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Des Märchens 2. TeiI Seite 051
Des Märchens 2. TeiI Seite 060
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Des Märchens 2. TeiI. Seite 080
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Des Märchens 3. TeiI..Seite 150
Des Märchens 3. TeiI.. Seite 160

001 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.


002 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.

Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart


003 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.


Das Märchen vom Karfunkelstein


Eine wunderliche Geschichte für keine und große Kinder von Ludwig Ganghofer Illustriert von Arpad Schmidhammer

Stuttgart Berlin Leibzig Union Deutsche Verlagsgesellschaft

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Ich widme dieses Buch dem lieben Kleeblatt Doddy Hedda und Hilde Kaulbach in München


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Es war einmal, vor tausend Jahren, ein reicher König der Zwerge, mit Namen Grawigrüweling. Der war so groß, wie eines Menschen kleiner Finger ist. Und weil er fünftausend Jahr alt war, vielleicht noch älter, war ihm der weiße Bart an die vierzig Ellen lang gewachsen. Und die Augenbrauen hingen ihm dick und zottig über die Augen herunter. Wollte der König Grawigrüweling etwas genauer sehen, dann mußten ihm vier Zwerge die Augenbrauen mit silbernen Krücken in die Höhe spreizen. Und wenn er von seinem goldenen Thron herunterstieg, um sich ins kleine Zwergenbettlein zu legen, mußten vierhundert Zwerge seinen langen weißen Bart vor ihm hertragen. Sonst hätte sich der kleine König mit den kurzen Füßchen in die vierzig Ellen Haare verwickelt und wäre auf die Nase gefallen. So was lieben die Könige nicht. Die wollen immer das gekrönte Haupt schön aufrecht tragen.

Dieser König Grawigrüweling war unermeßlich reich. Denn mit dem unzählbaren Heer seiner Zwerge hatte er vor tausend Jahren, vielleicht schon früher, den grausam reichen Riesen Naturiwus überwunden und ihm all seine kostbaren Schätze abgenommen. Nur ein einziges Kleinod aus dem Schatz des Riesen hatte der König Grawigrüweling nicht gewinnen


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können: den herrlichen Karfunkelstein, der in der Krone des Riesen Naturiwus geleuchtet hatte wie eine rote Sonne. Denn als der Riese sah, daß ihm die siegreichen Zwerge alles, alles nahmen, all sein Gold und Silber, sein Eisen und Blei, seine Burgen und Berge, seine Wälder und Seen, da riß er, halb schon gefesselt, mit seinen Zähnen den leuchtenden Karfunkelstein aus seiner Krone und verschluckte ihn. Und so behielt der Riese, als ihn die Zwerge in Ketten legten, dieses kostbare Kleinod in seinem Besitz und drehte dem König Grawigrüweling mit Lachen eine lange Nah.

Seit fünftausend Jahren, vielleicht noch länger, wohnte dieser König Grawigrüweling in einem unterirdischen Palaste, tief im Innern des Berges Wetterstein. Ihr wißt doch, wo der Wetterstein gelegen ist? Der liegt genau in der Mitte zwischen Berlin und Rom und steigt aus grünen Wäldern auf, eine schwindelnd steile Felsenburg, die ihre steinernen Türme hinaufhebt in das Blau der Lüfte. Das ist der Wetterstein. Der steht noch immer auf dem gleichen Fleck, seit vielen tausend Jahren. Und höher ist er, als die Wolken ziehen, höher, als ein Adler fliegen kann. Und an schönen Tagen, in der hellen Sonne, sieht er aus, so blank und weiß, als wäre er nicht aus Stein, sondern ganz aus purem Silber gebaut. Aber wißt ihr auch, warum er Wetterstein heißt? Weil er den tausend Menschen, die rings um ihn her in den grünen Tälern ihre kleinen, weißen Häuschen haben, das


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Wetter prophezeit. Denn lange, bevor ein böses ungewitter kommen will, da macht der Wetterstein schon ein finsteres Gesicht und zieht eine graue Wolkenhaube tief herunter über den steinernen Kopf. Und dann geht's los! Ein Sausen und Heulen, ein Gießen und Schütten, ein Blitzen und Donnern, als ginge die Welt zu Grunde.

Aber wenn sich das böse Wetter ausgedonnert hat, und wenn der gute Berg sein lachendes Steingesicht herausschiebt aus der Wolkenhaube, und wenn der klare Abend kommt, und wenn die Sonne, bevor sie schlafen geht, noch einen hellen, goldenen Gruß über die Berge herunternickt in alle Täler — ach, wie schön ist das! Und vor tausend Jahren war's noch tausendmal schöner! Und wenn dann erst die Zwerge im Wetterstein ihr Schmiedefeuer anzündeten! Wie herrlich ist das gewesen! Da lag der Wetterstein ganz dunkelblau in der blauen Dämmerung. Und plötzlich fing er zu glühen an, von den schwarzen Wäldern bis hinauf zu seinem Gipfel, immer heller, immer röter, bis der ganze steinerne Berg im blauen Abend brannte wie eine große, hohe, rote Flamme. Der Berg aber brannte nicht! Nein! Das war nur der Widerschein vom Schmiedefeuer der Zwerge, die als Untertanen ihres Königs im Berge Wetterstein bei der Arbeit waren. Die schliefen am Tag. Aber wenn der Abend kam, dann fingen sie die Arbeit an. Und schafften die ganze Nacht bis zum ersten Morgenlicht. Und weil das Silber und Gold, aus dem


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sie Kronen und Schwerter und Lanzen schmiedeten, so hart zu schmelzen war, drum mußten sie in ihrer Schmiedewerkstatt ein so mächtiges und heißes Feuer anzünden, daß sein Glanz aus dem Innern des Berges hinausleuchtete durch alle Felsen.

Und all diese Zwerge, das waren kleine, winzigkleine, alte Männlein mit grauem haar und eisgrauen Bärten. Und hatten graue Kittelchen an, bis zu den Knien, und jeder ein ledernes Schürzlein drüber. Sie guckten mit ernsten Augen drein und niemals konnten sie lachen; und wußten nicht, was Freude ist. Denn die Zwerge waren so klug und mußten so fleißig arbeiten, daß sie zum Lachen und Frohsein keine Zeit hatten. Die armen Kerlchen!

Und wißt ihr, wie die Zwerge in die Welt gekommen? Das ist eine sehr merkwürdige Sache. Paßt mal auf, wie das zugegangen! Da saß der Zwergkönig Grawigrüweling mit der von Edelsteinen blitzenden Krone auf seinem goldenen Thron und dachte sich was. Und kaum hatte er sich was gedacht, da sprang ihm, hui, aus seiner Stirn ein kleiner Zwerg heraus, ein altes, graues, tausendkluges männlein. das sich flink und ernst an die Arbeit machte und alles tat, was sich der Zwergkönig Grawigrüweling gedacht hatte.

Und weil der neugierige König seit fünftausend Jahren so schrecklich vieles dachte und alles, alles wissen wollte, und weil ihm bei jedem Gedanken solch ein alter, grauer, kluger


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Zwerg aus dem Kopfe heraussprang, drum ist die Zahl seiner kleinen Zwerge so unzählbar groß geworden.

Eines Morgens nun. vor tausend Jahren, als über dem Wetterstein die liebe, schöne, goldene Sonne aufging, saß der Zwergkönig wieder nach einer langen Arbeitsnacht auf seinem goldenen Thron. Und weil die Nacht so kalt war, hat's ihn gefroren, daß ihm die Zähne klapperten. Aber statt sich am lichten Glanz der Sonne zu freuen, statt an ihren Strahlen die kalten Gliederchen und das kalte Ksnigsherzlein zu wärmen, hat sich der Zwergkönig Grawigrüweling in seiner Neugier gedacht: "Ich möchte nur wissen, wie weit die Sonne von mir entfernt ist?"

Hui, da sprang ihm aus der Stirn ein Zwerg heraus, ein kleines, altes, kluges Männlein, und nahm einen Schießbogen und stieg auf den Gipfel des Berges Wetterstein und band einen langen, langen goldenen Spinnefaden an den Pfeil, und schoß den Pfeil so hoch hinauf, daß seine Spitze in der goldenen Sonne stecken blieb. Dann kletterte das Zwerglein hurtig an dem goldenen Spinnfaden in die Höhe, bis zur Sonne, und ließ sich wieder an dem goldenen Faden herunter und kam zum König gelaufen und sagte: "Großmächtiger König! Die Sonne ist von Eures Gedankens Majestät zehntausendbillionenmal so weit entfernt, als meine Nase lang ist."

"So so?" sagte der Zwergkönig Grawigrüweling und strich


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seinen langen weißen Bart. "Also, das weiß ich jetzt auch! Zehntausendbillionen Nasenlängen ist die Sonne von mir entfernt. So so so sooo?" Und diese Weisheit machte ihn so ernst, daß er die kleine Stirn in hundert Falten legte. Und als er bei Anbruch des hellen, warmen Tages von seinem goldenen Thron herunterstieg, um sich ins kleine Zwergenbett zu legen, wobei vierhundert Zwerge seinen vierzig Ellen langen weißen Bart vor ihm hertrugen, da war dem Zwergkönig Grawigrüweling so schrecklich kalt, daß er zitterte an allen Gliedern. Sieben linde graue Mausfelle mußten die Zwerge herbeischleppen, um den frierenden König zuzudecken. Aber dem König wurde nicht warm —doch die unzählbare Schar seiner klugen Zwerge hatte sich wieder um einen vermehrt. und der bekam den Namen Sonnengucker.

Und während sich der König frierend in sein kaltes Bettlein hufchelte, hörte er mit seinen scharfen Ohren in weiter Ferne ein lustiges Singen und Jodeln. Das klang durch alle Felsen des Berges Wetterstein zu ihm herunter in die kalte Tiefe. Und der König fragte: "Wer mag das sein, der da droben dieses törichte Geräusch verursacht?"

"Herr König, das ist der kleine Holdrio, ein junger Bub, der die Geißen hütet!" sagte Sonnengucker. "Als ich an meinem goldenen Spinnefaden aus den Lüften herunterkletterte, sah ich den Holdrio in der Sonne sitzen. Und während seine dunklen Augen wie zwei helle Sterne glänzten,


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schnitt er sonderbare Grimassen und gab jene törichten Geräusche von sich."

Nachdenklich schüttelte der Zwergkönig Grawigrüweling den Kopf und sagte: "Diese Grimassen und Geräusche werden von den Menschen Lachen und Singen genannt. Und sie sagen, das wäre ein Zeichen von großer Fröhlichkeit. Aber dieser Geißbub weiß doch sicher nicht, wie weit die Sonne von ihm entfernt ist! Wie kann man so ungebildet sein? Und doch so froh dabei? Ich weiß so vieles! Und kann nicht lachen!" Frierend drehte sich der König in seinem Bettlein um und konnte nicht schlafen und wurde immer ernster, je länger er an den lustigen Geißbuben Holdrio dachte.

Und ein andermal. des Abends, als die Zwerge ihre Schmiedefeuer anzündeten, daß der ganze Berg Wetterstein in Glut zu leuchten anfing, stieg der König Grawigrüweling so ernst und grämlich, wie er immer war, auf seinen goldenen Thron. Und weil ihn dürstete, ließ er mit goldenem Becher ein Schlücklein Wasser aus dem Weisheitsbrunnen der Zwerge schöpfen. Das war ein Brunnen. dessen Quelle heraufsprudelte aus den dunklen Tiefen der Erde. Und als der König getrunken hatte, dachte er: "Fünftausend Jahre, seit Adam erschaffen wurde, fülle ich an jedem Abend mein goldenes


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Becherlein aus diesem Brunnen. Und immer ist der Brunnen noch nicht ausgetrunken, immer sprudelt das Wasser noch! Wie tief muß die Erde sein, aus der diese Quelle kommt? Das möcht ich wissen!"

Hui, da sprang aus seiner Stirn ein kleiner kluger Zwerg heraus. Der stürzte sich in den tiefen Brunnen und tauchte hinunter, tiefer und immer tiefer. Lange mußte der König warten, bis das Zwerglein Brunnenschlucker wieder zum Vorschein kam. Und als der Zwerg aus dem Brunnen herausstieg und das Wasser von sich abschüttelte, sagte er: "Großemächtiger König! Zehntausendmillionen Purzelbäume hab ich durch das Wasser hinunter gemacht. Aber der Atem ist mir ausgegangen, bevor ich den Grund der Erde finden konnte."

"So so" Der König strich den langen weißen Bart. "Da hab ich noch lang zu trinken! Das weiß ich jetzt auch." Und diese Weisheit machte ihn so ernst, daß er die kleine Stirn in hundert Falten legte. Und auf seiner goldenen Tafel begann er auszurechnen, wie viel Jahre nötig wären, um den unergründlichen Brunnen leerzutrinken. Das wurde eine Zahl, so groß, daß sie auf der goldenen Tafel nimmer Platz hatte. Und während der König ernst und schweigsam rechnete, die Stirn bedeckt mit allen Runzeln seiner Weisheit, klang durch die Felsen herab ein frohes Lachen und Singen.

"Dieser blöde Lärm da droben stört mich bei der Arbeit." sagte der König Grawigrüweling verdrießlich.


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Schon wollten sich die Zwerge Sonnengucker und Brunnenschlucker auf den Weg machen, um dem Geißbuben Holdrio das Lachen und Singen zu verbieten. Aber da rief der König: "Halt Des Buben Frohsinn muß doch eine Ursach haben. Es könnte sein, daß er besser weiß als ich, wie weit die Sonne entfernt und wie tief die Erde ist? Steiget hinauf zu ihm und fragt ihn das!"

Die beiden Zwerge kletterten durch die Klüfte der Felsen hinauf. Sie kamen zu einer schönen Bergwiese, die vergoldet war vom Glanz der sinkenden Sonne. Und da saß der junge Holdrio inmitten seiner ruhenden Geißen auf einem sonnbeschienenen Steinblock, sang und lachte, schlenkerte die nackten Beine und schnitt sich aus einem Erlenzweig eine Hirtenpfeife.

Denkt euch, was für Augen der junge Holdrio machte, als da plötzlich die beiden winzigen, eisgrauen Männchen vor ihm standen! "Ei. Herr Jeggus!" rief er und lachte. "Da sind ja wohl zwei saure Käslein lebendig worden!"

Darüber waren die klugen Zwerge ein bißchen beleidigt. Freilich. wenn man

die Höhe der Sonne und die Tiefe der Erde zu messen versteht und

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dabei für einen sauren Ziegenkäs angesehen wird, das ist nicht schmeichelhaft. "Du ungezogener Bub!" sagten die Zwerge. "Hab Ehrfurcht vor uns! Wir sind die Abgesandten des Königs Grawigrüweling, der alles weiß."

Holdrio lachte. "Was weiß denn der?"

"Hunderttausendmal mehr wie du! Oder weißt du vielleicht," fragte Brunnenschlucker, "wie tief die Erde ist?"

"Freilich," sagte Holdrio, "so tief wie das grüne Tal da drunten, wo die Blumen wachsen." Er lachte. "Alte Leut, die sagen, daß die Erd noch tiefer wär um sieben Schuh. Aber bis ich so tief hinunterkomm. da hat's noch Zeit ein lustiges Leben lang! Juhuuu!" Das war ein Jauchzer, daß im roten Abendglanz die Felsen hallten.

"Und weißt du denn auch," fragte der andere Zwerg, "wie weit die Sonne von dir entfernt ist?"

"Freilich," sagte Holdrio und lachte, "so weit wie meine nackichte Haut von meinem Herzen. Wenn die Sonne weiter wär, da tät ich nicht spüren, wie warm sie ist. Die liebe Sonn, die kann man greifen." Und jauchzend griff der junge Holdrio mit seinen braunen Händen in den roten, warmen Glanz des Abends. Dann blies er auf seiner Hirtenpfeife ein lustiges Liedlein. Und als er das geblasen hatte, fing er mit heller Stimme zu fingen an:

"Lieblich ist der Tag verglommen, Kühlend will der Abend kommen,


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Ueber Berg und übers Tal Lacht die Sonne noch einmal! Holdrio! Holdrio! Hei, wie ist das men froh!

Brauch kein Bettlein wie die Grafen, Leg mich zu den Geißen schlafen, Steigt der morgen hell herauf, Weckt die liebe Sonn uns auf. Holdrio! Holdrio! Hei, wie ist das Leben froh!

Haselnüssen, die mir schmecken, Hangen an den grünen Hecken! Und am Baum die Kirschen rot Sind mein süßes Sommerbrot! Holdrio! Holdrio! Hei, wie ist das Leben froh!"

Als die Zwerge den jungen Buben so lustig singen hörten, guckten sie mit ihren klugen, grämlichen Gesichtern ganz verwundert drein. und sagten: "Wie weit die Sonne entfernt und wie tief die Erde ist, das weiß unser König besser. Aber wie man so ungebildet und arm sein kann als du, und so froh dabei, das versteht er nicht. Und das möcht er wissen!"

"Da soll er halt kommen und soll mich fragen!" Holdrio lachte. "Ich sag's ihm schon. Doch euer König wird das nicht verstehen, wenn er nicht weiß, warum die Haselnüssen eine harte Schale haben und die Kirschen einen harten Kern."


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Dabei zwinkerte der junge Bub gar lustig mit den Augen. "Weiß er das?"

Erschrocken sah Brunnenschlucker den Sonnengucker an und Sonnengucker den Brunnenschlucker. und einer fragte den anderen: "Weiß er das?" Und weil sie in ihrem Schreck so drollige Gesichter schnitten, fing der junge Holdrio zu lachen an, so laut und übermütig, daß seine schlafenden Geißen munter wurden. Die sprangen auf, und als die weiße Ziege Schimmermilch das Zwerglein Brunnenschlucker sah, da meckerte sie: "Ei, guck doch, ein Schwammerling!" und fraß den beiden winzigen Männchen die grauen Hütlein von den Köpfen herunter. Und der schwarze Geißbock Kleebeiß schnupperte an den Zwergen und blies die Luft durch seine Nase, daß die käsehohen Kerlchen von dem starken Wind über den Haufen geblasen wurden und Hals über Kopf die steile Wiese hinunterkugelten.

Ganz atemlos waren sie, als sie die unterirdischen Säle ihres Königs Grawisrüweling erreichten. Der saß auf seinem goldenen Thron und rechnete noch immer auf seiner goldenen Tafel. Mit Kopfschütteln hörte er die Zwerge an, die ihm erzählten, wie nah der junge Holdrio die Sonne hätte, und daß die Erde für ihn nicht tiefer wäre als das grüne Tal. So ein dummer Bub! Und kann bei solcher Dummheit doch so fröhlich sein?"

"Dahinter scheint ein wunderbares Geheimnis zu stecken"


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sagte Brunnenschlucker. "Das will der junge holdrio nur dir allein verraten, großmächtiger König, wenn du kommen und ihn fragen willst."

"Das ist doch eine Frechheit!" schrie der König in Zorn und schlug mit der Faust auf den goldenen Thron. "Ich, der König Grawigrüweling, der alles weiß! Ich, der ich schon fünftausend Jahre aus dem Weisheitsbrunnen der Zwerge trinke! Ich soll in die Schule gehen bei einem dummen Geißbuben?"

"Und sein Geheimnis," stotterte Sonnengucker, "sein Geheimnis wirst du nur verstehen, sagt er, wenn du weißt, warum die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern. Aber du, großmächtiger König, du, der alles weiß, du wirst auch dieses wissen!"

Da hättet ihr sehen sollen, was der weise König Grawigrüweling für ein dummes Gesicht machte! Gewöhnlich tun das die Könige nicht. Aber manchmal doch!

Nein!" sagte er. "Das weiß ich nicht!" Und greinte: "Das will ich wissen"

Da sprangen ihm, hui und hui, zwei kleine, kluge Zwerge aus der Stirne heraus. Die hießen Schalenknacker und Kernzwacker. Und die machten sich gleich an die Arbeit, um für den König auszuforschen, warum die haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern. Sie zogen aus dem Hofstall Seiner Majestät des Königs Grawigrüweling


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zwei silberne Lastwagen, jeder wie ein Schneckenhaus so groß, und spannten vor jeden Wagen zwanzig von jenen schwarzen Käfern, die dem Zwergenvolk als Rosse dienen. Dann kutsfchierten sie davon und brachten auf dem einen Wagen eine reife Kirsche, auf dem anderen eine Haselnuß herbeigefahren.

Schalenknacker nahm noch hundert kluge Zwerge zu Hilfe. Die hoben die Haselnuß auf einen Ambos und zerschlugen mit stählernen Hämmern ihre Schale. Und während sie mit neugierigen Augen die harten Schalentrümmer untersuchen, kam ein feines weißes Mäuschen von irgendwo aus den Felsen geschlüpft und verspeiste den füßen Kern, der in kleinen Bröselchen vom Ambos auf die Erde gefallen war.

Auch Kernzwacker hatte hundert kluge Zwerge zu Hilfe genommen. Die schabten mit stählernen Messerchen das rote Fleisch vom Kern der Kirsche herunter. Und während sie den runden, harten Kirschkern mit einer Zange in das Schmiedefeuer hielten, um ihn weichzuglühen, kam ein feines weißes Schlänglein von irgendwo aus den Felsen geschlüpft und leckte mit hurtigem Zünglein den süßen roten Kirschsaft auf, der in großen Tropfen .auf der Erde lag. und verspeiste das süße rote Fleisch der Kirsche, das in kleinen Fasern von den stählernen Messerchen der Zwerge gefallen war.

Inzwischen saß der König auf seinem Thron und fragte


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immer wieder mit Ungeduld: Was ist denn? Wird's bald? Wird's bald?"

"Verzeih, Großmächtiger!" flehten die Zwerge im Schweiß der Arbeit. "Wir haben bis jetzt nur herausgebracht, daß die Nußschale und der Kirschkern hart sind. Aber warum, warum, warum? Das können wir noch immer nicht finden."

Da machte der König Grawigrüweling, um die Ungeduld zu beschwichtigen und die Zeit zu vertreiben, einen Spaziergang durch sein unterirdisches Reich. Vierhundert Zwerge trugen seinen langen weißen Bart vor ihm her. Da kam er zuerst in den wunderbaren Saal der Edelsteine. Hier waren die Wände von grünem Smaragd, der Boden von gelben Topasen, die Decke von blauen Saphiren, als Sonne brannte ein großer Diamant, eine Perle glänzte als runder Mond, und Millionen von roten Rubinen flimmerten als Sterne an der blauen Decke. Von allen Edelsteinen der Erde fehlte nur ein einziger: der leuchtende Karfunkelstein, den einst vor vielen Jahren der Riese Naturiwus in


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seiner Krone getragen hatte. Alles andere Blitzgeschmeide der Erde war in diesem Saal gesammelt. Und diamantene Tafeln waren aufgestellt, auf denen geschrieben stand, wie dünn die Strahlen der Sonne sind, wie viel Pfunde der silberne Schein des Mondes wiegt und wie viel Sterne in jeder Nacht vom Himmel fallen.

All diese Herrlichkeiten sah der König. Doch er hatte keine Freude. und seine Augen guckten traurig durch die zottigen Brauen. Denn er mußte nur immer an das eine denken: daß er nicht wußte, warum die haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern.

Dann kam er in den goldenen Saal des Lebens. Da waren alle Tiere der Erde nachgebildet aus purem Gold, das Wild der Wälder, die Vögel der Lüfte, die Fische des Meeres und all das kleine Gewimmel. Und goldene Tafeln waren aufgestellt, auf denen geschrieben stand, wie viel Haare die Tiere haben, wie viel Federn die Vögel und wie viel Schuppen die Fische.

Er kam in den Silbersaal der Blüte. Da waren alle Bäume und Blumen und Gräser der Erde nachgebildet aus purem Silber. Und silberne Tafeln waren aufgestellt, auf denen geschrieben stand, wie viele Blätter auf jedem Baume wachsen, wie viele Körnlein Blütenstaub aus jeder Blume fallen, und wie oft der Wind an einem Tag den Grashalm beugt.

Er kam in eine blaue, mächtige Höhle. Da gingen tausend


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Löcher in die Felsen, und hunderttausendmal tausend Zwerge waren fleißig bei der Arbeit, um die Edelsteine aus der Erde zu graben. das Gold und Silber, das Blei und Eisen. Und jedem Zwerglein, das sich Schwitzend mühte, brannte auf der Stirn ein winziges Licht, um den Weg im Dunkel der Höhle zu erhellen.

Und der König kam in eine rote, weite Halle. Da standen zu Tausenden die Essen umher, in denen die Schmiedefeuer brannten. Und vor tausend Ambosen waren hunderttausendmal tausend Zwerge mit Zangen und Hämmern bei der Arbeit, um aus Gold und Silber und Eisen die Schüsseln und Becher zu formen, die Kronen und Ringe, die scharfen Schwerter, die spitzen Lanzen und die rasselnden Ketten. Von all den Hammerschlägen war ein Tönen und Hallen an den Felsen, das wie Donner klang.

All diese Herrlichkeit des Fleißes sah der König, doch sein frierendes Herz war ohne Freude, und traurig spähten seine Augen durch die zottigen Brauen.

Beim Wandern durch sein Reich war ihm die Nacht vergangen - schon waren die Zwerge von der Arbeit müde, und die Schmiedefeuer wollten schon erlöschen mit roter Glut. Durch die Klüfte des Berges sah der König droben in der Höhe den weißen Tag des jungen Holdrio erwachen. Er ballte vor Zorn die Fäuste und hatte Tränen in den traurigen Augen. Und schrie: Ich möchte wissen . . ."


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Da kamen atemlos zwei graue Zwerge gelaufen, der kleine Schalenknacker und der kleine Kernzwacker. Sie fielen vor dem König auf die Kniee. "Herr! Großmächtiger König!"

"Habt ihr's gefunden?" rief der König mit Ungeduld. "Soll ich endlich wissen, warum die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern?"

"Herr, wir haben die harte Schale der Nuß in siebenmal sieben Feuern geglüht und den harten Kern der Kirsche in siebenmal sieben Gluten gesotten, haben sie geschlagen mit hundert Hämmern, mit hundert Zangen gezwickt, mit hundert Feilen zerrieben . . ."

"Und was habt ihr gefunden?"

"Nur die eine große Wahrheit, Herr, daß die Nuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern. Aber warum, warum, warum Das konnten wir nicht erforschen."

