und Feigheit. Dazu kommen seine Wachsamkeit und Schnelligkeit, was auch als Sinnbild für die rasch dahineilende Lebenszeit erscheint. In unserem Spiel ist der Hase - im Zusammenhang mit der Auferstehung -Metapher für Tod, Verwandlung, Übergang.


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b) Der Tod und der Soldat

Der Tod:
Soldat die Reihe ist an dir
Steh auf, meld ab, marschier
Der Soldat:
Wär gern geblieben, meiner Seel,
Indes Befehl ist mir Befehl
Soldatenliebchen kommst doch mit
Marschiere mit im Schritt und Tritt
Der Tod:
Das Liebchen muss dir untreu sein
Den letzten Schritt macht man allein
Der Soldat:
Leb wohl du Leben schön und reich
Der Tod spielt auf zum Zapfenstreich

c) Die Schöne, der Reiche und der Soldat

Die Schöne: Er ist so herrlich jung
Der Reiche: Und ich bin schrecklich reich.
Die Schöne: Er liebt mich.
Der Reiche: Ich zahle gut.
Der Soldat: bist so schön
Der Reiche: Du bist ein kluges Mädchen

d) Der Tod und die Schöne

Der Tod:
Schönlieb steh auf und lüpf das Bein
Jung Weib steh auf, tanz ganz allein
Ich denk ein Walzer muss es sein!
Die Schöne:
Ach pflück die Frucht, du lauter Tod
Erst wenn sie reif und rund und rot
Der Tod:
Ich greif dich nicht, ich rühr mich kaum
Die Frucht fällt selbst vorn grünen Baum
Die Schöne:
Mich fasst die Lust, ich muss mich drehn
Und flammend in der Flamme wehn

Beinahe vermeint man einer dienstlichen Unterredung zweier Militärpersonen verschiedenen Ranges beizuwohnen, so nüchtern wirkt der Dialog. Der Soldat scheint vom Typus her jenen Tausenden von jungen, unglückseligen Männern anzugehören, die sich zeitgenössischen Berichten zufolge bei Beginn des ersten Weltkrieges voll naiver Begeisterung und patriotischer Hochstimmung an die Front treiben liessen, um dort einen gar nicht heroischen Tod zu sterben. Ein in seiner gradlinigen Offenheit nicht unsympathischer, aber auch wenig nachdenklicher junger Mann, das ist unser Soldat fürwahr.

Mit einfachsten Strichen gelingt es Hans Wahl, die Dreierbeziehung zwischen zwei rivalisierenden Männern und einer Frau sowie die Wesenszüge dieser Menschen zu skizzieren. Im Nu erstehen vor unseren Augen der schwärmerische Jungsoldat, der nur seine Geldkatze heiligende Reiche, die sich verführerisch gebärdende Schöne, die sich aber auch nach Liebe sehnt. Die kargen Sätze lassen vermuten, dass der Verfasser bewusst den nach dem 2. Weltkrieg aufgekommenen «Lapidarstil» imitieren, wenn nicht gar parodieren wollte...



Weibliche Schönheit lässt auch den hartgesottenen Tod nicht unberührt: Die Sätze werden länger geschmeidiger bildkräftiger als zuvor Fast wird der Sensenmann zum Charmeur: «Ich denk ein Walzer muss es sein!» Die Galanterien fachen die Lebenslust der Schönen noch an.



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e) Der Tod singt fur die Menschen eine neue Weise (Amsellied)

Achtung Achtung
Wer Semmeln isst, wer schwarzes Brot
Wer glücklich scheint, wer voller Not
Horch auf, hör zu, hier spricht der Tod
Ich bin Westen und im Ost
Im Feuerschein, im Winterfrost
Ich bin Norden und im
Im Morgenrot, im Abendlied
Ich bin Euch nah, bin miner da
In allem was das Leben gibt.
Und spiel Euch auf was Euch beliebt
Leichte Musik, ganz leichte Musik

Es existieren vom nebenstehenden Gedicht drei Fassungen mit eher geringfügigen Abweichungen; die erste durchgestrichene Version erscheint hier in Faksimilie, die zweite in Maschinenschrift, der dritten habe ich den Nebentitel «Amsellied» entnommen.

Das sind nun freilich andere Töne, die hier der Tod anstimmt, als früher im harschen Prolog. Und auch vom nüchternen Kasernenhofton in der Unterredung mit dem Soldaten oder vom charmanten Galanterieton gegenüber Schönlieb ist aus den Versen des Amselliedes kaum etwas zu hören. Nicht dass dieser Tod seine Pflicht vergessen hätte: Streng erfolgt sein doppelter Ruf: «Achtung», womit er sich die Aufmerksamkeit für sein Lied verschafft. Es kündet von seiner nach wie vor weltweiten Präsenz und seiner steten Gegenwart in jedem Leben. Doch allmählich wachsen diesem Tod auch die Töne von der anderen Seite zu. Das zeigt schon die Wortwahl: Von «Feuerschein», von «Winterfrost», von «Morgenrot» und «Abendlied» wird da gesungen; «Ich bin Euch nah, bin immer da in allem, was das Leben gibt», so heisst es im Amsellied weiter. Eine Sehnsucht nach menschlicher Nähe scheint diesen Bruder Hein zu begleiten, der vielleicht in Wirklichkeit gar ein Engel ist?

zu «memento mori» Der Titel «Amsellied» dürfte gar nicht so schlecht passen, deckt doch der melodienreiche Reviergesang des jungen Amselhahnes so manches an ähnlichen Empfindungen ab, wenn sich die Menschen auf die Botschaft des Todes einlassen. Was der Vogel selbst bei seinem Imponiergehaben genau fühlt, ist vorderhand sein Geheimnis...



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f) Der Auftritt des Narren

Narr tänzelt die Treppe herunter und trällert: Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins - und Null. So, da bin ich wieder unten, ganz unten, gewissermassen auf dem Nullpunkt. Ich komm mir vor wie ein Wetter frosch: Himel heiter - oben an der Leiter, Aussicht auf Niederschlag - unten unter Tag. Und jetzt beginnt das alte Spiel von neuem. Oder sagt man, das neue Spiel beginnt von altem? Ich weiss es nicht genau. Die Worte klappern durcheinander und erhalten einen andern Sinn. Es sei sinnlos, und ich ein Narr sagen die Festgefügten, die keine Stirnen hören, und die ins Dunkel schauen, ins Dunkel wo die vielen toten Augen sind. Das Spiel beginnt. Wie es wohl enden mag? Ende gut, alles gut. Alles gut, Ende gut (lacht vor sich hin). Das Spiel beginnt, zuerst mit der Stimme aus dem Kasten. Soll ich sie hören, soll ich sie meiden? Ach, es nützt mir doch nichts Sie ist doch inner da, auch wenn sie schweigt. Dreht den Radio an Es genügt, es genügt.

Der Narr gibt mir in diesem Spielfragment bisher die grössten Rätsel auf. So scheint er am wenigsten in das Geschehen integriert iu sein: Er tänzelt eine Treppe herunter, wo ist das? In einem «Drinnen» oder in einem «Draussen»? Ist er ein Gefangener oder besitzt er seine Freiheit? Ist er nur Beobachter oder vermag er auch in das Geschehen einzugreifen? Der Narr gebraucht gerne Sprichwörter, die er dann umdreht, so dass sich ihr Sinn ins Gegenteil verkehrt. Weshalb tut er dies? Um zu beweisen, dass nichts Bestand hat auf dieser Welt? Ist der Narr ein Realist, Relativist, Nihilist oder gar ein (versteckter) Moralist? Ganz behaglich ist es ihm offenbar doch nicht angesichts des Dunkels, «wo die vielen toten Augen sind». Und was hat es mit «der Stimme aus dem Kasten» auf sich? Schliesslich eine Frage noch zur Redeweise des Narren: Warum befleissigt er sich jenes «Lapidarstils», den zwar sein Schöpfer auch ganz gut beherrscht, der aber doch nicht die eigentliche Sprache von Hans Wahl ist? Der geneigte Leser möge anerkennen, dass auch ein Sohn vor Kritik am Schrifttum des Vaters nicht scheut, wenn es ihn nicht überzeugt. Hier Auftritt des Narren lautet das Verdikt: Es genügt nicht.

«Das Spiel beginnt. Wie es wohl enden mag? Ende gut, alles gut. Alles gut, Ende gut» (lacht vor sich hin).


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g) Der Narr begegnet Menschen und dem Tod

Der Narr:
Guten Tag mein reicher Herr.
Wie gehen die Geschäfte?
Der Reiche:
Es ist Krieg
der Narr:
Dann gehen sie gut, sehr gut.
(Wendet sich an die junge Schöne)
Guten Tag schöne Frau.
Was macht die Liebe?
(sie antwortet nicht).
Wie gehen die Geschäfte?
(sie schaut ihn ganz an, worauf
er sich schulter zuckend an den
nächsten Menschen wendet).
Geh schau, ein Soldat.
Was macht der Krieg?
Der Soldat:
Wir marschieren.
Der Narr:
Wohin?
Der Soldat:
Das weiss ich nicht.
Der Narr:
(Summt): Wir marschieren,
wir marschieren und wissen
nicht wohin.
(Wendet sich an die alte Frau)
Guten Tag Mütterchen.
Was macht der liebe Gott?
Man hört so wenig von ihm.
Ist er tot?
Der Tod:
Gott lebt ewiglich
Der Narr:
(ernsthaft) Gottlob.

Gegenüber seinem vorherigen, eher konturlosen Auftritt scheint der Narr bei den Begegnungen mit den Menschen doch wieder etwas an Statur zurückgewonnen zu haben. Zwar legt er mit seiner unverfrorenen Fragerei und den hämischen Kommentaren zu den eingeholten Antworten einen Zynismus an den Tag, der abstossend wirkt. Doch, und das ist ihm vielleicht zugute zu halten, diese Einstellung zur «Geschäftemacherei» ist heute gang und gäbe. Der geneigte Leser mag jetzt stirnrunzelnd feststellen, dass ich nach bester Juristen-(Un-) Art mit meiner Meinung laviere. Aber oft erweist sich die Maxime: «Qui dicit de uno, negat de altere» im Leben wie in der Literatur als zu eng..

Bemerkenswert ist jedenfalls was sich am Schluss der Begegnung des Narren mit den Menschen abspielt: Auf seine verfängliche Frage an die alte Frau, man höre so wenig vom lieben Gott ob er tot sei?, antwortet an ihrer Stelle der Tod mit den Worten: «Gott lebt. ewiglich. » Diese feste Botschaft aus berufenem Mund macht den sonst so geschwätzigen Narren kleinlaut; er vermag nur noch als Antwort zu stammeln: «Gottlob». Und diesmal meint es der Narr mit seiner Antwort ernst sehr ernst Ob er wohl doch ein (versteckter) Moralist ist? - Ob ich bei meinem Vater Abbitte tun muss?


Als ägyptische Felsentaube war sie bei der Sintflut Noahs Kundschafterin. Später wurde sie, nunmehr meistens weiss befiedert, zum weitverbreiteten Symbol des Heiligen Geistes. Als Hoffnungsträgerin erscheint mir die Taube wie der fliegerische Gegenpart zum Totenvogel (s. S. 62 f.).


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h) Die Ansprache des Narren zu den Menschen und zu sich selbst

Der Narr oben an der Treppe
Achtung, Achtung.
Das Spiel ist aus,
Geht nun nach Haus
Und spielet Eure Spiele,
Es gibt ja deren viele
Guten Abend Herrschaften oder guten
Morgen. Hier unten ist es dunkel,
wie in einem Grab. Gleich wird es hell
werden, wir sind also noch einmal gut
davongekommen, die halbe Stadt liegt in
Trümmern, aber das Haus steht,
unser Haus steht und das ist
schliesslich die Hauptsache für einen
Hausbewohner.
Endlich brennt' a.
Ein Kerzenstummelchen[?] nur,
aber wie[?]. Na, alles schon ausgeflogen?
Die Herrschaften hatten es aber eilig
wegzukommen [andere Version unleserlich]
Nun wird jeder wieder seinen Geschäften
nachgehen; Der Reiche rafft, die Schöne
liebt, der Soldat marschiert, das Kind
spielt und die Alte betet.
Und ich, was tu ich so ganz allein?
Ich rassle mit den Schlüsseln kling klang.
Ich schliesse die Türe auf und zu.
Die Tür fällt zu, die Tür geht auf,
das ist ein ganzer Lebenslauf. Ach was,
spielen wir Musik, leichte. Musik.
(Dreht den Apparat auf. Der Vorhang fällt)

Allmählich wird die Funktion des Narren im Spielfragment von Hans Wahl deutlicher. Zum einen agiert er wie ein Chronist des Geschehens: Wir erfahren durch ihn, dass das Totentanzspiel trotz einiger Anklänge an frühere Epochen in der Neuzeit stattfindet (Musikapparat und Radio beweisen es). Ja, die Zeit des Geschehens könnte wahrscheinlich noch näher eingegrenzt werden, sinniert doch der Narr darüber, wie die halbe Stadt in Trümmern liege und wie eilig es die Herrschaften mit dem Wegkommen gehabt hätten. Das erinnert stark an dramatische Vorkommnisse im Schaffhausen des zweiten Weltkrieges. Mein Vater hat die Bombardierung vom 1. April 1944 hautnah miterlebt.

Zum andern wirkt der Narr als eine Art von Spielleiter, der die Leute begrüsst, sie auf dem Laufenden hält und ihnen die Einkehr der Normalität ankündigt («Der Reiche rafft, die Schöne liebt, der Soldat marschiert, das Kind spielt und die Alte betet»).

Zum dritten schliesslich steht auch unserm Narren, wie allen Angehörigen seiner Zunft, das Privileg zu, Wahrheiten (oder Albernheiten) ungeschminkt (oder verschlüsselt) kundzutun. Zu welcher Kategorie gehört wohl die Sentenz: «Die Tür fällt zu, die Tür geht auf, das ist ein ganzer Lebenslauf.»? Immerhin erinnert das Bild von den beiden Pforten an das Geheimnis von Geborenwerden und Sterben, auch wenn es vom Narren nur beiläufig erwähnt wird. Vielleicht hat der Narr sogar einen Posten als Türsteher und Schlüsselbewahrer zu den Mysterien unseres Daseins inne. Dass er eventuell deswegen eine im Vergleich zum Reichen, zur Schönen, zum Kind usf. - verstärkte Psychologisierung erfahren hat, mag man ihm verzeihen; ich jedenfalls stehe dem Narren jetzt versöhnlicher gegenüber als bei seinem ersten Auftritt (auch wenn gewisse Rätsel ungelöst bleiben).

Eine Wetterhexe bringt sich über der Munotstadt in Stellung; Es muss dies jedoch noch vor dem 13. April 1799 geschehen sein, denn die Grubenmannsche Brücke überspannt unversehrt den Rhein...


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Viel, viel schlimmer als das Gewitter, das im Märchen durch die Gassen tobte und Ziegel von den Dächern fegte, war es für die Schaffhauser einige Generationen später, als bei einem alliierten Bombenangriff auf ihre Stadt am 1. April 1944 zunächst 37 Menschen ums Leben kamen; die Zahl der Todesopfer sollte schliesslich auf 40 ansteigen. Noch sehe ich mich als Fünfjähriger an der Hand meiner Mutter von der Munotpromenade aus auf die heimgesuchte Altstadt blicken: zahlreiche Rauchschwaden verdüsterten die Sicht.

Glückliche Umstände hatten es verhindert, dass ich, wie sich das seit geraumer Zeit so eingespielt hatte, meine Mutter morgens beim Einkaufen in die Innenstadt begleitete, um hernach auf dem Bahnhof die «Tschitschibahnen», das waren die deutschen Züge mit ihren grossen Dampflokomotiven, bestaunen zu dürfen. Dann folgte regelmässig noch ein Besüchlein von Mutter und Kind beim Vater auf seinem Arbeitsplatz im obersten Stock des nahegelegenen Gebäudes der Zollkreisdirektion. Der Aufenthalt an diesen neuralgischen Pukten und zu den kritischen Zeiten kam jedoch ausnahmsweise gerade an diesem 1. April 1944 nicht zustande: meine sonst so unternehmungslustige und vitale «Momm» fühlte sich bereits nach dem Erwachen an diesem Schicksalstage so matt und abgespannt, dass sie beschloss, die Wohnung nicht zu verlassen.

Zum ersten Mal in meinen noch jungen Jahren hatte mich ein Zipfel seines dunklen Gewandes flüchtig berührt, ganz zufällig, ja ungewollt erschien dieser Kontakt zu sein; und gleichwohl war mir von nun an, zwar anfangs nur verwischt und schemenhaft, seine Gegenwart zur Gewissheit geworden. Heute sehe ich ihn deutlicher, und immer mehr gewinnt er an Konturen. Allmählich erschallt sein früher nur gewispertes, später dann geflüstertes: «Ich bin Euch nah, bin immer da, in allem was das Leben gibt», mit immer lauterer Stimme. Er spricht seine Verse zur Zeit in einem markanten Bariton, doch wirken diese Klänge immer noch so, als seien sie «draussen, vor der Tür» entstanden. Es dröhnt jenseitige Organ noch nicht so mächtig, dass es in der Runde alles übertönen könnte. Noch höre ich die Amsel singen, den Wind seufzen, das Jubelgeschrei der spielenden Kinder, noch...