"Weh mir! Wehe!" klagte der König, und wie Bächlein stürzten ihm die Tränen seines Kummers aus den traurigen Augen. Weh! Was ist mir alle meine Weisheit nutz! Ein Geißbub auf dem Berge Wetterstein weiß mehr als ich! Ein Bub, der keine goldene Krone auf seinem Haupte trägt, kein goldnes Ringlein am Finger! Der niemals aus dem Weisheitsbrunnen der Zwerge trank! Der sich von hartem Brot und saurem Käse nährt! Und der weiß mehr als ich, der König Grawigrüweling! Und ist so weise, daß er lachen und singen kann!"


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Als die Zwerge ihren traurigen König so kläglich jammern hörten, kamen sie erschrocken von allen Seiten herbeigelaufen, um ihn zu trösten. Die Schmiedezwerge warfen die hämmer fort, die Feuerbläser ließen die glühenden Kohlen im Stich, aus allen Erdlöchern stiegen die Schatzgräber herauf, und während sie die Tränenperlen, die der König Grawigrüweling weinte, in diamantenen Schalen Sammelten, sagte ihm jeder einen schönen Trost. - Das war ein Gelispel von tausendmal tausend feinen Stimmen:

"O Herr, o König, o weine nicht! Du bist die Weisheit, bist das Licht! Du weißt, wie viel der Schimmer wiegt, Der still vom mond zur Erde fliegt, Du weißt es, wenn aus blauer Welt Ein goldner Stern zur Erde fällt! Du hast am Löwen wie am Schwein, Gezählt ein jedes Härchen fein! Und wenn fein Lied der Sturmwind geigt, Weißt du, wie oft ein Halm sich beust Du, dem es kein Geheimnis ist, Wie oft ein Gockel scharrt im mist, Du weißt auf Nasenlänge schier, Wie weit die Sonne ist von dir! Und sieh, du hast in müh und Sual Herausgerechnet eine Zahl — Nur tausend Nullen fehlen noch, Dann weißt du auch, wie tief das Loch, Ans dem der Weisheitsbrunnen quillt, Der deinen Durst nach Wissen stillt!"


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Doch der traurige König Grawigrüweling weinte bitterlich. Was hilft mir das? Ich möchte wissen, warum die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern!"

Von allen Zwergen, die gekommen waren, um den weinenden König zu trösten, war ein einziger stumm geblieben, in Nachdenken versunken, mit dem Zeigefinger an der Nase. Das war der kleine Brunnenschlucker. Der hatte, als er die Tiefe der Erde messen wollte, im Weisheitsbrunnen so viel Wasser geschluckt, daß er ein Philosoph geworden war. Der machte plötzlich einen Purzelbaum. "Ich hab's!" Und kam auf den König zugestürzt. "Großmächtiger! König und Herr! Deines Geistes Licht war über mir! Was sieben Feuer und sieben Hämmer und sieben Zangen nicht erforschten, hab ich durch beharrliches Nachdenken herausgebracht."

"Rede. du mein Liebling!" rief der König Grawigrüweling.

"Herr! Daß die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern, das kann nur eine Bosheit sein, die der Riese Naturiwus in seinem Hasse wider die Menschen ersonnen hat. Diese sonderbaren Geschöpfe in ihrem ewigen Hunger pflegen doch wie Kinder nach allem zu greifen, was auf Bäumen wächst. Und drum dachte sich der Riese Naturiwus in seiner Bosheit: ich will der Haselnuß eine harte Schale geben und der Kirsche einen harten Kern, damit sich diese dummen Menschen an der zähen Nußschale die Stockzähne


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ausbeißen, und damit sie zur Strafe Magenschmerzen bekommen, wenn sie den harten Kirschkern verschlucken!"

Die tausendmal tausend Zwerge, als sie diese unerhörte Weisheit vernahmen, rissen staunend die kleinen Mäuler auf. Der König aber weinte nicht mehr, sondern nickte wohlgefällig vor sich hin. "Die Sache leuchtet mir ein!" Er lächelte und strich den weißen Bart. "So so so soooo! Also, das weiß ich jetzt auch! Da kann ich mich beruhigt in mein Bettlein legen!"

Vierhundert Zwerge trugen ihm den langen weißen Bart voran und deckten den frierenden König mit warmen, grauen Mausfellen sorglich zu. Dann gingen auch die Zwerge zur Ruhe, und im Reich des Königs Grawigrüweling begannen die Schmiedefeuer zu erlöschen.

Schon wollte der müde König in Schlummer sinken. Da klang von der schönen Bergwiese, auf der es lichter Morgen wurde, das lustige Lied des jungen Holdrio herunter:

"Haselnüssen, die mir schmecken, Hangen an den grünen Hecken, Und am Baum die Kischen rot Sind mein süßes Sommerbrot! Holdrio! Holdrio! Hei, wie ist das Leben froh"


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Der König hörte das. Er setzte sich erschrocken in seinem Bettlein auf und kratzte sich hinter den Ohren. "Die Sache kann nicht stimmen!" sagte er. "Wenn das mit der Bosheit des Riesen Naturiwus seine Richtigkeit hätte, könnte doch der Bub da droben von den Haselnüssen und Kirschen nicht so lustig singen! Da müßte sein Liedlein lauten:

Weh, wie mir die Zähne reißen, Von dem harten Nüssebeißen, Und der Kirschkern, den man schluckt, Liegt im magen Schwer und drückt.

Jerum, jerum, jemine!

Ach, mir tut der Bauch so weh"

Zitternd kroch der König Grawigrüweling aus seinem Bett und brummelte: "Die Sache stimmt nicht, stimmt nicht, stimmt nicht!" Hurtig schlüpfte er in die Königshöschen und zog am Strang einer Glocke, deren Ton durch alle Säle des unterirdischen Palastes hallte.

Habt ihr schon einmal gesehen, wie das kribbelt und krabbelt, wenn man einen Stein in einen Ameishaufen wirft? So hub im Berge Wetterstein ein Rennen und Gewimmel an. Die Zwerge sprangen aus ihren kleinen Betten, und weil sie vor Schreck und Eile vergaßen, sich anzukleiden, kamen sie in den Schlafmützen und in den weißen Nachthemdchen gelaufen.

Der König aber stieg auf seinen Thron, vierhundert


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Zwerge trugen ihm den weißen Bart voran — und als der König Grawigrüweling auf seinem goldenen Throne saß, befahl er: "Schleppt den Riesen Naturiwus herbei aus seinem Kerker, in dem ich ihn gefangen halte an die tausend Jahr!"

Da liefen die Zwerge in ihren weißen Hemdchen davon, mit tausendmal tausend Seilen, die aus Spinnefaden geflochten waren, mit tausendmal tausend Ketten, die sie aus stählernen Drähten geschmiedet hatten.

Es dauerte nicht lange dann klang ein Schritt, wie wenn die Berge fallen, und ein Schnauben ließ sich hören, wie wenn der Sturmwind bläst. Und da befahl der König: "Spreizt mir die Augenbrauen in die Höhe, daß ich den Riesen besser sehen kann!"

An tausendmal tausend Seilen und Ketten brachte die unzählbare Schar der Zwerge den gefesselten Riesen Naturiwus herbeigeschleppt. Der war so riesengroß, daß ihm der größte aller Zwerge nicht bis zum Nagel der kleinen Zehe reicte.

Des Königs Thronsaal ragte aus den Tiefen der Erde hinauf bis unter den höchsten Gipfel des Berges Wetterstein. Und dennoch mußte sich der Riese bücken, um mit dem Kopf nicht an die Decke zu stoßen. Tausend Elefantenhäute waren zusammengenäht, um des Riesen Leib zu kleiden. Jedes Haar auf seinem Haupt und jedes haar in seinem Barte war ein


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Baum. Des Riesen blaue Augen waren wie zwei blaue Meere - und als er lachte, war sein Mund wie eine Höhle, in der die Drachen wohnen.

"Warum lärmst du so sinnlos?" fragte der traurige König.

Der Riese schwieg - und lachte, daß die Felsen bebten.

"Du sollst mir Antwort geben!" schrie der König in Zorn. "Eh meine Weisheit mich so mächtig machte, daß ich dich bezwingen konnte, warst du Herr und König auf Erden. Was in den grünen Tälern wächst und lebt, was in den Klüften der Berge blitzt und funkelt, das alles war dein eigen. Und die Menschen und Tiere waren deine Knechte, die du mit Härte quältest und mit Haß verfolgtest, bis meine Weisheit sie befreite aus den Klauen deiner Bosheit."

Der Riese schwieg - und lachte, daß die Mauern der Berge dröhnten.

"Du sollst nicht diese törichten Geräusche machen! Antwort sollst du mir geben!" kreischte der kleine König, dem vor Wut der lange weiße Bart bis in die Spitzen der Haare zitterte. "Sag mir, ob es wahr ist, daß du aus Bosheit gegen das Menschengeschlecht die Kirsche mit hartem Kern und die haselnuß mit harter Schale wachsen ließest?: "

Der Riese schwieg - und lachte, daß es wie Donner durch alle Tiefen der Erde rollte.

Vor Zorn darüber, daß der Riese nicht sprechen wollte,


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begann der König Grawigrüweling den weißen Bart zu raufen. Da trat vor seinen Thron ein eisgraues Männlein hin. Das war der Anführer der hunderttausend Zwerge, die den Riesen Naturiwus seit tausend Jahren, vielleicht noch länger, in seinem Kerker zu bewachen hatten. Und der sagte zum König: "Großmächtiger! Gedenke jener Nacht, in der wir den Riesen Naturiwus im Schlaf bezwangen. Als er aufwachte und sich gefesselt sah, zerriß er die Hälfte der hunderttausendmal tausend Seile und Ketten, mit denen wir ihn gebunden hatten und ehe wir es hindern konnten, brach er mit den Zähnen einen leuchtenden Karfunkelstein aus seiner Krone, verschluckte das herrliche Kleinod und lachte, daß vom Hall seines Gelächters alle Tiefen der Erde erschüttert wurden."

"Das weiß ich!" greinte der König. "Warum erinnerst du mich daran?"

"Weil es mit diesem Karfunkelstein eine geheimnisvolle Bewandtnis haben muß! Denn manchmal in den Nächten, während dein fleißiges Volk bei der Arbeit ist und goldene Schätze schmiedet, liegt der gefesselte Riese still und geduldig im Schlafe. Und da hör ich ihn manchmal leis im Traume singen. Das klingt wie das Murmeln einer Quelle und klingt wie das Säuseln der Bäume, wenn der Morgenwind durch ihre grünen Blätter weht."

Der König horchte auf. "Wie lautet dieses Lied?"

Und das eisgraue Männchen begann zu murmeln:


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All mein Gold und meine Krone Nahm der Zwerg zum Siegeslohne! Du nur, Licht in allem Dunkel, Ewig leuchtender Karfunkel, Wundersamer Zauberstein,

Du bist mein Du bist mein!

Tief in meines Bauches Schlünden Wird kein Zwerg dich jemals finden, Um mit Wonne und mit Grauen Aller Wahrheit Glanz zu schauen! Leuchtender Karfunkelstein!

Du bist mein! Du bist mein!

Wer dich hätte, wer dich fände, Könnte spähn durch alle Wände! Stein des Wissens, Stein der Helle, Aller Wahrheit letzte Quelle, Glühender Karfunkelstein,

Du bist mein! Du bist mein!"

Als der König Grawigrüweling dieses Traumlied des Riesen hörte, sprang er von seinem Thronsitz auf und schrie: "Den Stein will ich haben! Wenn das der Stein des Wissens ist, und wenn ich ihn besitze, dann weiß ich alles, alles, alles. Dann muß ich auch wissen, warum die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern! Ergreift den Riesen, werft ihn zu Boden, schneidet den Karfunkelstein aus seinem Bauch!"


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Da begannen die Zwerge aus Leibeskräften an den hunderttausendmal tausend Seilen und Ketten zu ziehen, mit denen der Riese gefesselt war. Zu Tausenden standen sie an jedem Seil, an jeder Kette. und zogen, daß ihnen der Atem verging und daß sie vor Anstrengung blaue Nasen bekamen. Doch der Riese stand so fest auf den Füßen, wie ein Berg. Und während er mit den großen Riesenaugen umherguckte, mußte er immer lachen. Denn dieses Gezappel um seine Füße herum, dies Gedränge der unzählbaren Zwerge in ihren Schlafmützen und weißen Nachthemdchen war anzusehen, als wäre ein turmhoher Mehlsack ausgeronnen und all sein Mehl mit Gewimmel lebendig geworden. Und wenn von den Seilen eines entzwei riß, purzelten die tausend Zwerge, die an ihm gezogen hatten, zu einem Häuflein übereinander und streckten mit Geschrei die nackten Beinchen in die Luft. Der Riese lachte, daß ihm vor Lachen die Tränen kamen. Und während es ihm so naß um die Augen flimmerte, konnte er nicht sehen, daß tausend Zwerge mit Ölkannen gelaufen kamen. Sie gossen das Öl dem Riesen unter die Sohlen, und weil von dem vielen Öl der Boden ganz schlüpfrig wurde, glitt der lachende Riese plötzlich aus und stürzte der Länge nach auf den Rücken hin. Das tat einen Plumps, als wäre ein Berg in das Tal gefallen.

Und da begannen die Zwerge ein Rennen und Springen, ein Klettern und Klimmen --— das hättet ihr sehen sollen!


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Zu Hunderttausenden kletterten sie dem Riesen über die Schenkel und an den Armen hinauf, und purzelten wieder herunter, daß die weißen Nachthemdchen pluderten, und rappelten sich wieder auf und kletterten dem Riesen auf die Brust und auf den Bauch.

Und immer lachte der Riese, so lustig, wie ein guter, zärtlicher Vater lacht, wenn ihn seine Kinder, die ihm auf den Schoß geklettert sind, am Barte zausen.

Doch dieses Lachen des Riesen wurde für die Zwerge eine gefährliche Sache. Wenn der Bauch des Riesen vom Lachen hüpfte, war es für die Zwerge wie ein Erdbeben; sie schlugen Räder und wurden in die Luft geschleudert, als wären sie kleine Gummibälle, die der Riese auf der Trommel seines Bauches tanzen ließ. Und wenn sie der Nah und dem Mund des Riesen zu nahe kamen, wurden sie von seinem heißen Atem scharenweise in die Luft geblasen. Ach, die armen Kerlchen! Die Ellenbogen und Kniee schlugen sie sich blutig, die Schlafmützen verloren sie, ihre weißen Nachthemdchen gingen in Fetzen, ihre kleinen Köpfe bekamen große Beulen, und an den grauen Bärten starrten die Haare durcheinander, als hätte man sie verkehrt gebürstet.

Aber wenn sie auch tausendmal von des Riesen Bauch herunterpurzelten - immer wieder klommen und kletterten die Zwerge hinauf, um die Befehle ihres Königs auszuführen, der ihnen zuschrie: "Vorwärts! Vorwärts: Schneidet ein


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Loch in des Riesen Bauch! Heraus mit dem Karfunkelstein! Ich will ihn haben! Ich will ihn haben!"

Mit Zangen und eisernen Haken klammerten sich die Zwerge am hüpfenden Bauch des Riesen fest. Mit blitzenden Schwertern und scharfen Äxten durchschlugen sie an seinem Kleid eine Naht der Elefantenfelle, und mit hunderttausend Messern begannen sie die Magengrube des Riesen aufzuschneiden. Und das kitzelte den Riesen, daß er wie närrisch


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lachen mußte. Doch die Zwerge schnitten immer tiefer. Das machte ihnen harte Arbeit Denn die Haut des Riesen war wie ein siebenfacher Panzer seines Lebens. Zwar, die erste Haut war leicht zu schneiden und so lind wie Brot; doch die zweite war so zäh wie Leder, die dritte fest wie Tannenholz, die vierte wie ein Eichenbrett, die fünfte war wie Stein, die sechste hart wie Eisen und die siebente wie Stahl.

Noch immer lachte der gefesselte Riese. Doch als die Zwerge mit tausend diamantenen Meißeln dicht an seinem Herzen die stählerne haut durchschlugen, tat er einen brüllenden Schrei, daß vom Hall seiner Stimme alle Berge wankten. Dann schloß er die Augen und seufzte tief. Und aus seinem aufgeschnittenen Bauche kam ein Schein heraus, so stark und gleißend, daß die Zwerge erschraken, ihre diamantenen Meißel fallen ließen und mit den Armen die Augen bedeckten. um von diesem Glanze nicht blind zu werden. Und alle die Mauern der unterirdischen Königshalle fingen plötzlich gar wundersam zu klingen an, als wäre jeder Fels des Berges Wetterstein verwandelt in eine tönende Saite.

"Der Stein! Der Stein!" schrie König Grawigrüweling auf seinem goldenen Thron und streckte in zitterndem Verlangen die Hände. "Der leuchtende Karfunkelstein! Der Stein des Wissens! Holt ihn heraus! Ich will ihn haben!"

Da sprangen dem König, hui und hui, weit über tausend kleine, graue, kluge Zwerge aus der Stirne heraus. Die hatten


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blaue Brillen vor den winzigen Augen, damit sie vom Glanze des Karfunkelsteines nicht geblendet würden. Und die stürzten auf den Riesen zu und wollten hinuntersteigen in die Höhle seines Bauches. Doch der Glanz der aus der Herztiefe des Riesen heraufblitzte, dämpfte sich plötzlich und wurde rot, so rot, wie am Abend die Sonne scheint, wenn ihre Strahlen durch weiße Nebel schwimmen. All das wundersame Klingen wurde still. Und aus dem offenen Bauch des Riesen quoll sein Blut heraus wie ein mächtiger Strom. Und dieses Blut war nur so rot vom roten Glanze des Karfunkelsteines! Denn wo es über die Erde rann. da war es so weiß und klar, wie das Wasser aller Quellen ist, die auf dem Berge Wetterstein aus den Felsen sprudeln.

"Vorwärts!" schrie der König Grawigrüweling. "Den Stein! Holt mir den Stein heraus"

Zu Hunderttausenden sprangen die Zwerge — die mit den blauen Brillen und die mit den weißen Schlafmützen den leuchtenden Bauch des Riesen hinunter. Doch der Strom seines Blutes schwemmte sie davon.

Ihr habt doch schon gesehen, wie der Sturmwind im Frühling, wenn die Kirschbaume blühen, die weißen Kirschblütenblätter in den Bach hineinweht, daß sie wie zahllose weiße Schifflein auf den Wellen tanzen? So schwammen zu Hunderttausenden die kleinen Zwerge in ihren weißen Nachthemdchen und mit den weißen Bärten auf dem Strom des silberklaren


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Riesenblutes. und zappelten und kreischten, und pusteten und spuckten und suchten sich zu retten, wie es ging.

"Der Stein!" schrie König Grawigrüweling. "Den Stein will ich haben! Den leuchtenden Karfunkelstein!" Und weil das Blut des Riesen wie ein großer See den Thronsaal zu erfüllen begann, zog König Grawigrüweling die Füßchen auf den Thron herauf. Denn auch die Könige werden vom Schnupfen geplagt, wenn sie nasse Füße bekommen. Und dann schrie er wieder: "Den Stein: Wer holt mir den Stein heraus?"

Von all der unzählbaren Schar der Zwerge wagte nur noch ein einziger die kühne Tat. Das Zwerglein Brunnenschlucker Das hatte sich, als es in den Weisheitsbrunnen der Zwerge gesprungen und ein Philosoph geworden war, ans Wasserspeien so gewöhnt, daß es keine Furcht vor dem Strom des Riesenblutes hatte. Mutig schloß der kleine, graue, kluge Zwerg die Augen, drückte mit den Händen die Ohren und Nasenlöcher zu, nahm die Backen voll Luft und sprang kopfüber in den sprudelnden Bauch des Riesen hinunter. Als er mit dem Kopf da drunten gegen was Hartes stieß, blinzelte er ein bißchen mit den Augen, sah einen herrlichen, wundersamen, roten Glanz und griff mit beiden Händen zu. Und als er ein rundes Ding zu fassen bekam, so groß wie eine Kirsche, stülpte er flink die Schlafmütze drüber, wickelte noch die Lappen seines Nachthemdleins ringsherum und tauchte


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wie ein Frosch aus dem sprudelnden Riesenblut heraus an die Luft. Durch den Blutsee watend, hob der Zwerg mit beiden Händen das gefundene Ding über den Kopf empor und schrie vor Schmerzen, weil er ein glühendes Feuer an seinen Fingern spürte. Und durch die Schlafmütze und durch die tappen des Nachthemdchens quoll ein roter Schein heraus, heller und leuchtender als alle die hunderttausendmal tausend Schmiedefeuer der Zwerge, heißer und schöner als der Glanz der Sonne an ihrem schönsten Tag.

"Mein Stein! Mein Stein des Wissens!" jubelte der König Grawigrüweling und faßte mit beiden Händen das verhüllte Kleinod. Und in seiner Gier, zu schauen und zu wissen, schob er die Schlafmütze und die weißen Lappen, die den Karfunkelstein verhüllten, ein wenig zurück. Aber da schrie er vor Schmerz, weil ihm die Finger brannten, und schrie vor Schreck, weil ein Flammenstrahl im Nu seine zottigen Augenbrauen und seinen weißen vierzig Ellen langen Bart verzehrte, daß kein Härchen mehr übrig blieb. Erschrocken und geblendet hatte er die Augen geschlossen. Und obwohl er die Augen geschlossen hatte, sah er plötzlich alle Geheimnisse der Erde, sah die Adern des Goldes in der Tiefe und die Schichten des Silbers im Gestein; er hörte die Gräser wachsen und die Mücken sprechen; sah, wie die großen Bäume steigen aus dem kleinen Samenkorn und wie im Ei das Hühnchen lebendig wird; und wußte alles, was in weiter Ferne geschah; und


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sah, daß in dieser Stunde dem König und der Königin von Ohlstadt ein Prinzeßlein geboren wurde; und wußte, warum die Sonne so heiß ist und der Mond so kalt; und sah hinunter in die Tiefe der Welt, die ohne Boden war, und hinauf in die Himmelshöhe, die kein Ende nahm; und sah den Herzschlag aller Dinge und verstand das Unerklärlichfte. Und eben wollte er noch schauen, warum die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern. Doch weil ihm von der Glut des Karfunkelsteines das Fleisch seiner Finger schon verbrannt war bis auf die Knöchelchen, ließ er, schreiend vor Schmerz, das leuchtende Kleinod aus seinen Händen fallen. Das fiel in den Blutsee, dessen Wellen den goldenen Thron des bartlosen Königs umwirbelten, und zischte in der Flut, und brannte unter den Wellen und rollte mit dem rauschenden Strom des Riesenblutes davon und wurde hinuntergewirbelt in die Schlucht eines Bergbaches. Eine große Forelle, die in dem Bergbach wohnte, sah das glänzende Ding und kam geschwommen und schnappte zu und verschlang den leuchtenden Karfunkel, den sie für einen rotgeflügelten Heuschreck hielt.

Der weise König Grawigrüweling aber saß auf seinem Throne, zitternd. und mit Augen, die noch trauriger waren wie sonst. Er wollte seinen langen, weißen Bart streichen, den er nicht mehr hatte, und guckte traurig die verbrannten leeren Hände an.

Da klang ein Lachen, daß alle Felsen der weiten Halle


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dröhnten. Mitten im klaren See seines Blutes saß der Riese Naturiwus und reckte die Arme, von denen zu Hunderttausenden die zerrissenen Seile und die gesprengten Ketten niederhingen. Lachend streckte er die Hände, riß von der Decke der Halle einen mächtigen Felsen los und verstopfte mit ihm die Wunde an seinem Bauch. Sein Blut begann zu versiegen, der See um den Thron her wurde seicht - und die Zwerge, als sie den erwachten und befreiten Riesen sahen, drückten sich triefend und zitternd vor Angst in alle Winkel.

"Riese!" sagte der König Grawigrüweling mit klagender Stimme. "Ich bin so reich, wie ich nie gewesen, und bin so arm, wie ich niemals war. Alle Tiefen der Erde kenn ich jetzt, und alle Höhen des Himmels hab ich geschaut. Und dennoch hab ich keine Freude. Und bin so traurig, daß ich weinen möchte. Denn das größte aller Geheimnisse versteh ich noch immer nicht: warum die Haselnuß eine harte Schale


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hat und die Kirsche einen harten Kern. Erkläre mir das, und ich will dir die Freiheit schenken!"

Doch der Riese schwieg. Er lachte nur. Und richtete sich lachend auf. Und drückte mit seinen mächtigen Schultern ein Loch in die Decke der Felsenhalle, daß mit den niederprasselnden Steinen das schöne Licht des Tages herunterfiel in den unterirdischen Palast des Königs Grawigrüweling. Und durch das Loch schob der Riese seinen Kopf hinaus in die liebe Sonne und stemmte sich mit den Armen in die Höhe.

"Ergreift ihn!" schrie der König. "Laßt ihn nicht entwischen! Er soll mir Rede stehen!"

Zu Hunderttausenden hängten sich die Zwerge in ihren triefenden Nachthemdchen an die Füße des Riesen und an die zerrissenen Seile und Ketten, die von seinen Knöcheln niederbaumelten. Doch der Riese schlenkerte nur ein bißchen mit den Beinen, und da flogen die Zwerge kopfüber in alle Winkel des Thronsaales und kollerten mit Geplätscher durch das wasserklare Riesenblut, das den Boden der Halle noch bedeckte.

Wie wir Menschen in die Höhe staunen, wenn ein Luftballon hinaufschwebt in den blauen Himmel, so guckten die Zwerge und ihr bartloser König den Sohlen des Riesen nach, die sich immer höher hoben, bis sie ganz verschwanden. Jetzt fiel nur noch ein Stücklein des Schattens. den der Riese in der Sonne warf, durch das Loch herunter auf den Thron des Königs. Und in diesem schwarzen Schatten sahen die Zwerge


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auf der untersten Stufe des Thrones etwas leuchten mit wunderbarem Schein. Das war ein Ding, so klein wie ein Sonnenstäubchen, und glänzte doch so herrlich wie eine ganze, große Sonne.

"Ein Splitter des ewig leuchtenden Karfunkelsteines!" rief der König. "Als ich das Kleinod aus meinen Händen fallen ließ, ist dieser Splitter von ihm abgesprungen!" Er bückte sich, um den glänzenden Schatz zu erhaschen — doch bevor er den leuchtenden Splitter noch berührte, zog er erschrocken die verbrannten Finger zurück. Und rief: "Ihr Schmiedezwerge! Herbei! Und fasset den Splitter mit stählernen Zangen! Und schmiedet ihn fest in eine goldene Kapsel! Und schmiedet die Kapsel an eine goldene Kette, die ich tragen will um meinen hals!"

Die Schmiedezwerge kamen gelaufen, hoben mit stählernen Zangen den leuchtenden Splitter in eine diamantene Schale und rannten davon und schürten die Schmiedefeuer an, um die Arbeit zu beginnen.