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K. tanzt schlaftrunken

Hält ein, von Traum gepeinigt,

K. "Mir träumte von der grossen Not"
St. "Schau Kind, das schöne Morgenrot'

K. tanzt weiter

K. "Mir träumte von dem langen Krieg"
St. "Horch Kind, die Stille hat den Sieg"

K. tanzt weiter

K. "Mir träumt ich würd die Mutter sohn"
St. "Komm Kind, wir wollen zu ihr gehn"

K. tanzt weiter

K. "Mir träumt, von einem Rosenkranz"
St. "Tanz Kind mit mir; mein Kindlein, tanz"

K tanzt hinaus.

Wach auf mein Kind, ich tu dir kund;
Zum letzten Tänzlein schlug die Stund.


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i) Der Tod und das Kind

Der Tod:
Wach auf mein Kind, der Morgen glüht,
Blick, Röslein rot, bist bald verblüht
Das Kind:
Was weckst Du mich, derweil ich schlief
Der Tod:
Bald schläfst du wieder, lang und tief
Das Kind:
Ich möcht zu meiner Mutter gehn
Der Tod:
So tanze denn zum Wiedersehn
Das Kind:
Ich möchte auch das Püppchen mein
Der Tod:
Tanz Püppchen, tanz den Ringelreihn
Das Kind:
Mir ist w schwer und bang zumut
Der Tod:
Tanz, tanz dann wird's dir leicht und gut
Weit ist der Weg ins Paradeis
Blick hin [Rekonstruktion nicht endgültig]
mein Röslein welk und weiss.
Der Tod hatte regungslos zugeschaut, wie
der Musikant entwich. Jetzt ging' in seinen
nachtdunklen Augen ein sehnsüchtiges
Lächeln auf, das sein hartes Antlitz verschönte,
           bis er ganz dem Engel glich,
der er wirklich und wahrhaftig war (Der
kristallene Schlüssel, S. 205).

Mit Feingefühl, ja geradezu fürsorglich, behandelt der Tod das Kind, das abzuholen sein Auftrag ist. Die Anrede «Röslein rot» hat sogar etwas Zärtliches an sich. Und auf die Wünsche des schlaftrunkenen, in seinem Schlummer gestörten Mädchens nach der Mutter und dem Püppchen, stellt der Tod sinngemäss ein Wiedersehen mit beiden in Aussicht. Man gewinnt den Eindruck, der Knochenmann bemühe sich, den noch jungen Erdengast ohne viel Aufhebens behutsam in die andere Welt zu führen.

Noch inniger wirkt die Beziehung zwischen Tod und Kind in der nebenstehenden, von Hans Wahl maschinenschriftlich angefertigten Version. Dem von Albträumen heimgesuchten Kind (es wird «von der grossen Not» und «von dem langen Krieg» gepeinigt) setzt der Tod zum Trost «das schöne Morgenrot» und den zuversichtlichen Satz: «Horch Kind, die Stille hat den Sieg», entgegen. Die somnambule Atmosphäre verdichtet sich noch durch die sparsamen szenischen Anweisungen wie: «K. tanzt schlaftrunken; Hält ein, vom Traum gepeinigt»; es folgt dreimal ein «K. tanzt weiter»; schliesslich heisst es noch: «K. tanzt hinaus». Und erst jetzt, da sich das Mädchen von ihm wegbewegt, erst jetzt getraut sich der Tod ihm nachzurufen, weshalb er es besucht: «Wach auf mein Kind, ich tu dir kund: Zum letzten Tänzlein schlug die Stund», so lautet die Botschaft.

Das ganze Geschehen ist, so scheint es mir, von einer leisen Traurigkeit und der Sehnsucht des Todes nach menschlicher Nähe erfüllt. Das Schlusszitat (links) aus dem Märchen meines Vaters «Der Musikant und der Tod» zeigt, worauf ich hinaus möchte:



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Auf, auf, du voller, feister Wanst
Und zeige wie du tanzen kannst!
Das nützt dir nichts, du reicher Klotz,
So Tanze jetzt, dem Geld zum Trotz
«Was schwatzest du, bin ich am End
ein Bettler bloss, mit leeren Händ?»


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k) Der Tod und der Reiche

Der Tod:
Auf, reicher Mann, ruck deinen Wanst
Und zeige wie du tanzen kannst
Der Reiche:
Das Tanzen macht mir arge Müh,
Was kost die Schmier, ich zahle sie!
Der Tod:
Du armer Mann du hast kein Geld
Das gültig wär in meiner Welt.
Der Reiche:
Was schwatzest du, bin ich am End
Ein Bettler bloss, mit leeren Händ?
Der Tod:
Ein Bettler bist du, ein Popanz
Doch betteln nützt nicht, deshalb tanz
Der Reiche: So tanz ich denn und schwitz und schnauf Mich deucht die Hölle tut sich auf. Fortsetzung von S. 19 unten Viel, viel schlimmer als das Gewitter, das im Märchen durch die Gassen tobte und Ziegel von den Dächern fegte, war es für die Schaffhauser einige Generationen später, als bei einem alliierten Bombenangriff auf ihre Stadt am 1. April 1944 zunächst 37 Menschen ums Leben kamen; die Zahl der Todesopfer sollte schliesslich auf 40 ansteigen. Noch sehe ich mich als Fünfjähriger an der Hand meiner Mutter von der Munotpromenade aus auf die heimgesuchte Altstadt blicken: zahlreiche Rauchschwaden verdüsterten die Sicht. Glückliche Umstände hatten es verhindert, dass ich, wie sich das seit geraumer Zeit so eingespielt hatte, meine Mutter morgens beim Einkaufen in die Innenstadt begleitete, um hernach auf dem Bahnhof die «Tschitschibahnen», das waren die deutschen Züge mit ihren grossen Dampflokomotiven, bestaunen zu dürfen. Dann folgte regelmässig noch ein Besüchlein von Mutter und Kind beim Vater auf seinem Arbeitsplatz im obersten Stock des nahegelegenen Gebäudes der Zollkreisdirektion. Der Aufenthalt an diesen neuralgischen Pukten und zu den kritischen Zeiten kam jedoch ausnahmsweise gerade an diesem 1. April 1944 nicht zustande: meine sonst so unternehmungslustige und vitale «Momm» fühlte sich bereits nach dem Erwachen an diesem Schicksalstage so matt und abgespannt, dass sie beschloss, die Wohnung nicht zu verlassen. Zum ersten Mal in meinen noch jungen Jahren hatte mich ein Zipfel seines dunklen Gewandes flüchtig berührt, ganz zufällig, ja ungewollt erschien dieser Kontakt zu sein; und gleichwohl war mir von nun an, zwar anfangs nur verwischt und schemenhaft, seine Gegenwart zur Gewissheit geworden. Heute sehe ich ihn deutlicher, und immer mehr gewinnt er an Konturen. Allmählich erschallt sein früher nur gewispertes, später dann geflüstertes: «Ich bin Euch nah, bin immer da, in allem was das Leben gibt», mit immer lauterer Stimme. Er spricht seine Verse zur Zeit in einem markanten Bariton, doch wirken diese Klänge immer noch so, als seien sie «draussen, vor der Tür» entstanden. Es dröhnt jenseitige Organ noch nicht so mächtig, dass es in der Runde alles übertönen könnte. Noch höre ich die Amsel singen, den Wind seufzen, das Jubelgeschrei der spielenden Kinder, noch...

Wer glaubt, der Tode habe nunmehr seinen Biss eingebüsst, der täuscht sich. Es kommt eben auf das Gegenüber an, mit dem es der Knochenmann zu tun hat. Da wird der Reiche, der nur seine Geldkatze heiligt, grob angefahren: «Auf, reicher Mann, ruck deinen Wanst...». Und wenn der Reiche, um dem Ungemach zu entgehen, zum Hilfsmittel seiner Zunft greift und grossspurig erklärt: «Was kost die Schmier, ich zahle sie!», dann wird seine Offerte abgeschmettert, und der Tod schleudert seinem Widersacher die für diesen und seinesgleichen schlimmste Demütigung entgegen: «Du armer Mann du hast kein Geld das gültig wär in meiner Welt.»

Ebenso derb und voller Verachtung behandelt der Tod nebenstehend den reichen Mann; die von meinem Vater bereits maschinenschriftlich ausgefertigten vier Zeilen orientieren sich, wie die handschriftlichen Verse, an barocken Vorbildern wie bei jenen sind die scharf umrissenen Protagonisten noch nicht psychologisiert, ist die Sprache deutlich und saftig.



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l) Der Tod und die Alte

Der Tod:
Du alter, müder Knochenhauf
Auch du musst tanzen, raff dich auf!
Die Alte:
Ich kenne nur den einen Herrn,
Wenn er es will, dann tu ich's gern
Der Tod:
Dem einen Herrn dien auch ich
Seit Anbeginn und ewiglich
Die Alte:
So nimm denn meine Hände
Und führe mich
Der Tod:
Die Nacht an ihrer Wende
Den Tag gebiert
O selig wenn das Ende
Zum Anfang wird

Ja, der Tod bei Hans Wahl hat wahrlich dazugelernt. Er beherrscht nun die ganze Palette der Kontaktnahmen zu den armen Seelen von der barschen und ruppigen Aufforderung zum (Toten-)tanz an die Adresse des schwergewichtigen Reichen bis zur beinahe zärtlichen Bitte desselben Inhalts, gerichtet indessen an das traumbefangene Kind. Für das alte Weiblein verwendet er angesichts des hinfälligen Äussern die burschikose, aber keineswegs böse gemeinte Titulierung: «Du alter, müder Knochenhauf!» Und das greise Mütterchen nimmt denn auch dem Sensenmann die ungehobelte Anrede nicht übel; es gehört ja zu den «listigen, alten Weiblein» und weiss daher, dass Gevatter Tod, wenn überhaupt, dann nicht mit offenem Trotz, sondern nur durch pfiffig Schläue, an seinem Vorhaben gehindert werden kann. Ausserdem

sieht es als gottesfürchtige und glaubensstarke Seele den Allmächtigen höchstpersönlich an seiner Seite und braucht daher weder Teufel noch Tod zu fürchten. Treuherzig und mit grosser Zuversicht weist es den Tod sachte auf die wahre Hierarchie unter den biblischen Obrigkeiten und himmlischen Mächten hin, wenn es dartut, dass es «nur den einen Herrn» kenne und nur auf dessen Veranlassung handle (das aber «gern»). Und der Tod, nicht nur Würger und Schlachtenlenker, sondern auch zum Diplomaten geworden (vielleicht war er es schon immer), antwortet beflissen, dass er diesem «einen Herrn» ebenfalls diene, «seit Anbeginn und ewiglich». Die Alte dagegen, vielleicht doch eingeschüchtert durch das etwas feierlich anmutende Bekenntnis des Todes zum Allmächtigen, vertraut auf die trostspendenden Verse von Julie Hausmann «So nimm denn meine Hände...». Aber auch der Tod findet zum Abschluss dieses Dialoges mit der Alten gehaltvolle und wohlklingende Formulierungen, sie seien nochmals wiederholt:
«Die Nacht an ihrer Wende
Den Tag gebiert.
O selig wem das Ende
Zum Anfang wird.»


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m) Der Tod singt sein Schlusslied

Das Spiel ist aus, doch wer da wähnt
Die Bühne bleibe leer
Und wer im Dunkeln heimlich gähnt
Ist morgen schon Akteur.
Und wer da meint er sei gefeit
Im Dunkel rundumher,
Der wisse, dass zu jeder Zeit
Sein Herz ich schlagen hör.
Das Spiel ist aus, das Spiel fängt an Die Bühne bleibt nie leer Wer heute noch zuschauen kann Ist morgen schon Akteur
Das Spiel fängt an, bald ist es aus
Und Dunkel rundumher
Wie ich dunklen Leidenhaus
Die Herzen schlagen hör!
Ich horch auf ihre Melodie
Und kommt der letzte Akt im Stück
Dann spiel ich sie, dann tanzt ihr sie
Dann tanzt ihr nach der eigenen Musik
Tanzt, Tanzt!
Ich horch auf ihre Melodie
Und kommt der letzte Akt Stück
Verschwebend wie ein Augenblick
Dann spiel ich sie, dann tanzt ihr sie
Tanzt nach der eigenen Musik
Nach leichter Musik
Tanzt! Tanzt!«Wer das Evangelium im Herzen 
trägt, braucht den Tod nicht fürchten»

Natürlich kann der Tod nicht aus seiner Haut heraus (ungeachtet des Umstandes, dass ja sein Skelett i.d.R. von einer solchen gar nicht schützend umfangen wird). Nein, ich will nur sagen, dass dieser Tod, so wie ihn Hans Wahl gestaltet hat, auch am Schluss des Spielfragmentes seine Arbeit diszipliniert und getreulich verrichtet. Dieser Bruder Hein gehört nicht zu den Aufmüpfigen, die, wie der grosse Widersacher, der gefallene Engel, mit ihrem Los hadern und im Verborgenen auf einen Umsturz hinarbeiten. Nein, der Tod bekennt sogar gegenüber dem armseligsten und geringsten alten Weiblein: «Dem einen Herrn dien auch ich seit Anbeginn und ewiglich» (vgl. S. 25). Dieser Knochenmann beharrt jedenfalls (auch wenn er sich zeitweise freundlicher geben mag), auf seiner weltweiten Mission: «Ich horch auf ihre Melodie», und: «...der wisse, dass zu jeder Zeit sein Herz ich schlagen hör.» Wer aber «morgen schon Akteur» sein kann, der ist wahrlich gut berufen, das dem Spielfragment vorangestellte MEMENTO MORI ernstzunehmen.

Eine Handvoll mehr oder weniger voneinander abweichender Versionen des Schlussliedes hat mein Vater geschrieben; ich präsentiere dem Leser deren fünf. Wo es Form und Inhalt zulassen, bemüht sich Hans Wahl um originelle Bilder, gefasst in eine gültige Sprache; ich weise auf zwei Beispiele hin:

«Und wer im Dunkeln heimlich gähnt ist morgen schon Akteur»; «Und kommt der letzte Akt im Stück verschwebend wie ein Augenblick...».



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4. Befund

Das memento mon von Hans Wahl kommt mit einer «kleinen Besetzung» aus, mit vier männlichen Figuren (der Tod, der Narr, der Soldat, der Reiche) und drei weiblichen (die Schöne, die Alte und das Kind). Die Auftritte der Personen sind meistens kurz gehalten, die Fragen, die sich in einem Totentanzspiel stellen, werden bündig abgehandelt. Szenische Anweisungen finden sich kaum. die Sprechtexte aller Figuren aneinandergereiht, ergeben eine Aufführungsdauer von knapp einer Viertelstunde. Das alles spricht dafür, dass mein Vater bei der Niederschrift der Monologe und Dialoge nicht an eine Bühnenaufführung, sondern (wenn überhaupt) nur an eine Hörspielwiedergabe gedacht hat. Dafür spricht auch ein rätselhafter Umstand, den aber Rainer Stöckli zu erklären weiss: Bei wenigen Texten tritt zwar unbestrittenermassen der Tod als Gesprächspartner auf, aber nicht unter dem gewohnten Kürzel «T», sondern unter den beiden Buchstaben «St.». Stöckli glaubt, der Verfasser habe dabei den Begriff «Stimme» im Sinne gehabt und deswegen den Tod nicht wie auf der Bühne üblich in personalisierter Form, sondern, dem Hörspiel gemäss, als akustische Erscheinung präsentieren wollen.

Zugegeben, das memento mori weist noch den Charakter des Unfertigen auf, es ist wirklich das FRAGMNT eines Spiels vom Totentanz. Gar manches bedürfte noch der Ergänzung, der Verbesserung. Die einzelnen «Akte» müssten noch logisch verzahnt, ihre Reihenfolge überdacht werden (ist es sinnvoll, wenn der Narr in drei längeren Auftritten hintereinander das Geschehen beherrscht?). Hans Wahl hat sich aber nicht dazu entschlossen, das Totentanzspiel fertigzustellen; es liegt nur als Fragment vor. Ob wohl die erfolgreiche Arbeit am Legendenkranz «Der Unscheinheilige», der etwa zeitgleich entstand, den Dichter veranlasst hat, die Bemühungen um ein memento mori einzustellen ich weiss es nicht. Fest steht, dass mein Vater seine schriftstellerischen Talente, das sind seine «übermütige Erfindungslust» (Basler Nachrichten vom 3.12.1944), «die unerhörte Meisterschaft des Schilderns» (Neue Berner Zeitung vom 10.12.1944) sowie Wohlklang und Musikalität seiner reichen Sprache (so mehrfach Alfred Richli, Fritz Senft, Karl Kuprecht u a. vgl. III. Anhang, S. 75, 78-80), besser in einem Schelmenroman als bei einem memento mori zur Geltung bringen konnte: Die erste dieser beiden literarischen Gattungen ermöglichte es ihm, die Handlungsfäden nach eigenem Gusto zu spinnen, Melodie und Rhythmus der Sprache selber zu gestalten; in dieser Hinsicht war man wohl bei einem Totentanzspiel viel eher in einem Korsett von Traditionen eingeschnürt...

Man soll indessen das memento mori nicht gering schätzen, sondern beim Namen nehmen, d.h. dem Tod nochmals zuhören. Mich beeindruckt dabei die Wandlungsfähigkeit des knochigen Gesellen am meisten: Für jede der armen Seelen findet er den jeweils angemessenen Ton, wobei manch klingende Wortfolge entsteht. Mich dünkt, die Ankündigung unserer Schrift «Variationen vom Totentanz» sei schon jetzt gerechtfertigt.



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II. TEIL: DAS PATENGESCHENK (ein Kunstmärchen)

1. Weshalb gerade das «Patengeschenk»?

Hans Wahl hat aus seinen dichterischen Texten den Tod nie verbannt. Schon im Kapitel 1 seines Erstlings «Der Unscheinheilige», jener «einmaligen kühnen Mischung von Legende und Schelmenroman» (Alfred Richli), baumelt der ausgediente Landsknecht Bartle Munitäsch am Galgen und entrinnt nur durch das Eingreifen einer höheren Macht der Hinrichtung. «O wundersüesser Odem, o bitterschwartzer Tod, ausz beydem ist gebacken das hartte Aerdenbrod», so lautet der im spätmittelalterlichen Amtsdeutsch jener Epoche verfasste Untertitel eines weiteren Kapitels aus dem genannten Legendenkranz: Es geht dabei um Caspar Scharnier, den zwar sterbenskranken, aber zunächst noch durchaus sterbeunwilligen Säckelmeister von Schaffhausen.

Und auch in den später erschienenen Märchen taucht der (oft personalisierte) Tod auf; zwei Geschichten erwähnen ihn als Titelfigur: «Der Musikant und der Tod» und «Der betrunkene Tod». Andere Texte räumen zwar dem Knochenmann eine zentrale Rolle ein, ohne ihn im Titel zu benennen; ich denke da etwa an «Die törichten Wünsche», «Der Orgelspieler», «Bis ans Ende der Welt», «Das Märchen vom listigen, alten Weiblein» und eben «Das Patengeschenk».

Wenn die Geschichte vom Patengeschenk den Vorrang geniesst, dann geschieht dies zur Hauptsache aus zwei Gründen: Zum einen wird Bruder Hein in zwei veritable Totentänze verwickelt, zum anderen bin ich bei der Entstehung dieser Erzählung dabei gewesen!



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2. Mein Vater, der Mentor

So sehr Dritte meinen Vater immer wieder als bescheidenen und von freundlicher Zurückhaltung geprägten Menschen erlebt haben, so sehr war er auch ein neugieriger und wissensdurstiger Mann, .der sich nahezu für alles interessiert hat. Eine grosse Freude bereitete es ihm, seinen Sohn jeweils an Wochenenden an die Hand zu nehmen und mit ihm die nähere und weitere Umgebung zu erkunden. «Heute werden wir jeweils zwei Männer sehen, die zusammen meistens auf vier Beinen stehen, hie und da nur auf drei Beinen, manchmal aber auch nur auf zwei Beinen, ja zuweilen nur auf einem Bein und für kurze, seltene Momente sogar auf keinem Bein.» Die rätselhafte Ankündigung meines Vaters entpuppte sich als Besuch eines währschaften Schwingfestes auf der schaffhausischen Breite. Der Schwinget wurde dominiert vom damaligen Schwingerkönig Walter Flach. An dessen Schwünge kann ich mich zwar nicht mehr erinnern, wohl aber an den Respekt, den der Hüne genoss, der sich zwischen zwei Gängen zur Erholung ein Nickerchen gönnte. «Momoll», bemerkte darob ein Festbesucher zu seinem Nachbarn und rückte den Stumpen im Munde zurecht: «Jetzt liegt der Flach auch einmal auf dem Rücken, aber nur weil er es so will.»

Ja, die «Breite»! Wie oft bin ich an Vaters Hand hinuntergestiegen vom Emmersberg, wo wir damals wohnten, ins Zentrum des Rheinstädtchens, um hernach westwärts wieder an Höhe zu gewinnen, bis die Breite sich vor unsern Augen auftat.



***
Dieses flache Sportgelände oberhalb der Stadt war auch geeignet für das Schaustellergewerbe. Es war wieder mein Vater, der mich zur «dicken Berta» führte. bin ä Appäzölleri und han immer Durscht», zirpte die mächtige Frau mit mädchenhafter Stimme und wies auf die zahlreichen leeren Henniezflaschen, die sich um ihre sagenhaften Oberschenkel gruppierten. Im Zelt nebenan reckte «der grösste Mann der Welt» seine 2,35 cm in die Höhe; er hatte sich dabei auf Podest gestellt und mit einem röhrenförmigen Zylinderhut gekrönt. Ebenfalls durch Vermittlung von Hans Wahl machte ich Bekanntschaft mit dem zweiköpfigen Kalb; mit einer Leopardenfrau, die sich offensichtlich abends vom Menschen in ein Katzentier und wieder zurück verwandeln konnte; mit einem ausgestopften Haifisch, der sein Gebiss drohend bleckte; mit einem Entfesselungskünstler, der bei der Ausübung seines Metiers unsägliche Schmerzen auszustehen hatte; ja, mit ganzen Gruppen fremdländisch ausschauender Menschen aus Afrika oder Asien, die in sog. Völkerschauen präsentiert wurden. Diese «Bildungsausflüge» an Vaters Hand beschränkten sich indessen nicht auf die Breite; noch entsinne ich mich des Glückgefühls, als ich am «Freien Platz» einen schnurrenden Geparden streicheln durfte, das weiche Fell bildete dabei einen merkwürdigen Kontrast zur darunterliegenden, straffen Muskulatur und zum harten Schulterknochen. Dagegen dürfte die Besichtigung eines in einem Eisenbahnwagen aufgebahrten Grosswals beim Güterbahnhof der Riese stank fürchterlich erst einige Jahre später erfolgt sein und zwar ohne Herrn Wahl sen. Ein unangenehmes Erlebnis musste ich merkwürdigerweise zunächst dort verzeichnen, wo mich die Begegnung mit dem herrlichen Geparden so sehr verzückt hatte. Mein Vater gedachte mich hier in die Welt des Boxsportes einzuführen, fanden doch in dieser Lokalität auch die Turniere der Amateurboxer statt. Als ich zum ersten Mal sah, wie sich die ehrgeizigen Faustkämpfer verdroschen, geriet ich in Panik und wollte den Saal sofort verlassen. Mein Vater musste mich beschwichtigen, damit ich mir den Verlauf der weiteren Kämpfe doch noch anschaute. Schliesslich fand ich sogar Spass am ruppigen Geschehen.



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So nahm denn auch diese Lektion ein gutes Ende. Wie üblich beinelten der grosse und der kleine Wahl auf dem Heimweg gesprächsweise all das Geschaute, Gehörte und Erlebte haarklein nochmals auseinander es war dies eigentlich der schönste Teil eines schönen Ganzen. Zu Hause wurde dann der Mutter «prichtet» vom Tage, «vom längst vergangenen Tage.» Die Herzensgute hörte etwas zerstreut zu, sie war in erster Linie froh darüber, ihre beiden «Mannsvölker» wohlbehalten um sich zu wissen, zudem galt es in der Küche immer wieder einmal nach dem Spaghettiauflauf oder nach der «Öpfeltünne» zu schauen, welche auf die beiden Abenteurer warteten. Gesellte sich dann noch meine Schwester dazu, dann war das Glück meiner Eltern für kurze Zeit vollkommen.

3. Der Besuch des Fischerumzuges Diessenhofen

Es muss in den späteren Vierzigerjahren nach Ende des 2. Weltkrieges gewesen sein, als ich mich, wiederum an der Hand meines Vaters, unversehens im aufgeregten Festgetümmel der Diessenhofer Fasnacht fand. Ich vermute, dass mein Mentor, wie auch schon, Fahrkarten für sich und den «Filius» (so nannte er mich manchmal halb im Scherz, halb im Stolz gegenüber Dritten) erstanden hatte und wir mit einem der alten Raddampfer nach Diessenhofen gelangt waren. So eine Schifffahrt hat mir schon als Knabe viel bedeutet, gab es doch stets mancherlei zu beobachten, zu bestaunen, etwa das kühne Ablegemanöver des Kapitäns bei der Schifflände vor der Rheinbrücke, die barocke Klosterkirche St. Katharinental mit den fröhlich winkenden Heiminsassen, die überdachte Holzbrücke beim Städtchen Diessenhofen, deren geringe Durchfahrtshöhe die Matrosen zwang, den Schiffskamin zu kippen oder die Silberreiher, die sich in der üppigen Ufervegetation versteckt hielten. Und zu all diesen Ereignissen und Sehenswürdigkeiten wusste mein Vater etwas zu sagen, was nicht nur einleuchtete, sondern auch zum eigenen Weiterdenken anregte.

Bei welcher Rheinfahrt mich mein Vater in den Maschinenraum eines Dampfers führte und sich dort sogleich in ein Gespräch mit dem Heizer über den Einsatz eines solchen Schiffes vertiefte, ist nicht mehr auszumachen. Es fiel mir damaIs jedoch auf, wie unbefangen sich der zunächst eher scheu wirkende Mann gegenüber Menschen jedweder Couleur verhielt, wenn er seinen Wissensdurst stillen wollte. Wie oft haben meine Schwester, die auf «Exkursionen ins Tierreich» gern mit von der Partie war, und ich in Buchthalen, Dörflingen oder anderswo auf Geheiss unseres Vaters in enge Kaninchenverschläge und dunkle Kuhställe gespäht; kam dann misstrauisch der Bauer angeschlurft, so verwickelte ihn Hans Wahl ohne Verzug in eine Fachdisputation über Kaninchenzucht oder Viehaltung, und ein Viertelstündchen später trennten sich beide Parteien in bestem Einvernehmen wieder, die drei Wahls um einige aktuelle, landwirtschaftlichen Erkenntnisse reicher, der Bauer leicht verwundert ob dem Verständnis, das der redegewandte Städter für die Nöte seines Standes gezeigt hatte.

Das ist das Zweifamilienhaus Säntisstrasse 27 auf dem Emmersberg in Schaffhausen, einige wenige hundert Meter Luftdistanz vom Munot entfernt. . Die Familie Wahl lebte in der Parterrewohnung bis ins Jahr 1957, hernach zogen wir um in eine zwar kleinere, aber vom Arbeitsaufwand her gesehen für unsere an einer Arthrose erkrankten Mutter, viel günstigere Behausung an der Weinsteig 8, gerade schräg gegenüber dem einstigen «Säulimärkt», der inzwischen zum reinen Parkplatz mutiert hat. Die sorgfältige und im Original feinkolorierte Zeichnung stammt aus der Hand meines Vaters; er hatte im Jahre 1924 für seine damalige Freundin und spätere Ehefrau Elisabeth Rosa Meier zwölf Monatsblätter von Örtlichkeiten verfertigt, die beiden vertraut waren und seine Illustrationen mit bekannten lyrischen Gedichten versehen (er selber steuerte aus eigener Produktion einige Mundartverse bei). Erstaunlich das Alter der Protagonisten: Mein Vater zählte damals 22 Jahre, meine Mutter gar deren erst 16!



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Wie es der Art unseres Mentors entsprach, wurde das Gehörte auf dem Heimweg noch vertieft, offene Fragen fanden ihre Antwort. Nur einmal hat mein Vater mit einer Auskunft gekniffen. Er hatte sich mit einem Landwirt über die Gefahren der Bullenhaltung ausgetauscht. Ich durfte dabei ein Kälbchen streicheln und schnappte nur einige Gesprächsfetzen auf. Als wir alleine waren, frug ich meinen Mentor nach dem Unterschied zwischen Stier und Ochs. «Das, mein lieber Sohn, kann ich dir heute noch nicht erklären, du bist noch zu jung, um das zu verstehen», lautete die überraschende Antwort, die ich als Ausflucht empfand. Vor Verblüffung verstummte ich.

Ein zweites Mal ist mir eine Autorität auf eine zentrale Frage die Antwort schuldig geblieben. Das erlebte ich im Religionsunterricht beim damaligen Münsterpfarrer Walter Kuster. Als ich ihm die Frage stellte, wie denn die genauen Verwandtschaftsverhältnisse zwischen dem Heiligen Geist und Gottvater sowie Jesus Christus beschaffen seien, da wiegte der Theologe nur sein mächtiges Haupt und bemerkte: «Hans Peter, das ist eine interessante Frage.» Das war's dann.

Als wir am besagten Tag Diessenhofen erreicht hatten, da gewahrten wir und jetzt überlasse ich die Schilderung meinem Vater: Auch die beiden Wahrzeichen meiner Vaterstadt. der Munot und das Münster, sind von meinem Vater fein säuberlich gezeichnet worden.

«Einen Fasnachtzug, der sich vor den Mauern geformt hatte und gerade in Bewegung setzte. Die Musik an der Spitze war schon in die Torwölbung eingetaucht und vollführte darin mit Posaunen, Pfeifen und Pfannendeckeln einen Höllenlärm. Ihr folgte ein von schweren Gäulen gezogener Bauernkarren mit einem Riesenhecht, den kunstfertige Hände aus Holz und bemalter Sackleinwand aufgebaut hatten. Die nebenher und hintennach marschierenden, mit brennendroten Nasen und borstigen Schnauzen maskierten Männer schwangen die Kennzeichen ihres Gewerbes, nämlich Käscher, worin tote Fische wie schmale Silbermonde glänzten, schwere Schleppnetze mit tropfenden Algenschnüren in den Maschen und Fischbehälter, aus denen bei jedem Schritt das Wasser überschwappte. Den Schluss des Zügleins bildete eine kunterbunte Schar von grossen und kleinen närrischen Gestalten, mit grinsenden und greinenden Larven vor den Gesichtern und mit schlampigen Gewändern behangen, die dort, wo strotzende Weiblichkeit vorgetäuscht werden sollte, mit Heu und Lumpen ausgestopft waren. Sie fuchtelten drohend mit Rätschen, Besen und kurzen Stöcken, an denen luftgefüllte Schweinsblasen baumelten, und sie kreischten und kicherten mit verstellten Fistelstimmen. Dieses Gesindel aus des Teufels Küche sollte offensichtlich die Sinneslust verkörpern, denn es vollführte schamlose Bocksprünge und liess die wohlgepolsterten Brüste hüpfen und die künstlich überhöhten Hinterhügel wackeln.»



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Ja, genau so (und nicht anders), ja, so genau (und nicht anders), hat sich damals der Diessenhofer Fischerumzug dargestellt. ich war schliesslich dabei und habe alles als Knabe mit meinen damals noch scharfen Augen gesehen und in meinem noch aufnahmefähigen Gedächtnis gespeichert. Wenn ich heute den von meinem Vater über das damalige Geschehen verfassten Text wieder lese der Umzug liegt an die 6S Jahre zurück dann verblüfft mich, wie frisch und unmittelbar seine Schilderung wirkt. Man wähnt einen sprechgewandten Radioreporter zu hören, der uns mit sonorer Stimme nahebringt, «was abläuft». Und jede Einzelheit stimmt. Das ist mit besonders aufgefallen, als ich mich 1981. also acht Jahre nach dem Tode meines Vaters, darangemacht hatte, seine Kunstmärchen (eingeschlossen «Das Patengeschenk») im Sammelband «Der kristallene Schlüssel». zu veröffentlichen. Da ich zum Diessenhofer Fasnachtsumzug eine Zeichnung beisteuern wollte, verglich ich die Schilderung meines Vaters eingehend mit meinen eigenen Erinnerungen. Und siehe, die beiden Wiedergaben desselben Ereignisses erwiesen sich praktisch als deckungsgleich. Es fiel mir daher nicht allzu schwer, mich bei meiner Illustration an die Darstellung meines Vaters zu halten. Gewisse Abweichungen ergaben sich aus dem beschränkten Platz, der mir dabei zur Verfügung stand. So wurde aus den «schweren Gäulen», die den Bauernkarren beförderten, auf der Zeichnung ein einzelnes Zugpferd. Auch das «Personal» des Umzuges «erfuhr bei mir eine Reduktion»: Nur eine einzige Gestalt, die Larve vor dem Gesicht, täuscht «strotzende Weiblichkeit» vor, indem sie «die wohlgepolsterten Brüste hüpfen» lässt; ein einsamer Trommler ersetzt die ganze Musik. Dafür liess ich einen schwarzen Mischlingshund vor dem Umzug dessen Weg kreuzen, und den imposanten Riesenhecht habe ich nicht vergessen.

So habe ich mich denn redlich bemüht, die in Worte gekleidete Schilderung meines Vaters und meine damaligen Beobachtungen etwa 35 Jahre später zeichnerisch nachzubilden. Ob ich den Torbogen dabei richtig getroffen habe, weiss ich nicht; viel mehr hat sich mir das Umzugsgeschehen eingeprägt. Einmal mehr muss ich gewahr werden, dass der offenichtlich aus der Werbebranche stammende Slogan: «Ein (statisches) Bild sagt mehr als tausend Worte» in Bereichen der Künste nichts taugt, wenn es um die Darstellung von Handlungen oder Bewegungen geht: Hierbei wird eine brillante Schilderung aus Dichterwerkstatt der zeichnerischen Wiedergabe immer überlegen bleiben.