Der König aber, weil ihn die verbrannten Hände schmerzten, ließ sich eine wundertätige Salbe um die Finger gießen und die Hände mit Spinnegeweben verbinden. Und weil der Thronsaal vom Blut des Riesen so feucht geworden, daß der König Schon zu niesen anfing — und weil die Sonne, die durch das Loch in der Decke hereinfiel, seine Augen blendete, verließ er die Königshalle und wanderte durch die Säle seiner


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Schätze. Da hatten die vierhundert Zwerge, die ihm sonst den weißen, vierzig Ellen langen Bart voranzutragen pflegten, keine Arbeit mehr und konnten sich in ihre Bettlein legen, um den versäumten Schlummer dieses Tages nachzuholen. Wie froh sie waren, daß sie aus den triefenden hemdchen und in trockene Federn kamen

Der König betrat den Saal der Edelsteine und sah die diamantenen Tafeln, auf denen geschrieben stand, wie dünn die Strahlen der Sonne sind, wie viel Pfunde das Licht des Mondes wiegt und wie viel Sterne in jeder Nacht vom Himmel fallen. Und da schüttelte er mit traurigem Blick den Kopf. Er kam in den Saal des Lebens und sah die goldenen Tafeln, auf denen geschrieben stand, wie viel Haare die Tiere haben, wie viel Federn die Vögel und wie viel Schuppen die Fische, Und der König schüttelte mit traurigem Blick den Kopf.

Und als er in den Saal der Blüte kam und die silbernen Tafeln betrachtete, auf denen geschrieben stand, wie viel Blätter die Bäume haben, wie viel Blütenstäubchen aus jeder Blume wehen, und wie oft ein Halm sich beugt im Sturme da fing der bartlose König vor Trauer zu schluchzen an. Und schrie in Zorn: "Herbei, ihr Hammerzwerge! Zerschlägt mit euren Hämmern die silbernen Tafeln, erschlagt die goldenen und zerstört die diamantenen! Was da geschrieben steht, ist falsch! Als ich den leuchtenden Karfunkelstein in meinen


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Händen hielt, da hab ich alles anders gesehen. Wie alles ist, das weiß ich nimmer. Ich hab's gesehen und hab's vergessen. Weiß nur, daß alles anders ist, als es hier geschrieben steht! Alle Arbeit, die wir taten in fünftausend Jahren, war umsonst. Was wir erforschten, ist Torheit und Lüge! Alles ist anders! Anders! Anders! Zerschlagt die Tafeln Wir müssen die Arbeit von neuem beginnen und müssen graben und grübeln, zählen und rechnen, forschen und sinnen, schmieden und schreiben! Zerschlägt die Tafeln! Und an die Arbeit, Zwerge!"

Da schlugen die hammerzwerge mit ihren hämmern auf die Tafeln der Weisheit los, und das gab ein Geklirr und Geklapper, wie wenn der Hagel an einem großen Haus alle Fenster in Scherben wirft.

Aber so groß dieser Lärm auch war, es scholl ein größerer noch herüber aus der Schmiedewerkstatt der Zwerge: ein Schimpfen und Fluchen, ein Kreischen und Heulen von hunderttausend wütenden Stimmen. Und als der König unter das Tor der roten Halle trat, in der zu Tausenden die Essenfeuer brannten, sah er auf einem Amboß mit Glanz und Schimmer den Splitter des Karfunkelsteines liegen —und sah die hunderttausend Schmiedezwerge in einem balgenden Haufen durcheinanderzappeln. Jeder drosch mit den Fäusten auf die Köpfe der anderen los, in Fetzen rissen sie einander die triefenden hemdchen von den Leibern und zausten sich mit Geschrei an


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den grauen Bärten, daß die Haarbüschel nur so herumflogen. Und aus dem Lärm der Raufenden klangen die kreischenden Stimmen:

"Denkst du von mir, daß ich ein Dummkopf bin?"

"Wie kannst du glauben, daß ich lüge?"

"Du Tropf! Wie darfst du Schlechtes von mir denken?"

Das schrie und heulte und kreischte durcheinander, daß es dem König wie ein Sausen in den Ohren war. "Ruhe!" befahl er mit zornigem Ruf. "Welcher Irrsinn ist euch in die Köpfe gefallen? Seitdem ihr aus meiner Stirne gesprungen, habt ihr immer in friedlicher Eintracht eure Arbeit getan! Und jetzt . . ." Der König war näher getreten. Da fiel vom Splitter des Karfunkelsteines ein blitzender Strahl in seine Augen. Und König Grawigrüweling fuhr zornig auf und begann in zitternder Wut zu schreien: "Schurken seid ihr! Und Hochverräter! Wie könnt ihr so schlecht von eurem König denken! Glaubt ihr, ich wäre kein König mehr, weil mir der Bart verbrannte? Liegt die Würde eines Königs nur in seinem Barte? Habt ihr keine Ehrfurcht vor der Weisheit, die unter seiner Stirne wohnt?"

"Weisheit?" schrieen die Zwerge mit höhnischem Gelächter. "Wo ist denn deine Weisheit Wir sehen unter deiner Stirne nur ein großes, schwarzes Loch. Du weißt ja nicht einmal, warum die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern! Ein dummer Bub, der droben die Geißen hütet, weiß mehr als du!"


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Vor Zorn erbleichend über diese Majestätsbeleidigung, faßte der König einen Schmiedehammer und wollte losschlagen auf die schmähenden Zwerge. Doch seine verbrannten Hände waren ohne Kraft. Im Schwunge flog der Hammer aus des Königs schwacher Faust, und als sich die Zwerge erschrocken duckten, fiel der Hammer auf den Amboß hin und bedeckte mit seinem Stiel den leuchtenden Splitter des Karfunkelsteines. Wie durch einen Zauberspruch verstummte aller Lärm in der Halle, und der König und seine Zwerge sahen einander verwundert an. als verstünde keiner, was da geschehen war.

Doch das Zwerglein Brunnenschlucker, das zitternd unter dem Tor der Halle gestanden, hatte sich als Philosoph gleich was gedacht. Und kam gelaufen. "König und Herr! Großmächtiger! Ich hab's Ich hab's! Der Irrsinn, der hier gewaltet hat, ist eine von den verderblichen Wirkungen des


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Sonnenlichtes. Durch das Loch, das der feig entflohene Riese in den Berg gebrochen, fällt es dick herunter zu uns. Das ist ungesund! Wir sind an die Arbeit in der kalten Nacht gewöhnt. Das warme Sonnenlicht verwirrt uns den Verstand!"

"Man soll das Loch vermauern," befahl der König, "so fest, daß auch kein Härchen eines Sonnenstrahles mehr herunterfällt in unser Reich Und hui, da sprangen aus des Königs Stirne tausend kleine, graue, kluge Zwerge, die sich mit Kellen und Mörtelkufen gleich an die Arbeit machten, um der Sonne den Weg zu sperren.

Doch der König schüttelte den Kopf und murmelte: "Die Sache stimmt nicht, stimmt nicht, stimmt nicht! Schon zu hunderttausend Malen hab ich meine Zwerge hinaufgeschickt, wenn es Arbeit da droben in der Sonne gab. Und keiner ist vom Sonnenlicht verrückt geworden. Sie alle sind mit hellen Augen und mit roten Backen heimgekehrt. Der Irrsinn, der mir so übel mitspielte, muß andere Ursach haben!" Und der sinnende Blick des Königs glitt zu dem Amboß hin, auf dem der Splitter des Karfunkelsteines unter dem Hammerstiel verborgen lag.

Der König Grawigrüweling dachte sich was.

Und da sprangen ihm, hui, aus seiner Stirne tausend Schmiedezwerge heraus, die keine Augen hatten. Und blind begannen sie die Arbeit, um für den Splitter des Karfunkel


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steines die goldene Kapsel und das goldene Kettlein zu schmieden.

Während sie schmiedeten, wurde das Sonnenlicht, das von da droben herunterfiel, immer schwächer und schwächer. Als der König in den Thronsaal zurückkehrte, war das Loch, das der Riese in die Decke gebrochen hatte, schon so weit vermauert, daß man den Himmel nur noch wie ein kleines blaues Ringlein sah. Und durch die winzige Lücke klang eine fröhlich singende Bubenstimme herunter:

"Haselnüssen, die mir schmecken, Hangen an den grünen Hecken, Und am Baum die Kirsten rot Sind mein süßes Sommerbrot! Holdrio! Holdrio!

Hei, wie ist das Leben froh!

Welt, was hast du gute Sachen! Schenkst mir jeden Tag ein Lachen! Und im Traum, derweil ich schlaf, Bin ich König, Fürst und Graf! Holdrio! Holdrio!

Hei, wie ist das Leben froh!"

Mit Trauer in den Augen, stand der König und lauschte dem frohen Lied des Holdrio. Und sagte: "Den Buben, der so dumm ist und doch die höchste Weisheit kennt, den muß ich mir einmal betrachten"


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Hui, da sprangen aus der Stirn des Königs tausend kleine. flinke Kletterzwerge heraus, von denen einer dem anderen auf den Rücken kraxelte, höher und höher, bis der letzte droben war bei dem kleinen, blauen Loch in der Decke des Saales. Und über die geduldigen Köpfe der tausend Zwerge stieg der König Grawigrüweling hinauf, wie über eine Leiter mit tausend Sprossen, und schob das gekrönte Köpflein sacht hinaus in die helle Sonne.

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051 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.


Des Märchens zweiter Teil:

Wie der Riese Naturiwus mit hundert Stimmen redete, und wie der Zwergkönig Grawigrüweling, als er der Pate des Prinzeßleins von Ohlstadt geworden, die höchste Weisheit zu kosten bekam.


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Als König Grawigrüweling das kleine, gekrönte Köpflein durch das Felsenloch hinausstreckte in den hellen Tag, da stach ihn der ungewohnte Sonnenglanz in die Augen, daß er winkern und blinzeln mußte. Und da sah er auf dem grünen Gras der schönen Bergwiese den jungen Holdrio liegen, in dem grauen groben Hemd und in den kurzen Lederhöschen, mit den nackten, sonnverbrannten Beinen. Das runde, gesunde Gesicht des Buben lachte und brannte in der Sonne, mit tausend glänzenden Ringelchen hing ihm das Braunhaar um die Ohren, und während er die Hände unter dem Kopf verschlungen hielt und die frohe Weise seines Liedes vor sich hin pfiff, guckte er mit seelenvergnügten Augen hinauf zu den kleinen, weißen Wölklein, die wie silberne Lämmer auf der blauen himmelswiese weideten.

Schon wollte der König Grawigrüweling aus alter Gewohnheit befehlen: "Spreizt mir die Augenbrauen in die Höhe. daß ich ihn besser sehen kann!" Aber da fiel ihm ein, daß er die langen Augenbrauen nimmer hatte. Und weil ihn die Sonne blendete, hob er die Hände über die Augen und stieß dabei mit dem Ellenbogen an einen Grashalm an.

Das hörte der junge Holdrio. Denn er hatte so feine


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Ohren wie ein Mäuschen. Und als er flink die Augen drehte, sah er zwischen den Gräsern das goldgekrönte Zwergenköpflein mit dem runzligen Greisengesicht, mit den nackten Augenbogen und den gelben Stoppeln des verbrannten Bartes. "Ach, Herr Jeggus," rief er lachend, "solch ein sonderbares Käferlein hab ich meiner Lebtag nicht gesehen! Das muß ich mir fangen!" Er machte eine hohle Hand und holte langsam aus, wie wenn man eine Fliege fängt. Doch als er, husch, das sonderbare Käferlein greifen wollte, zog der König Grawigrüweling erschrocken seinen Kopf in das Loch zurück, und die Maurerzwerge verstopften es flink mit ihrem Mörtel.

Verwundert guckte Holdrio im Gras herum. "Wo ist denn das Käferlein hingekommen?" Und weil er meinte, das Käferlein wäre davongeflogen, hob er das Gesicht und schaute umher. Und da sah er etwas, daß ihm vor Staunen die Augen übergingen.

"Jerum, je! Was ist denn da geschehen?" rief er. "Ist denn, seit ich mein Liedlein gesungen hab, ein neuer Berg gewachsen und ein neuer Wald?"

Doch was er für Wald und Bäume hielt, das waren die Haare und der Bart des Riesen Naturiwus, und was ihm als ein neuer Berg erschien, das war des Riesen Leib mit Armen und Beinen, der lang ausgestreckt in der Sonne lag. Und während der junge Holdrio noch immer guckte, sah er seine Geißen wie in Angst nach allen Seiten rennen und hörte seine


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weiße Lieblingsziege Schimmermilch gar kläglich meckern: "Hilf mir, Holdrio! Komm und hilf! Da will mich einer fressen"

Hei, wie da der junge Holdrio seinen Stecken packte! Und da merkte er, daß der neue Berg und Wald ein riesengroßes Mannsbild war, das mit beiden Fäusten die Ziege Schimmermilch zu seinem aufgesperrten Munde zog. Aber so groß der Riese war - der kleine Holdrio hatte keine Furcht. "Du Lümmel!" rief er. "Willst du gleich meine Geiß in Ruh lassen!" Und schwang den Stecken, um dem Riesen tüchtig auf die Finger zu klopfen. Doch er schlug nicht. Denn in den großen seeblauen Augen des Riesen sah er das Feuer eines heißen Durstes brennen. "Ach so? Du willst nur trinken sagte Holdrio freundlich und streichelte die kläglich meckernde Ziege. "Schimmermilch, da mußt du stillhalten! Wenn einer Durst hat, muß er trinken dürfen!"

"Freilich," meckerte die gute Schimmermilch, "da muß er trinken dürfen" Und sie ließ den Riesen an ihrem Euter saugen. Doch die sieben Schoppen Geißmilch, die sie gab, die waren für den Durst des Riesen wie ein Tröpflein, das nicht reichte.

"Wart," sagte Holdrio, "ich treib dir die anderen her" Das tat er auch, und der Riese trank der ganzen Herde des Holdrio die Euter leer. "Du hast aber einen guten Zug," meinte der Bub mit Lachen, "einen solchen Durst hat nicht einmal mein Bauer am Sonntag! Und gelt, ein bissel Hunger


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hast du wohl auch?" Er holte alles Brot, das in biner Hütte war, und dreißig Ziegenkäse, die unter dem Hüttendach zum Trocknen standen. Doch für den Riesen war das nur ein Schnapp. Und Holdrio lachte: "Ei, das geht, wie wenn der Fisch die Mucken fangt." Und als er das sagte, fiel ihm ein: "Da drunten ist ein Bach, und wenn dich noch hungert, Mann, so fang ich dir einen großen Fisch." Die Armel seines grauen Hemdes an die Schultern stülpend, sprang er zum rauschenden Bach hinunter, und seine ganze Ziegenherde hopste mit lautenden Schellen hinter ihm her.

Der junge Holdrio kam zu dem rauschenden Bach und sah gleich mit dem ersten Blick im klaren Wasser eine großmächtige Forelle schwimmen, die den silberweißen Bauch geschwollen


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nach oben drehte und sich mit aufgesperrtem Rachen immer schüttelte, als hätte sie was Schwerverdauliches im Magen. "Du kommst mir aber grade recht!" dachte Holdrio und wollte die Forelle haschen. Aber da stand der Riese neben ihm und schob die Hände des Buben fort - so zärtlich, wie ein Vater sein Kind vor Schaden und Gefahr behütet — und packte die Forelle und Schlitzte mit dem Daumennagel den Silberbauch des Fisches auf.

Und da wußte der junge Holdrio plötzlich nimmer, wie ihm war. Denn alles in der Runde fing gar wundersam zu klingen und zu singen an. Und ein glühender Schein fiel um den Holdrio her, ein Leuchten, daß die ganze Welt von diesem Glanz zu brennen schien. Zitternd, mit gesträubten Haaren, standen die Geißen in diesem Feuer. Und Holdrio war bleich vor Schreck, das frohe Lachen schwand von seinem Mund, in seinen Augen erlosch die Freude, und sein Gesicht sah aus, als wäre der junge Holdrio ein alter Mann geworden.

Und plötzlich wieder war alles vorbei — denn der Riese hatte die Forelle und das leuchtende Ding verschlungen, das im Bauch des Fisches brannte und holdrio atmete auf, als wäre ein drückender Stein von seinem Herzen gefallen, und stotterte: "Herr du mein, was war denn das für ein grausiges Ding? So kalt und weh ist mir die Seel noch nie gewesen, derzeit ich leb!"


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Da hörte er den Riesen freundlich lachen. Doch in Sorge guckte Holdrio an ihm hinauf und fragte: "Mann? Ums Simmels willen! Wirst doch nicht den schiechen Fisch gefressen haben? hast du denn nicht in seinem Bauch die giftige Flieg gesehen, die er verschlungen hat? Die giftigen, weißt, die glänzen alle so"

Der Riese lachte, daß im klaren Bach die Wellen klangen.

"Mann! So red doch! Spürst du denn keinen Schaden von dem Gift?"

Der Riese lachte, daß auf dem Berge Wetterstein die Wälder sangen.

"Mann? Was bist denn du für einer? Warum denn lachst du allweil?"

Da beugte sich der Riese zu dem kleinen Holdrio nieder und streichelte fein und sacht mit seiner großen Hand das Haar des Buben. Und da bekamen die braunen, wirren Ringelchen des Holdrio einen Glanz wie dunkles Gold. Und lind und zärtlich streichelte ihm der Riese das Gesicht — und da blitzten die Augen des Buben wie der Blick eines Falken, und auf seinen Wangen glühte das gesunde Blut wie rote Rosen. Dann legte der Riese mit festem Druck die beiden Hände auf die Schultern des Holdrio und strich ihm über die Arme hinunter und bis hinunter zu den Knieen. Und da streckte sich der Bub, als wäre sein junger, schlanker Leib zu Stahl geworden - und während er sich reckte, rief er jauchzend


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aus; "Ach, Mann, mir ist so wohl und froh, ich weiß nicht wie!"

Der Riese lachte, daß die Wellen fangen und die Wälder klangen.

"Mann? Du bist so gut zu mir! Warum denn redest du kein Wörtl? Bist du stumm?"

Da lächelte der Riese, ein ganz klein bißchen nur, und schüttelte den Kopf. Er sprach kein Wort. Doch alle stummen Dinge, die den jungen Holdrio umgaben, hatten plötzlich Sprache, die zu seinem Herzen redete. Das Wellengeplätscher des Baches war wie feines Saitenspiel und sang ihm eine frohe Weise; das Rauschen der Wälder war wie der Jubelbraus einer Orgel und weckte schöne Andacht in des Buben Seele; die blaue Ferne stimmte leis ein Lied der Sehnsucht an und erzählte ihm von herrlichen Dingen; aus den Kelchen aller Blumen, die ihren süßen Duft um seine Wangen hauchten, klangen lispelnde Stimmen:

"Laß dich streicheln, Laß dir schmeicheln, Holdrio, du bist uns lieb! Sollst uns pflücken, Dich zu schmücken, Holdrio, du Herzensdieb!"

Und mit tiefer Stimme, die wie das Rollen von Steinen tönte, sprach das Felsenhaupt des Berges Wetterftein aus blauen Lüften zu ihm herunter:


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."Ich bin die stolze, steinerne Welt, Für ewig ins blühende Tal gestellt! Ich bin so groß, und ich bin so schön, Was Schönres kannst du nimmer fehn! Und guckst du lachend zu mir herauf, Geht fröhlich und frei das Herz dir auf. Ich bin dir gut, du kleinwinziger mann, Und schau deine Freude mit Freuden an, Und wenn du mich grüßest mit Gesang, So geb ich Antwort mit hallendem Klang."

Und während der hohe Berg so redete zum jungen Holdrio, schüttete die liebe Sonne ihren goldenen Schein auf ihn herab und herzte ihn mit ihren Strahlen und sang ihm jubelnd aus der schimmernden Höhe zu.

"He! Heia! Holdrio! Du kleiner Wicht Komm, laß dich baden In Schimmer und Licht! Ich leuchte, leuchte Für dich allein, mein goldenes Gold Ist alles dein! Guck doch! Guck mir, Ins goldne Gesicht! Guck nur! Guck nur! Dich blend ich nicht! Will dir das Herzlein mit Glanz umgießen, Die Wange dir kosen, Die Seele grüßen


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Hei Heia! Holdrio; Duliöh! Duliwitt! Hörst mich nicht jauchzend Tu mit Tu mit!"

Dem jungen Holdrio, als er in der schönen Runde all diese lieben Stimmen hörte, wurde so wohl und selig ums Herz, wie er's im Leben noch nie empfunden hatte. In seiner lachenden Freude schlug er einen Purzelbaum und kugelte sich im grünen Gras, und schleuderte sein Hütlein nach der Sonne hinauf, und schrie einen klingenden Jauchzer in die schimmernden Lüfte:

"Holdrio! Holdrio Hei, wie ist das Leben froh"

Und dreimal gab ihm der Berg Wetterstein die hallende Antwort aus der Ferne: "Froh! . . . Froh! . . Froh!"

Holdrio aber meinte, das große Mannsbild hätte ihm das zugerufen. Doch als er sich umguckte. war der Riefe nimmer zu sehen.

"He! Du Mann mit den hundert lieben Stimmen! Wo bist du? Ich will dir ein Vergeltsgott sagen."

Da klang ein Lachen von der Höhe des Berges her — und als der junge Holdrio zum Wetterstein hinaufblickte, sah er den Riesen mit einem langen Schritt über alle Wälder steigen. Und noch drei Schritte machte der Riese, dann stand


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er auf dem Gipfel des Berges und stieß mit dem Kopf beinah an den blauen Himmel an.

"Herr Jeggus," rief der Bub, "so hab ich meiner Lebtag noch keinen bergsteigen sehen!"

Und Kleebeiß, der Geißbock, sagte: "So möcht ich kraxeln können! Dann tät ich mir jeden Tag die süßesten Bergkräutlein von da droben herunterholen. Guck mal, Schimmermilch, guck mal, wie der große Lümmel springen kann Doch die Ziege Schimmermilch hatte was Wichtigeres zu tun, als hinter einem Riesen herzugucken. Sie mußte fleißig fressen, um das leere Euter wieder zu füllen. Und die anderen Ziegen machten es wie die brave Schimmermilch und rupften emsig das saure Gras und den süßen Klee.

Der junge Holdrio aber stand mit großen Augen und sah dem Riesen Naturiwus nach, der im Sonnenglanz über die Berge wanderte, mit jedem Schritt von einem Gipfel zum andern. Je mehr der Riese in die Weite kam, umso blauer wurde sein Haar und Bart, sein ganzer Leib. Und während Holdrio schon nimmer unterscheiden konnte, wo der blaue Riese aufhörte und der blaue Himmel anfing, begannen drunten im grünen Tal die Glocken aller Dörfer zu läuten. Das klang und bimmelte, als wäre mitten im Sommer ein Ostertag gekommen. Und aus den grünen Tälern klang ein tausendstimmiges Jauchzen herauf. Und in das Geläut der kleinen Dorfglocken tönte von ferneher ein tiefes Brummen und


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Summen. Das war die große Glocke, die man im Dom zu Ohlstadt läutete.

Verwundert lauschte der junge Holdrio. Und da kam ein Jäger über die Bergwiese heraufgestiegen. "He, Jäger! Was ist denn?" rief der Bub. "Warum denn juchzen die Leut so freudig? Warum denn läutet man mit allen Glocken?" "Weil der König und die Königin von Ohlstadt ein Prinzeßlein bekommen haben!" sagte der Jäger. "Ein Freudenreiter hat uns die Botschaft hergebracht!"

Mit glänzenden Augen blickte Holdrio in die blaue Ferne hinaus, in der die goldenen Turmhähne der Königsburg von Ohlstadt schimmerten. "Herr, was muß das ein liebes Dingelchen sein! Das möcht ich sehen!" Und jauchzend hob er die beiden Arme in die Sonne und rief: "Du Königstöchterlein Dich soll der Himmel hüten! Und soll dir ein Leben schenken, das wie ewiger Maien ist!" Und daß sein Wunsch sich gewiß erfüllen mächte hob er zwei weiße, blanke Kiesel von der Erde und warf sie kreuzweis über die Schultern. Und da verwandelten sich die beiden Kieselsteine in zwei silberweiße Tauben, die mit schnellen Flügeln in die blaue Weite flogen, zur Königsburg von Ohlstadt hin.

Schon hatten sie den halben Weg zurückgelegt, als auf der Straße, über die sie flogen, eine glänzende Reiterschar in blinkenden Harnischen geritten kam, mit roten Fähnlein an den Lanzen und mit weißen Rosen um die Helme. Der


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Hauptmann, der die Reiter führte, sah die Tauben fliegen und rief hinauf zu ihnen:
"Täublein silberweiß! Wohin geht die Reis?"

Die Tauben surrten im Flug:

"Wir fliegen zu einem Königskind mit einem Wunsch, der gut gesinnt, Der ist aus reinem Herzen kommen, Wird dem Königskindlein frommen!"

Dann flogen sie zur Königsburg von Ohlstadt. Und die Reiter ritten zum Berge Wetterstein und ritten durch eine Felsenschlucht, in der ein wildes, weißes Wasser wirbelte, und kamen zu einem großen eisernen Tor. Dreimal pochte der Hauptmann mit seiner Lanze an die Eisenpforte und sprach:

"Zwergkönig Grawigrüweling, Uns schickt der König Edelring! Dem wurde heut im Sonnengold Geboren ein Prinzeßlein hold. Und weil dich jeder, der dich kennt, Den Weisesten der weisen nennt, Sollst du des Kindleins Pate sein! Tu auf das Tor und laß uns ein"

Da sprangen mit donnerndem Hall die Flügel des eisernen Tores auf, und die Reiter ritten hinein in die Tiefe des Berges Wetterstein und kamen in die große Halle, darin der


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König Grawigrüweling auf seinem goldenen Throne saß, umgeben von der un zählbaren Schar seiner kleinen Zwerge. Die hatten zum Empfang der Gäste ihre grauen Kittelchen und die Leder- schürzen angezogen. Aber gar übel sahen sie aus. Die einen hinkten und die anderen konnten den Arm nicht rühren; um die blutig geschlagenen Kniee und Ellbogen hatten sie weiche roos- fäden gewickelt, und die Beulen an ihren Köpfen hatten sie mit grauen Spinn- webtüchelchen verbunden.

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"Die müssen an Zahnweh leiden,"dachte sich der Hauptmann der Reiterschar, "freilich, hier unten ist's kühl und feucht." Und als er aus dem Sattel gesprungen war, stülpte er den Kragen seines silbernen Panzerhemdes über den Hals hinauf, um sich in der kühlen Tiefe nicht zu erkälten. Dann trat er vor den König hin und verbeugte sich ehrfurchtsvoll, obwohl der König Grawigrüweling, seitdem er seinen weißen, vierzig Ellen langen Bart verloren hatte, keinen besonders königlichen Eindruck machte.

Doch mit Würde sagte der gekrönte Zwerg: "Das Vertrauen deines Herrn und Königs ehrt mich. Leider kann ich zur Taufe seines Kindes nicht erscheinen, weil ich augenblicklich damit beschäftigt bin. das tiefste Geheimnis der Welt und des Lebens zu erforschen. Aber ich werde zu der feierlichen Taufe meine Stellvertreter senden. Und alle guten Wünsche meiner Weisheit werden das königliche Kind umschweben. Und was ich der Prinzessin wünsche, wird sich erfüllen. Schöner und lieblicher soll sie werden, als je ein Menschenkind auf Erden war. Und reicher wird sie werden, als je ein Fürstenkind der Welt gewesen. Denn als Patengabe wähl ich ihr unter allen Schätzen, die ich besitze, das herrlichste Kleinod aus. Das ist ein wasserklarer Diamant, blitzend wie die Sonne und so groß, wie kein weiter noch gefunden wurde in den Tiefen der Erde."

Der König wandte sich an die Zwerge, die zunächst an seinem Throne standen. "Man hole aus meiner Satzkammer . . ."


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Aber da verstummte der König Grawigrüweling. Denn im gleichen Augenblick brachten die tausend Schmiedezwerge, die ohne Augen aus des Königs Stirne gesprungen waren, ein wundervolles stählernes Kästlein herbeigetragen, das keine Fuge und keine Ritze hatte. Und der älteste der blinden Schmiedezwerge, der den neunhundertneunundneunzig anderen Zwergen voranging, sprach zum König Grawigrüweling:

"Die Kapsel ist geschmiedet, Das Kettlein ist gegliedet, Das Kleinod liegt verschlossen Und fest mit Stahl umgossen. Von seinem Glanz und Schimmer Erschaust du keinen Flimmer, Bevor dein weiser Wille nicht Den Stahl in Stücke bricht."

Lange schwieg der König Grawigrüweling und machte mit der Hand eine Bewegung, wie um den Bart zu streichen, den er nimmer hatte. Dann sprach er zum Hauptmann der Reiterschar: "Dem Kindlein deines Königs und deiner Königin versprach ich als Patengabe das herrlichste Kleinod unter allen Schätzen, die ich besitze. Das Wort ist gesprochen und ich muß es halten. Nicht der wasserklare Diamant, der wie die Sonne leuchtet, ist das kostbarste Kleinod unter meinen Schätzen, sondern der Splitter des Karfunkelsteines, der in eine goldene Kapsel geschmiedet ist und verborgen liegt in


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diesem stählernen Kästlein. Dieses unschätzbare Kleinod sollst du meinem Patenkinde bringen!"

"Herr König," sagte der Hauptmann, "das Kästlein hat keinen Deckel. wie macht man es auf?"

Und der König sprach: "Es wird von selbst sich öffnen, wenn die rechte Stunde kommt. Und dann wird euer Königskind so weise sein, wie nie ein Mensch und nie ein König war. Doch weil die Weisheit ernst und traurig macht, und weil es die Menschen lieben, froh zu sein, drum sollt ihr die Prinzessin auf den Namen Holdria taufen. Dieser Name muß ihr Segen bringen, muß ihr blühende Gesundheit schenken, fröhliche Lieder, lachende Freude und ein Glück, das reicher ist, als je ein Glück auf Erden war!"

Nun schwieg der König, blickte wie in schweren Träumen vor sich hin und strich die gelben Stoppeln des verbrannten Bartes. Er sah nicht, wie die Reiter sich verneigten, wie sie das stählerne Kästlein nahmen und mit klirrenden Waffen aus der Halle ritten.

In Sorge standen die Zwerge um ihren König her und betrachteten hin trauriges Gesicht. Und sagten Scheu zu ihm: "Großmächtiger! Sieh, droben sinkt die Sonne, und unser Tag beginnt. Sollen wir nicht an die Arbeit gehen? Wir wollen messen, wie dick am Abend ein Strahl der Sonne ist und wie groß die Augen der Flöhe sind, die uns plagen im Schlaf. Und unermüdlich wollen wir in den Tiefen der Erde nach neuen Schätzen graben . . ."


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Doch der König schüttelte den Kopf. "Das alles ist umsonst! Bin ich nicht reicher an Schätzen als der junge Holdrio? Und ich bin traurig Er kann lachen und singen! Warum? Weil er von aller Weisheit die beste weiß! Die werd ich nie erforschen. Um mein königliches Wort zu halten, mußte ich das Kleinod verschenken, das mir geleuchtet hätte auf den dunklen Wegen, die zur höchsten Weisheit führen. Die find ich nimmer in Ewigkeit. Und will ich Rast und Ruhe haben, so muß ich meinen Königsstolz bezwingen, muß hinaufsteigen zu dem lachenden Buben und muß ihn bitten, daß er mich lehrt, warum die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern. Das muß ich wissen! Ich muß! Ich muß!" Der König erhob sich von seinem goldenen Thron. "Alle meine Zwerge sollen mich begleiten! Brunnenschlucker, Kernzwacker und Schalenknacker, ordnet die Scharen. Und du, Sonnengucker, der du den Holdrio auf der grünen Wiese fandest, du sollst uns führen!"

Habt ihr schon einmal gesehen, wie im Wald eine Karawane von Ameisen über den Fußweg läuft? Da könnt ihr stundenlange schauen und gucken - doch der kribbelnde Zug der fleißigen Tierchen nimmt kein Ende.

So war es anzusehen, als König Grawigrüweling mit seinen Zwergen hinaufwanderte zur schönen Wiese auf dem Berge Wetterstein.

Die Sonne, die schon sinken wollte, stand wie eine feuerrote


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Kugel über dem Berge, von ihrem Schimmer brannten alle Wälder, und jeder Grashalm auf der Wiese schien verwandelt in eine goldene Spange. Und mitten in diesem Glanze saß der junge Holdrio und blies auf seiner Hirtenpfeife den ruhenden Ziegen ein Lied. Ganz stille war es um ihn her, kein Lüftlein wehte durch den schönen Abend. Und dennoch begannen sich plötzlich alle Gräser zu bewegen. Die Ziege Schimmermilch hob den Kopf und guckte mit runden Augen zwischen die Halme. Dann sprang sie erschrocken auf und meckerte: "Fort da! Fort: Die Ameisen kommen! Die mag ich nicht! Die beißen!" Sie sprang davon, und die ganze Herde mit bimmelnden Glocken sprang ihr nach, und droben am Waldsaum blieben sie alle stehen und äugten herunter.

Auch Holdrio war aufgesprungen. Vor dem Riesen hatte er keine Furcht gehabt. Aber Ameisen! Das ist was anderes Vor denen darf auch der tapferste Geißbub Reißaus nehmen.

Schon wollte er lange Beine machen. Aber da sah er die winzigen Kerlchen, die sich zwischen den Gräsern hindurchschoben, wie sich große Menschen durch dichtes Buschwerk zwangen.

"Herr Jeggus," rief er lachend, "da kommen ja wieder die sauren Käslein von neulich angezappelt! Und hundert Brüder haben sie mitgebracht! Nein, tausend!


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Hunderttausende Noch mehr! Die kann ich ja nimmer zählen!"

Ganz verwundert hockte er sich nieder ins Gras und guckte - und da wimmelte schon die ganze Wiese um ihn her von den kleinen grauen Männchen. Die kletterten im roten Sonnenglanz an allen Gräsern empor und setzten sich auf die gebeugten Halme, immer sieben auf jeden Halm. Köpflein drängte sich an Köpflein — und das war anzusehen, als hätte man einen großen Sack voll Erbsen ausgeschüttet über die ganze Wiese. Und zwischen Holdrios Knieen hatten hundert Kletterzwerge, von denen einer dem anderen auf den Rücken kraxelte, einen lebenden Sessel aufgebaut, auf dem zuoberst der König Grawigrüweling saß, gerade dem Nasenspitzl des

jungen Holdriogegenüber.

"Herr Jeggus, Jeggus! Da ist ja mein sonderbares Käferlein wieder lachte Holdrio und wollte eine hohle Hand machen.


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Doch der kleine König hob erschrocken die Arme vor sich hin und rief: "Aber nein! Ich bin ja doch kein Käferchen! Ich bin der König Grawigrüweling, der Herr des Zwergenvolkes!"

Ganz leise pfiff der Bub vor sich hin. "Ei, guck, ein König bist du? Da muß ich ja Respekt haben!" Er lachte. "Ein König bin ich! Und komme zu dir mit einer Bitte. Wenn du mir die erfüllest, will ich dich reich machen . . ."

"Reich?" Der junge Holdrio schüttelte den Kopf. "Der Goldbauer im Dorf da drunten, der ist reich. Und darf keinen Apfel nimmer essen, weil er einen kranken Magen hat. Und kann nimmer springen und tanzen, weil ihn das Zipperlein in die Zehen zwickt. Ich dank schön, nein! Da bleib ich lieber arm!"

"So will ich dich mächtig machen!"

"Mächtig?" Holdrio Schüttelte den Kopf. "Der Vogt im Dorf da drunten, der ist so mächtig, daß er die Leut ins Turmloch sperren kann. Aber wenn er in der Finsternis vom Wirtshaus heimgeht, passen ihm die Buben auf und klopfen ihm die hosen aus, daß er eine Woch lang nimmer sitzen kann. Ich dank schön, nein! Da will ich lieber nicht mächtig sein! Und alle Bauern haben eine Wut auf ihn. Aber mir ist's lieber, daß alle Leut mich gern haben! Nein, du kleines Königlein Fingerlang Wenn du was haben willst


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von mir, ich geb's umsonst. Da brauchst du nur sagen, was du willst."

"So verrate mir," und vor Neugier machte der König Grawigrüweling ganz große, runde Augen und streckte das magere Hälschen lang aus den Schultern heraus, "verrate mir die große Weisheit, die dich so fröhlich macht, daß du immer lachen und singen kannst! Und erkläre mir das tiefe Geheimnis: warum die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern?"

Erst guckte der junge Holdrio verwundert drein. Dann lachte er. "Richtig, da drüber hab ich ja neulich mit den zwei kleinen sauren Käslein geredet" Und mit schelmischen Augen blinzelte er den König der Zwerge an. "Ja, mein liebes Königlein, wenn ich dir zeigen soll, warum die Haselnüssen harte Schalen haben und die Kirschen harte Kerne . . . das ist leichter getan, als gesagt . . da brauch ich eine Handvoll Haselnüssen dazu und einen Hut voll Kirschen!"

"Freilich, freilich," nickte der König, "alle Wissenschaft muß ihr Werkzeug haben." Er winkte von seinem lebendigen Thron herunter, und tausend Fuhrmannszwerge machten sich flink auf den Weg, um hundert silberne Wagen zu holen und die Kirschen und Haselnüsse herbeizubringen.

"Was tun wir aber, bis die Nussen und Kirschen da sind?" sagte Holdrio. "Ihr alle macht ja so verdrießliche Gesichter, wie die sauren Holzäpfel, wenn sie im kalten Winter


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runzlig werden Wißt ihr, was! Ich blas euch ein lustiges Lied!" Und er nahm seine Hirtenpfeife und fing zu blasen an, ein gar feines, munteres Liedchen.

Wie da die Zwerge ihre kleinen Ohren spitzten! Ihre winzigen Äuglein glänzten, ihre grämlichen Gesichter wurden munter, und im lustigen Takt des Liedes begannen sich die Zwerge auf den biegsamen Gräsern zu wiegen und wurden so vergnügt, wie Kinder sind, die auf der Schaukel sitzen. Und der König schmunzelte, als er sah, wie munter seine Zwerge wurden. Und sagte: "Das möcht ich auch probieren!" Und hui, da saß er schon auf einem biegsamen Halm, und sieben Zwerge, die ihm schmunzelnd aus der Stirne gesprungen waren, begannen aus Leibeskräften den Grashalm hin und her zu ziehen, daß der König Grawigrüweling auf und nieder schaukelte wie verrückt. Zuerst gefiel ihm das, aber dann riß er die Augen ängstlich auf und kreischte. "Nicht so fest! Nicht so fest! Herr jemine Mir wird ganz übel" Und plumps - da flog er schon mit einem Purzelbaum herunter und hätte sich das gekrönte Köpflein übel aufgeschlagen, hätte ihn der junge Holdrio mit der hohlen Hand nicht aufgefangen und wieder auf den lebendigen Thron gesetzt.

"Ich danke dir, Holdrio. Bist ein guter Bub" Und während sich der König Grawigrüweling schnaufend mit seinem Königsmäntelchen den kalten Angstschweiß von der Stirne


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trocknete, sagte er atemlos: "Sehr lustig, das! Ungemein lustig! Aber . . . das will geübt Sein!"

Holdrio wollte Schon wieder zu blasen beginnen, doch da hörte man aus dem von Zwergen wimmelnden Wald der Gräser ein tausendstimmiges: "Hussa! Hoppla Hüo!" Und auf den hundert Silberwagen, die von den Schwarzen Käfern zwanzigspännig gezogen wurden, brachte das Fuhrmannsvolk die Kirschen und Haselnüsse über die Bergwiese heraufgefahren.

"Herr Jeggus!" rief der junge Holdrio und lachte. "Was habt ihr denn da vor eure Wägelchen gespannt? Das sind ja Mistkäfer!"

König Grawigrüweling runzelte die Stirne, als er die edle Zucht seiner Rosse mit diesem wenig ehrenvollen Namen bezeichnen hörte. Doch er war dem jungen Holdrio schon so gut geworden, daß er ihm ernstlich nimmer zürnen konnte. Auch war er allzu gespannt auf die Enthüllung der geheimnisvollen Weisheit. "Messet haargenau!" befahl er. "So ernste Sache will mit Ernst behandelt sein! Genau eine Handvoll Nüsse! Genau ein Hut voll Kirschen!"

"Ach nein, Herr König!"sagte Holdrio. "So genau braucht man nicht zu messen! Es dürfen auch mehr sein! Wie mehr, wie besser!" Und als er die Hand gehäuft voll Haselnüsse hatte und den Hut gehäuft voll Kirschen, setzte er sich vergnügt ins Gras - und auf all den hunderttausend Halmen


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streckten die hunderttausendmal tausend Zwerge in der roten Sonne neugierig die kleinen Köpfe, um nur ja kein Quentlein von der Weisheit zu verlieren, die es da zu schauen gab. Und König Grawigrüweling paßte auf wie ein Haftelmacher, als Holdrio flink und lustig mit den weißen, gefunden Zähnen die Haselnüsse zu knacken begann. Und das Zwerglein Schalenknacker sagte ernst zum Zwerglein Kernzwacker: "Du, der kann's noch besser, als wir mit unseren hämmern, Zangen und Feilen" Um das herrliche Kunststück nachzumachen, stibitzte er flink eine Haselnuß. Doch er konnte das Mäulchen so weit nicht aufreißen, um die Nuß hineinzubringen — denn die Haselnuß war größer als sein Kopf.

Und König Grawigrüweling zitterte vor Aufregung und Wißbegier - doch als er sah, daß Holdrio die Nußkerne in der Hand sammelte und die zerbissenen Schalen achtlos zwischen die Beine fallen ließ, da schrie der König mit Schreck: "Du irrst dich, Holdrio! Nicht um die Kerne dreht sich das Geheimnis. Sondern uni die Schalen! Die wirfst du ja fort! Und sammelst die zwecklosen Kerne!"

Holdrio guckte den König an, als hätte er nicht recht verstanden. Dann lachte er. "Ja sag nur, Königlein, ums Himmels willen, hast du denn noch nie eine Nuß gekostet?"

König Grawigrüweling schüttelte das gekrönte Köpfchen. "Nein!"


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"Und am End auch nie noch reife Kirschen gegessen?"

"Nein! Noch niemals in fünftausend Jahren! Ich und meine Zwerge, wir nähren uns nur von dem klaren Wasser aus dem Brunnen der Weisheit!"

"Herr Jeggus, Jeggus, Königlein, da tust du mir aber leid" rief Holdrio ganz erschrocken. Gleich aber lachte er wieder. "Jetzt weiß ich freilich, warum ihr alle so sauer und runzelig ausschaut! Frisches Brunnenwasser ist was Gutes, wenn man Durst hat. Aber allweil Wasser schlampen? Fünftausend Jahr lang! Brrrr! Da tät mir grausen! . . . Ja sag nur, Königlein, so weißt du wirklich nicht, wie milchig fein die Nußkern schmecken, und daß der Kirschsaft süß ist, wie ein Kuß von meiner lieben seligen Mutter war?"

"Nein!" sagte der König ärgerlich. "Das will ich auch nicht wissen! Deshalb bin ich nicht zu dir gekommen! Du sollst mir das Geheimnis nennen, das dich immer fröhlich macht! Und sollst mir sagen, warum die Haselnuß eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern"

Holdrio lachte. "Paß auf! Das zeig ich dir jetzt!" Und während er ein paar Nußkerne zwischen die Zähne schob und vergnügt zu schmausen anfing, warf er eine Handvoll Schalensplitter über das Gewimmel der kleinen Köpfe hin, daß die von den Schalen getroffenen Zwerge zu Hunderten über die Grashalme hinunterkugelten. Und während er mit Behagen


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die reifen Kirschen schmauste, schnipste er aus den Fingern die schlüpfrigen Kerne den Zwergen ins Gesicht, daß die kleinen Männchen auf Stirn und Backen und Nasen rote Flecken bekamen.

Die von den Kernen und Schalen getroffen wurden und kopfüber von den Schwankenden Halmen hinunterpurzelten, die ärgerten sich freilich. Aber die anderen hatten ihre Freude drüber. Und da wollten sich die Blessierten rächen und auch ihren Spaß haben, und holten die Kerne und Schalensplitter aus dem Gras heraus und begannen zu werfen und schnipsen -- hin und her, und her und hin — und das wurde auf der grünen Wiese und im roten Glanz der Sonne ein so lustiges Gefecht, daß der ernste König Grawigrüweling zum ersten Mal in seinem Leben lachte. Und wenn ein Kirschkern oder Schalensplitter geflogen kam, dann duckte er lachend das kluge Köpflein. Auf der Höhe seines lebendigen Thrones hatte er guten Ausblick und fühlte sich ganz sicher. Doch ein Kletterzwerg, der eine von den Stützen des Thrones war, wurde von einem Kirschkern in die Kniekehle getroffen, daß er wackeln mußte; und da wackelten auch alle die anderen Kletterzwerge, die Rücken auf Rücken standen, und der ganze Thron geriet ins Rutschen, und von seiner fürstlichen Höhe sauste König Grawigrüweling hinunter in das linde Gras.

Kichernd hob der junge Holdrio den kleinen König auf


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seine linke Hand und guckte ihm in die Augen. "Merkst du was, Königlein?"

Und der König sagte, halb noch im Schreck und halb mit Lachen: Meinst du, daß die Nüsse so harte Schalen und die Kirschen so harte Kerne haben, daß man sie den Weisheitsschluckern, die von den Haselkernen und vom süßen Kirschsaft nichts verstehen wollen. an die dummen Köpfe wirft?"

"Jaaa, du weises Königlein," nickte Holdrio. "Und noch was besseres will ich dir sagen! Die Russen haben harte Schalen, daß uns die Kernfrucht umso besser schmeckt, je härter wir knacken müssen! Und die süßen Kirschen haben harte Kern' . . . die muß man in den Boden stupfen, daß neue Kirschbaum wachsen, die wieder Kirschen tragen, süße Kirschen! Und weil ich weiß, daß allweil wieder Nussen und Kirschen wachsen, drum bin ich so froh, daß ich lachen und singen kann zu jeder Stund! . . . So, Herr König, und jetzt mach einmal dein Mäulchen auf und streck das Züngelchen her!"

Da sperrte der König Grawigrüweling den Schnabel auf, wie es die jungen Spatzen machen, wenn die Mutter Spätzin zum Nest geflogen kommt, und streckte das rosige Zünglein heraus. Und Holdrio legte ihm ein Bröselchen Nußkern drauf. So, Königlein, jetzt beiß einmal!"

"Nicht übel!" sagte der König. "Gar nicht übel!" Und schluckte. "Gib noch einen festen Bissen her!"


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"Bitte, mir auch piepserte das Zwerglein Brunnenschlucker aus dem Grase herauf. "Mir auch!" bettelte das Zwerglein Sonnengucker. Und hundert und tausend Stimmchen ließen sich hören: "Mir auch! Mir auch! Mir auch"

Zwischen zwei flachen Kieselsteinen zerbröselte Holdrio die Nußkerne und warf, wie man die Tauben füttert, die Handvoll Bröselchen über die Wiese hinaus, mitten hinein in das Gewimmel der Zwerge. Tausend Händchen fuhren in die Höhe. Und das gab ein Geschrei. Ein Raufen und Balgen um jedes Körnlein! Unter Jubel und Lachen!

Da nahm der junge Holdrio eine Kirsche aus dem Hut


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und sagte zum König: "Auf das Mäulchen! Und her mit dem Zünglein!" Und als sich der königliche Schnabel gehorsam auftat, drückte Holdrio an der Kirsche und ließ dem König einen süßen, roten Tropfen auf die Zunge fallen. Langsam schlürfte der König Grawigrüweling und drückte wohlig und behaglich die Augen zu - und als er geschluckt hatte, sagte er: "Ach, lieber Holdrio! Quetsch doch noch ein bisselchen! Aber fester Fester! Daß mehr herauskommt aus deinem süßen Karfunkelstein!" Dann sperrte er das Mäulchen auf.

"Gelt," lachte Holdrio, "jetzt kommst du auf den Gusto?" Er drückte an der Kirsche, daß der rote Saft dem König das ganze Gesicht bespritzte. Und während der rotgetupfte König hurtig mit dem Zünglein schlapperte, rief das Zwerglein Schalenknacker im Grase: Bitte, mir auch!" Und das Zwerglein Kernwacker bettelte: "Mir auch!" Und hundert und tausend feine Stimmen ließen sich hören: "Mir auch Mir auch! Mir auch!"

Aber Holdrio wehrte die neugierigen Schleckerbartelchen von sich ab, "Ja glaubt ihr denn, ich kann einem jeden von euch ein Tröpfl Kirschsaft auf das Züngl drucken? Ihr seid so viele, daß ich Arbeit hätt bis sieben Jahr nach der Ewigkeit!"

Da bewies das Zwerglein Brunnenschlucker, daß den Philosophen manchmal doch was Gescheites einfällt. Denn


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es rupfte flink eine Glockenblume ab und hob den blauen Kelch dem Holdrio hin und sagte: "Da drück hinein! Wenn der Becher voll ist, können wir unser Hundert davon trinken!" Im Nu standen auch Sonnengucker und Kernzwacker und Schalenknacker und noch ein Hundert Zwerge mit Glockenblümchen vor Holdrio, und alle hoben die blauen Becher an ihm hinauf. Und der junge holdrio holte lachend eine Kirsche nach der anderen aus seinem Hut und quetschte ihre Säfte in die kleinen Kelche. Und die blauen Becherlein mit dem roten Kirschwein gingen von Hand zu Hand, von Mund zu Mund — und je tiefere Züge die Zwerge machten, umso lustiger wurden sie. Behaglich rieben sie die Bäuchlein und zwinkerten mit seligen Augen - und schlugen vor Übermut die Beinchen in die Höhe und begannen zu singen:
"Ach, wie gut, ach, wie gut! Ach, das geht so süß ins Blut! Wie heiße Räderchen Läuft's durch die Äderchen! Und steigt in das Köpflein Wie feurige Tröpflein! Ach, wie gut! Ach, wie gut! Ach, wie warm ist das im Blut"

Und König Grawigrüweling, der dem Holdrio auf die Schulter geklettert war und ein ganzes Becherlein Kirschwein für sich allein bekommen hatte, strampelte fidel mit den kurzen Beinen, warf sein Königsmäntelchen in die Luft, weil


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ihm zu heiß wurde, und wirbelte das goldene Krönlein um den Zeigefinger, wie wenn es ein Spielreif wär Und als er aus seinem blauen Kelch das letzte Tröpflein herausgeschlückert hatte, rief er mit jauchzendem Stimmchen: Heda, Fuhrleut! Fortfahren! Fortfahren! Und Kirschen holen! Und aufladen, was die Rößlein ziehen können!" Und wie dann die Fuhrleute mit den schwerbeladenen Wägelchen kamen, brauchte sich Holdrio mit dem Kirschenquetschen nimmer zu plagen, denn die lachenden Zwerge hatten die rote Kunst gar flink erlernt und drückten immer wieder die blauen Becher voll — und nippten und sogen — und als ihnen Holdrio auf seiner Hirtenpfeife einen heiteren Ländler blies, da begannen sie zu jauchzen wie die Grillen im Mai. und fingen rings um den Holdrio zu hopsen und zu tanzen an - und König Grawigrüweling kletterte mit einem Juhschrei dem Holdrio an den Hemdfalten und über die Hose

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herunter und tanzte seinem fidelen Völklein mit Jauchzen voran — und sang dazu:
Juheisa, Iuhei! Jetzt hab ich die Weisheit, Jetzt weiß ich das Best'! mein Blut, das hat Sonntag, mein Herzl ein Fest! Holdirio! Und mein Leben ist froh!

Juheisa, Iuhei! Du roter Karfunkel, Jetzt hab ich dich ganz! Und die Erd und der Himmel Ist alles ein Glanz! Holdirio! Und das Leben ist froh

Jetzt denkt euch, was am Waldsaum droben die Ziege Schimmermilch und der Geißbock Kleebeiß und all die anderen Geißen für Augen machten zu diesem Singen, Hopsen und Springen, das sich ansah, als wäre die ganze Bergwiese lebendig und verrückt geworden Doch weil sie ihren guten Hirten Holdrio so heiter blasen hörten, fingen auch die Geißen wie närrisch zu springen an und tollten und hockten, daß ihre Schellen ein lustiges Gebimmel machten.