Betrachtet man Fotos jüngsten Fischer- und Bauernumzüge in der Region während der Fasnacht, so fällt auf, dass sie nicht nur viel reicher und farbenbunter geworden sind, als es der wilde Haufen war, der sich in der frühen Nachkriegszeit des vorherigen Jahrhunderts durch das Tor gezwängt hatte, nein, sie sind offensichtlich auch besser strukturiert und klar nach Symbolen und Themen geordnet worden man spürt förmlich, dass hier ein kundiges Fasnachtskomitee mit professionellem Wissen am Werk gewesen sein musste...

Kommentar s. S. 44 unten



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Das alles war anders beim Umzug den ich an Vaters Hand bestaunen durfte. Dieser Anlass hatte in keiner Weise etwas «Geschniegeltes» an sich, da hatte keine mit dem Kunstgewerbe vertraute Schneiderin an den Fasnachtskostümen gearbeitet. Man merkte es bald; hier hatten sich einfache Leute zusammengetan, Fischer und Bauern mit ihrem Jungvolk etwa, da waren in der frühen Nachkriegszeit die Nötli und Fünfliber im Portemonnaie noch rare Gäste man sah das an den behelfsmässigen Verkleidungen und Larven, die sich das festfreudige Völklein genäht und gebastelt hatte. Nur der «sündengraue» Riesenhecht wirkte täuschend echt, er musste von jemandem geschaffen worden sein, der sich in der Anatomie eines solchen Wasserwesens bestens auskannte, ein künstlerisch begabter Berufsfischer vielleicht. Am eindrücklichsten war für mich (und ist es immer noch) die elementare Kraft, die vom ganzen Geschehen ausging, sei es von den wuchtigen Musikklängen innerhalb der Torwölbung, sei es von der sinnenfreudigen Lebenslust der am Fest Beteiligten, am meisten wohl aber von dem tumultartigen Durcheinander, das den Umzug zeitweise beherrschte. Dennoch fanden die Maskierten, die aus einer grauen Vorzeit zu stammen schienen, immer wieder ihren Weg. Dieses Urige, Archaische und Authentische wird man bei heutigen Fasnachtsveranstaltungen nur schwerlich antreffen.

Hans Wahl hat indessen dieses Ereignis, eingebettet in eine Erzählung, wie ein Chronist schriftlich festgehalten und damit auf absehbare Zeit vor dem Vergessen bewahrt. Dass er sich dabei des alten Diessenhofer Volksbrauches mit jugendlich wirkendem Elan angenommen und ihn in bildkräftigen Formulierungen aufs Papier gebracht hat, das sollte die literarisch und volkskundlich interessierten Diessenhofer mit Freude erfüllen. Ich aber, der Filius, darf sagen: «Ich bin dabei gewesen, als der Keim für «Das Patengeschenk» gelegt worden ist!»

Bis jetzt habe ich, im Hinblick auf die Fischer Fasnacht in Diessenhofen dem Leser nur einen einzigen Abschnitt aus der Erzählung «Das Patengeschenk» präsentiert. Es ist höchste Zeit, ihm das Märchen in vollem Wortlaut vorzustellen. Wie bei der Zeichnung zum Fischerumzug greife ich dafür auf den Sammelband «Der kristallene Schlüssel» zurück (S. 167-172).

Kommentar zu S. 42 unten:

«Die Diessenhofer Fasnacht hat mich zu einer zweiten Illustration des Fischerumzuges im Torbogen angeregt. Da es sich diesmal um das Neujahrsblatt mit Glückwünschen für 1985 handelte, hatte ich den knöchernen Tod durch einen jungen (aber schwarz gekleideten!) Geiger, mit einem winzigen Instrument, ersetzt. Man bringt ihn eben nimmer weg («Ich bin euch nah, bin immer da in allem, was das Leben gibt»). Ich kann als Zeichner einzig dafür sorgen, dass er bei gesellschaftlichen Anlässen zukünftig in einem weniger anstössigen Äusseren auftritt, als noch an der von meinem Vater geschilderten Diessenhofer Fasnacht... Es trifft zu: (Der Tod hat viele Masken.»



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Die muntere, junge Leopardin (nicht zu verwechseln mit dem abgeklärten Gepardenkater am Freien Platz!) soll an meiner Stelle mit freundlichem Gepruste all jener Menschen und Tiere gedenken, die auf der Breite oder sonst wo in der Region meiner Vaterstadt mit Darbietungen zu meiner Unterhaltung oder Weiterbildung beigetragen haben; es waren dies vor allem Artisten, Sportskanonen, Gaukler, Tierfänger und Dompteure, Vertreter der kuriosen Sparten, , exotische Menschen; bei den Tieren fanden sich domestizierte, gezähmte und dressierte Wildfänge, prachtvolle Zuchtprodukte und erbarmungswürdige Monsterwesen. Zumeist vermittelt hatte die Kontakte mit dieser so vielgestaltigen Welt mein Vater. Er hat mir aber zugleich nahegebracht, dass es nicht jedem frommt, mit kühnem Zugriff das Gesehene und Geschaute nebst Mensch und Getier der eigenen Herrschaft zu unterwerfen. Vielmehr gäbe es auch solche, die dazu berufen seien, als aufmerksame Beobachter oder getreue Chronisten die Ereignisse zu verfolgen und für die Nachwelt zu bewahren, so wie im Märchen der Zöllner am Schlagbaum mit dem «Leben der Landstrasse» verfuhr, «das lustig, liederlich und leidvoll in langer Prozession an ihm vorüberzog» («Der Mann mit den zwei Seelen» «Der kristallene Schlüssel«, S. 177 ff.) Das ging im übrigen so lange gut, als der Zöllner in seinem Leib nur die angestammte brave Zöllnerseele und nicht auch noch wegen eines widrigen Missgeschickes zusätzlich eine heimatlose, sündenschwarze Strassenräuberseele beherbergen musste...


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4. «Das Patengeschenk» im Wortlaut.

Der Tod hat zwar viele Masken, doch an jenem sonnigen Tag im Februar gab er sich die Gestalt eines Knochenmannes, die den Menschen vertraut ist, wenn sie ihn darstellen wollen. Er schlüpfte in rissige Soldatenstiefel, schwang sich einen alten Reitermantel um die Schultern und stülpte einen Schlapphut auf den blanken Schädel. Wie er nun weitausgreifend durch das frühlingshafte Land stelzte, verschmolzen das Braun von Hut und Schuhen derart mit den brachen Äckern, das verblichene Blau des Umhanges mit dem Föhnhimmel und das Weiss seiner knöchernen Glieder mit dem schnutzigen Schnee am Wegrand, dass man den fremden Wanderer kaum erkannt hätte, wären die gluckernden Schmelzwässerchen auf der Strasse unter seinem Schatten nicht wieder zu Eis gefroren.

Als der Tod beim Fischerstädtchen ankam, wo er seines Amtes walten sollte, gewahrte er einen Fasnachtzug, , der sich vor den Mauern geformt hatte und gerade in Bewegung setzte. Die Musik an der Spitze war schon in die Torwölbung eingetaucht und vollführte darin mit Posaunen, Pfeifen und Pfannendeckeln einen Höllenlärm. Ihr folgte ein von schweren Gäulen gezogener Bauernkarren mit einem Riesenhecht, den kunstfertige Hände aus Holz und bemalter Sackleinwand aufgebaut hatte. Die nebenher und hintennach marschierenden, mit brennendroten Nasen und borstigen Schnauzen maskierten Männer schwangen die Kennzeichen ihres Gewerbes, nämlich Käscher, worin tote Fische wie schmale Silbermonde glänzten, schwere Schleppnetze mit tropfenden Algenschnüren in den Maschen und Fischbehälter, aus denen bei jedem Schritt das Wasser überschwappte. Den Schluss des Zügleins bildete eine kunterbunte Schar von grossen und kleinen närrischen Gestalten, mit grinsenden und greinenden Larven vor den Gesichtern und mit schlampigen Gewändern behangen, die dort, wo strotzende Weiblichkeit vorgetäuscht werden sollte, mit Heu und Lumpen ausgestopft waren. Sie fuchtelten drohend mit Rätschen, Besen und kurzen Stöcken, an denen luftgefüllte Schweinsblasen baumelten, und sie kreischten und kicherten mit verstellten Fistelstimmen. Dieses Gesindel aus des Teufels Küche sollte offensichtlich die Sinneslust verkörpern, denn es vollführte schamlose Bocksprünge und liess die wohlgepolsterten Brüste hüpfen und die künstlich überhöhten Hinterhügel wackeln. Der Tod schloss sich ihnen unbehelligt an, und es schien keinem widersinnig, dass der grimme Bruder Hein an der Seite seiner holden Schwester Vita beim weltlichen Mummenschanz mitmachte.

Endlich hatte sich das Züglein durch das enge Tor gezwängt und entfächerte sich nun auf der einzigen Hauptstrasse des Städtchens in behäbiger Breite. Die Posaunenbläser prusteten mit berstender Lunge in das verbeulte Blech, die Pfannendeckler schlugen wie besessen den Takt dazu, die Fischer schwenkten schmunzelnd die Wassereimer gegen die Schuhe der herbeiströmenden Zuschauer, die Höllenbrut sprang auf und ab, umhalste und küsste die Schönen auf dem Bürgersteig oder prügelte die Widerspenstigen mit dumpf aufprallenden Schweinsblasen, und der Tod tänzelte geziert hinterher und grüsste mit lässiger Gebärde seiner knöchernen Hand zu den Gaffern in den Fenstern hinauf. Am anderen Ende der Strasse, dort, wo sie sich zu einem Platz ausweitete, löste sich der Fasnachtumzug auf. Von einem Bretterpodest herab begann eine lüpfige Tanzmusik aufzuspielen, und bald drängelte und drehte sich die übermütige Menge im Walzertakt.

Schon während des Vorbeimarsches hatte eine üppig geformte Hexe immer wieder die Nähe des Todes gesucht und ihm durch anschmiegsames Gehaben zu erkennen gegeben, dass sie ihm wohlgewogen sei. Unter der hässlichen Maske verbarg sich das lebenslustigste Geschöpf der Gegend, das jedem, der ihm gefiel, seine Liebesgunst gewährte. Es ist unbegreiflich, weshalb dieses blühende Wesen sich gerade zum knochendürren Gesellen hingezogen fühlte. Vielleicht war es bloss die Neugierde, einen Liebhaber zu erproben, wie die Frau noch keinen besessen hatte, vielleicht aber auch die Ahnung, dass der seltsame Fremdling über eine Kraft gebiete, welche ihrem bisherigen leichtfertigen Leben eine Wendung in die Tiefe und Weite geben könnte. Als daher das Volk zu walzern begann, zupfte die Hexe den Tod dreist am Gewand, zum Zeichen, dass sie mit ihm tanzen wolle und warf sich dann freudig in die weit geöffneten Arme.



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Nach den Berichten war der Tod ein wundervoller Tänzer. Herrisch und zart zugleich zwang er das Weib in seinen Schritt und die Musik in seinen Takt. Er glitt dahin wie eine Welle, die am Strand aufläuft, dann wieder wirbelte er am Ort, dass sein wehender Reitermantel mit den fliegenden Röcken seiner Partnerin zu einem Kreisel rauschender Lebensfreude zusammenwuchs, oder er stampfte mit den Stiefeln und klapperte mit den Knochenfingern wie mit Kastagnetten. Bei diesem Auf und Ab und Rundherum wurde es der Frau unter ihrer Maske fieberheiss, weshalb sie diese wegriss, fortwarf und nun mit glühendem, lachendem Gesicht zu ihrem Tänzer aufschaute. Weil sie aber sein wahres Gesicht wissen wollte, versuchte sie die Totenkopflarve auch zu lösen, und als sie dabei blitzartig erkannte, in wessen Armen sie lag, schlug ihr der Schreck derart hart ans Herz, dass sie mit einem Seufzer entseelt zu Boden sank.

Zwar hat Hans Wahl m. W. den Tod nie als Vierten neben dem Krieg, dem Hunger und der Pest unter die apokalyptischen Reiter eingereiht, doch sind im Märchen «Stampf» auch drei Nöte auszumachen, von denen man sich lieber fernhält, es sind dies der Hunger, das Fieber und die Verzweiflung; sie wispern dem verlassenen Gewalttäter «Stampf» zu: «Wir bleiben dir treu». («Der Kristallene Schlüssel», S. 117 und 119)


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In diesem Augenblick fuhr ein eisiger Windstoss durch das Tor, die Häuserwände entlang, schwang die scherbelnden Fensterläden auf und zu, entriss dem Tod den Schlapphut und rollte ihn wie das von einem Leichenwagen abgesprungene Rad davon. Jetzt erkannten die anderen Fasnächtler, wer unter ihnen weilte, und sie kreischten: «Der Tod, der Tod!» Sie flohen wie aufgescheuchte Hühner, fielen übereinander hin, rappelten sich schreiend wieder hoch und verschwanden in den Hausgängen, wo sie die Türriegel verschoben. Im Hui war die Strasse menschenleer. Der Tod aber verneigte sich würdevoll, wie ein Zirkuskünstler, der für seine Leistung Beifall heischt. Indes, es blieb weitum still und selbst der Wind hielt seinen Atem an.

Dann aber drang ein Klagelaut durch die Stille. Der Tod forschte nach und fand in den Rockfalten der Frau ein Knäblein, das sie in ihrer Sterbensnot geboren hatte. Weil jetzt ein wilder Schneewirbel über die Dächer fegte und die verstörten Menschen in ihren Schlupfwinkeln blieben, wo sie sich geborgen glaubten, erfasste den Tod ein ungewohntes Erbarmen mit dem verlassenen Kind; er löste es von der toten Mutter, barg es in seinem Mantel und trug es zum Klösterchen am Seeufer. Als sein Klopfen nicht erhört wurde, sprengte er das Tor mit einem Fusstritt, wehte mit einem Schneeschauer an dem erschrockenen Pförtner vorbei, hinein und geradewegs in die Klause des Abtes, der eben beim Vespern war. Dort legte er das wimmernde Wesen zwischen Käseteller und Weinglas nieder und befahl, dass es ungesäumt getauft werden müsse. Der Abt wagte keinen Widerspruch und nahm die heilige Handlung vor. Alsdann übergab ihm der Tod einen Beutel Gold und gebot: «Ihr sollt das Knäblein in Gottesfurcht erziehen. Ich will sein Pate sein. Wenn das Kind den zwanzigsten Geburtstag begeht, werde ich ihm einen Wunsch erfüllen. Es kann dann Reichtum oder Macht oder Ruhm verlangen, und ich werde ihm gewähren, was ihm wichtig scheint.» Darnach schwand der Tod dahin wie Kerzenrauch. und es blieben nur die Goldmünzen und ein schreiendes Kind zurück.



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Die Mönche mühten sich redlich, aus dem Knaben einen frommen Klosterbuben zu machen, er hatte aber das ungebärdige Blut seiner Mutter und den unsteten Sinn seines Vaters angeblich ein streunender Zigeuner geerbt und er wollte sich keiner Ordnung fügen. Zur Zeit der Fasnacht musste man ihn jeweils in eine seewärts gelegene Zelle sperren, damit er die verlockende Narrenmusik nicht hörte und ausbrach. Die Mönche waren daher froh, als ihr Zögling den zwanzigsten Geburtstag feiern konnte. Der Abt überreichte ihm, was von den Goldmünzen verblieben war und eröffnete ihm das Geheimnis seiner Geburt. Gleichzeitig gab er ihm kund, dass er einen Patenwunsch frei habe, sei es Reichtum oder Macht oder Ruhm, wobei er ihm väterlich rate, bedachtsam zu wählen, damit es ihn nachher nicht reue.

Aber der Jüngling lachte nur und meinte, es sei ihm an diesen Gaben nicht das Geringste gelegen. Der Uralte solle daher sein Patengeschenk behalten und der andere Glatzkopf seinen guten Rat. Er wolle nun endlich jenes Leben kosten, das man aus den Klostermauern verbannt habe und das geniessen, was hier wenig geschätzt sei. Damit wandte er sich der Pforte zu, die in die weite Welt führte.

Es war wieder ein Februartag voller Frühlingsahnung. Die schwarzbraunen Schollen glänzten in der Sonne, in den Schattengräben schäumte der schmelzende Schnee, und der blassblaue Föhnhimmel war mit schimmernden Brautschleiern verhängt. Der Jüngling erreichte das Städtchen, als sich ein kreischender Fasnachtumzug durch den Torbogen quetschte. Er schloss sich ihm an, zusammen mit einem Mädchen, das, wie er selber, keine Larve trug. Es war ein Waisenkind, ebenfalls in straffer Zucht aufgewachsen und nun heimlich dem Krankenbett entwichen, um eine Fasnacht erleben zu können. Weil es kein Kostüm besass, hatte es sein weisses Nachthemdlein anbehalten und eine Kerze in die Hand genommen, damit es einem Weihnachtsengel gleichen sollte. Nachdem auch der Jüngling in seinem mönchischen Gewand frömmer wirkte, als er wirklich war, schien das Paar von einem Hauch leiser Heiligkeit umhüllt, der vom lärmigen Gebaren des voraustollenden Hexengesindels wunderlich abstach.