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Und die rote Sonne streckte lachend im Niedersinken noch ein letztes Mal das glänzende Kirschgesicht über den Rücken des Berges Wetterstein herauf, um das vergnügte Volk der Zwerge zu schauen. Und von der anderen Seite schwamm der schmunzelnde Mond so silberweiß wie ein geschälter Nußkern am schönen Himmel empor. Und droben auf dem Gipfel des Berges Wetterstein, da sah man plötzlich den Riesen Naturiwus sitzen, halb im Silberschein des steigenden Mondes und halb im roten Glanz der Sonne. über die schwindelnd hohe Felswand ließ er die langen Beine herunterbaumeln, klatschte mit den Händen auf die Knie und lachte so freundlich auf die Freude der kleinen Zwerge herab, als hätten sie ihm ihr Lebetag nur Gutes erwiesen.

Die Zwerge in ihrem Übermut, die hätten am liebsten so weitergetollt die ganze Nacht. Doch als im Dorfe drunten die Glocke zehn Uhr schlug, und als man den Nachtwächter tuten hörte mit dem Kuhhorn, sagte Holdrio: "Marsch weiter, ihr lustige War! Jetzt machen wir Feierabend! Morgen ist auch wieder ein Tag!"

Arm in Arm, mit Singen und Jauch en, wanderten die Zwerge im silbernen Mondschein über den Berg hinunter, plünderten auf dem Heimweg alle Haselnußhecken, stibitzten aus den Bauernhöfen die reifen Kirschen und schleppten die süßen Karfunkelschätze heim in den unterirdischen Palast ihres Königs. Und als sich hinter dem letzten der Zwerge schon


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das eiserne Tor geschlossen hatte, hörte man noch in der stillen Silbernacht aus der Tiefe des Berges Wetterstein die hundert und tausend zirpenden Stimmchen:
"Ach, wie gut, ach, wie gut! Ach, wie warm ist das im Blut"

Und nun sagt mir! Aber ehrlich! Glaubt ihr, daß die Zwerge des Königs Grawigrüweling in dieser Nacht besonders fleißig nach goldenen Schätzen gruben?


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Des Märchens dritter Teil:

Wie das Königstöchterlein von Ohlstadt den Namen Holdria bekam und ein trauriges ********Prinzeßlein wurde. ********


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An einem sommerblauen Sonntag, pünktlich um die zwölfte Stunde, sollte das Prinzeßlein von Ohlstadt getauft werden. Seit dem Morgengrauen war schon die ganze Stadt auf den Beinen — —

"Wie? Die ganze Stadt?" so fragt ihr verwundert. Denn ihr wißt vermutlich, daß Ohlstadt zwischen Murnau und Eschenlohe liegt, zehn Stunden vom Gipfel des Berges Wetterstein entfernt. "Und das ist doch keine Stadt, das ist doch nur ein Dorf"

Heute, freilich! Aber die Geschichte da, die spielt doch vor tausend Jahren! Und wenn Ohlstadt immer ein Dorf gewesen wäre, wie hätt' es denn plötzlich den Namen Ohlstadt bekommen können? Da muß es doch einmal eine Stadt gewesen sein! Aber wie es dann kam, daß die große schöne Stadt in die Erde versank, und daß ein Dorf da gebaut wurde? Ja, das ist eine wunderliche Geschichte. Aber in tausend Jahren können doch die sonderbarsten Dinge passieren! Oder nicht? Und wenn ihr's nicht glauben wollt, daß Ohlstadt vor tausend Jahren die herrliche Residenz des Königs Edelring und der Königin Rosewitt gewesen ist, und daß die Königsburg auf jedem Turmdach einen goldenen


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Turmhahn hatte - wenn ihr das nicht glauben wollt. da braucht ihr nur im Sommer nach Ohlstadt zu reisen und bei Mondschein ein tiefes Loch in den Boden zu graben! Und da werdet ihr ganz bestimmt einen goldenen Turmhahn finden, der vor Alter völlig schwarz geworden! Und wenn ihr weitergrabt, dann findet ihr bestimmt ein Dach! Und hebt ihr aus diesem Dach ein paar Ziegel heraus, dann könnt ihr vielleicht hinuntergucken in die schöne Kinderstube, in der die Prinzessin von Ohlstadt am Morgen ihres Tauftages in goldener Wiege schlummerte, von Spitzen und Seide fein umkräuselt.

Und neben der Wiege saß die Königin Rosewitt, eine schöne junge Frau. Die trug ein himmelblaues Kleid und hatte eine goldene Krone um die Stirne. Und die blonden Haare lagen ihr um die Schultern her wie ein Silbermantel. Und zwischen den grünen Zweigen eines Rosenbäumchens, das mit hundert weißen Rosen zu Häupten der Wiege blühte, hatten zwei schneeweiße Täubchen ihr Nest gebaut. Und um die Wiege, um die Königin Rosewitt und um das Rosenbäumchen war ein goldenes Gitter gezogen, damit die Bürger von Ohlstadt und die Landleute, die das Königskind bewundern durften, der Wiege nicht zu nahe kämen.

Zehn Leibwächter des Königs in scharlachfarbenen Wappenröcken und mit blitzenden Hellebarden standen vor der Türe, um bei diesem Gedränge die Ordnung zu wahren. Denn die Untertanen des Königs, Männer, Frauen und Kinder, kamen


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zu Tausenden herbei und wollten das Prinzeßlein sehen, das goldblonde Ringelchen um das Köpfchen hatte, und ein Näslein wie eine Rosenknospe, und ein kirschrotes, winziges Mündlein. Und weil das kleine Prinzeßlein so süß war und so herzig, brachten ihm die reichen Leute allerlei Geschenke: goldene Becher und silberne Löffel, seidene Tücher und weiße Leinewand. Und die
Bauersleute brachten Hühner und Gänse, Butter und
Eier. Und wer so arm war, daß er nichts zu verschenken hatte, brachte im Herzen einen lieben Segenswunsch für das

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Königskind. Und wenn so ein Armer vor dem goldenen Gitter stand und mit guten Augen auf das Kind in der Wiege blickte, fing das Taubenpaar auf dem Rosenbäumchen mit den weißen Flügeln zu schlagen an. Und plötzlich flogen die Tauben aus dem Rosenbäumchen heraus und flatterten um die Wiege und gurrten über dem Köpflein des Königskindes.
"Prinzeßchen, Prinzeßchen, Gurrruuh, gurriguh, Da ist einer kommen, Der hat keine Schuh, Kein' Herd und kein Haus, Kein Gärtlein dabei, Und hat doch ein Herzlein Voll goldiger Treu, Und grüßt dich mit Freuden Und lachet dir zu Und meint dir's am besten, Gurrruuh, gurriguh"

Aber die Königin Rosewitt verstand die Taubensprache nicht - denn immer ist das so, daß die Königinnen und Könige die Stimme mißverstehen, die das Gute sagt. Die Königin sah nur, daß hinter dem goldenen Gitter, im Gedräng der vielen Leute, ein junger Bub mit glänzenden Augen stand, der barfüßig war und ganz mit Staub bedeckt, als wäre er einen weiten Weg gelaufen. Lachend schob er die Nase zwischen die goldenen Gitterstäbe, guckte das Prinzeßlein


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an und rief in Freude: "Herr du mein, was für ein liebes Dinglein ist das Königskind!" Dann nahm er ein Blumensträußchen von seinem Hut und blies den Staub von den Blüten. Und sagte: "Schau, Prinzeßlein, da hab ich was für dich! Das sind Almenröslein und Edelweiß von meinem Wetterstein! Die bringen dir Glück, wirst sehen!" Und da warf der Bub das Sträußlein über das goldene Gitter. Die Blumen sielen mitten in die Wiege - und das Königskind erschrak und fing zu weinen an. Jetzt gab's einen schönen Aufruhr! Alle Leute schalten den Buben, ein Ratsherr packte ihn am Ohr, ein Schulmeister zauste ihm die Haare, und die Leibwächter kamen mit ihren Spießen gelaufen, um den Buben festzunehmen und ins Gefängnis zu werfen. Aber die Königin Rosewitt sagte: "Tuet dem Buben nichts zuleide! Der hat es gut gemeint"

Und als die Königin das sagte, fingen die großen Glocken des Domes von Ohlstadt und die Glocken aller anderen Kirchen zu läuten an. Denn es war zwölf Uhr Mittags geworden und die Stunde war gekommen, in der man das Königskindlein taufen wollte. Und da kam ein langer, glänzender Zug von Hofherren und hofdamen in prachtvollen Gewändern, und an der Spitze des Zuges ging der König Edelring von Ohlstadt im schleppenden Königsmantel, mit Krone und Schwert. Das war ein ernster, bärtiger Mann. Doch er hatte eine freundliche Stimme. Und sagte zur Königin:


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Meine teure Gemahlin, komm, jetzt wollen wir unser Kindlein taufen lassen auf den segensreichen Namen, den die Weisheit seines Paten auserwählte."

Während die Obersthofmeisterin das Prinzeßlein aus der Wiege hob und mit feinem Silberschleier bedeckte, sprach die Königin: "Ich sehe nirgends die Abgesandten des Paten Grawigrüweling?"

Da kam durchs offene Fenster etwas Schimmerndes hereingeflogen. Wie ein großer, wundersamer Schmetterling war es anzusehen und funkelte in allen Farben. Und das war ein kleines, aus Edelsteinen gebautes Wägelchen, das keine Räder hatte, sondern von zwanzig schwirrenden Johanniskäfern gezogen wurde. Und in dem Wägelchen faßen die Zwerge Sonnengucker und Brunnenschlucker, Kernzwacker und Schalenknacker. Die guckten nicht so ernst und grämlich drein wie sonst, sondern hatten vergnügte Äuglein und fröhliche Gesichter. Und auf den grauen Kittelchen und auf den ledernen Schürzen hatten sie kleine rote Fleckelchen vom Saft der Kirschen.

Eine Hofdame rümpfte das Näschen und flüsterte: "Die hätten sich zum heutigen Feste wohl feierlicher kleiden könnens!"

"Nein, mein gnääädiges Fräulein," belehrte sie der Rektor Magnifikus der Hohen Schule von Ohlstadt, der sich unter den Gästen befand, "kein fürstliches Gewaaand kann würdevoller sein als diiieses! Denn es ist die Arbeitstraaacht der fooorschenden Weisheit."


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"Nun ja," meinte die Hofdame, "aber es könnte doch ein bißchen reinlicher sein!"

Mißbilligend zog der Gelehrte die buschigen Augenbrauen in die Höhe. "Was das gnääädige Fräulein für Flecken zu haaalten scheint, sind Eeehrenzeichen Denn es sind die Spuren vom Bluuut eines menschenfeindlichen Riiiesen, den die siiiegreiche Weisheit des Königs Grawigrüweling überwaaand!"

Die Zwerge, als sie den gelehrten Herrn so sprechen hörten, stießen sich mit den Ellbogen an und schmunzelten. Doch höflich verneigten sie sich vor dem König Edelring und der Königin Rosewitt und stiegen auf einem goldenen Tisch aus ihrem funkelnden Wägelchen heraus. Und jeder der Zwerge legte einen blitzenden Edelstein vor dem Königskinde nieder.

Sonnengucker brachte einen wasserklaren Diamant und sagte:

"Unser König, dich zu grüßen. Legt dir diesen Stein zu Füßen. Tröstend wird sein Licht dir funkeln, Wenn des Lebens Nächte dunkeln!"

Brunnenschlucker brachte einen grünen Smaragd und sagte:

"Mag der Wälder Glanz auch schwinden, Dieses Grün wird nie erblinden"

Schalenknacker brachte einen himmelblauen Saphir und sagte:

"Mag dich alle Treu verlassen, Dieses Blau wird nie erblassen¨"


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Kernzwacker brachte einen blutroten Rubin und sagte:

"Wenn die Rosen dir verblühen, Dieses Rot wird ewig glühen"

Wieder verneigten sich die Zwerge vor dem Königskinde, und dann sprachen sie miteinander:

"Was wir da gespendet haben, Kindlein, das sind kleine Gaben!

Denn das Beste Zu deinem Feste, Das liegt verschlossen, mit Stahl umgossen, In Gold geschmiedet, Ans Kettlein gegliedet.

Das ist ein Zauber, der wirket leise, Der macht dich klug, und der macht dich weise!

Der rote Karfunkel Wird leuchten im Dunkel, Dir alles zeigen, Dir nichts verschweigen, Dich lösen und retten Aus drückenden Ketten, Aus Schmerzen dich leiten Zu Seligkeiten,

Und wird dir weisen an grünen Hecken Viel Haselkerne, die dir schmecken, Und spenden deiner Herzensnot Das rote, füße Lebensbrot!"

Als die Zwerge das gesprochen hatten, wollte das Sonnenguckerchen vergnügt zu singen anheben: "Holdirio Und das


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Leben ist . . ." Aber Brunnenschlucker gab dem fidelen Brüderchen heimlich einen Puff mit dem Ellbogen, und das Sonnenguckerchen drückte erschrocken die Hand vor das bärtige Mäulchen.

Inzwischen hatte die Königin Rosewitt dem Zwerglein Kernzwacker. das den glühenden Rubin gebracht hatte, zum Danke den feinen kleinen Finger hingeboten. Und während die Hofdamen ihre Lorgnetten vor die schläfrigen Augen hoben, um die Edelsteine zu betrachten, sagte der König Edelring: "Wir beklagen nur, daß Unser fürstlicher Bruder Grawigrüweling verhindert ist, dem Feste beizuwohnen. Doch wie wir hörten, ist seine Weisheit mit der Erforschung eines tiefen Geheimnisses beschäftigt?"

"War beschäftigt!"rief das Schalenknackerchen etwas vorlaut. "Gestern am Abend haben wir die Sache fein herausgekitzelt

"Allerdings! Das heißt . . ." fiel das Zwerglein Brunnenschlucker mit philosophischer Feinheit ein. "Unser weiser König hat die Lösung dieses wundersamen Rätsels nur zur Hälfte gefunden. Die Lösung, die er entdeckte, gilt nur für den Sommer. Doch in dieser Nacht hat ein gesunder Schlaf seinen Geist gestärkt. Und seit dem Morgen grübelt er unermüdlich darüber nach, wie es zu machen wäre, daß man auch im kalten Winter reife, sässe Kirschen hätte."

"Ei? Wie? Ich bitte?" mischte sich der Rektor Magnifikus


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ins Gespräch. "Das ist ein Probleeem der Wiiissenschaft, von dem ich niiie gehört habe.

Doch der Oberstzeremonienmeister, der in dieser festlichen Stunde ein Gespräch über wissenschaftliche Dinge nicht am Platze fand, stieß mit dem goldenen Stab energisch auf den Boden. Und da ordnete sich der Zug, um das Prinzeßlein zur feierlichen Taufe in den Dom zu bringen. Dreißig Pagen in silbernen Wappenröcken schritten voran. Dann kamen die Ritter in ihren Harnischen, mit roten Fähnlein an den Lanzen und mit weißen Rosen um die Helme; dann die Hofherren in ihrem seidenen Glanz und mit den zierlichen Degen. Die Fürsten von Murnau und Eschenlohe trugen auf goldenem Schild die Patengabe des Königs Grawigrüweling das stählerne Kästlein, das keine Fuge und keine Ritze hatte. Jetzt kamen die Zwerge in ihrem funkelnden Wägelchen geflogen, und gurrend flatterte das weiße Taubenpaar um das verschleierte Königskind, das die Obersthofmeisterin mit steifer Würde auf den Armen trug, Der König Edelring von Ohlstadt führte die Königin Rosewitt an der Hand — und alle Leute verneigten sich in Ehrfurcht vor dem königlichen Paar. Dann kamen die Hofdamen, Die hatten die weißen, spitzigen Näschen hoch in der Luft und hoben vorsichtig die Schleppen auf. Denn die Domstraße von Ohlstadt war nicht besonders reinlich! Trotz der schönen Sonne! Klar und lachend strahlte sie aus dem reinen Blau herunter und machte dem jubelnden


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Volk von Ohlstadt die entblößten Köpfe heiß. Und die Glocken läuteten. Und die Orgel brauste. Und die Weihrauchwolken dufteten aus dem mit Blumen geschmückten Tor des Domes.

Der war schon dicht gefüllt mit Leuten. Nur eine schmale Gasse war in diesem Gedränge noch freigeblieben für den Zug. Und ganz zuvorderst, in der ersten Reihe, hatte sich der junge Holdrio mit seinen kräftigen Ellbogen einen Platz erkämpft. Sein Gesicht glühte und seine Augen glänzten. Doch er sah nicht den Bischof im glitzernden Ornat; sah nicht den herrlichen Tauftisch, der mit grünem Buchs geschmückt und mit Seidenbändern in den wundersamsten Farben umwunden war; und hatte kein Ohr für das zauberschöne Lied, das von drei weißgekleideten Frauen mit engelszarten Stimmen gesungen wurde; und sah nicht, daß ein grauer Schleier alle die heiligen Bilder der Altäre zu verhüllen schien, und daß ein unfühlbarer Hauch die Flammen all der tausend brennenden Kerzen zu ersticken drohte, als das stählerne Kästlein des Königs Grawigrüweling in die Kirche getragen wurde. Für nichts anderes hatte der junge Holdrio Augen, als nur für das königliche Kind in den schneeigen Kissen. Und als er sah, daß die Obersthofmeisterin sich bückte, um das Prinzeßlein den Zwergen auf die Arme zu legen, rief der Bub erschrocken: "Herr! Wie sollen denn die sauren Käslein so ein Kindl tragen! Die lassen mir heilig das liebe Dinglein fallen!" Und sprang auf den Tauftisch zu und sagte: "Da muß ich helfen! Komm


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her, du Weiblein, du liebes!" Und nahm .das Prinzeßlein keck auf seine braunen Arme.

Sieben Hofdamen fielen vor Schreck in Ohnmacht, und der Oberstzeremonienmeister bekam einen Gallenkrampf. Doch der König Edelring und die Königin Rosewitt nickten dem Buben freundlich zu. Und Brunnenschluckerchen sagte: "Das ist der weise Lehrmeister unseres Königs! Den müßt ihr gewähren lassen! Der ist klüger als wir alle."

Mißbilligend schüttelte der Rektor Magnifikus den Perückenkopf, und der Oberstzeremonienmeister schnappte nach Luft und machte noch einen Versuch, die spanische Etikette zu wahren. Doch der Bischof hatte seine Rede schon begonnen. Die war sehr schön und fromm! Aber lang! Dem Sonnenguckerchen sielen die Augen zu — und als der Bischof dem Königskind, das geweihte Wasser über das Köpflein goß, da lispelte der kleine Zwerg in seinen schmunzelnden Träumen:

"Ach, wie gut, ach, wie gut, Ach, wie warm geht das ins Blut!"

Aber das Königskindlein, als es das kühle Wasser spürte, fing zu greinen an. Und während das Prinzeßlein leise weinte, sprach der Bischof: »Te baptizo nomine Sanctae . . . Sanctae . . .« Da wußte er nicht weiter und fragte die Königin: "Majestät? Wie heißt die Heilige, auf deren Namen ich das. Kindlein taufen soll?"


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»Sancta Holdria!« flüsterte die Königin Rosewitt. Und der Bischof, obwohl er von einer Heiligen dieses Namens nie gehört hatte, sprach zu dem Kinde: »Nomine Sanctae Holdriae!«

Schade, daß der junge Holdrio nicht lateinisch verstand. Da hätte er in diesem Augenblick eine große, schöne Freude erlebt! So aber hatte er keine Ahnung von der Ehre, zu der sein Name gekommen war!

Die Taufe war vollzogen, und mit einem Blick der Empörung wollte die Obersthofmeisterin das Prinzeßlein aus den Armen des Buben nehmen. Doch der junge Holdrio sagte: "Geh doch, du Alte, laß mich das liebe Dinglein noch ein bißl anschauen!" Lachend guckte er der kleinen Prinzessin holdria in die großen blauen Augen und flüsterte dem Kindlein ins Ohr: "Gelt, wenn du einmal groß wirst, und du


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brauchst einen tapferen Kriegsmann oder einen braven Knecht, dann tu mich nur holen lassen." Er wollte noch sagen: "Ich bin der Holdrio, der auf dem Wetterstein die Geißen hütet." Aber da hatte ihm die Obersthofmeisterin das Prinzeßlein schon aus den Armen gerissen.

Und draußen, rings um die Mauern des Domes, fing ein Brausen an, als wäre ein gewaltiger Sturm gekommen. Und man hörte einen Schritt, der wie das Waffengeklirr eines ganzen Heeres war. Und ein schwarzer Schatten fiel über die Fenster des Domes, und droben in der Höhe des Kirchenschiffes wurde die große Kuppel vom Dach gehoben, und durch die Öffnung blickte ein ungeheures Gesicht herunter, mit Haaren, die wie Bäume waren, und mit riesengroßen, seeblauen Augen.

Die ganze Hofgesellschaft wurde von einem grauenvollen Schreck befallen; der Bischof schwang den Weihwasserwedel und betete den Teufelsbann; die Ritter scharten sich mit gezückten Schwertern um das Königspaar, die Hofherren bekamen käsfarbene Gesichter, und jene von den Hofdamen, die etwas stärkere Nerven hatten und nicht in Ohnmacht gefallen waren, hoben flink die Riechfläschchen an ihre weißen Nasen. Denn sie hatten den Riesen Naturiwus in ihrem Leben nie gesehen. Die Zwerge aber, die ihn kannten, duckten sich scheu in einen Winkel, und der Rektor Magnifikus kroch auf allen Vieren unter den Tauftisch.

Doch das gemeine Volk, das im Dom versammelt war,


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sah gleichgültig zu dem Gesicht des Riesen hinauf, als wäre das eine alltägliche Sache, über die es nichts zu staunen gab. Und der junge Holdrio rief: "Das ist ja mein großes Mannsbild mit den hundert lieben Stimmen"

Das Gesicht da droben verschwand, und um die Mauern des Domes dröhnten wieder die schweren Schritte. Aber für den Riesen Naturiwus gab es keinen Weg in die Kirche. Das größte der Domtore reichte ihm nur bis an die Kniee, und das breiteste der Fenster war schmäler als des Riesen Arm. Darum guckte er wieder durch die Öffnung der Kuppel hinunter in das Kirchenschiff. Sein Mund war stumm; doch aus den großen, seeblauen Augen sprach es wie Trauer und Sorge.

Die Hofdamen schlotterten vor Angst, und der Rektor Magnifikus, der seine Verkleinerungsgläser auf die Nase geklemmt hatte, streckte den Perückenkopf unter dem Tauftisch heraus und dozierte stotternd: "Nur keine Aaangst, meine Daaamen! Was Sie zu seeehen glauben, ist in Würklichkeit nicht vorhaaanden! Dieser scheinbare Riiiese kann nicht sein, wo wir sind. Vor tausend Jaaahren schon hat ihn die Weisheit der Zwerge überwuuunden und gefesselt. Für mich und die Wiiissenschaft ist dieser Riese längst beseitigt! Er existiiiert nicht mehr . . ." Doch da zog der gelehrte Herr die Perücke erschrocken unter den Tauftisch zurück — denn der Riese Naturiwus griff mit seinem langen Arm durch die Öffnung der Kuppel in die Kirche herunter.


104 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.

Wie da die Hofdamen kreischten! Auch die Königin Rosewitt war bleich geworden, und der König runzelte die Stirne. Das Prinzeßlein Holdria aber hob die winzigen Händchen aus den Kissen und griff in die Höhe, als käme von da droben ein schönes Spielzeug herunter. Die Obersthofmeisterin bekam vor Entsetzen einen Schüttelfrost, als die mächtige Hand des stummen Riesen sacht und zärtlich über die Finger des Kindes strich. Der junge Holdrio aber lachte: "Mußt dich nicht fürchten, Königskindlein! Der ist gut! Der tut dir nichts!" Doch auch der Bub erschrak, als er sah, daß die Faust des Riesen plötzlich mit dem Griff eines Raubtieres das stählerne Kästlein erfassen wollte, das den Splitter des Karfunkelsteines umschloß und keine Fuge und keine Ritze hatte.

Alle die Ritter deckten ihre Schilde über das kostbare Kleinod und zückten die Lanzen und Schwerter nach der Hand des Riesen. Und der König fragte in Zorn: "Du Ungeschlacht Warum willst du mein Kind berauben?" Und der junge Holdrio klammerte sich an des Riesen kleinen Finger, wie man mit den Armen einen Baum umklammert, und rief: "Ei, Narr, was tust du denn da? So laß doch dem lieben Kindlein seine schönen Sachen!" Die Ritter stießen mit den Schwertern und Lanzen zu - das fühlte der Riese wie hundert Nadelstiche — und als er mit einem wunderlich klingenden Lachen seine Hand zurückzog, wurde der junge Holdrio. der an des Riesen kleinem Finger hing, mit hinaufgezogen in die Höhe des Domes.


105 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.

Hören und Sehen waren dem Buben bei dieser Luftreise vergangen. Und als er wieder zur Besinnung kam, da saß er auf seiner schönen Bergwiese, mitten wischen seinen ruhenden Geißen. Verwundert guckte er um sich her und dachte: "Jetzt weiß ich nimmer, bin ich bei der Taufe des Königskindleins gewesen? Oder hab ich das nur geträumt Aber da sah er, wie der Riese, der den Buben in der hohlen Hand vom Dom zu Ohlstadt bis zum Berge Wetterstein getragen hatte, lachend hinschritt über die grünen Wälder und über die weißen Gipfel der Berge.

Holdrio blieb im Grase sitzen, und der schöne Abend kam. Aber heute sah der Bub nicht, wie die Wälder leuchteten und wie die Felsen glühten. Er sah nur immer ein kleines, feines Kindergesicht mit blauen Augen und goldblonden Ringelchen. So saß er und träumte, bis ihn die meckernden Geißen mahnten, daß er sie melken sollte. Das hatte er immer mit Singen getan. Doch heute tat er es schweigend, Und als er das Fäßler mit der schäumenden Milch zu seiner Hütte trug. da fühlte er plötzlich an seinem nackten Fuß einen stechenden Schmerz. Er dachte: "Da muß ich in ein Dörnlein getreten sein!" Doch als er sich hinsetzte, um den Dorn aus der Wunde zu ziehen, fand er keinen Dorn, nur ein Tröpflein Blut und eine Wunde wie von einer Nadelspitze. Und das tat nimmer weh. Aber im Herzen hatte er ein Gefühl, als wäre ihm was Schweres ins Leben gefallen.


106 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.

Still und müde tat er seine Arbeit, bis es Nacht wurde. Und als er in seiner Hütte beim Feuer stand und im kupfernen Kessel die Milch der Geißen sott, um Käslein daraus zu machen, stand mit einem Male der Zwergkönig Grawigrüweling neben der Feuerstatt und fragte; "Holdrio? Weißt du einen Garten, wo es auch im Winter reife Nüsse und Kirschen gibt?"