Die zwei jungen Leutchen fanden bald Gefallen aneinander, durch gleiche Neigung und ein ähnliches Schicksal schnell vertraut, als hätten sie sich lange schon gekannt. Sie schwatzten verliebten Schnickschnack und später tanzten sie zusammen, bis das Mädchen müde wurde. Dann suchten sie eine Scheune vor der Stadtmauer auf, teils zum Schutz vor dem scharfen Wind, teils auch, weil .sie allein sein wollten. Sie fanden das Tor offen, traten ohne Besinnen ein, kauerten sich, einem innern Befehl gehorchend, auf den Boden nieder und zündeten gemeinsam die Kerze an. Über das zitternde Flämmchen, das den Raum nur im engsten Kreis erhellte, staunten sie sich lange unverwandt aus glänzenden Augen an. Dann rückten sie näher zusammen und begannen sich unbeholfen zu liebkosen, wie Kinder, welche die Welt ertasten wollen. Als sie sich aber küssten, trat aus dem Schatten des Heustockes eine knochige Gestalt mit Schlapphut, Reitermantel und Soldatenstiefeln in das aufzuckende Licht und gebot gebieterisch Einhalt. Die jungen Leutchen meinten, es sei der Landjäger und wichen zurück. Jedoch der Uralte grinste sie aus klaffenden Kiefern an und sagte: «Willkommen, lieber Patensohn, und sei bedankt, dass du mir mitgebracht



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hast, was mir gehört.» Der Jüngling erschrak zuerst, doch dann frohlockte er:

«Nachdem du, grossmächtiger Tod, mein Pate bist, wünsche ich mir zu meinem Geburtstag, dass du das Mädchen frei gibst; suche dir an seiner Statt ein anderes aus.» Der Pate schüttelte das Haupt: «Ich kann nicht wählen, sondern ich muss greifen, wem die Stunde schlägt.» Damit berührte er das Mädchen, sodass es hintenüber in tiefen Schlaf verfiel. Der Jüngling gab aber nicht nach und trotzte auf: «Nun hast du deine verdammte Pflicht getan, mir aber ist immer noch ein Wunsch versprochen: So gib mir denn lebendig zurück, was mir das Liebste auf der Erde ist.» «Ich kann nur Leben nehmen, aber keines geben», murmelte der Tod, «schick dich darein.» «Dann lass mich wenigstens auch zu dieser Stunde sterben», forderte der Jüngling, «damit wir im Grab vereinigt sind.» Doch der Tod weigerte sich wiederum: «Dein Leben ist mir erst verfallen, wenn die Zeit vollendet ist, also will es das Gesetz.» «Dein Gesetz will nicht, dass mir ein einziger Wunsch erfüllt wird», höhnte der Jüngling, «du hast mich belogen und betrogen, du dürre Lieblosigkeit. Das sollst du mir büssen. Jetzt zerbreche ich dein Gesetz und mache mich selber frei!» Alsdann umfasste er den Tod jugendstarken Armen, stiess die Kerze in das Heu und jauchzte: «Tanze, Tod, tanz!» Das Flämmchen flackerte auf, wuchs zur Flamme und zur prasselnden Feuersbrunst. «Lass los, du Narr», keuchte der Tod, «mich kann das Feuer nicht verderben, dich aber frisst es auf.» Jedoch, der Jüngling hörte gar nicht hin, sondern lachte ingrimmig: «In der Kälte geboren, bei den Lauen aufgewachsen und jetzt ohne Liebe in der Glut vergehen, wahrlich, wer den Tod zum Paten hat, wird nie des Lebens froh. Komm, wir wollen es verkürzen.» Damit zwang er den Paten, der sich verzweifelt wehrte, zu einem schauerlichen Totentanz, bei dem das junge Leben den Schritt anschlug, ungestüm die Tenne auf- und niederstampfte oder rasend rundherum, sodass der Reitermantel und die Mönchskutte aufwirbelten, sich verfolgten und schliesslich zusammenfallend sich vereinten und zu einzigen, lodernden Fackel wurden.

Weil ein heftiger Wind wehte, brannte die Scheune, bevor aus dem närrischen Städtchen Hilfe kam, bis auf die Grundmauern nieder. Beim Aufräumen fand man unter der Asche zwei verkohlte Gerippe, von denen niemand wusste, wem sie gehörten. Man bestattete sie daher in der gleichen Grube, in jenem verlorenen Friedhofswinkel, wo die vergessenen Gräber der Namenlosen liegen, wo aber auch die Massliebchen, , wie nirgends sonst, strahlend blühen und die Honigbienen besonders emsig summen.

Der Jüngling jedoch fand keine Ruhe, weil er sein Erdensein nicht zu Ende gelebt hatte. Er ist immer unterwegs bis zum letzten Tag, vom verschmähten Leben und von ungestillter Liebe umgetrieben, und er schürt den Aufruhr gegen eine verknöcherte Welt, wo Reichtum, Macht und Ruhm masslos wichtig sind, während Leben und Liebe wenig gelten.



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5. Der Tod und die beiden Totentänze

Endlich ist er uns «nah», der Tod nämlich, wobei sich dieser Stossseufzer nur auf seine Existenz im «Patengeschenk» bezieht. Als Knochenmann stolziert er gestiefelt und die klapprigen Glieder von einem alten Reitermantel umhüllt, durchs Land; einige Tage und Nächte noch und die Stimmung wird so frühlingshaft sein, wie sie in Gedichtform von Hans Wahl beschrieben worden ist:

Noch flöckelt Schnee vom Himmelsgrau
Und webt am weissen Winterschleier.
Schon flöckelt Föhngewölk im Blau
Und Krokus blühn wie Ostereier.
Die Winde wehen rauh und lau,
Aus Dunkelm steigen Erdensäfte,
Aus Hellem strömen Himmelskräfte
Und Knospen glänzen wie im Tau.

Trotz seiner nachlässigen Kleidung ist der Tod ein grosser Herr, die ausgedienten Soldatenstiefel und der verblichene Umhang verleihen ihm wie etwa bei einem General im Ruhestand eine militärische Aura und die steht ihm, dem Herrn der Schlachten, nicht schlecht zu Gesicht. Und, im Gegensatz zum General i .R. ist der Tod immer noch aktiv, ja, rastlos tätig wie seit ehedem. Gerade heute ist er unterwegs, um beim Fischerstädtchen seines Amtes zu walten. Es ist somit der vom dichtenden Zollbeamten Hans Wahl für sein Märchen ersonnene Tod wiederum wie schon im «memento mon» ein gewissenhafter Tod («gewissenhaft» gemeint im Sinne von «verlässlich»), ein loyaler Diener und Gefolgsmann seines Sean. Er vertritt die Obrigkeit und damit deren herrschende Ordnung: Nicht, dass er dabei zum gesichtslosen Vollstrecker, zum blossen Funktionär mutiert hätte. Dieser uralte Freund Hein liebt als grosser Mann beispielsweise immer noch den grossen Auftritt, das Bad in der Menge, wie es heutzutage formuliert wird. Oder wie ist das anders zu verstehen, wenn es bei Hans Wahl heisst:

..und der Tod tänzelte geziert hinterher (gemeint hinter dem Fasnachtsumzug) und grüsste mit lässiger Gebärde seiner knöchernen Hand zu den Gaffern in den Fenstern hinauf.

Hatte es da einer wirklich über Ewigkeiten hinweg nicht geschafft, sein Quäntchen an persönlicher Eitelkeit wegzuschmirgeln? Und wie ist es zu begreifen, dass der Tod, seelisch verhärtet und abgebrüht angesichts abertausenden Millionen von Kriegsopfern, Unfall- und Seuchentoten, plötzlich «ein ungewohntes Erbarmen» mit einem verlassenen Kind verspürt?



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Äusserlich ist der knochige Geselle aus dem «Patengeschenk» ein Tod der alten Schule, ein Uralter mit klaffenden Kiefern, der sich, wenn er die Menschen aufsucht, gerne der Skelettgestalt bedient und dabei als Bekleidung zerschlissene Uniformstücke bevorzugt. All diese Attribute wirken furchteinfiössend und verleihen dem Tod eine bedrohliche Autorität (beim Kerzenlicht in der dunklen Scheune halten ihn die jungen Leutchen zuerst für den Landjäger und weichen zurück). Wie hochfahrend der Tod sein kann, zeigt sein rüdes Benehmen auch gegenüber der höheren Geistlichkeit. Er will, dass das verlassene Kind im Kloster am Seeufer erzogen wird. Hans Wahl schreibt dazu:

Als sein Klopfen nicht erhört wurde, sprengte er das Tor mit einem Fusstritt, wehte mit einem Schneeschauer an dem erschrockenen Pförtner vorbei, hinein und geradewegs in die Klause des Abtes, der eben beim Vespern war. Dort legte er das wimmernde Wesen zwischen Käseteller und Weinglas nieder und befahl, dass es ungesäumt getauft werden müsse. Der Abt wagte keinen Widerspruch und nahm die heilige Handlung vor.

Eine kantige Figur ist dieser Pate fürwahr, treu ergeben seinem Herrn, festgefügt bis starr (oder gar stur), was das Befolgen oder den Vollzug des Gesetzes angeht. Aber eben, trotz der unerschütterlichen Loyalität gegenüber seiner Obrigkeit (und diese ist bei ihm Gott, der Allmächtige höchstpersönlich) sind in der Brust des Todes zuweilen Regungen spürbar, die ihn selber beunruhigen müssten, denn sie verleiten offensichtlich zu einem Handeln aus Eigennutz; sie lenken ab vom Pfad der Tugend. Denn, so frägt man sich: Welcher Teufel hat denn den Tod geritten, sich an diesem Februartag noch an einem verruchten Fasnachtsumzug zu verlustieren, statt ohne Umschweife den Auftrag zu erfüllen, um hernach straks ins Schattenreich zurückzukehren und dort Pikettdienst zu leisten? Ja, dieser Tod ist, wie sein Kollege aus dem «memento mon» auch, sichtlich nicht ganz ohne jede Empfindung für offen zur Schau getragene weibliche Schönheit, sonst hätte er die junge Frau nicht in seine knochigen Arme geschlossen. So kam es zum ersten Totentanz in der Erzählung vom Paten und seinem Geschenk. Grandios erscheint mir, wie mein Vater dieses Geschehnis schildert; bildkräftig, spannungsgeladen und doch gezügelt, so wirkt seine Erzählweise:

Nach den Berichten war der Tod ein wundervoller Tänzer: Herrisch und zart zugleich zwang er das Weib in seinen Schritt und die Musik in seinen Takt. Er glitt dahin wie eine Welle, die am Strand aufläuft, dann wieder wirbelte er am Ort, dass sein wehender Reitermantel mit den fliegenden Röcken seiner Partnerin zu einem Kreisel rauschender Lebensfreude zusammenwuchs, oder er stampfte mit den Stiefeln und klapperte mit den Knochenfingern wie mit Kastagnetten.



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Und dann geschieht das Schreckliche: Die junge Frau erkennt, dass der leibhafte Tod ihr Tanzpartner ist und sinkt darob entseelt zu Boden. Unter den Fasnächtlern bricht Panik aus, sie fliehen in ihre Häuser. Wie aus einem schwarz-weissen Gespensterfilm entsprungen, so mutet die Bilderfolge an, mit der Hans Wahl das weitere Geschehen schildert:

In diesem Augenblick fuhr ein eisiger Windstoss durch das Tor, die Häuserwände entlang, schwang die scherbelnden Fensterläden auf und zu, entriss dem Tod den Schlapphut und rollte ihn wie das von einem Leichenwagen abgesprungene Rad davon.

uns:

Im Hui war die Strasse menschenleer. Der Tod aber verneigte sich würdevoll, wie ein Zirkuskünstler, der für seine Leistung Beifall heischt. Indes, es blieb weitum still und selbst der Wind hielt seinen Atem an.

Ach, der Uralte: Wieder einmal schielt er, eitel wie er ist, für seine Darbietung nach Beifall! Beifall wofür? Seine Mission zum Städtchen ist doch misslungen. Er, der mächtige Tod, hat sich das Gesestz zum Handeln entreissen lassen durch eine junge Frau, denn sie hat ihn zum vorzeitigen Totentanz veranlasst und sie hat in seine «Kernkompetenz» eingegriffen, indem ihr zu Tode erschrockenes Herz den Zeitpunkt des Hinscheidens selber bestimmt hat. Dass der Uralte mit seinem Auftritt insgeheim doch unzufrieden ist, zeigt sich wohl darin, wie ruppig und ungehobelt seine Vorsprache beim Abt ausfallen wird. Allerdings hat der knöcherne Geselle, und das ist ihm hoch anzurechnen, das von der jungen Frau geborene Knäblein nicht im Stich gelassen; es drängt sich das vielgeschundene Wort von der «Ironie des Schicksals» auf, wenn man bedenkt, dass es wiederum das «Menschenbein» in der Brust des Todes war, das ihn Erbarmen mit dem verlassenen Kind verspüren, aber diesmal eine gute Tat vollbringen liess. Zu sehr soll der Tod aber doch nicht gelobt werden, denn er hat auch nur das getan, was rechtschaffene, korrekte Leute in solchen Fällen tun: das Kind einer vertrauenswürdigen Pflegeperson übergeben und, wenn es wie in casu die eigenen Mittel erlauben (Kindesvermögen ist nicht vorhanden), den Unterhalt sicherzustellen. Ein wenig mehr tut der Tod gleichwohl: Er lässt das Knäblein taufen, ernennt sich zu dessen Paten und gibt ihm zum zwanzigsten Geburtstag einen Wunsch frei, sei es Reichtum oder Macht oder Ruhm («Leben» und «Liebe» sich nicht in dieser Geschenkeauswahl). Das ist bezeichnend.

Für den militärisch angehauchten Tod sind Reichtum oder Macht oder Ruhm erstrebenswerte Güter, die auch einem tüchtigen Kerl aus der Kriegerkaste nicht einfach in den Schoss fallen, sondern mühsam erkämpft werden müssen. Weshalb nicht dem Patenkind den Weg zum Erwerb eines solchen Gutes freimachen? Das könnte durchaus die Überlegung eines Menschen mit Geschäftssinn sein. Andererseits ist der mächtige Tod vielleicht gar nicht imstande, Gaben wie Leben oder Liebe anzubieten, bleibt er aufs Töten beschränkt «Ultima latet» heisst es oft unter Sonnenuhren.

Viel schlimmer ist es dem Tod zwanzig Jahre später bei seinem zweiten Totentanz in der Erzählung «Das Patengeschenk» ergangen. Er hatte wiederum das Städtchen aufgesucht, wo er seines Amtes walten sollte. In einer Scheune stösst der Uralte auf seinen Patensohn, der sich mit einem Mädchen vergnügt, seiner ersten grossen Liebe. Es stellt sich bald heraus, dass es fatalerweise dieses Mädchen ist, dem die Stunde schlagen soll. Daraufhin wünscht sich der Jüngling zu seinem Geburtstag vom Tod, dass er seine Liebste freigebe und an deren Stelle ein anderes Mädchen auswählen solle. Der Pate bedauert, dies sei ihm nicht möglich und versetzt das Mädchen in tiefen Schlaf. Es kommt zwischen dem Tod und seinem Patensohn zu einem kurzen, aber heftigen Wortwechsel: Der Jüngling bringt weitere Geburtstagswünsche vor, wonach seine Liebste wieder lebendig werde oder er wenigstens auch in dieser Stunde sterben könne, damit sie im Grabe vereinigt seien. Und der Uralte muss seinem Patensohn alle Wünsche, aber auch alle,



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abschlagen; entweder fehlt es ihm, dem grossmächtigen Tod an der Macht zur Erfüllung oder das Gesetz will es anders so lauten sinngemäss die Erklärungen des Paten. Der Jüngling hat für diese faden Rechtfertigungsversuche nur Hohn übrig. Völlig ausser sich kündigt er dem Tod an, er werde dessen Gesetz brechen und sich selber freimachen. Alsdann packt er den Uralten und steckt mit einer zuvor angezündeten Kerze das Heu der Scheune in Brand, dazu «Tanze, Tod, tanz!» jauchzend. Und das Unvorstellbare geschieht:

Für kurze, aber entscheidende Augenblicke wachsen dem entfesselten, verzweifelten, selbstzerstörerischen jungen Menschen derartige Kräfte zu, dass es ihm gelingt, dem grossmächtigen Tod das Gesetz des Handelns zu entreissen und den eigenen Willen durchzusetzen, freilich, so stellt sich die Frage, um welchen Preis?