"Die Nussen kann man aufheben," sagte der junge Holdrio schläfrig, "aber süße Kirschen wachsen nur im Sommer."

"Holdrio? Was hast du? Warum singst du nicht? Und warum lachst du nicht?"

"Ich weiß nicht, Königlein! Aber mir ist das Blut so heiß wie Feuer, mir ist das Herz so schwer wie Stein . . ." Und als der junge Holdrio das gesagt hatte, fiel er plötzlich um und war wie tot.

Mit flinken Beinchen sprang der König Grawigrüweling in den Mondschein hinaus und brachte ein Kräutlein und ließ von dem weißen Saft der Pflanze einen Tropfen auf die kleine Wunde fallen, die er an des Buben Fuß gefunden hatte, und murmelte:

"Heile, heile, Segen! Drei Tag Regen! Drei Tag Wind! Heile, heile geschwind!"

Drei Tage lang weinte der Regen, drei Tage lang wehte der Wind. Und als die Sonne wieder kam, schlug Holdrio die Augen auf und fragte: "Ist dem Königskindlein nichts geschehen?"


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"Nein!" sagte der Zwergkönig Grawisrüweling, der in der Hütte das Feuer schürte und für den Buben eine Suppe kochte. "Aber dich hat eine giftige Natter in den Fuß gestochen."

Holdrio tat einen tiefen Atemzug. "Und da leb ich noch allweil?"

"Weil ich dir geholfen habe."

"So weise bist du? Ganz ehrfürchtig guckte der junge Holdrio an dem Zwerg hinauf und sagte: "Ach, Herr König, bei uns im Tal versterben so viel gute Leut am giftigen Schlangenbiß! Da könntest du großen Segen stiften mit deiner Weisheit! Und tätst dich freuen dran!"

Der König Grawigrüweling dachte sich was. Und da sprangen ihm, hui und hui, an die tausend kleine graue Männlein aus der Stirne und huschelten in die Sonne hinaus und sammelten versteckte Kräutlein und trippelten von der schönen Bergwiese hinunter in das Tal, in dem die Menschen wohnten.

Mit Singen wollte der junge Holdrio zu seiner Arbeit


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gehen und trat hinaus vor das Hüttlein. Da sah er tausend Zwerge um die grünen Hecken springen und Nüsse sammeln für den Winter. Und sah die Zwerge Sonnengucker und Brunnenschlucker und Kernzwacker und Schalenknacker und tausend andere Zwerge in der schönsten Sonne sitzen. Und jeder Zwerg bewachte ein kristallenes Krügelchen, darin der rote Kirschsaft in der warmen Sonne kochte.

"Herr Jeggus," rief der Bub mit Lachen, was treibt ihr denn da in der Sonn?"

Die kleinen Männlein kicherten: "Wir machen den Winter froh!"

Und König Grawigrüweling, dem der weiße Bart schon wieder zu wachsen anfing, wanderte schmunzelnd hin und her und guckte in jedes funkelnde Krüglein und zwitscherte wie ein Fink im Maien:

"Die Sonn hat's geben, Die Sonn macht's leben, Die Sonn macht's gar, Die Sonn macht's klar Und süßet das Jahr, Das ganze Jahr!"

Und überall, wo die Sonne auf ein schönes Flecklein Erde niederleuchtete, sah der junge holdrio tausend und tausend Zwerge bei der Arbeit, wie sie mit ihren Nasen runde Grübchen in die schwarze Erde stupften und mit Lachen die roten Kirschkerne in den Boden legten.


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"Herr Jeggus," rief der Bub, "da wachsen uns schöne Zeiten!" Er fing zu singen an und wollte die Arbeit beginnen, die er drei Tage lang versäumt hatte. Aber da sah er mit Staunen, daß alle Arbeit schon getan war. Die Geißen waren gemolken, und die weißen Käsleinstanden zum Trocknen in der Sonne.

"Ach, du guter und weiser König," sagte der Bub, "deine kleinen Männlein, die so geschickt und fleißig sind, die könnten den armen Leuten da drunten im Tal das Leben leicht und freudig machen!"

Der König Grawigrüweling lachte, Und weil er sich was gedacht hatte, was Gutes und Frohes, sprangen ihm, hui und hui, an die hunderttausend kleine, gute, frohe Männlein aus der Stirne heraus und trippelten von der schönen Bergwiese flink hinunter in das Tal, in dem die Menschen wohnten.

Ach, Kinder! Da kamen herrliche Zeiten für die Leute, die rings um den Fuß des Berges Wetterstein ihre weißen Häuschen hatten! Das waren Zeiten, in denen ich hätte leben mögen! Niemand starb mehr am Biß einer giftigen Natter. Alle Hecken waren so schwer von Nüssen, daß sich die Zweige bogen. Überall wuchsen junge Kirschbaume aus der grünen Erde, daß im Frühling das Tal ganz weiß von ihren Blüten war. Die Geißen gaben doppelte Milch, und auf den Feldern wuchsen mannshoch die Ähren. Doch die Ernte kostete keinen Schweiß. Denn alle Arbeit tat sich leicht, als wär's ein Lachen, und alle Brühe war den Menschen wie ein frohes


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Lied. Und kam der Winter mit Frost ins Land, und hatten die Leute im tiefen Schnee ein hartes Wandern, und mußte ein Müder auf seinem kalten Wege zittern und rasten, dann war im Nu ein kleiner, guter, froher Zwerg zur Stelle, mit kristallenem Krügelchen, und ließ den Frierenden ein süßes Tröpflein ums ändere schlürfen, bis ihm das Blut wieder warm, der Weg wieder leicht und fröhlich wurde. Da ging der Winter hin, man wußte nicht wie. Und kam der Frühling wieder mit Blumen und Klee, dann saß an jedem schönen Abend, wenn die Felsen glühten vom Schmiedefeuer des Zwergenvolkes, der Riese Naturiwus auf dem Gipfel des Berges Wetterstein und blickte lachend hinunter ins Tal der Menschen; und lauschte träumend dem Lied, das der junge Holdrio seinen ruhenden Geißen vorblies auf der Hirtenpfeife. Und manchmal an solchem Abend, wenn der Zwergkönig Grawigrüweling auf dem Knie des jungen Holdrio saß und lachend mit ihm schwatzte, griff der Riese mit seiner großen Hand herunter und hob das gekrönte Zwerglein zu sich hinauf in die roten Lüfte und flüsterte ihm ganz leise was ins Ohr. Dann nickte der kleine König ernst vor sich hin und strich mit der Hand den weißen Bart, der schon wieder so lang gewachsen war, wie eines Kindes junge Locken sind. Und sagte: "Schau nur, schau, das hätt ich mit all meiner Weisheit nie gefunden! Da laß mich nur gleich hinunter! Da kann ich den Menschen wieder was Gutes tun!" Und wenn ihn dann

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der Riese sanft hinuntersetzte in das Gras der Bergwiese, sprangen dem König Grawigrüweling tausend gute, frohe Männlein aus der Stirne und huschelten auf allen Wegen davon.

Dabei geschah es einmal, daß der schlanke, schmucke Holdrio den König fragte: "Du, was hat dir denn das große Mannsbild schon wieder gesagt?"

Das gekrönte Zwerglein schmunzelte. "Gefragt hat mich der gute Riese, ob du noch allweil an das Königskindlein denkst?"

Da blieb der Bub so stumm, wie es sonst der Riese war. Und schweigend blickte er hinaus in die Abendferne, in der die goldenen Turmhähne der Königsburg von Ohlstadt schimmerten. Und blieb, als ihn der König Grawigrüweling verlassen hatte, ganz still im Grase sitzen und schob die Ziege Schimmermilch von sich fort, die ihm schmeicheln wollte. Doch als es Nacht geworden und der Mondschein gekommen war, da stieg der junge Holdrio hoch in die Felsen hinauf. Und brachte was herunter. Und legte das in sein Känzlein. Und hängte das Känzlein um die Schultern und stieg ins Tal hinunter und wanderte die ganze Nacht.

Als er durch einen Wald kam, hörte er eine klagende Stimme und sah ein Murmeltierchen, das sich in dichtem Dorngestrüpp verwickelt hatte.

"Wart, ich helf dir!" sagte Holdrio und befreite das Tierchen.

Das schnupperte an seiner Wade und tat einen Pfiff:


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"Wer nimmt, muß geben! Ich dank's deinem Leben!"

Und als es davonlief, sagte Holdrio noch: "Ist gern geschehen " Und wanderte weiter. Und kam in der schönen Morgenfrühe zur Königsburg von Ohlstadt. Doch vor dem Burgtor streckten ihm zehn Wächter die Lanzen gegen die Brust, und einer schrie: "Verbotener Weg!"

"Öha, langsam!" sagte Holdrio lachend. "Nur nicht gleich so grob! Es wird unverbotene Weglein auch noch geben!"

Immer guckend umwanderte er die ganze Burg mit ihren hohen Mauern und kam zu einem großen, eisernen Gitter, das einen wunderlichen Garten umzog. Da sah er Bäume, die wie Tiere aussahen, und graue Säulen, die geformt waren wie Bäume. Und Blumen gab es, die wie bunte Vögel waren, und auf den Zweigen flatterten künstliche Vögel, die bunten Blumen glichen, wenn der Wind sie bewegt. Und auf einer silbernen Schaukel, die nicht schwingen wollte, saß die kleine Prinzessin Holdria in seidenem Kleidchen, mit goldenen Schimmerlocken um das liebliche Gesicht, und bettelte mit süßem Stimmchen: "Höher! Höher! Ach, nur ein bißchen höher

"Eure Königliche Hoheit könnte schwindlig werden!" sagte die Hofdame und zog an der Schaukel, als hätte sie einem Gänseblümchen die Blätter auszurupfen.

"Nein, ich mag nicht mehr, das ist langweilig." greinte das Prinzeßlein und sprang von der Schaukel. "Ich will


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lieber das goldene Hähnchen krähen lassen!" Aber da fiel vor ihren Füßen was auf die Erde, und als sie hinguckte, lagen sieben weiße Sterne im grünen Gras. Und das Prinzesslein sah erschrocken zum Himmel hinauf. "Es ist doch Tag! Da gibt's doch keine Sterne! Wie können sie herunterfallen?"

"Aber geh, das ist doch Edelweiß!" klang die lachende Stimme des jungen Holdrio vom eisernen Gitter her. "Das hab ich für dich heruntergeholt vom Wetterstein."

Lächelnd, mit weißen Fingerchen, hob die Prinzessin Holdria


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die silbernen Blütensterne aus dem Gras und ging mit neugierigen Augen auf das eiserne Gitter zu. Im leisen Winde bewegten sich ganz fein ihre goldenen Locken, und zwei schneeweiße Tauben kamen ihr auf die Schultern geflogen und fingen zu gurren an.

"Ich bin die Prinzessin Holdria!" sagte das Königskind. "Und wer bist du?"

Doch der junge Holdrio, dem vor Freude über diesen Namen das heiße Blut ins Gesicht geflogen war, stand vor dem eisernen Gitter draußen, so stumm. wie sonst der Riese war. Und immer mußte er dem Königskind in die stillen, blauen Augen schauen.

"Was willst du?" fragte das Prinzeßlein. Da drückte der junge Holdrio das glühende Gesicht an die Gitterstäbe und sagte ganz leise: "Königstöchterlein? Brauchst du nicht einen treuen Knecht?"

Die Prinzessin Holdria schüttelte das Köpfchen. "Nein, weißt du, treue Knechte hab ich so viel, wie Männer sind in meines Vaters Volk. Aber magst du nicht hereinkommen in meinen Garten und mich ein bißchen höher schaukeln?"

"Freilich," sagte der junge Holdrio und kletterte flink am Gitter in die Höhe. "Paß auf, ich will dich hutschen, so hoch. daß du lachen und jauchzen mußt!"

Aber da kamen zehn Wächter gelaufen, stießen den jungen Holdrio mit ihren Lanzenschäften über das Gitter hinunter


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und schrieen: "Verbotener Weg" Und die Hofdame sagte: "Pfui, das schickt sich nicht!" Und zog das Prinzeßlein fort, das sich mit nassen, traurigen Augen umblickte nach dem jungen Holdrio und mit dem weißen Händchen noch immer die sieben Blütensterne umklammert hielt.

Das wurde für den Holdrio ein unlustiger Heimweg zum Wetterstein. Immer mußte er an die kleinen blinkenden Tränen denken, die das liebe Königstöchterlein in den traurigen Augen hatte.

Im Dorf begegnete ihm der reiche Goldbauer, der keinen Apfel mehr essen konnte und das Zipperlein in den Beinen hatte. Und als der Bauer den schlanken Buben sah, der so groß und stark geworden, fragte er: "Du, magst du nicht mein Knecht werden Ich zahl dir jeden Sonntag einen Goldgulden."

"Das geht nicht," sagte Holdrio, "ich muß warten, ob mich nicht das Königskindlein braucht als treuen Knecht."

Sieben Jahre lang wartete der junge Holdrio. Dann stieg er eines Abends, als der Mondschein kam, hinauf zu den hohen Almen, auf denen der Riese immer die Füße stehen hatte, wenn er droben hockte auf dem Gipfel des Berges Wetterstein. Und von da droben brachte der Bub was heim. Das tat er in sein Känzlein und stieg ins Tal hinunter und wanderte die ganze Nacht.

Als er durch einen Wald kam, hörte er ein lautes Flattern


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und sah einen Specht; der hatte den Kopf in ein Baumloch gesteckt und brachte ihn nimmer heraus.

"Wart, ich helf dir!"sagte Holdrio und stieg auf den Baum hinauf und machte mit seinem Messer das Loch in der Rinde so groß, daß der Specht den Kopf ganz leicht herausbrachte. Und da pickte der Specht den Buben ans Ohr und piepste:

"Wer nimmt, muß geben! Ich dank's deinem Leben!"

Und als der Specht davongeflogen war, stieg Holdrio vom Baum herunter, wanderte weiter und erreichte beim ersten Sonnenstrahl die Königsburg von Ohlstadt. Doch bei allen Toren standen die Wächter mit ihren Lanzen. Und im Garten ließ sich, obwohl der junge holdrio bis zum Abend wartete, kein Prinzeßlein hinter dem eisernen Gitter sehen. Nur die Blumen standen da, die wie bunte Vögel waren, und auf den Zweigen faßen die künstlichen Vögel, die aussahen wie bunte Blumen, wenn der Wind sie bewegt. Und die Wächter mit ihren tanzen gingen hinter dem eisernen Gitter auf und nieder.

"Herr du mein, das Königskind wird doch am End nicht krank sein?" dachte Holdrio. Und das war ein Gedanke, der ihm wie ein scharfes Messer das Herz durchbohrte. "Ich will ein Lied singen," meinte er, "dann hört mich das Prinzeßlein vielleicht und kommt heraus." Nach allen Toren und Fenstern guckend, fing er zu singen an:


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"Ich weiß ein junges Königskind, Das lieb ist, wie die Röslein sind. So oft ich in den Himmel schau, Denk ich an ihre Augen blau! Heia hulla Holdria! Der dich lieb hat, der ist da!

Ich weiß ein junges Königskind mit Löcklein, wie die Sonn sie spinnt! Und wie der Kirschen Sommerbrot, So ist ihr mündlein kirschenrot Heia hulla Holdria! Der dich lieb hat, der ist da"

Beim Klang des Liedes kamen die Wächter gelaufen, stießen mit ihren Lanzen durch das Gitter hinaus und schrieen den Buben an: Hier ist das Singen verboten!"

"Öha, langsam, nur nicht gleich so grob!" sagte der Bub. "Es wird doch auch noch Leut geben, die gern ein Lied hören!" Dann lachte er gar hell und froh. Denn droben am Fensterlein eines hohen Turmes hatte er was wehen und leuchten sehen wie goldene Locken. Aber das war gleich wieder verschwunden. Und nur zwei silberweiße Tauben sah er noch mit Gurren um das Fenster flattern.

"Da droben, das ist ihr Stüblein!" dachte Holdrio. Wenn ich dem Königskind meine Blumen bringen will, so muß ich da hinauf"

Der hohe Turm, der hätte dem Holdrio keine Angst gemacht.


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Aber wie sollte er durch den Garten kommen, ohne daß ihn die Wächter sahen?

"Wär ich nur erst beim Turm! Ich gäb mein Leben drum!"

"Wart, ich helf dir pfiff zu Holdrios Füßen ein Stimmchen. Und das Murmeltierchen war da und fing wie närrisch in der Erde zu graben an. Und grub einen unterirdischen Gang durch den ganzen Garten, bis zum Fuß des hohen Turmes. Und bevor es verschwand, da pfiff es noch:

"Duriwitt, Duriwitt! Wir zwei sind quitt."

Es war schon blauer Abend geworden, als der junge Holdrio herausstieg aus dem Boden. Und da sah er, daß die Mauer des Turmes so glatt war, wie das Eis im Winter ist. Und droben im Fensterlein, da blinkerte ein helles Licht.

"Wie komm ich nur da hinauf? Ich gäb mein Leben drum!"

"Wart, ich helf dir!" zwitscherte ein feines Stimmchen. Und der Specht war da und klopfte mit seinem Schnabel wie närrisch auf die glatte Mauer los, und meißelte hundert Löcher in den Stein und piepste noch:

"Kiliwitt, kiliwitt, Wir zwei sind quitt!"

Da konnte Holdrio mit Händen und Füßen in die glatte Mauer greifen und konnte hinaufklettern bis zum Fensterlein der Prinzessin Holdria.


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Die saß in ihrem stübchen, und ihr rotes Seidenkleid war wie ein schönes Feuer. Gleich einem goldenen Mantel hingen ihr die blonden Locken um die Schultern her. Doch ihr feines, liebliches Gesichtlein war so müd und bleich! Und traurig schauten die blauen Augen drein.

An ihrer Seite faß die Hofdame mit spitziger Nase und so steif, als hätte sie eine eiserne Stange verschluckt. Und auf dem Tisch lagen hundert aufgeschlagene Bücher. Und der Rektor Magnifikus, mit der Brille auf der roten Nase, sagte zur Prinzessin Holdria: "Geruuuhen Eure Königliche Hoooheit mir zu saaagen, warum das U ein Häubchen haaat, und das J ein Tüüüpfelchen?"

Die Prinzessin schwieg und blickte scheu und unruhig hinüber zum Fenster, vor dem der schöne Abend blaute.

Der Rektor Magnifikus zog die buschigen-Brauen in die Höhe: "Geruuuhen Eure Königliche Hoooheit nicht zum Fenster zu schauen, sondern in das Buuuch."

Seufzend, mit süssem Stimmlein, sagte die Prinzessin: "Herr Rektor, ich hab ein Lied gehört!"


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.

"Ein Lied ist niiichts Besonderes, Königliche Hoooheit Das ist nur eine Fooolge von niiichtsfagenden Wooorten, die sich in bestimmten Tooonabstuuufungen aneinaaanderreihen. Königliche Hoooheit mögen geruuuhen mir zu faaagen, warum das U ein Häubchen . . ."

"Schafskopf" unterbrach ihn die Prinzessin, mit Zorn in den Augen.

"Seeehr richtig!" sagte der gelahrte Herr und verbeugte sich. "Königliche Hoooheit haben meine Frage mit bewuuundernswertem Scharfsinn beaaantwortet. Also: Schaf und Kopf! Seeehr richtig! Das U gleicht einem Schafsgesiiicht, und das Häubchen ist wie die Ooohren darüber. Und das Tüüüpfelchen, seeehr richtig, das ist der Kooopf auf jedem Jiiiii!"

Da sprang die Hofdame mit entsetzten Augen auf und deutete nach dem Fenster und schrie: "Der Riese kommt! Der Riese!" Und fiel in Ohnmacht. Und der Rektor Magnifikus zeterte: "Mörder! Diebe!" Und packte das größte der Bücher, um es in Sicherheit zu bringen, und rannte davon.

Auch die Prinzessin Holdria war ein wenig erschrocken, als sie im Fenster das Gesicht des Buben sah. Dann aber lächelte sie ein bißchen und fragte: Wer bist du?"

Dem Holdrio leuchtete die Freude in den Augen. "Kennst du mich nimmer?" Lachend warf er der Prinzessin Holdria ein Sträußchen zu und sagte: "Schau, da bring ich dir was!" Und im Schoß des Königskindes lagen sieben rote Almenrosen,


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deren Kelche noch röter waren als das rote Seidenkleid.

Jetzt lachte das Prinzeßlein, fein und süss. Und sprach: "Es war einmal, da ließ im grünen Garten einer sieben silberweiße Sternlein vor mir niederfallen. Bist du der gewesen?"

"Ja, Prinzeßlein!"

Wieder lachte das Königskind, ein bißchen lauter und froher als zuvor, und sammelte aus ihrem Schoß die sieben roten Rosen in das weiße Händchen. Und trat mit kleinen Schritten auf das Fenster zu und beugte voller Neugier das Gesichtchen vor, daß ihr die Locken wie zwei lange, goldene Schleier über die weißen, schmalen Wangen herunterfielen.

Und der schlanke, schmucke Bub, der draußen an der Mauer hing, der mußte das Prinzeßlein immer anschauen. Und zitterte in seiner Freude, daß er kein Wort mehr über die Lippen brachte.

"Was willst du?" fragte die Prinzessin. "Sprich zu mir!"

Da legte der junge Holdrio die heiße Wange auf das Gesimse des Fensters und sagte ganz leise: "Königstöchterlein? Brauchst du nicht einen tapferen Kriegsmann?"

Die Prinzessin Holdria schüttelte die goldnen Locken. "Nein, weißt du, tapfere Ritter hab ich so viel, wie Edelmänner sind in meines Vaters Volk. Aber magst du nicht . . ." Das Königskind verstummte plötzlich. Und während von der Turmtreppe lautes Waffengeklirr und polternde Schritte klangen, sah


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die Prinzessin Holdria dem jungen Holdrio so neugierig in die Augen, als wäre da was drin, was sie nie im Leben noch gesehen hatte.

Und der junge Holdrio sah dem stillen Königskind mit solchen Freuden auf, als wäre so was Schönes nimmer zu schauen in der ganzen Welt. Und während er schaute und guckte, flogen ihm die beiden silberweißen Tauben auf die Schultern und surrten ihm ins Ohr:

"Gurrruuh, gurriguh, Ja, guck nur, du! Guck nur und schau! Die wird deine Frau!"

Nicht, weil des Königs Ritter mit ihren Lanzen in das Stüblein gesprungen kamen, sondern weil dem Holdrio die weißen Tauben seiner Wünsche solch ein wunderliches Lied gesungen hatten, wurden ihm plötzlich die Hände so schwach, daß er sich nimmer halten konnte und rücklings hinunterstürzte in die Nacht.

Doch während die Prinzessin Holdria in Schreck und Jammer mit ihren goldenen Locken die nassen, traurigen Augen verhüllte und zu Boden fiel, als hätte ihr ein Pfeil das Herz durchstochen - stand im Garten drunten der lachende Riese, so schwarz in der Nacht wie ein riesiger Baum, und fing mit seinen Armen, die wie linde Zweige waren, den stürzenden Holdrio auf und stellte ihn auf den Boden nieder und ging mit Lachen durch die Finsternis davon.


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Aber da kamen mit Laternen und blinkenden Spießen die Wächter des Gartens gelaufen. Und das eine der silberweißen Täubchen gurrte in Sorge:

Gurrruuh gurriguh, O blutige Not! Gurrruuh gurriguh, Die stechen ihn tot!"

Das andere aber hatte ein Gurren, das wie lustiges Kichern war:

"Gurrruuh, gurriguh, Der ist doch stark! Gurrruuh, gurriguh, Hat Knochen und mark!"

Und da sagte der junge Holdrio zu den Wächtern: "Oha, langsam, nur nicht gleich so grob! Ich muß doch morgen meine Geißen melken!" Und schlug mit der Faust die Spieße aus seinem Weg und puffte die Wächter vor sich nieder — recht vorsichtig, damit das Königskind von seinen treuen Knechten keinen verlieren sollte. Dann schwang er sich über das eiserne Gitter und wanderte die ganze Nacht und sang dazu, bis es Morgen wurde.


124 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.

Im Dorf, als just die Sonne kam, begegnete dem Holdrio der reiche Goldbauer, der keinen Apfel nimmer essen konnte und das Zipperlein in den Beinen hatte. Und weil er sah, wie stark und groß und schmuck der Bub geworden, sagte er zu ihm: "He, du! Ich hab eine Tochter. Die ist groß und stark und reich. Und braucht einen Mann. Magst du nicht mein Eidam werden?"

"Nein, das geht nicht!" sagte der junge Holdrio. "Weil ich warten muß, ob nicht des Königs Tochter einen tapferen Kriegsmann braucht."

Dann stieg er hinauf zum Berge Wetterstein und sang in den goldenen Morgen und in den blauen Tag:

"Ich weiß ein junges Königskind, mit Locken, wie die Sonn sie spinnt! Und sieben Sternlein silberklar, Die flecht ich ihr ins goldne Haar! Und sieben Rosen, rot und heiß, Die leg ich um ihr Hälslein weiß! Und wären sieben Herzen mein, Die müssten all ihr eigen sein!"


125 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.


Des Märchens froher Beschluß:

Welches Unheil der Splitter des Karfunkelsteines anrichtete, und wie der junge Holdrio die Prinzessin Holdria zu einer lachenden Königin machte.


127 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.

Und wiederum sieben Jahre wartete der junge Holdrio. Doch die Prinzessin Holdria schien keinen treuen Knecht zu brauchen und keinen tapferen Kriegsmann. Denn die hunderttausendmal tausend Kirschbaume, die aus den kleinen Kernen herangewachsen waren, blühten Jahr um Jahr wie ein weißes Meer. und noch immer wollte von der Königsburg kein Bote kommen, um den schlanken, schmucken Holdrio zu holen, der auf dem Berge Wetterstein die Geißen hütete.

Der reiche Goldbauer, den das Zipperlein in die Zehen biß, der hatte eines schönen Tages gesagt: "Jetzt beiß ich auch einmal!" Und da hatte er ins Gras gebissen. Und seine Tochter, die so stark und groß war und so reich, die hatte längst schon einen Mann genommen und einen starken Knecht dazu. Denn im Goldhof war es wie in all den anderen Höfen. Bei dem Wohlstand, den in Heimlichkeit das menschenfreundliche Werk der Zwerge schuf, wuchs auch die Arbeit. Und da brauchte man Leute! Und mußte freundlich sein mit den Knechten, wenn man wollte, daß sie blieben! Denn all die armen Leute waren reich geworden bei dem Segen, der so still um alle Felder, so heimlich durch alle Häuser und Gärten schritt. Die sonst gebettelt hatten, sahen


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unter schönem Dach und konnten fröhlich sein und lachen, konnten singen vom Morgen bis zum Abend. Manchmal taten sie's im Wirtshaus auch die ganze Nacht. Und häufig waren sie dabei verschiedener Meinung: welcher von ihnen der reichste wäre? Und weil diese Glücklichen weder Papier noch Pergament hatten, schrieben sie einander ihre Meinung auf die Köpfe, Und dann mußten die guten Zwerge fleißig springen, um all die heilsamen Kräuter herbeizuholen, die da nötig waren.

Unter all diesen tausend Reichen gab es nur einen einzigen, der arm geblieben und gar nicht fröhlich war! Der hatte noch immer keine Schuh, keinen Garten und kein Haus dazu. Und all sein munteres Singen schien er ganz verlernt zu haben - weil die Prinzessin Holdria keinen treuen Knecht und keinen tapferen Kriegsmann brauchte. Und wenn er am blauen Morgen oder am roten Abend wischen den ruhenden Geißen auf der schönen Bergwiese saß und mit dürstender Sehnsucht still hinausblickte in die Ferne, wo er die goldenen Turmhähne der Königsburg von Ohlstadt schimmern sah, dann tat er oft einen Seufzer, so tief und schwer, daß die Geißen erschrocken aufsprangen aus dem Gras und all ihre heiteren Possen spielten, um ihren stillen Hirten froh zu machen. Doch ob auch Großvater Kleebeiß mit seinen alten Knochen die drolligsten Sprünge versuchte — der stille Holdrio wollte nicht lachen, Und wenn das Enkeltöchterlein


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der Ziege Schimmermilch das weiße Köpflein schmeichelnd an seine Wange schmiegte, schob er das Tierchen von sich und sagte ernst: Ach geh doch, Schimmerlein, laß mich in Ruh!"

Dann schüttelte wohl die Großmutter Schimmermilch in tiefen Gedanken den grauen Kopf und sprach:

"Wer, mecker lemäh, Versteht, was ich seh? Was kann ihn denn plagen? Was muß er denn tragen?

Ich find's nicht! Ich wind's nicht!

Ich weiß keinen Grund! Wir all sind gesund, Und die Sonn ist so lind, Und die Nacht so geschwind, Und besser als je heuer der Klee! Lemecker lemäh, Was tut ihm denn weh?"

Und da war es in der schönen Zeit, in der die Kirschen reif sind und an allen Ecken die grüne Schale der Haselnuß sich härten und bräunen will. Da saß der stille Holdrio im roten Abendglanz auf seiner Wiese und blickte mit dürstender Sehnsucht in die leuchtende Ferne hinaus, in der die goldenen Turmhähne der Königsburg von Ohlstadt schimmerten. Und plötzlich fing er zu singen an, ganz leise:

"Ich weiß ein junges Königskind, mit Locken, wie die Sonn sie spinnt!


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.Hat sieben Sternlein silbemeiß — Die sind verdorrt zu dürrem Reis! Hat sieben Röslein rot und grün — Die sind verweht, weiß; nit, wohin!

Und sieben Herzen, Die sind mein! Und sieben Schmerzen, Die sind drein"

Und derweil der junge Holdrio so traurig sang, kam ein Geraschel und Gehuschel durch die Gräser der Wiese herauf. Von überall wimmelten zu Hunderttausenden die kleinen Zwerge herbei und kletterten auf die biegsamen Halme, die in der roten Sonne wie goldene Spangen anzusehen waren, und immer sieben machten sich's gemütlich auf einem Halm, und immer hundert kletterten einem ruhenden Geißlein auf den Rücken und schmuggelten sich behaglich in das linde Fell. Und zwischen den Gräsern klangen zirpende Stimmen: "Hussa Hoppla! Hüo!" Und tausend silberne Wägelchen kamen angefahren, die beladen waren mit reifen Haselnüssen und karfunkelroten Kirschen. Und auf einem Wägelchen, so groß und schwer, daß die Zwerge tausend von ihren schwarzen Rossen als Vorspann hatten nehmen müssen, brachten sie eine sonderbare Maschine herbeigefahren. Die hatte der weise König Grawigrüweling erfunden — und das war eine Maschine, mit deren stählernen Zangen man die härtesten Nüsse ohne Mühe knacken konnte. Ja, wahrhaftig,


131 - ludwig ganghofer - märchen vom karfunkelstein.

das war der erste Nußknacker. den es auf der Welt gegeben hat!

Mit dieser Maschine fingen die Zwerge gleich ein flinkes und lustiges Knacken an, und die milchweißen Bröselchen der Kerne wurden verteilt unter das ganze Heer der kleinen Männer. Und während sie unter kicherndem Jubel den süßen Saft der Kirschen in die blauen, gelben und roten Kelche der Blumen drückten, erschien der König Grawigrüweling in festlichem Gewande. Statt der schweren, goldenen Krone trug er ein allerliebstes Kränzlein aus winzigen Blumen um die Stirne. Und sein weißer Bart, der war im Lauf der Jahre schon wieder so lang gewachsen, wie eines Mädchens blonde Zöpfe sind. Aber die Augenbrauen trug er kurz geschoren, um klaren Blick zu haben und alle schönen Dinge der Welt und die liebe Sonne besser sehen zu können. Und


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kein Runzelchen hatte er mehr im Gesicht, sondern hatte runde, rosige Wänglein. Und Augen dazu, so hell und froh, wie einst die Augen des jungen Holdrio gewesen. Und ganz so gesund und munter, wie der kleine König, waren all die hunderttausendmal tausend kleinen Zwerge um ihn her.

Doch als der König Grawigrüweling hinaufkletterte auf das Knie des großen, schlanken Holdrio, da mußte er gehörig schnaufen und tüchtig schwitzen. Denn von all den milchfeinen Nußkernen, die er im Lauf der Jahre geknappert hatte, und von all dem süßen Kirschfaft, der ihm durch das Gurgelchen geronnen war, hatte der kleine König ein rundes, dickes Bäuchlein bekommen. Hundert Kletterzwerge mußten von rückwärts schieben und stemmen, um ihrem König Grawigrüweling hinaufzuhelfen auf das Knie des Holdrio. Sobald er aber droben hockte, fing er lustig mit den Beinen zu zappeln an, und ließ sich ein blaues Becherlein mit rotem Kirschwein reichen, und trank dem Holdrio zu, und sagte: Also, da wären wir wieder einmal!" Und lachte.

"Gott grüß dich, Königlein Fingerlang!" erwiderte Holdrio mit einem tiefen Seufzer. Was willst du denn bei mir mit all deinem lustigen Volk?"

Der König machte verwunderte Augen. "Aber! Bub! Heut jährt sich doch die süße Kirschnacht wieder! Die liebe Nacht, in der ich die höchste Weisheit fand!" "Ach sooo?" Und wieder seufzte der Bub. Und flüsterte


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ganz leise vor sich hin: "So jährt sich heut der liebe Tag, an dem das Königskind zur Welt gekommen!"

Das konnte der König Grawigrüweling trotz seiner feinen Ohren nimmer hören. Denn die hunderttausendmal tausend Zwerge, denen vom füßen Kirschwein schon die Augen funkelig wurden, schlugen in der Freude ihres Lebens einen Lärm und Jubel auf, daß es klang, als hätten sich auf der schönen Bergwiese alle Grillen der Welt zum Singen eingefunden. Übermütig fingen sie auf all den biegsamen Gräsern ein tolles Schaukeln an; und die den ruhenden Geißen auf dem Rücken saßen, schlugen Purzelbäume durch das linde Fell und stellten sich auf die Köpfe; und sangen dazu mit jauchzenden Stimmen:

"Ach, wie gut, ach, wie gut, Ach, das geht so süß ins Blut!

Wie feurige Räderchen Läuft's durch die Äderchen, Wirbelt im Köpflein Wie glühende Tröpflein!

Ach, wie gut, ach, wie gut, Ach, wie warm ist das im Blut!"

Und König Grawigrüweling tat einen Juhschrei — "Heisa, juhei!" —und Sagte zum stillen Holdrio: "Nimm dein Pfeiflein, Bub! Und blas uns einen Lustigen auf! Wir wollen tanzen!"

Mit einem Seufzer griff der schlanke Holdrio nach seiner Hirtenpfeife und begann zu blasen.


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Und da fingen die lustigen Zwerge rings um ihn her ein Hopsen und Springen an, als wäre wieder einmal die ganze Bergwiese lebendig und verrückt geworden.

Die Sonne, bevor sie sinken wollte, lachte noch mit rotem Kirschgesicht über den Grat des Berges Wetterstein herunter. Und silberweiß wie ein geschälter Nußkern stieg von der anderen Seite der schmunzelnde Mond herauf und goß all seinen milden Schimmer über das frohe Volk der Zwerge hin.

Immer toller trieben es die kleinen Männchen; und die Geißen taten mit und sprangen und hockten, daß die Zwerge, die wie Kletten im Fell der Ziegen verklammert hingen, bei diesem Gerüttel und Geklunker helle Tränen lachten und der Stunde denken mußten, in der sie auf dem hüpfenden Bauch des Riesen jene gefährlichen Räder geschlagen hatten.

Doch inmitten dieses fröhlichen Jubels warf der schlanke Holdrio plötzlich die Hirtenpfeife fort und drückte das Gesicht in die Hände und fing gar bitterlich zu Schluchzen an.

Da hättet ihr sehen sollen, wie mit einem Nu im silbernen Mondschein aller Jubel stumm und alle Freude der kleinen Zwerge still und schweigsam wurde! Und alle die winzigen Männchen und die großen Geißen und die kleinen Zicklein, alle standen sie um den Buben her und guckten mit Trauer und Erbarmen zu ihm auf.

Ganz erschrocken hatte König Grawigrüweling den Blumenbecher mit dem Kirschwein fallen lassen. Dann kletterte er


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trotz seines dicken Bäuchleins flink auf die Schulter des Buben hinauf und hob sich auf die Fußspitzen — und während der milde Abendwind dem Holdrio den weißen Bart des Königs um die Wange wehte, flüsterte Grawigrüweling dem Buben ins Ohr: "Ach, Holderchen! Mein lieber, guter rnagst du mir nicht sagen, warum du weinen mußt?"

Da ließ der Bub die Hände sinken — und im silbernen Mondschein war's, als hätte er zwei große, schimmernde Perlen an den Augen hängen. Und sagte mit einer Stimme, fo weh und heiß wie sieben Schmerzen sind: "Schau, König Fingerlang, schau her, ich bin dem Königskind so gut und treu . . . und das will mich noch immer nicht holen lassen


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als braven Knecht und tapferen Kriegsmann . . . und vor Sehnsucht muß ich schier versterben!"

In Jammer schlug der König Grawigrüweling die Hände über dem Kopf zusammen und rief: "Herr jerum jemine! Und ich, mit all meiner Weisheit, ich kann dir nicht helfen in deinem Weh! Und wäre meine Weisheit noch hunderttausendmal größer, so wäre sie noch immer machtlos über ein Menschenherz." Doch als der kleine König das gesagt hatte, fiel ihm etwas ein. "Sei ruhig, Holderchen! Wo alle Weisheit versagt, da gibt's noch immer Einen, der helfen kann!" Er zupfte den Buben am Ohr. "Flink! Nimm mich auf deine Hand! Und hebe mich hoch hinauf in die Lüfte!"

Und Holdrio setzte das Königlein auf seine Hand und hob es mit gestrecktem Arm hinauf in den silbernen Mondschein.

Da höhlte der König Grawigrüweling die Hände um den Mund und rief, so laut er rufen konnte: "Riiieseee!"

Ganz leise gaben am Berge Wetterstein die Felsen Antwort: "Jiiiseeee!"

Wieder rief der König: Riese! Komm! Da ist ein Herz in Not!" Und kaum er das gerufen hatte, schienen überall in der Runde die Wälder lebendig zu werden. und alle Felswände begannen sich zu bewegen und schienen verwandelt in die Arme und Beine eines ungeheuren Körpers — und droben am Himmel riß der Mond vor Neugier die silbernen Augen


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auf - und über die steilen Almen kam der Riese mit dröhnendem Schritt heruntergestiegen zur schönen Wiese, so riesengroß, daß seine schwarzblauen Haare den Mond an der Wange kitzelten. Und schweigend beugte er sich nieder und machte sich so klein, daß er dem Holdrio in die nassen, sehnsuchtsvollen Augen schauen konnte. Und richtete sich schnaubend wieder auf und fing in der schönen Silbernacht zu lachen an - und während er lachte, griff er mit seiner mächtigen Faust hinaus in die Ferne, in der ein roter Schein von all den tausend Lichtern war, die in der Königsburg zu Ohlstadt brannten.

Stumm und staunend guckten die Zwerge, die Geißen und die Zicklein an dem Riesen hinauf. Und König Grawigrüweling begann sich auf der Hand des Holdrio behutsam um sich selbst zu drehen, machte Verbeugungen nach allen Himmelsgegenden und murmelte in den wehenden Bart:

"Die Stunde will kommen, Die Stunde ist nah! Die Stunde ist mächtig, Der Riese ist da

Karfunkel Im Dunkel,

Im stählernen Schrein,

Zersprenge Die Enge

mit leuchtendem Schein!


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Mein Wille Enthülle

Den Bann deiner macht!

Erglühe! Und sprühe!

Erhelle die Nacht"

Und während der König Grawigrüweling diesen Zauber flüsterte, tat der Riese mit Lachen einen riesenlangen Schritt — und stand im Tale drunten. Einen zweiten tat er — und hatte die hälfte des Weges zwischen Ohlstadt und dem Berge Wetterstein zurückgelegt. Und noch einen dritten tat er, und da stand er vor der Königsburg, aus der man Pauken und Trompeten hörte, und aus deren hundert Fenstern ein Lichtgefunkel schimmerte, als wäre im Thronsaal des Königs Edelring die Sonne aufgegangen.

Lachend hockte sich der Riese auf die Wiesen nieder und blickte über die hohen Mauern und spitzen Dächer der Stadt hinunter in die Straßen, die von tausend Pechfackeln und Feuerstößen taghell erleuchtet waren. Bunte Fahnen wehten von allen Giebeln, Kränze von brennenden Lichtern waren um alle Fenster geschlungen, und mit Jubel drängte sich das wimmelnde Volk durch alle Straßen. "Hoch der König!" schrieen die Leute. "Hoch die Königin Es lebe die Prinzessin Holdria" Denn die hofgesellschaft, die einen Rundgang durch die beleuchtete stadt gemacht hatte, kehrte gerade zur Königsburg zurück - voran die Pagen in den roten


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Wappenröcken und mit Wachslichtern, dann die Ritter mit roten Fähnchen an den Lanzen und mit weißen Rosen um die Helme, dann die Hofherren in ihrem seidenen Glanz, die Hofdamen in den gehobenen Kleidern und mit den spitzen Nasen in der Luft — und dann die Prinzessin Holdria wischen dem König Edelring und der Königin Rosewitt.

Ach, Kinder, wie schön und lieblich war die Königstochter! Wer sie ansah, mußte vor Freude jauchzen und weinen. Und sie trug ein Kleid, aus Silber gewoben. Aber das sah man nicht. Denn ihre Lockenhaare lagen darüber her wie ein goldener Mantel, vom feinen Köpflein bis hinunter zu den Knieen. Und so sonnengoldig glänzten diese Haare, daß man den Goldreif nimmer schimmern sah, der die Stirne der Königstochter umspannte. Und zwischen den kleinen Löcklein, die um ihre Wangen zitterten, sah man das schmale, rosenblasse Gesicht mit dem roten Kirschenmund und den stillen, blauen, traurigen Augen. Und um das zarte, weiße Hälschen hatte sie ein seidenes Band geknüpft, an dem die Edelsteine der Zwerge blitzten in Feuer und Glanz: der blaue Saphir, der grüne Smaragd, der rote Rubin und der wasserklare Diamant. Und wo sie ging und stand, da flatterten mit wunderlicher Unruh, scheu und aufgeregt, zwei silberweiße Tauben um sie her und gurrten immer — doch bei dem lauten Jubel des Volkes konnte niemand hören, was die Tauben sagten.


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Wie die Leute schrieen! Wie sie jubelten und jauchzten! Und was an Blumen gewachsen war in allen Gärten der

Stadt, auf den Wiesen und im Wald, das streuten sie in ihrer Freude auf den Weg der Königstochter Holdria.

Manchmal schien es, als möchte sich die Prinzessin nach einem Sträußlein bücken. Aber das konnte sie nicht — weil ihr silbernes Kleid so schwer war und so steif gewoben. Und winzig kleine Schritte mußte


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sie machen - weil ihr der goldene Schuh das Füßchen drückte.

Heiß erschrocken blieb sie stehen, als sie unter den Blumen, mit denen das jubelnde Volk ihren Weg bestreute, etwas Rotes leuchten sah. Aber als sie merkte, daß es roter Mohn war, schüttelte sie das Köpfchen, daß all ihre goldenen Locken bis hinunter zu den Knieen zitterten.

"Mein Herzkind?" fragte die Königin Rosewitt, die noch immer schön war, aber schon kleine Fältchen um die Augen hatte. "Warum bist du so erschrocken?"

"Ich weiß nicht, liebe Mutter!" sagte die Prinzessin Holdria. "Das hab ich immer so, wenn rote Blumen fallen."

Und als im Blumenregen ein Sträußlein weißer Gänseblümchen vor ihr niederfiel, da schlug sie die Augen zu Boden und tat einen tiefen Seufzer.

"Mein Kind, warum so traurig?" fragte der König, dem das Haar schon grau geworden. Zwei kleine Tränen rollten der Prinzessin Holdria über die Wangen, als sie leise sprach: "Es war einmal . . . da sind vom Himmel sieben silberweiße Sterne gefallen . . ."

"Nein, mein Kind! Das hast du geträumt. Die Sterne fallen nicht. Die sind am Himmel festgewachsen."

Kaum aber hatte der König das gesagt, da fiel vom dunkelblauen Himmel mit Glanz ein brennender Stern herunter.


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Niemand sah, wohin er fiel. Doch alles Volk von Ohlstadt fing zu jubeln an. Und tausend Stimmen riefen: "Das bedeutet Glück! Das ist eine Stunde, die Segen bringt!" Und weil im gleichen Augenblick der junge Prinz von Murnau, der vom Königspaar zum Gatten der Prinzessin Holdria ausersehen war, mit klingenden Trompeten und mit einer klirrenden Reiterschar zum Stadttor hereingeritten kam, war alles Volk der Meinung, daß der fallende Stern das Glück des jungen Paares verkündet hätte. Und die Leute jubelten: "Es lebe die Prinzessin Holdria Vivat hoch der Prinz von Murnau!"

Aber das Königskind begann zu zittern, daß ihm ein feines Geriesel über die goldenen Locken ging. Das bleiche Gesichtlein wurde noch bleicher, als es zuvor gewesen, und die traurigen Augen der Prinzessin füllten sich mit Tränen.

Im Goldgefunkel seiner Rüstung war der Prinz von Murnau aus dem Sattel gesprungen und wollte schon mit stolzem Lächeln vor der königlichen Braut die Kniee beugen. Doch da scholl aus dem Tor der Königsburg ein hundertstimmiger Lärm, und schreiende Menschen kamen gelaufen, mit rauchenden Fackeln in den Händen. Und der Oberstzeremonienmeister, ganz atemlos, tat vor dem König einen Kniefall und fing zu stottern an: "Mmmmajestättt! In Allerhöchstdero Schaschaschaschatzkammer . . .muß sich etwas Wuwuwuwunderbares ereignet haben . . .durch die eiserne Türe


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dringt ein Lllllicht heraus . . .ganz mimimirakelhaft . . .und ein Sssssingen und Klingen ist zu hören . . .wuwuwuwundervoll . . ."

Da gab es ein Rennen und Springen bei der ganzen Hofgesellschaft. Niemand dachte mehr an die spanische Etikette — die Hofherren verwickelten sich mit den Füßen in ihre Degen, und die Hofdamen traten einander die Schleppen aus der Naht.

"Das Patengeschenk des Königs Grawigrüwelins!" rief König Edelring. "Das stählerne Kästlein muß sich geöffnet haben!" Und in Freude faßte Königin Rosewitt die Hand ihres blassen Kindes. "Töchterlein, komm! Die Prophezeiung deines weisen Paten wird sich erfüllen! Lieblicher bist du geworden, als je ein Mägdlein war! Und der rote Karfunkel wird dich weiser machen, als je ein Königskind gewesen. Und deine Traurigkeit wird sich verwandeln in frohes Lachen!"


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Da hob die Prinzessin Holdria das schwere Silberkleid und fing mit den engen, goldenen Schuhen ein so flinkes Springen an, daß hinter ihrem Nacken das leuchtende Goldhaar wehte wie eine in Brand geratene Fahne. Und als sie den Hof der Königsburg erreichte, konnte sie schon das wundersame Klingen und Singen hören — und auf der Marmortreppe des Königshauses quoll ihr durch alle Mauern ein gleißender Glanz entgegen, als wäre die Morgensonne gekommen und gösse ihren Schein durch alle Steine.

An der Schatzkammer strahlte die eiserne Türe wie in roter Glut, die Riegel sprangen entzwei, und die Flügel der Türe taten sich auf wie durch ein Wunder. Immer mächtiger tönte das rätselvolle Klingen und Singen, das in allen Wänden war, in der Luft und in der Erde. Alles Gold der Kammer und alle Juwelen, die da gesammelt waren, erschienen grau und wertlos in dem blendenden Glanze, der das stählerne Kästlein des Königs Grawigrüweling umzitterte. Das war zersprungen in zwei Stücke. und inmitten des zauberhaften Scheines, wie von unsichtbaren Händen getragen, schwebte das goldene Kettlein mit der goldenen Kapsel klingend der Prinzessin Holdria entgegen und legte sich um ihren weißen Hals.

Da war im Nu der schöne rote Schein erloschen, das wundersame Singen und Tönen war verstummt, und wie ein grauer, häßlicher Schleier fiel es plötzlich über alle Dinge und


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über die Menschen nieder. Und die Prinzessin holdria fing zu frieren und zu zittern an, als wäre ihr ganzer Leib von Eis und Schnee umgeben bis an den Hals herauf.

Zu Tod erschrocken blickte sie um sich her. Und als sie ihren Verlobten sah, den schönen Prinzen von Murnau, streckte sie angstvoll die Hände vor sich hin und schrie: "Du! Rühr mich nicht an! Hinweg von mir! Ich sehe, wie kalt und leer dein Herz ist! Sehe den Hochmut und die Habgier hinter deiner Stirne! Nur meines Vaters Schätze willst du haben! Nur die Krone! Fort! Erlöst mich von ihm! Ich sehe den Haß in seinen Augen! Er will mich ermorden!"

Um Schutz zu finden, eilte die Prinzessin auf die treuen Knechte ihres Vaters zu - und wich entsetzt vor ihnen zurück. Auf jeder Stirne sah sie das Zeichen einer bösen Tat. Und von Grauen geschüttelt, schrie sie jedem Knechte seine Sünde ins Gesicht: "Du bist ein Dieb, du hast gestohlen! . . . Du bist ein Schurke, du hast betrogen! . . Dein Wort ist Lüge . . . Dein Blick ist Heuchelei! . . . An deinen Händen seh ich Blut! . . . Dir brennen die Finger, weil du falsch geschworen In Verzweiflung rang sie die Hände. "Weh mir! Wehe! Leb ich zwischen Füchsen und Wölfen? Wie soll ich mich retten? Wohin mich flüchten?"

Wie ein Reh, das die Raubtiere hetzen im finsteren Walde, sprang die Prinzessin Holdria die Treppen auf und nieder, durch alle Stuben und Kammern. Mit Geschrei und Jammer


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rannte ihr alles Gesinde des Hofes nach. Und die Prinzessin, um schneller fliehen zu können, schleuderte die drückenden Goldschuhe von den Füßen und riß das schwere, steife Silbergewand von ihrem Leibe. Den Kronreif warf sie von der Stirne - und weil ihr der Atem versagte, zerrte sie das Band mit den blitzenden Edelsteinen von ihrem Hals. Was half ihr der rote Rubin, seit alle Rosen des Lebens vor ihren Augen bleich geworden? Was der blaue Saphir, seit sie die Treue verschwunden sah? Was der grüne Smaragd, seit aller Frühling ihrer Jugend frieren und zittern mußte wie in Eis und Schnee? Und was der Glanz des wasserklaren Diamanten, seit alle Häßlichkeit des Lebens um ihre Seele dunkelte?

"Pate! Pate!" schrie sie verzweifelt. "Wie hast du schlecht geschenkt! Nimm deine Schätze wieder! Nimm die Weisheit, die mich quält! Und gib mir Freude! Gib mir Glück!" Sie wollte auch das goldene Kettlein mit der goldenen Kapsel von ihrem Halse reißen; doch das unheilvolle Kleinod schien durch Zauber wie verwachsen mit ihrem Leib und Leben.

Umflattert von ihrem Goldhaar, frierend und zitternd in dem dünnen, weißen Unterkleidchen, floh sie durch alle Räume der Königsburg und kam in ihres Vaters großen Thronsaal, der wie eine funkelnde Kirche war und an der langen Mauer fünfzehn mächtige Fenster hatte. Und als sie den Saal erreichte, drängte von der Marmortreppe schon das schreiende Gesinde her. Mit käsigen Gesichtern schoben sich die Hofherren


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scheu in den Saal herein, kreischend kamen die Hofdamen mit ihren übel derangierten Schleppen herbeigetrippelt und riefen händeringend alle Heiligen an. In Verzweiflung und Angst wich die Prinzessin Holdria vor allen zurück, die ihr nahen wollten, und umklammerte einen Fuß des goldenen Thrones denn in jedem Herzen sah sie das böse Zittern einer Schuld, unter jeder Stirne einen häßlichen Gedanken.

Da klang aus allem Getümmel und Lärm von der Treppe her der schluchzende Ruf des Königs Edelring: "Mein Kind! Mein armes Kind!" Und ein jammervoller Schrei der Königin Rosewitt: Barmherziger Himmel! Hilf meinem Herzenskind!"

Schon atmete die Prinzessin Holdria auf, als sie die lieben, sorgenvollen Stimmen des Vaters und der Mutter hörte. Aber da zeterte draußen im Treppenhause der Oberstzeremonienmeister: "Meine Pflicht über alles! Die Majestäten mögen bedenken . . . die Majestäten sind Allerhöchst Ihres Lebens nicht mehr sicher vor dem eigenen Kinde! Ihre Hoheit die Prinzessin haben den Verstand verloren! Ihre Hoheit haben sich die Kleider vom Leib gerissen und rasen wie ein wildes Tier! Man muß Ihre Hoheit in Gewahrsam bringen

"Nein! Ich will zu meinem Kinde!" rief die Königin Rosewitt.