Hans Wahl hat dieses dramatische Geschehen in verdichteter, stets vorwärtsstrebender Sprache niedergeschrieben; seine Erzählweise macht den Atem stocken:

«Lass los, du Narr», keuchte der Tod, «mich kann das Feuer nicht verderben, dich aber frisst es auf.» Jedoch, der Jüngling hörte gar nicht hin, sondern lachte ingrimmig: «In der Kälte geboren, bei den Lauen aufgewachsen und jetzt ohne Liebe in der Glut vergehen, wahrlich, wer den Tod zum Paten hat, wird nie des Lebens froh. Komm, wir wollen es verkürzen.» Damit zwang er den Paten, der sich verzweifelt wehrte, zu einem schauerlichen Totentanz, bei dem das junge Leben den Schritt anschlug, ungestüm die Tenne auf- und niederstampfte oder rasend rundherum, sodass der Reitermantel und die Mönchskutte aufwirbelten, sich verfolgten und schliesslich zusammenfallend sich vereinten und zu einer einzigen, lodernden Fackel wurden.

Das Fazit der mörderischen Auseinandersetzung? Es gibt keinen Sieger, es gibt nur Verlierer. Zwar ist der Uralte nicht im Feuer umgekommen wie sein Patensohn und dessen Liebste, was jedoch nicht viel besagen mag, ist doch einem Tod die Unsterblichkeit quasi von Berufs wegen immanent. Der Knochenmann aber hat bei diesem unseligen zweiten Totentanz nahezu alles verloren, was ihm lieb und teuer war. So hat ihm der Feuertod das Patenkind geraubt. Dieser Junge, der ihm auf schicksalshafte Weise auch bei einem Totentanz gleichsam zugefallen war und der sein Erbarmen wachgerufen hatte, stand ihm, dem von den Menschen gefürchteten und gemiedenen Tod, wahrscheinlich am nächsten. Der Verlust des Patensohnes musste den Uralten umso mehr treffen, als dieser unter seinen Augen geschah, gegen seinen verzweifelten Widerstand, aber und das machte die böse Sache wohl auch für den hartgesottenen Paten nahezu unerträglich dieser Verlust geschah mit Wissen und Wollen und vollstem Handlungseinsatz des Patensohnes selbst. im Vergleich dazu wogen die anderen Zeichen für die vom Tod erlittene Niederlage wohl weniger, wenn auch sie schmerzen mussten. Wiederum war ihm, dem mit hoheitlicher Gewalt ausgestatteten grossmächtigen Vertreter des Gesetzen, von einem ehemaligen Klosterschüler, einem Habenichts fürwahr, die Tatmacht aus den Händen gewunden worden. Dadurch war es ihm auch nicht mehr möglich, Zeit, Ort, Ursache und die näheren Umstände hinsichtlich des Versterbens der jungen Frau festzulegen; die Liebste des Patensohnes wurde, wie dieser, von den Flammen verzehrt.

Bis auf die feinsten Knöchelchen blamiert, so musste sich der gestrenge, uralte Vertreter von Gesetz und Ordnung vorgekommen sein, nachdem der revolutionäre Hitzkopf seine Gaben wie Reichtum oder Macht oder Ruhm allesamt verschmäht und statt dessen von Leben und Liebe gefaselt hatte.

Und dass es sich bei diesem Widersacher gerade um den eigenen Patensohn handelte, für dessen Fortkommen sich der Pate, wie seine Geschenkeauswahl zeigt, schon einiges erhofft haben mochte, macht



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alles nur noch schlimmer. «Armer Tod!» ist man geneigt, dem Bruder Hein aus dem «Patengeschenk» zuzurufen. Wer hätte das gedacht: Da tänzelt einer mit dem Gehaben eines grossen Herrn zu Beginn der Erzählung hinter dem Fasnachtszug einher und grüsst mit lässiger Gebärde die Gaffer in den Fenstern oben und dann die schmachvollen Abgänge nach den beiden Totentänzen (so darf man sich das wohl vorstellen, auch wenn der Verfasser darüber nichts schreibt).

Dass der Tod aus dem «Patengeschenk» zwischen den klapprigen Rippen irgendwo ein «Menschenbein» stecken hat, dieses Bild ist vielleicht gar nicht so schlecht. Im Gegensatz zu seinem Kollegen aus dem «memento mon» wirkt er dem Menschen gegenüber viel ähnlicher als jener, scheint er doch mit unseren Eigenschaften wie etwa Eitelkeit oder Habgier, Lebens- und Liebeslust, noch ganz gut ausgestattet zu sein.



***
Werner Bergengruen lässt seinen «Grosstyrannen», der sonst gelassen über den Dingen steht, mit einem Schauder an den Tod denken und in der Gerichtssitzung flüstern: «Es ist etwas Grauenhaftes, dass wir sterben müssen» (Der Grosstyrann und das Gericht, S. 256 unten)

Wer empfindet nicht in dunklen Stunden gleich? Wärs nicht «ein Ziel aufs innigste zu wünschen» dem Gevatter Tod, dem Uralten mit den klaffenden Kiefern», dem «Dürrbeinigen» und Co., zuweilen ein Schnippchen zu schlagen, ihnen (ein geringes) an zusätzlicher Lebensdauer abzugewinnen, so wie es im «Märchen vom alten, listigen Weiblein» berichtet wird («Der Kristallene Schlüssel», S.214 ff.). Ihm ist es gegen den Willen des Todes mit Witz und List an jedem Frühling gelungen, wie eine «schwarze Fliege» wieder aufzutauchen, mit seiner abgestellten Riesentasche den Verkehr auf den schmalen Fusssteigen unseres Schaffhausens zu stauen, um mit einer anderen «schwarzen Fliege» ein längeres Schwätzchen zu halten. Sollten wir nicht versuchen, es den «schwarzen Fliegen» gleichzutun, auch wenn dadurch der himmlische Kalender (ein wenig) umgestellt wird?

Haben wir andererseits, wenn die Lebensbilanzen nicht mehr aufgehen, wenn uns Gott nicht mehr zu hören scheint und sein Antlitz hinter Wolken verborgen bleibt, haben wir Mühseligen und Beladenen dann nicht auch das Recht erworben, mit einem letzten «Bocksprung» über die Grenzen, hinein «in jenes unentdeckte Land, aus dem kein Wanderer wiederkehrt», uns selbst «in Ruhstand zu setzen»? Aber ja doch, und lassen wir uns hierbei von erzkonservativen Kutten- oder Robenträgern der diesseitigen Welt nicht irremachen! - schliesslich haben wir uns mit unserem Entschluss zum vorzeitigen Ortswechsel bereits mit dem Gevatter Tod persönlich angelegt.


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Das gibt dem Tod aus der Märchenerzählung zwar etwas Vertrauliches, Kumpelhaftes, macht ihn aber auch anfälliger auf Versuchungen verschiedenster Art. Der Tod aus dem Spielfragment bemüht sich zwar auch um die Nähe zum Menschen (Ich bin Euch nah, bin immer da in allem, was das Leben gibt), singt er im Amsellied (vgl. S. 12f.). Gleichwohl scheint mir dieser Tod in der Regel auf etwas mehr Distanz zum Menschen bedacht zu sein (ausser er hat sich gerade mit einem aufmüpfigen «Reichen» herumzuschlagen). Mich dünkt, das Bild vom Tod als dem Engel mit den pflaumenblauen Flügeln und dessen Schicksal, wie von Hans Wahl anderswo beschrieben, sei auch gültig für den Bruder Hein des Spielfragments. So heisst es im Märchen «Der Orgelspieler»:

Er war der Einsame unter seinen Himmelsbrüdern und von jenen, die das holde Leben liebten, wie ein fremder Stern gemieden. Wortkarg vollbrachte er sein Werk, selten als Erlöser freudig aufgenommen, meistens als Verderber hart geschmäht. (aus dem «kristallenen Schlüssel»; S. 174 oben)

Fest steht jedenfalls, dass aufgrund des völlig verschiedenen Verhaltens der beiden Tode im Spielfragment und im Märchen und des ebenso unterschiedlichen Verlaufes ihrer Totentänze unsere Schrift zu Recht mit «Variationen vom Totentanz» getauft worden ist.

WEITERE MASKEN FUR DEN TOD?

Hat Hans Wahl ausserhalb seiner Totentanz-Dichung wie dem «MEMENTO MORI» oder dem PATENGESCHENK u dem für eine Erzählung aufgebotenen Bruder Hein äusserlich ebenfalls eine spezifische Maske übergestülpt und ihn mit individuellen Charakterzügen ausgestattet? Urteilen Sie anhand zweier Portraits aus dem «Kristallenen Schlüssel» bitte selbst!

Da trifft man auf den hünenhaften Schuhmachermeister mit den schwarzen Augengläsen. Spezialist für Siebenmeilenstiefel und dem Blick für die Schönheiten dieser Welt. So preist er beispielsweise die heisse Zone mit den Worten: «Im Süden dehnt sich die Wüste, Sandwelle an Sandwelle, und die Zelte der Beduinen und die Buckel der Karawanentiere haben denselben gewölbten Schwung. In der Stille der strahlenden Sternennächte aber hört man die Gottheit singen.» Da hat einer, der wie der stets gelangweilte Reiche dem Besuch des Südens nur ein verdrossenes «Sand, nichts als Sand», abzugewinnen hat, bei diesem Tod bald einmal verspielt, zuletzt sogar sein unnützes Leben; er wird von dieser unerbittlichen und bärbeissigen Figur in die Grube gestossen und dort verscharrt mit den Worten: «Erde, nichts als Erde» («Bis ans Ende der Welt» in «Der kristallene Schlüssel», S. 104-108).

Ein ganz anderes Bild vom Tod als vom zwar altersgebeugten, aber immer noch kraftstrotzenden und ungemein selbstsicheren Schuhmachermeister zeichnet der Dichter mit dem «Orgelspieler»: Schon äusserlich denkt man an eine filigrane, leichtgewichtige und noble Erscheinung, gehört doch dieser Tod zur Gattung der Engel. Die schlanken Hände, vor allem aber die pflaumenblauen Flügel sowie die Liebe zur Musik zeugen von der himmlischen Herkunft dieses edlen Geschöpfes, das allerdings unter seiner Berufung zum Tod stark leidet (Ausgrenzung und Kritik, die bis zur harten Schmähung reicht, machen seinem empfindsamen Wesen zu schaffen, ein freudvoller Ausgleich zu den genannten Widrigkeiten bedeutet offenbar das Musizieren).

Mit dem «Orgelspieler» wird uns ein sehr menschlicher Tod präsentiert («Der Orgelspieler» in «Der kristallene Schlüssel» S. 173-175).



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6. Kulturelle Bezüge

Die Märchenerzählung «Das Patengeschenk» ist kulturgesättigt.

Mit eben der Empfindsamkeit eines Dichters, zugleich aber auch mit der Genauigkeit eines gewissenhaften Chronisten, so hat mein Vater den Diessenhofer Fischerumzug beschrieben, wie sich dieser Volksbrauch in den späteren Vierzigerjahren nach Ende des 2. Weltkrieges präsentiert hat (vgl. S. 40 ff.). Da nur wenig Bildmaterial von Fischer- und Bauernumzügen aus besagter Zeit existiert und schriftliche Berichte vergleichbarer Qualität m. W. gänzlich fehlen, so dokumentiert nur die Schilderung von Hans Wahl den damaligen Diessenhofer Volksbrauch in angemessener Weise.

Mein Vater hat sich mit dem «Patengeschenk» in eine beachtliche Reihe von Autoren gestellt, welche den Totentanz als Motiv ihres literarischen Schaffens im Versepos, Gedicht, Theaterstück, Kriminalroman oder sonst in einer Form behandelt haben. Berühmtestes Beispiel ist wohl die Ballade «Der Totentanz» von J. W. Goethe. Bei aller Tradition, die in die Totentanzerzählung meines Vaters eingeschmolzen ist, besticht sie durch einige Originalitäten: Nicht allzu oft wird man personelle Konstellationen antreffen, wonach die Initiative zum Totentanz nicht vom Knochenmann ausgeht, sondern von jungen Leutchen. Und wer hat schon davon erfahren, wie böse der Tod beim zweiten Totentanz «unter die Räder» gekommen ist?

Offensichtlich ist der Bezug vom «Patengeschenk» zum «Ackermann aus Böhmen» (auch «Der Ackermann und der Tod» genannt) von Johannes von Trepl, den man auch unter dem Namen Johannes von Saaz kennt. Das um 1400 verfasste Streit- und Trostgespräch beinhaltet einen ähnlichen Konfliktstoff wie das Märchen. In der spätmittelalterlichen Schrift stehen sich der Ackermann, dem seine junge, blühende Frau verstorben ist, und der Tod als Kontrahenten gegenüber; der Mensch beschuldigt den Tod ein «grimmiger tilger aller lande» zu sein, der seine Opfer mit grausamer Willkür auswähle. Dieser verteidigt zunächst seine Vorgehensweise und beginnt hernach über den Jammer und die Ohnmacht der Menschen zu spotten.



***
Da tritt Gott auf den Plan und fällt das Urteil, es gibt beiden Parteien recht und unrecht zugleich: Beide sind sie ja nur Knechte Gottes, beide haben das Gut auf das sie sich berufen (der Mensch auf sein Leben, der Tod auf seine Macht) von Gott, dem Herrn über Leben und Tod, bloss zu Lehen erhalten. Kapitel 34, das letzte des Werkes, ist ein lyrisches Gebet des Ackermannes, das er, einsichtig geworden, für seine zu Tode gekommene Frau spricht.

In aller Breite, in über 30 Kapiteln, manchmal garniert von wahren Schimpftiraden, haben Mensch und Tod ihre Argumente vorgetragen, sich dann aber respektvoll dem hoheitlichen Spruch unterzogen. Bei Hans Wahl dagegen ist der verbale Streit zwischen Pate und Patensohn kurz, wobei aus den meisterhaft zugespitzten Äusserungen der Kontrahenten jedoch ohne weiteres klar wird, welche existenziellen Güter, welche Lebensphilosophien im Streite stehen. Weshalb kam es dabei zu Totentanz und Flammentod? Wo war denn Gott zu diesem Zeitpunkt?

Die Annahme, der Verfasser des Märchens habe Gott kurzerhand in die Ecke gestellt, um so ungestört den tragischen Ausgang der Erzählung ansteuern zu können, greift zu kurz. Hans Wahl glaubte aber auch nicht, dass Gott tot oder ein Deus absconditus ist (also einer, der sich verborgen hält und den das Schicksal der Seinen nicht kümmert). So lässt er im «memento mon» den Tod gegenüber dem Narren bekräftigen: «Gott lebt ewiglich» (S. 17 f.). Auf der anderen Seite bewegte ihn angesichts der furchtbaren Ereignisse in der Zeit des Naziregimes, wie viele Menschen, und dies zeitlebens, «die Frage nach Gott», die sich bei ihm aber einengen lässt auf «die Suche nach Gott»; ich zitiere ein entsprechend betiteltes Gedicht:



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Suche

Es waren Flur und Feld
Im Nebel eingefangen,
So einsam war die Welt,
Mit starrem Reif behangen.
Es war die Seele voller Bangen,
Sie suchte nach dem Sternenlicht,
Und suchte Gott mit viel Verlangen,
Und fand ihn nicht.

Im Schrifttum meines Vaters sind häufig Engel, Teufel, Zwerge und auch Tode zu Gast, wobei es nicht immer gesittet her- und zugeht. Einer tritt indessen kaum je in Erscheinung, geschweige denn, dass er als tatkräftig Handelnder an Profil gewinnt: Der Allmächtige. Ich nehme an, bei meinem Vater war es die Scheu vor der Unfassbarkeit Gottes und dessen Handelns, die ihn veranlasst haben, allermeistens ohne ihn in seinen Erzählungen auszukommen, man kann es anstelle von «Scheu vor dem Unfassbaren» vielleicht auch «Ehrfurcht vor dem letzten Geheimnis» nennen. In meinen schwachen Erklärungsversuchen mag der Schluss aus der Erzählung «Das Märchen vom leeren Krug» mithelfen; er lautet:

Durch das sehnsuchtblaue Geäder der Wandung aber tönte lockend und betörend in wundersamer Süsse das Lied der Ewigkeit.

Was weiter geschehen ist, gehört nicht in dieses Märchen. Es wird einst unser tiefstes Wissen sein. («Der kristallene Schlüssel» S.50)



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Bereits im Märchen «Der Gevatter Tod», von den Brüdern Grimm in ihre Sammlung aufgenommen und bearbeitet, tritt der Tod als Pate («Gevatter») auf, wobei sich die Beziehung zum Patensohn ganz anders gestaltet als in der Erzählung von Hans Wahl. Als Patengeschenk erhält der Junge im Grimm-märchen vom «dürrbeinigen» Tod ein Kraut, mit dem Todkranke geheilt werden können. Allerdings darf dies nicht gegen den Willen des Gevatters geschehen. Wenn der Tod beim Kopf des Sterbenskranken steht, darf der Patensohn heilen, wenn sich der Gevatter bei den Füssen des Erkrankten aufhält, ist dem Jungen die Heilung untersagt. Zunächst geht alles gut. Der Patensohn befolgt die Auflagen des Todes und wird infolge seiner Hellsichtigkeit und seiner Heilerfolge zu einem berühmten Arzt. Dann tritt das Unheil ein. Der Patensohn widersetzt sich zweimal seinem Paten, indem er gegen dessen Willen seine Patienten, es sind dies der König und hernach die Tochter des Herrschers, anhebt und in ihren Betten kehrt, so dass der Gevatter ans Kopfende der Todgeweihten zu stehen kommt. Zwar ist der Arzt nach der ersten Widersetzlichkeit vom Tod gewarnt worden, bei einem zweiten Fall von Ungehorsam gehe es ihm selbst «an den Kragen», doch hat ihn die Liebe blind gemacht. So heisst es im Grimm-Märchen: «...aber die grosse Schönheit der Königstochter und das Glück, ihr Gemahl zu werden, betörten ihn so, dass er alle Gedanken in den Wind schlug.» So wurde er nicht gewahr, dass ihm der Pate zornig mit der Faust drohte.

Die Reaktion dieses «Gevatter Tod» auf den zweimaligen Ungehorsam seines Patensohnes ist fürchterlich: er bringt ihn tatsächlich um auf eine heimtückische Art und aus niedrigen Beweggründen, wie mir scheint. Als ihn nämlich sein Patensohn bittet, für ihn ein neues Lebenslicht anzuzünden, das dann weiterbrennen soll, wenn das alte, kleine verlösche, tut der Gevatter so, als ob er den Wunsch zu erfüllen gedenke. . «Weil er sich rächen wollte», so staht's im Grimm-märchen wörtlich, aus dem verwerflichen Motiv der Rache also, stellte er sich absichtlich ungeschickt an, so dass das Lichtlein des in seiner Hoffnung getäuschten und ums Leben geprellten Arztes erlöschen musste: eine hinterhältige Vorgehensweise fürwahr!

Im Märchen «Die falschen Töne», publiziert im Sammelband «Der kristallene Schlüssel», gerät eine Horde von Jungteufeln ausser Rand und Band. Sie setzt sich in den Kehlen des schaffhausischen Frauenchors «Cäcilienverein» fest: der auf Ostern geplante Auftritt der Sängerinnen im Münster scheint wegen ihrer bei den Gesangsproben abgelieferten Missklänge ins Wasser zu fallen. Der ausländische Held des Märchens bleibt aber unverzagt und hält sich an die Devise: «So muss man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.» Wie er dabei nach der alten, strategischen Wahrheit wirklich verfahren ist, das bleibe vorderhand sein Geheimnis. hinter das die lieben Kinderlein noch früh genug kommen werden... Jedenfalls ist der Held der Erzählung nach der Heirat mit einer Hiesigen bis an sein Lebensende in Schaffhausen verblieben.


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Wenn ich das Verhalten des Grimmschen Todes dermassen anprangere, so ist damit in keiner Weise eine Schmälerung seines literarischen Ranges beabsichtigt. Auch mit seinen moralischen Defiziten bleibt dieser grimmige Vollstrecker, gerade wegen seiner unverbildeten Härte und Gradlinigkeit in Fragen des Gehorsams, eine wahrhaft imposante Figur, bei der man weiss, woran man ist. Zumindest erweckt das kurzangebundene Gebaren diesen Eindruck. Vielleicht aber täuscht gerade diese vordergründige Rechtschaffenheit bei diesem Grimmschen Gevatter Tod darüber hinweg, dass ihm der Wechsel von der Richtschnur zum Henkerstrick erschreckend leicht fällt...

Man mag mir ankreiden, ich hätte bei meinem harschen Verdikt über diesen grandiosen Gesellen offensichtlich neuere Erkenntnisse in der Wissenschaft vom Volksmärchen ausser Acht gelassen, so etwa dessen Wesensmerkmale, wie «Eindimensionalität» oder «Flächenhaftigkeit» u .a .m. (vgl. Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen, Bern 1978, 5 .8 ff.). Denn demgemäss müsste auch der Grimmsche Gevatter Tod als «flächenhafte Figur» und ohne «lebendige Innenwelt» auftreten (Zitate nach Lüthi, a .a .0. S. 16). Eingespannt in das Korsett seiner Literaturgattung könnte, ja dürfte selbstverständlich auch dieser Vertreter des Volksmärchens im Verlaufe des Geschehens keinerlei Einsicht entwickeln, ja, überhaupt keine charakterliche Veränderung aufweisen. 5el '5 drum! Mich, als Leser im 21. Jahrhundert, beschäftigt unbeschadet der wissenschaftlichen Erkenntnissen einer mit fremdem Fakultät vor allem die Frage nach den unterschiedlichen Gesichtern des Todes; hat er wirklich «viele Masken»? Beim Vergleich zwischen dem «dürrbeinigen» Gevatter Tod aus dem Grimm-Märchen und dem «Uralten mit den klaffenden Kiefern» aus dem «Patengeschenk» hat der Letztere auch bei Widersetzlichkeiten lange nicht so rigoros und rachsüchtig gehandelt, wie der bis in die letze Faser unerbittliche «Gevatter». Der von Hans Wahl geschaffene «Diessenhofer Tod» geht schliesslich nach unzähligen, siegreichen Vollstreckungen für einmal als ohnmächtiger Verlierer von der Bühne, wobei die zeitweilige Machteinbusse vielleicht aufgewogen wird durch das Etwas an Menschlichkeit, das er an den Tag gelegt hat? Oder schätzen wir Menschen denn nicht jenen Bruder Hein am meisten, dem die Frage gilt: «Tod, wo ist dein Stachel?»

Ist die Annahme nicht einleuchtend, dass ein christlicher Gott, der im Geist und nach dem Sinn des zweiten Testaments waltet, den «Mitarbeiter im Vollzug» nicht wegen einer eher geringfügigen Unterlassungssünde rücksichtslos aus Amt und Würden verstösst, dass dem Vollstrecker somit sicherlich ein gewisser Ermessensspielraum offensteht, innerhalb dessen er seinen Patensohn, den jungen, verliebten Arzt begnadigen könnte, ohne gleich für sich selber das Allerschlimmste befürchten zu müssen?

Ist es andererseits von diesem Grimmschen Gevatter Tod nicht ein arges Stück, dem ahnungslosen Patenkind ein Geschenk mit derartig zwiespältigen Auflagen zuteil werden zu lassen, die den künftigen Arzt unweigerlich mit seinem hippokratischen Eid und seiner Berufsethik in Konflikt bringen werden? Und, und, und.. ,In meinem Kopf sammeln sich Argumente für das Verhalten des jungen Arztes wie diejenigen gegen das Gebaren des «dürrbeinigen» Todes; ich fühle mich unversehens in der Nähe jenes böhmischen Ackermannes des Johannes von Saaz, der gegen die skrupellose und ungerechtfertigte Machtausübung des Sensenmannes gewettert hatte (ein «grimmiger tilger aller lande» sei er, der seine Opfer mit grausamer Willkür auswähle). Ist meine Folgerung zutreffend, dass der Grimmsche Gevatter Tod zwar ein literarisches Monument allerersten Ranges ist- aber wie etwa Shakespeares Richard III. oder auch der Hagen aus Wagners Götterdämmerung das krasse Gegenbeispiel zu einem gesalbten Kirchenheiligen bildet?

Oder sollte einer wie ich, der, auf der Erde stehend, nicht aufreicht, «nur mit der Eiche oder der Rebe sich zu vergleichen», sollte so einer nicht gescheiter alle Mutmassungen fahren lassen und sich demütig vor der Erkenntnis «ultima latet» verneigen?

Man sehe es mir gütigst nach, wenn ich mich für den «Diessenhofer Tod» stark gemacht und dagegen das Verhalten des «Gevatters» aus dem Märchen der Brüder Grimm missbilligt habe; nebst der nicht unterdrückbaren Sympathie für den vom eigenen Vater charakterisierten und von mir mehrfach zeichnerisch



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festgehaltenen Tod, mag auch eine Rolle spielen, dass ich immer noch manches durch die Brille eines ehemaligen Strafverteidigers sehe, der in seiner Tätigkeit gar nicht unparteiisch sein durfte oder konnte. Da tun sich die Literaturhistoriker schon von ihrer Aufgabenstellung her mit der Objektivität leichter als unsereiner...

Immer dann, wenn ich im «Patengeschenk» zur Stelle gelange, wo sich der Jüngling und sein Mädchen vom Fasnachtstreiben zurückziehen und eine Scheune vor der Stadtmauer aufsuchen, um alleine, sich aber nahe zu sein, immer dann kommen mir die beiden jungen Leutchen aus Gottfried Kellers Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe» in den Sinn. Auch Sali und Vrenchen haben miteinander getanzt und sich vergnügt, zwar nicht an der Fasnacht im Städtchen, sondern an einer Kirchweih im Dorfe. Auch ihr gemeinsames Glücklichsein wird nicht lange dauern; sie werden bald zu Tode kommen, zwar nicht in dem vom Patensohn bewusst entfachten heissen Feuer, sondern «im kühlen Wasser», in das sie sich, eng umwunden, hineingleiten lassen.

Es ist eine ähnliche Welt, die ihr Verhalten als «Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften» missbilligen wird, eine ähnlich «verknöcherte Welt», wie auch Hans Wahl schreibt, «wo Reichtum, Macht und Ruhm masslos wichtig sind, während Leben und Liebe wenig gelten.»

Der Tod freilich, der wird in Kellers Novelle eine andere Deutung erfahren, als der linientreue Uralte im Märchen: Wenn man die nicht unumstrittene Auffassung übernehmen will, wonach die Figur des schwarzen Geigers in der Novelle allegorisch für den Tod stehe, dann überrascht die Empfehlung, die dieser Bruder Hein für Sali und Vrenchen anzugeben hat, beträchtlich. «Lasst fahren die Welt und nehmet euch und fraget niemanden was nach!», so lautet der revolutionäre Ratschlag. Darob wird sich der Tod des «Patengeschenkes» dereinst im Grab umdrehen!

Der zweitletzte Absatz aus dem «Patengeschenk» bildet wohl kaum einen echten literarischen Bezug zur fünften Strophe des Gedichtes «Der Feuerreiter» von Eduard Mörike. Aber wenn ich bei meinem Vater lese, dass man, nachdem die Scheune «bis auf die Grundmauern» niedergebrannt war, «beim Aufräumen... unter der Asche zwei verkohlte Gerippe» gefunden hat, entsteht bei mir jeweils sofort eine Assoziation zum Wortlaut der Ballade, wo es heisst:

Nach der Zeit ein Müller fand Ein Gerippe samt der Mützen Aufrecht an der Kellerwand Auf der beinern Mähre sitzen: Feuerreiter, wie so kühle Reitest du in deinem Grab! Husch! da fällt's in Asche ab.

Zweimal dasselbe schreckliche Ende von jungen Leuten im Feuer, zweimal nur noch Gerippe und Asche, dem Feuerreiter gönnt man indes Ruhe, dort wo er umgekommen ist («Ruh wohl, Ruhe wohl Drunten in der Mühle!» so lautet der versöhnliche Wunsch). Viel härter trifft es den Patensohn; er findet keine Ruhe, weil er sein Erdendasein nicht zu Ende gelebt hatte. Er ist immer unterwegs bis zum letzten Tag.

Das ist doch ungerecht, nicht wahr? Im Geist vernehme ich, was der immer sehr sorgfältig abwägende Professor Karl Oftinger mit leiser, sensibler Stimme zu mir bemerken würde: «Wahl, kennen Sie sämtliche Berichte die beiden Vorfälle betreffend in allen Einzelheiten, haben Sie die jeweiligen Vorakten ad personam genau studiert, haben Sie mit allfälligen Auskunftspersonen oder Tatzeugen gesprochen... nicht? Weshalb gelangen Sie dann zum Schluss...?» - Recht hätte er, der Rechtslehrer.



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7. Befund

Das Kunstmärchen «Das Patengeschenk» zeigt den Märchendichter Hans Wahl auf einem Höhepunkt seines Schaffens. Er kann sich frei in seiner eigentlichen Domäne bewegen und voller Herzenslust mit Wort und Bild sein persönliches Spiel betreiben. Beim Besuch eines Fasnachtsfestes ist der Keim zur Totentanzgeschichte gelegt worden, in der weiteren Freizeit polierte der Zollbeamte an seinen Eindrücken und dazuwachsenden Einfällen herum, bis die das Geschehen sehr eigenwillig differenzierende Erzählung vollendet war.

Das Märchen wirkt, als hätte sich der Verfasser am Abend hingesetzt und es in einigen Nachtstunden ohne Korrekturvermerke fix und fertig niedergeschrieben. Der Eindruck «aus einem Guss» gestaltet worden zu sein, vermittelt sich zum einen durch die ungewöhnlich dichte Sprache, die zwar sehr bildkräftig, aber durch kein einziges überflüssiges Wort belastet ist. Die meisterliche Handhabung der Sprache zeigt sich sowohl bei der Wiedergabe einer hiesigen Februarlandschaft mit Föhnhimmel und «gluckernden Schmelzwässerchen» (mit ganz wenigen Farben und in knappen Formulierungen ersteht die Atmosphäre eines Vorfrühlingstages), wie auch bei der ausladenden, aus dem Vollen schöpfenden Schilderung eines Festumzuges, bis hin zu Berichten über dramatische Geschehnisse (wie etwa Totentänze mit Komplikationen) )- da drängt die Sprache nach vorwärts, nimmt den Charakter eines Rapports an, macht den Atem stocken.

Überhaupt keine Hemmungen verspürt mein Vater beim Einsatz von als altertümlich geltenden Stilmitteln: Der Stabreim wird bei ihm zum Zauberstab, womit er Frühlingsahnen schafft: «...in den Schattengründen schäumte der schmelzende Schnee», zuweilen verbreitet er damit Angst und Schrecken, wenn er den Uralten aus «klaffenden Kiefern» grinsen lässt, hie und da weitet er die Alliteration über ein Satzende hinaus (..:eröffnete ihm das Geheimnis seiner Geburt. Gleichzeitig gab er ihm kund, dass...»).



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Für das folgenschwere Wort des Todes: «Ich kann nur Leben nehmen, aber keines geben», hält Hans Wahl einen Binnenreim parat. Er wagt das Spiel mit der freien Sprache - und gewinnt dabei. Durch die Meisterschaft des Verfassers beginnt diese Sprache von der ersten Zeile an zu glänzen und zu leben, mit ihrer Hilfe werden Stimmungen geschaffen, die über die ganze Bandbreite von «mitreissend-schwungvoll bis schmerzlich-schön» all das abdecken, was menschliche Sinne empfinden können.

Das «Patengeschenk» zählt mit knapp fünf Buchseiten gewiss nicht zu den langen Märchen. Gleichwohl ist es mit dramatischen Ereignissen so gefüllt, dass es beinahe in den Nähten platzt. Schon früher habe ich darauf hingewiesen, dass es auch mit Kultur angereichert ist, dass literarische Bezüge auszumachen sind zu den schriftlichen Kunstwerken vom Totentanz im allgemeinen, im besonderen aber zum «Ackermann aus Böhmen», zum «Gevatter Tod)). zu «Romeo und Julia auf dem Dorfe» und vielleicht auch zum «Feuerreiter». Unbestritten ist der kulturelle Bezug zur Diessenhofer Fasnacht. Diese Kulturlastigkeit gibt der Erzählung meines Vaters vermehrte Tiefe, macht die Lektüre zwar anspruchsvoll aber auch anregend.

Die Häufung der dramatischen Ereignisse nach dem meisterhaften Vorfrühlingsbeschrieb und dem mit Behagen geschilderten Fischerumzug frappiert: Der erste, vom Tod nicht geplante Totentanz endet überraschend mit dem Hinscheiden einer Mutter und der Geburt ihres Söhnleins, gefolgt von der Flucht der Fasnächtler in ihre Häuser, es schliesst sich an die ungestüme Vorsprache des Todes beim Abt; vor dem zweiten Totentanz kommt es zu einem heftigen Wortwechsel zwischen Patensohn und Tod, der die Liebste des Jünglings in Todesschlaf versetzt. Hierauf zündet der Patensohn das Heu in der Scheune an und zwingt den Paten trotz dessen Widerstandes inmitten der Feuerbrunst zum nicht von diesem vorgesehenen Totentanz. Der Jüngling wird mit seiner Liebsten zusammen vom Feuer «aufgefressen», man findet nur noch ihre beiden Gerippe.

Der Tod erteilt dem Totenvogel Anweisungen. Wir erleben den «Totenvogel» bei Hans Wahl in der Erzählung «Zweierlei Eier» aus dem «Kristallenen Schlüssel». S. 32 f., als er im herbstlichen Weinberg reife Trauben schnäbelt. Er gleicht dabei einem Staren, «doch seine Augenhöhlen sind leer und lassen das Licht durchfallen.» Eine wissenschaftliche Bezeichnung habe ich für den Gefiederten, der in Ägypten «Benu» heisst, ausserhalb kryptozoologischer Benennungen, allerdings keine vorgefunden... Im Zweistromland gibt man ihm die Gestalt eines hochbeinigen, eleganten Reihervogels, teilweise als Chimäre mit einem Menschenkopf ausgestattet.


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Das geschieht auf wenigen Seiten, aber innerhalb eines Zeitraums von zwanzig Jahren. Es verwundert nicht, dass der Verfasser bei dieser Schlag-auf-Schlag-Folge dramatischer Ereignisse für lyrische Passagen kaum mehr Raum übrig hat. Dabei handelt es sich bei diesen gehäuften dramatischen Ereignissen ja grösstenteils um schicksalsschwere, tragische Geschehnisse und ihre Protagonisten sind tragische Figuren. Wir haben das bereits vom Tod so erfahren, rechnen aber auch seinen Patensohn zu dieser Kategorie. Wird dieser von Hans Wahl zunächst als eigentlich unsympathischer, da haltloser und selbstzerstörerischer junger Mensch bezeichnet, so findet der Dichter hernach für kurze Zeit ein Fenster, durch das man den Patensohn in einem anderen Licht sieht. In der kurzen Lebensspanne, die ihm zusammen mit dem Mädchen noch verbleibt, wird er zum unschuldigen Kind, das auf anrührende Weise zum ersten Mal das unendliche Feld der Liebe zum anderen Geschlecht betritt (auch das Mädchen begegnet diesem Wunder). Dann aber werden die jungen Liebesleute von der Macht ihres Schicksals eingeholt.

Aber es scheint mir charakteristisch für das Schaffen meines Vaters zu sein: Selbst dort wo das Verhängnis seinen Lauf nimmt, glimmt bei ihm irgendwo ein Fünklein Humor, keimt bei ihm irgendwann ein Quäntchen Hoffnung - so auch im «Patengeschenk». Wenn der Tod mit dem klagenden Kind den vespernden Abt aufsucht und ihm «das wimmernde Wesen zwischen Käseteller und Weinglas» niederlegt, dann entlockt dies dem Leser ein Schmunzeln, während dem Abt der Appetit vergehen wird.

Die Erzählung ((Das Patengeschenk» ist düster angelegt und nimmt ein bitteres Ende. Das ist bei Hans Wahl eher ungewöhnlich. Die sterblichen Überreste des Liebespaares hat man zwar bei den vergessenen Gräbern der Namenlosen bestattet, wo aber auch - und das zeigt wenigstens die Natur von ihrer versöhnlichen Seite - ((die Massliebchen, wie nirgends sonst, strahlend blühen und die Honigbienen besonders emsig summen. »

Meinen Vater jedoch scheint nichts mehr am Schreibtisch zu halten; er nimmt im letzten Absatz seiner Erzählung Partei für den unglücklichen Jüngling, der «den Aufruhr» schürt «gegen eine verknöcherte Welt, wo Reichtum, Macht und Ruhm masslos wichtig sind, während», und jetzt schmettert mir der Stabreim wie ein Fanfarenstoss ins Ohr: «Leben und Liebe wenig gelten. » Die Märchenerzählung «Das Patengeschenk» ist auch ein politisches Manifest.



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8. Nochmals mein Vater

Wann mein Vater das «Patengeschenk» zu Papier gebracht und an welchem Wochenende er es mir zum ersten Male in seiner getragenen Weise vorgelesen hat, weiss ich nicht mehr; es wird an einem. «freien» Samstagnachmittag gewesen sein, frei und noch nicht verplant infolge direktorialer Sonderwünsche. Die wechselnden Direktoren des Zollkreises hatten nämlich registriert, dass einer ihrer Beamten besonders gut zu schreiben verstand, und so wurde mein Vater gebeten, für dienstliche Konferenzen und gesellschaftliche Anlässe ein paar passende Worte zuhanden des überlasteten Vorgesetzten («Sie wissen ja, wie das so ist...») zu formulieren. So sind denn noch umfangreiche Notizen für einen Vortrag «Das Hauptzollamt im Durachtal» nebst einem historischen Rückblick oder die amüsante Dankesrede eines Zolldirektors für die Einladung ans Zürcher Sechseläutenfest in den Papieren meines Vaters auszumachen. - Nach einigen Anpassungsschwierigkeiten hatte sich Hans Wahl doch noch mit dem biblischen Berufsstand seines Vaters, eines Zollbeamten, angefreundet, wobei ihm «das Diebsbein in der Brust» gelegentlich zu schaffen machte. Mein Vater litt nämlich unter demselben mysteriösen Auswuchs zwischen den Rippen wie sein Dichterkollege Johann Peter Hebel (1760-1826). Die Diagnose für den Herrn Kirchenrat lässt mein Vater in seiner Kalendergeschichte «Der Pferdedieb» von keinem Berufeneren als dem Meisterdieb Zundelfrieder, dem literarischen Geschöpf des dichtenden Geistlichen also, aussprechen. So bemerkt der Zundelfrieder zu Johann Peter Hebel:

«Verzeiht den üblen Scherz, Herr Kirchenrat, ich wollte Euch nicht kränken. Gewiss, Ihr seid kein Pferdedieb. Und doch, wenn einer Geschichten erzählt, wie Ihr es im Kalender tut, von Schelmen und von Schälken, dann hat er selbst ein Diebsbein in der Brust. (S. 11)



***
Hans Wahl selber hat seit seinem Erstling «Der Unscheinheilige» die Schelmen und Schälke ins Herz geschlossen und von ihnen erzählt. Seine Sympathie zu den Aussenseitern und Benachteiligten, zu den Erfolgslosen und Armen dieser Welt mochte ihm in stockkonservativen Kreisen den Ruf eingetragen haben, es stecke ihm ein Diebsbein in der Brust oder er habe, wie der in einem seiner Geschichten auftretende Zöllner zwei Seelen in dieser Körperhöhlung (die eines Engels und die eines Strassenräubers). Das Bild vom Diebsbein in der Brust dürfte dabei auf meinen Vater, der ja niemals ein Ross geklaut hat (auch von Hebel sind keine strassen räuberischen Schandtaten überliefert), eher zutreffen.



Der Pferdedieb

Auch Johann Peter Hebel, Geistlicher und alemannischer Dichter, soll in seiner Brust ein Diebsbein getragen haben. Betroffen von diesem medizinisch immer noch nicht erklärbaren Phänomen seien vor allem Personen, die, obwohl in geordneten bürgerlichen Verhältnissen lebend (zumeist sogar im Staatsdienst tätig), durch eine ungezügelte Fantasie und eine schwer verständliche Sympathie zu Schelmen und Schälken Befremden erweckten (So ein nicht genannt sein wollender Psychiater «der Facharzt ist»; zuweilen selbst im Staatsdienst tätig).


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Die beiden verstorbenen Schaffhauser Anwaltskollegen Johannes Müller und Rudolf Hädener berichteten mir, unabhängig voneinander, Hans Wahl habe sich im Verlaufe der Zeit zu einer eigentlichen Autorität im Bereiche des Zollverwaltungsstrafrechtes entwickelt. In der Tat besass mein Vater, was Rechtsfragen angeht, eine schnelle Auffassungsgabe; ich kenne nicht allzu viele Vertreter der Juristenzunft, die, was die Klarheit von rechtlichen Analysen oder den Scharfsinn der juristischen Argumentation anbetrifft, imstande gewesen wären, ihm die Stirne zu bieten. Mir kam das wiederum während meines Jusstudiums zupass. Wenn ich jeweils an Wochenenden meine Eltern in Schaffhausen besuchte und im geistigen Weggepäck eine Erkenntnis des klügsten Kopfes der Fakultät es war dies der legendäre Prof. Karl Oftinger mit mir führte, wonach dem Rechtsinstitut der «Geschäftsführung ohne Auftrag» zukünftig eine breite Verwendung offen stünde, dann hatte ich diese Erkenntnis sofort meinem Vater zu unterbreiten, der sich mit Behagen an die professorale Prognose machte und sie mit mir zusammen eingehend diskutierte.

Hans Wahl konnte aber seines Rufes als rechtlich versierter Beamter nicht froh werden. Wenn jeweils die Zollkreisdirektion in einem Strafverfahren gegen Deliquenten zu vertreten hatte und der Verhandlungstermin feststand, dann wurde die Atmosphäre zuhause düster und zwar unabhängig von der Wetterlage, die draussen herrschte. Oft lagen nämlich die Sympathien meines Vaters auf der Seite des Täters, so dass es ihm deswegen (und nicht aus rechtlichen Gründen) schwerfiel, guten Gewissens als Ankläger zu wirken. Bis zur Verhandlung wankte er mit allen Zeichen einer Depression in der Wohnung herum, die Gesichtszüge versteinert, höchstens ein bisschen Trost findend bei der «Wonne», unserer heissgeliebten Hauskatze. Besonders meine Mutter, eine lebhafte und warmherzige Frau, die manches Jugendjahr in Genf verlebt hatte, litt unter der zeitweisen Schwerblütigkeit ihres Ehemannes; ihr Kummer entlud sich ihrem Temperament entsprechend in einem Wutausbruch. Waren die «Plädoyernotizen zur Anklage» aber endgültig in den Aktenschlaf versetzt worden, dann war im familiären Bereich alles wieder gut.

Der Wissensaustausch mit meinem Vater blieb selbstverständlich nicht auf rechtliche Aspekte beschränkt; mein Mentor begehrte etwa von mir zu erfahren, wieso Prof. Gotthard Jedlicka den Maler Marc Chagall höher einschätze als dessen Kollegen Oskar Kokoschka, wie es Zoodirektor Heini Hediger schaffe, den Nashornbullen zu veranlassen, sein Gehege zu markieren u a .m. Als sein Filius zum Leutnant avancierte, wurde der Gesprächsstoff militärisch: Der «Füsel» Hans Wahl, so bezeichnete sich mein Vater nun vermehrt, unterhielt sich dabei mit mir gerne über die Panzergängigkeit des Geländes im Knonaueramt; zu reden gab auch das von «Randenärger» (gemeint Brigadier Brandenberger) ersonnene Verteidigungsdispositiv für den Kanton Schaffhausen.

Mein Vater hat «alles, was da kreucht und fleucht», geliebt; doch von den tierlichen Mitgeschöpfen stand seinem Herzen die Hauskatze (Felis silvestris catus) am nächsten. Er hat seine Lieblinge denn auch zum Mittelpunkt einiger Erzählungen gemacht; ich denke etwa an die Weihnachtslegende «Die Katze von Bethlehem« oder das Märchen« So wie man das Kätzchen streichelt» u .a .m.

Die letztgenannte Geschichte endet so:

«Vielleicht möchte dieser oder jener hören, dass sich das schwarze Kätzchen in eine wunderschöne Prinzessin verwandelt habe, wie es zumeist im Märchen geschieht. Aber das wäre nicht wahr, denn wie sollte ein Kätzchen, das schlummert wann es will, schmauset was es will, und schmeichelt wem es will, ein mühseliges und unterwürfiges Menschenwesen werden wollen?»



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Zu eigentlichen geistigen Höhenflügen hat mir mein Vater indessen etwa zehn Jahre früher verholfen, als er mir den Zugang zur Literatur auftat. Zunächst war der Unterricht noch eher handfester Natur und buchstäblich am praktischen Fortkommen orientiert: In der langen Strasse, die damals zwischen Friedhofsmauer und Seilerei zum Elementarschulhaus führte, übten wir nach Anweisungen Old Shatterhands das kräftesparende und gleichwohl rasche Laufen der Westmänner, das darin besteht, dass das eine Bein während einer Viertelstunde oder mehr stärker beansprucht wird als das andere; hernach wechselt man mit dem Krafteinsatz auf das zuvor entlastete Bein... Auch wenn sich manches Erlebnis von Shurehand, Winnetou und den arabischen Helden bei genauerem Hinsehen als Geflunker erwies, meinem Vater und mir haben die «Weisheitslehren» aus Radebeul Spass bereitet und für mancherlei Gesprächsstoff gesorgt.

Ein anderes war es dann freilich, als auf Karl May die höhere Schule mit Conrad Ferdinand Meyer folgte. Da war nun mein Vater als kundiger Mentor in seinem Element. Jeweils ein Kapitel aus der Novelle «Die Versuchung des Pescara» wurde von ihm an einem Abend zunächst vorgelesen, hernach erläutert und mit mir durchbesprochen. Dabei gestaltete mein Mentor die Lesung und den erhellenden Kommentar dazu derart spannungsgeladen, dass ich es kaum auf meinem Stuhl aushielt; jemand musste doch wohl dem unbedarften Herzog von Mailand zu Hilfe eilen, Fränzchen sollte gewarnt werden auch vor seinem redegewandten, aber zwielichtigen Berater, dem Kanzler Morone! Später machte mir zu schaffen, dass auch die edle Viktoria, die Ehefrau des sterbenskranken Feldherrn versucht sein könnte, ihren Gatten für eigene Ziele einzuspannen...

Intrigen allüberall und untaugliche Versuche zur Versuchung zuhauf, da Pescara, bereits vom Tode gezeichnet, über allen Verführungen steht. Genaueres weiss ich nicht mehr von dieser Novelle, in der Erinnerung rauscht die Sprache Meyers wie ein im Dunkel schimmernder Strom.

Bereits im zweiten Range als Lieblingstiere fungierten bei Hans Wahl die Hunde, wobei Mischlinge und Bastarde gerade wegen ihrer zweifelhaften Herkunft die Schnüffelnasen noch etwas vor den Rassetieren gehabt haben dürften... Aber mein Vater liebte sie alle; er war der einzige, der als «Fremder» mit jenem schlechtbeleumdeten «Teddy», dem «Schrecken der Säntisstrasse», der, verborgen hinter einem Eckgesträuch seines umzäunten Gartens, den friedlichen Fussgängern auflauerte, sie mit einem plötzlichen, lautstarken Scheinangriff zu Tode erschreckte und sie über eine längere Wegstrecke hin, gottlob selber immer innerhalb des Gartengeheges laufend, mit gehässigem Gebell verfolgte.

Nein, mein Vater schätzte und achtete alle diese Vierbeiner, die zu einer Intrige auch gegen einen todkranken Feldherrn Percara nicht fähig waren (dagegen zu einer wütenden Beissattacke durchaus) sehr. Er hat für den treuen Begleiter der Menschen mit den Worten: «Das Meer legte sich zu seinen Füssen wie ein braver Hund», aus dem chinesischen Märchen asas-sesia ein literarisches Denkmal geschaffen.



Wahl-Totentanz-068. Flip arpa

Ich will diese kleine Hommage für meinen Vater beendigen, würde doch sonst sein Stirnrunzeln immer stärker. Schliesslich war er «ein allem grossen Wesen abholder Mensch gewesen» (so Fritz Senft in einem Nachruf). Und damit lasse ich, für ein Weilchen nur, auch die Glücksmomente meiner Kindheit fahren. Wie geschrieben: nur für ein Weilchen. Denn schon färbt sich, von der erlebten Wirklichkeit genährt, ein Traum: Ein Mann, mir seltsam «fremdvertraut» (ich wusste zum Beispiel von ihm, dass er zeitlebens nie eine Armbanduhr trug für seine Gänge pflegte er sich am Gebimmel des Munotgiöckeleins oder an den Zifferblättern der Stadtkirche 5t. Johann, denen des Fronwagturms, am Münstergeläute oder an den Uhren in öffentlichen Gebäuden zu orientieren), dieser Mann also wird sich an irgendeinem Freitagabend zu mir herabbeugen und mir verschwörerisch ins Ohr flüstern: «Mein Sohn, ich habe am Stadtrand bei Buchthalen eine Villa mit einem Park ausfindig gemacht, mich sticht «de Gwunder», ich möchte gerne wissen, wer dort wohnt und wie die Leute «iigrichtet» sind. Wollen wir morgens zusammen hingehen?» werde unbewegten Gesichtes nicken und am Samstagnachmittag hinter dem Mann durch einen unbekannten Park schlendern, hinter ihm, damit er mich vor einer allfälligen Beissattacke eines übereifrigen Wachhundes schützen könnte. Ich sehe den Mann von hinten, aber ich erkenne ihn auch im Schattenriss an seiner stets ein wenig wegen des Diebsbeines? hochgezogenen linken Schulter, an der oft ein bisschen vernachlässigten Bekleidung (seine treue Gattin hat ein Eheleben lang gegen dieses Bild angekämpft und ist meistens nur während kurzer Zeit Sieger geblieben, denn ihr Mann machte sich nun einmal gar nichts aus seinem Äusseren); in diesem Punkt kommen mir jedes Mal die ausgebeulten Seitentaschen an den Kitteln dieses Mannes in den Sinn, ausgebeult wodurch wohl? Durch beträchtliche Mengen von klobigen, rechteckigen Zuckerstücken, die er für seine Lieblinge, die «schweren Gäule» der Brauereien, Fuhrunternehmen, Kohlenhandlungen und Bauernbetriebe aufgehoben hatte. Wenn er so ein Gespann irgendwo antraf, dann wurde ihm unweigerlich das Leben versüsst. Die meisten der mächtigen Rosse erkannten den Mann schon von ferne und mancher Hansi, Max oder Moritz hat, wenn er die vertraute Stimme vernahm, mit dem Vorderhuf zu scharren begonnen und dabei mit der Zacke des Eisens ein Zeichen der Freundschaft in den Pflasterstein geritzt. - Ich kenne diesen Mann noch besser, als es die belgischen Kaltblüter tun: er ist ja mein Päpp!

Die stattlichen Gespanne belebten meine Knabenzeit, ich denke da vor allem an die Nachkriegsjahre bis etwa 1950 noch recht oft. Indem sie die Wagen mit den Briketts aus der Kohlenhandlung und den Bauernkarren voll von Brennholz an die Säntistrasse 27 schleppten, haben die wackeren Rosse dazu beigetragen, dass die Familie Wahl «au strängi Winterziite hät möge überstooh».