Doch von den Knechten einer, in dem das Schuldbewußtsein und die Furcht vor Strafe zitterte, fing zu kreischen an: "Ohooo! Nur ins Gefängnis? Die Person ist staatsgefährlich!


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Die rüttelt an den Säulen des Thrones: Das ist Hochverrats Den Scharfrichter muß man holen! Der soll kommen mit seinem langen Schwert! Und soll ihr den Kopf herunterschlagen!"

Gleich hundert Stimmen schrieen es nach: "Den Kopf herunter! Den Kopf herunter!" Und jener Knecht, dem die Finger brannten, weil er falsch geschworen hatte, wollte flinke Arbeit machen. Er zog das breite Schwert aus der Scheide, faßte die Prinzessin Holdria an ihrem goldenen Haar und hob das blitzende Eisen zum Todesstreich.

Da klang durch die fünfzehn Fenster des Saales ein tiefes, mächtiges Lachen herein, so laut, daß die Königsburg in allen Mauern bebte. An dem Fenster in der Mitte drückte der

Riese mit seiner Nasenspitze die Butzenscheiben in Trümmer, und am letzten Fenster zur Rechten sah man sein linkes, am letzten Fenster zur Linken sein rechtes Auge blitzen. So breit war sein Gesicht!

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Im ersten Schreck war dem Knechte das Schwert aus der Hand gefallen. Und als der Riese mit seinen Händen durch die zerklirrenden Fenster hereingriff, rannten nach der einen Seite die Knechte und der ganze Hofstaat Hals über Kopf davon, und nach der anderen Seite sprang die Prinzessin Holdria geängstigt in den großen Turm hinaus und jagte die Treppe hinunter und rettete sich in den wunderlichen Garten. Aber da war der Riese schon im Mondschein hinter ihr her und drückte die Bäume nieder, die den Tieren glichen, und die Säulen, die geformt waren wie Bäume. Sein tappender Fuß zertrat die Blumen, die man für bunte Vögel nahm, und die künstlichen Vögel, die das Aussehen von Blumen hatten, wenn der Wind sie bewegt. Die Arme zur Rechten und zur Linken streckend, sperrte er der flüchtenden Prinzessin Holdria jeden Weg, der ihm nicht gefiel. Mit einem Fußtritt warf er das hohe, eiserne Gitter nieder, damit die Fliehende ins Freie fände, auf die duftenden Wiesen hinaus und in den träumenden Wald. Und dann bückte er sich klein herunter, fing ganz leise zu lachen an und machte mit den ungeschlachten Händen plumpe Bewegungen — wie ein Kind, das ein Mäuschen fangen will. Und da mußte die Prinzessin Holdria in ihrem weißen, luftigen Kleidchen springen, wohin der Riese wollte.

Erst zitterte ihr das junge, verstörte Seelchen in verzehrender Angst. Doch als sie plötzlich, tief im Walde, über ihrem


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dunklen Weg die beiden silberweißen Tauben fliegen sah, ganz still, mit ruhigem Flug, da wurde auch der Prinzessin Holdria das pochende Herzlein still und ruhig.

Hinter dem finsteren Walde kam ein heller Wiesenplan, auf dem der schmunzelnde Mond mit seinen durchsichtigen Strahlenhänden die gebeugten Gräser streichelte. Und da blieb die Prinzessin Holdria stehen, faßte Mut und blickte sich nach dem Riesen um. Und weil sie noch immer das goldene Kettlein und die goldene Kapsel mit dem Splitter des Karfunkelsteines


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um das Hälschen hatte, sah sie in der ungeheuren Brust des Riesen ein reines, heißes, liebevolles Herz — und unter seiner berghohen Stirne sah sie große Gedanken glänzen, schön und klar wie die Frühlingssonne an einem Maientag.

Da schrie die Prinzessin Holdria einen klingenden Jauchzer in die stille Silbernacht und fing zu springen an, so übermütig wie ein junges Häschen, das nach hartem Winter den ersten grünen Klee gefunden.

Kein Graben und kein Bach war ihr zu breit. Hinüber, hui! Und ob auch die seidenen Strümpfe schon längst in Fetzen waren dennoch spürten die kleinen, flinken Füßchen keinen Dorn und Stein. Je länger dieses frohe Springen währte in der weißen Mondnacht, umso leichter atmete die junge Brust, und umso wohler war es der Prinzessin Holdria in allen Gliedern.

Sie wußte gar nicht, wie's gekommen war —sie sah nur plötzlich, daß sie vor den steinernen Knieen eines hohen Berges stand, inmitten einer .schönen Wiese. Schlummernde Geißen lagen im Gras umher - und zwischen den rührsamen Halmen war ein feines Gehuschel und Geraschel von den hunderttausendmal tausend winzigen Männchen, die sich mit Gewisper heimwärts schlichen.

Lauschend streckte die Prinzessin Holdria das Köpfchen vor, daß ihr das Goldhaar mit zwei langen Wellen über die Wangen herunterfiel bis auf die Gräser.

"Solch ein goldenes Fädlein muß ich haben!" pisperte


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das Zwerglein Brunnenschlucker, das sich als Philosoph doch immer gleich was Gutes dachte - und faßte mit beiden Fäusten von den seidenen Härchen eines an der Spitze und tat einen flinken Zuck. Und rannte.

"Ach!"

So leise das geklungen hatte ein stiller Schläfer, der im Grase lag, vernahm es in seinem Traum und seufzte.

Das Brunnenschluckerchen aber, derweil es davonsprang, wickelte das gestohlene Goldhaar um seinen grauen Bart und fing zu kichern an.

Und die Prinzessin Holdria, ein bißchen erschrocken, sagte mit feinem Stimmchen: "Einer hat mich am Haar gezupft!" Sie guckte nach allen Seiten. "Riese? Wo bin ich?"

Da flogen die beiden weißen Tauben still herunter in das Gras und waren in zwei weiße, silberweiße Kieselsteine verwandelt. die der Mond beschien.

"Riese? . . . Hörst du mich nicht?" Und das Prinzeßchen atmete ganz seltsam tief. "Wo bin ich?"

Doch der Riese schwieg. Er lachte nur, so leise, daß es war wie das Murmeln einer Quelle. Und setzte sich behaglich auf die Wiese hin.

Der König Grawigrüweling aber, der von all seinem kleinen Volk als einziger zurückgeblieben, trippelte bis um Ohr des schlummernden Buben und zog ihn am Läppchen und flüsterte: "He, holla! Holderchen! Wach auf!"


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Da öffnete der schlanke Holdrio die Augen und tat einen brunnentiefen Seufzer. Und halb sich aufrichtend bedeckte er das Gesicht mit den zitternden Händen und sagte voller Wehmut; "Ach, Königlein Fingerlange! Warum denn hast du mich wecken müssen? So was Schönes hab ich geträumt! Mir ist gewesen im Traum, als wär ein goldener Stern vom Himmel gefallen! Und mir ins Herz hinein Und da hab ich was im Traum gesehen . . . das ist so schön gewesen . . . wenn ich auch reden könnt, wie das große Mannsbild mit den hundert lieben Stimmen redet, schau, so könnt ich's noch allweil nicht sagen, wie schön das war"

"Aber Holderchen, so guck doch!" kicherte das Zwerglein. "Guck doch, wer gekommen ist!"

Der schlanke Holdrio ließ die Hände fallen und blickte um sich her in der stillen Mondnacht. Da sah er den Riesen sitzen, groß wie ein Berg und auf der Wiese sah er etwas Weißes stehen. Das leuchtete im Silberschein des Mondes. Und um das Weiße war ein goldener Schimmer her, so goldig, wie an schönem Morgen das Lachen der Sonne auf den klaren Wellen liegt.

Dem Holdrio begann das Herz zu pochen wie ein fleißiges Hämmerlein. Und süß erschrocken fragte der schlanke Bub: "Was steht so weiß und goldig in der Silbernacht?"

Ein feines Lachen klang - viel tausendmal feiner, als der Riese lachen konnte. Und das Weiße, das so goldig war, kam auf den Holdrio zugegangen.


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Der stammelte: "Wie ist mir Träum ich denn noch allweil? Oder ist mein Traum lebendig worden?" Denn er sah im Mondschein aus der goldenen Lockenflut, die bis hinunter rieselte zu den Gräsern, ein süßes, freudiges Gesichtlein gucken und zwei blaue, strahlende Augen. Hui, wie da der Bub vom Boden aufsprang! Flinker noch, als die Zwerge aus der Stirn ihres Königs springen! Ein Weilchen blieb er stumm, ganz stumm. So heiß und mächtig war die Freude in seinem Herzen! Dann rief er aus: "Und wenn ich gleich versterben müßt, so glaub ich jetzt, du bist das Königskind und bist zu mir gekommen!"

Wieder lachte die Prinzessin Holdria. Und mit ihrem feinen Stimmchen sagte sie: Es war einmal, da hat mir einer sieben rote Röslein in den Schoß geworfen. Den hab ich suchen müssen sieben lange Jahr! Und wenn ich gleich vor Freuden sterben müßt, so glaub ich jetzt, ich hab den Richtigen gefunden!"

Kein Wörtlein sagte der schlanke Bub. Und die Prinzessin Holdria stand schweigend vor ihm da. Und weil sie das goldene Kettlein mit der goldenen Kapsel um das Hälschen hatte, sah sie unter der Stirne des Holdrio die Gedanken seiner Freude, die noch reiner glänzte, als der wasserklare Diamant des Königs Grawigrüweling. Und in seinem pochenden Herzen sah sie ihr eigenes Bild, noch tausendmal schöner, als sie im Leben war. Und sah seine blaue Treue, blauer noch als der


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blaue Saphir! Und sah die klaren Tiefen seiner Seele, und all seine frohe Kraft, und alle Redlichkeit, die in ihm wohnte. Und da brannte in ihrem Herzen das Glück und die Freude, heißer und röter noch, als der rote Rubin gefunkelt hatte. Und ihr junges Leben fing in der weißen Nacht zu grünen an - so hell und grün, wie kein Smaragd der Zwerge schimmern konnte.

Ganz leise, auf den Zehenspitzen, schlich der König Grawigrüweling zu dem Riesen hinüber und lehnte sich an seinen Fuß, wie sich ein Gräslein an den Sockel eines Turmes schmiegt.

Da sagte die Prinzessin Holdria mit ihrem feinen, herzensfrohen Stimmchen: "Einer hat mich in der Silbernacht an meinem goldenen Haar gezupft! Das bist wohl du gewesen?"

"Ich? Herr Jeggus!"stammelte der Bub. "Wo nähm ich nur den Mut her? So was Keckes tät ich mich nicht trauen, nein, im Leben nicht"

"Warum nicht?" sagte die Prinzessin. "Was ich hab, ist alles dein!" Mit beiden Armen hob sie die goldenen Haare wie die Falten eines Mantels von den Gräsern auf und legte das schimmernde Gold dem Holdrio auf die Hände. Und beugte sich mit frohem Lächeln zu ihm hin, daß all der goldene Glanz dem Buben um die Wangen fiel und um die Schultern.

"Königskind, was tust du?" lispelte der Bub erschrocken.


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"Ach, was tust du mir! Ganz schwindlig wird mir unter deinem goldenen Haar!" Und da hob er den Kopf aus all dem schimmernden Gold heraus und tat einen Jauchzer, daß in der Silbernacht die Felsen klangen. Und fing zu lachen an und hob die Prinzessin Holdria so leicht wie ein Federlein auf seine starken Arme und sprang in seiner Freude wie närrisch über die Wiese hin. Doch plötzlich blieb er stehen und sagte: "Ach, Herr Jeggus! Königskind! Mein Hüttlein, das ist klein und rußig! Und kein Bettlein hab ich drin! Nur dürre Streu! Da kann sich doch ein Königskind nicht schlafen legen, wenn es Nacht wird! Nein! Was tu ich denn? Wo krieg ich denn für dich ein lindes Bettlein her?"

Da griff der Riese, während er leise lachte, mit den ungeschlachten Händen zärtlich über die Wiese hin und hob die beiden jungen Menschenkinder auf seine Arme und ließ sie ruhen an seiner Brust.

"Vergelt's Gott tausendmal, du großes Mannsbild!"sagte Holdrio. "Wie wohlig ist die Ruh an deinem herzen!" Und das Prinzeßlein kicherte und nickte: "Ja! In meines Vaters Königsburg, da hab ich


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ein Bettlein, das auf goldenen Füßen steht, mit seidenen Decken und mit Daunen in den Kissen. Und hab doch meiner Lebtag nie so lind und süß geruht!" Das sagte sie - und legte das Ärmchen um den Hals des Holdrio. Und huschelte sich an die Brust des Riesen und tat die Augen zu. Und schlummerte.

Doch die Augen des Holdrio die blieben offen! Immer sah er das Prinzeßlein an. Und seufzte immer tiefer. Und guckte zu dem Gesicht des Riesen hinauf. Und sagte leis: "Ach, Riese! Schau, ich kann mir nimmer helfen! Daß ich dem Königskind das rote Mündlein küssen dürft . . . das ist in mir wie heiße Sehnsucht und wie Durst, der mir das Herz verbrennen will."

Langsam beugte der Riese den Kopf herunter und sprach das erste Wort. Fein leise sagte er's dem Holdrio ins Ohr: "Wenn einer Durst hat, muß er trinken dürfen."

Da küßte Holdrio dem Königskinde den roten Mund. Und sagte lachende "So, jetzt kann ich schlafen!" Und legte die Wange in das Goldhaar der Prinzessin Holdria.

Nach einem stillen Weilchen pisperte der kleine König Grawigrüweling zu dem Riesen hinauf. "Jetzt schlafen sie alle zwei, Jetzt kann ich mich beruhigt in mein Bettlein legen!"

Der Riese nickte, "Ja, du Königlein Fingerlang, geh heim mit deiner Weisheit!"

Weil die Nacht schon ein bißchen kühl geworden, wickelte


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König Grawigrüweling den weißen Bart wie ein Seidentüchlein um seinen Hals. "Morgen," sagte er, wenn die Sonne kommt, dann bring ich den König Edelring und die Königin Rosewitt zu ihren Kindern her!" Dann trippelte der König der Zwerge hinunter zu dem unterirdischen Palast im Berge Wetterstein.

Und als der Riese mit dem schlummernden Pärchen ganz allein war, griff er langsam in den Himmel hinauf und holte den silberweißen Nußkern des Mondes herunter. Und wie man Kirschen von einem Baume pflückt, so pflückte er die roten Sterne vom Firmament und steckte sie mit dem Mond in seine Tasche.

Die Gestirne zappelten wie gefangene Käferchen durcheinander und begannen zu schelten: "He! Was ist denn das für eine Narretei! Wir müssen doch leuchten, leuchten, leuchten!" Doch der Riese klopfte freundlich mit der Hand auf die große Tasche und sagte: "Morgen wieder! Morgen wieder!" Und da waren die Sterne und der Mond ganz still und zufrieden.

Schwarz und schweigend lag die Nacht über all den tiefen Tälern und über dem Berge Wetterstein.

Ein Schlummerliedchen summend, das wie sanftes Rauschen der Wälder tönte, wiegte der Riese das schlafende Pärchen an seiner Brust. Und weil die Prinzessin Holdria im Schlummer ein bißchen unruhig wurde und zu seufzen begann, als ginge ihr ein böser Traum von den ungetreuen Knechten ihres


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Vaters und von den leeren Herzen des Hofgesindes über die Stirne hin, drum griff der Riese sachte nach ihrem schlanken Hälschen und zwickte mit den Fingernägeln das Kettlein entzwei, als wär es nicht aus hartem Gold geschmiedet, sondern aus feinen Gräsern geflochten.

Da wurde die Prinzessin Holdria gleich wieder ruhig und schlummerte süß und tief an der Seite des Holdrio. Und der Riese, dessen große, seeblaue Augen in der Finsternis so scharf und deutlich sahen wie am Tage, sah in der schwarzen Nacht das frohe, glückliche Lächeln, das dem Königskind bei schönen Träumen um die kirschroten Lippen spielte.

Lautlos hob der Riese die Hand an seinen Mund und zerknackte mit den Zähnen die goldene Kapsel.

Ein gleißend roter Schein fuhr wie die Helle eines Blitzes durch die Nacht. Alle Dinge sangen und klangen, die Felsen glühten, alle Wälder schienen zu brennen, und wie der Glanz einer mächtigen Flamme flog es um die Brust des Riesen, über die Wangen des schlummernden Pärchens und über das Goldhaar der Prinzessin Holdria. Doch das dauerte nur einen Augenblick. Dann lag schon wieder die Nacht mit dunklem Schweigen über dem Berge Wetterstein.

Der Riese hatte den Splitter des Karfunkelsteines verschlungen, und alle Gliederchen der goldenen Kette und alle Bröselchen der goldenen Kapsel. Und des Riesen Murmelfang war wie das ferne Dröhnen eines Wasserfalles:


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" Stein der Wahrheit, Stein der Qualen. Ewig lösch ich deine Strahlen! Sei versunken, bleib verborgen Bis zum letzten Weltenmorgen! Leuchtender Karfunkelstein,

Du bist mein! Du bist mein!

Nimmer soll ein Auge schauen Deiner Wunder Glanz und Grauen! Ewig sollen, die dich suchen, Ihrer leeren mühe fluchen! Leuchtender Karfunkelstein,

Du bist mein! Du bist mein!

Menschlein! Guck, wie ich dich liebe, Wie ich helfe, stütze, schiebe, Bis du helle Wege schauest Und dem Glück ein Hüttlein bauest! Alles Lebens warmer Schein,

Der ist dein! Der ist dein!

Wahrheit sei dir: was dich freuet. Weisheit ist: was dir gedeihet Lernst du glauben an das Helle, Wird die dunkeltiefste Quelle Deinem Durst ein Brunnen sein,

Süß und rein! Süß und rein!

Menschlein, guck, die Nacht will schwinden Und der Tag sein Licht verkünden!


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Aus der Schatten kaltem Schoß Löst die Sonne warm sich los! All ihr goldner Funkelschein,

Der ist dein! Der ist dein!"

So sang der Riese, da der Morgen kam, und wiegte das träumende Pärchen sanft an seinem Herzen. Und als die, nahende Sonne ihre goldenen Hände schon heraufstreckte über die Berge und tausend leuchtende Rosen hinwarf über die große, steinerne Welt — da stand der Riese ganz behutsam auf und legte das schlafende Pärchen sacht ins Gras. Und tat einen Schritt und stand schon droben über den höchsten Wäldern. Lachend bückte er sich nieder. Und wie man Veilchen pflückt, so brach er sieben turmhöhe Fichtenbäume von der Erde und flocht und wand ihr Gezweig als grüne Krone um seine Stirn. Und als er mit dem geschmückten haupte hinaufstieg über den Gipfel des Berges Wetterstein, da kam gerade die ganze, runde, lachende Sonne herauf — und ich sag euch, Kinder, das sah genau so aus, als wäre die Sonne ein blitzender Edelstein, den der Riese Naturiwus in seiner Krone trug.

Und drunten, durch den blauen Schatten des Tales, kam auf der Straße von Ohlstadt her ein glänzender Zug, den der König Grawigrüweling führte.

Am Fuß des Berges deutete der kleine König auf das


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Weglein, das die Füße der hunderttausendmal tausend Zwerge im Grase ausgetrippelt hatten. Und sagte: Soooo Nur da hinauf, schön langsam! Und allweil der Nase nach! Dann kommt ihr schon hin, wo sie schlafen!" Und als er das gesagt hatte, lachte er vergnügt — und war verschwunden

Da sprang der König Edelring von seinem reichgeschirrten Rosse, alle Ritter und Hofherren schwangen sich aus den Sätteln, und die Königin Rosewitt und die Hofdamen schlüpften aus den vergoldeten Sänften.

So wanderten sie den Berg hinauf. Bei dem steilen Wege wurde jeder Dame das Miederchen zu enge. Und


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der dicke Oberstzeremonienmeister mußte grausam schwitzen, denn er hatte noch nie einen Berg bestiegen. Da könnt ihr euch denken, wie er aufatmete, als er durch die grünen Haselnußhecken endlich die schöne Wiese und das junge Pärchen sah, das lachend zwischen Blumen in der hellen Sonne faß.

Die beiden waren vor einem kleinen Weilchen erst, als die Sonne so warm geworden, aus dem Schlaf erwacht. Noch immer hatten sie kein Wort geredet. Sie hielten sich schweigend bei den Händen, waren froh und glücklich, und guckten einander lachend in die Augen, bis die Prinzessin Holdria mit feinem Stimmchen mahnte: "Aber, Holderchen, so sag doch was!"

Da strich der junge Holdrio dem Königskind das goldene Haar zurück und legte seine braune Wange an das rosige Wänglein der Prinzessin Holdria. Und flüsterte: "Ach, sag mir, Holderchen! Schau, brave Knechte und tapfere Kriegsleut hast du ja genug! Aber brauchst du nicht einen guten, treuen Mann?"

"Ei freilich!" nickte das Prinzeßlein flink. Den brauch ich nötig, weißt du! Und in meines Vaters ganzem Volk ist keiner, der so lieb und treu und gut ist als wie du!" Und lachend legte sie dem Holdrio die Arme um den Hals und küßte seinen Mund.

Das tat sie just in dem Augenblick, als die ganze Hof


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gesellschaft durch die grüne Haselnußhecke auf die schöne Wiese trat. Die Hofherren und Hofdamen wollten natürlich nichts gesehen haben und guckten in die blaue Luft hinauf, als wäre irgendwo da droben ein sonderbarer Vogel geflogen. Der König Edelring aber und die Königin Rosewitt blickten mit Freuden auf ihr Kind, das sie so rosig und froh, so glücklich und lachend wiederfanden und waren mit dem schmucken, schlanken, stattlichen Sohn, den sie dazubekamen, sehr zufrieden.

Heiß erschrocken sprang die Prinzessin auf, als Vater und Mutter und all die vielen Leute vor ihr standen. Aber sie hielt die braune hand des Holdrio in ihrem weißen Händchen fest. Und dann lachte sie wieder. Und war nur ein wenig verlegen, weil sie doch unter den goldenen Haaren nur so ein bisselchen was Weißes anhatte und zerrissene Strümpfe an den Füßen trug.

Aber die Königin Rosewitt legte ihr lächelnd den himmelblauen Mantel um die Schultern, küßte sie auf beide Augen und sprach: "Der Himmel segne dein junges Glück

Und König Edelring nahm die Krone von seinem grauen Haupt und sagte: "Mich hat sie schwer gedrückt! Aber du, in deiner Kraft und Jugend, wirst sie leichter tragen!" Und da setzte er die Krone dem jungen König Holdrio auf das braune Haar.

Der war zuerst ein bißchen erschrocken. Aber dann


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streckte er sich, legte den Arm um seine junge, lachende Königin und sagte: "Wenn's nicht anders geht, in Gottes Namen, muß ich halt das Krönlein mit in den Kauf nehmen."

Jetzt kamen die Hofherren, die Ritter und Hofdamen herbei, um nach spanischer Etikette zu gratulieren. Aber König Holdrio sprach zu ihnen: "Solche Kratzbuckel kann ich nicht brauchen! Die macht mein Geißbock besser. Soll mir jeder grad in die Augen gucken und soll mir fest die Hand geben!"

Weil er so kräftig redete, sprach die junge Königin Holdria umso freundlicher mit den Leuten. Und das konnte sie! Jetzt trug sie ja nimmer das goldene Kettlein mit der goldenen Kapsel um den Hals — und da sah sie nur Gutes in allen Augen, nur helle Freude in allen Gesichtern.


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Natürlich merkten auch die Geißen, daß mit ihrem guten Hirten etwas ganz Besonderes geschehen war. "Ei, guck doch," meckerte die Großmutter Schimmermilch, "mir scheint, jetzt werden wir Hofmilchlieferanten." Und flink begann sie sich das Fell zu lecken, um vornehmer auszusehen. Und ihr Enkeltöchterchen Schimmerlein, und Großvater Kleebeiß, und all die anderen Geißen fingen sich putzen an.

Und als sich der glänzende Zug der Hofgesellschaft in Bewegung setzte, trabten die Geißen hinter der schön vergoldeten Sänfte her, in der man das junge Königspaar zur Königsburg nach Ohlstadt brachte. Dort wurde den Geißen der wunderliche Garten, den der Riese gar übel zugerichtet hatte, bis an ihr Lebensende als Ruhestatt angewiesen — und da waren jetzt die Bäume, wie sie eben wuchsen, und die Vögel, wie sie geflogen kamen, und die Blumen, wie der Frühling sie erschuf. Und zu Ohlstadt waren die ältesten Leute der Meinung, daß des Königs Garten noch nie so schön gewesen wäre wie jetzt.

Und wie das Volk von Ohlstadt seinen jungen König liebte! Und die junge lachende Königin! Jedem Bedürftigen ihres Volkes war sie wie ein schenkendes Mütterchen, jedem Leidenden wie eine gute Schwester. Und König Holdrio wurde von den guten Fürsten einer, wie sie selten reifen am Baum des Lebens: gütig und stark, gerecht und barmherzig, fröhlich und klug.


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Aber freilich, er hatte ein leichtes Regieren! Und das war dem Riesen Naturiwus zu danken. Denn bei der Hochzeit des jungen Königspaares, die mit Glanz und Jubel gefeiert wurde, war mit dem König Grawigrüweling und dem ganzen Volk der guten Zwerge auch der Riese zu Gast geladen. Für die kleinen Leckermäulchen hatte man Haselnußplätzchen und Kirschkuchen gebacken; und für den ungeheuren Hunger des Riesen wurden in einer Pfanne, die so groß war wie ein Zirkus, über die tausend fette Ferkelchen gebraten. Aber so flink, wie dem lachenden König Grawigrüweling die lustigen Zwerge aus der Stirne sprangen, so flink verschwanden im gähnenden Hungertor des Riesen die tausend winzigen Ferkelchen — ein hui, und nur ein bisselchen Brühe war noch in der Pfanne. Und da packte der Riese einen ungetreuen Knecht um den anderen, tunkte die zappelnden Bröcklein in die Brühe und schob sie zwischen die Zähne. Auch ein paar Höflinge und hofdamen rutschten mit hinunter.

Denkt euch, wie entsetzt da die Leute dreinguckten, und wie erschrocken der junge König von der Hochzeitstafel aufsprang!

Doch der Riese erklärte: Sooo Das hat ausgegeben für hundert Jahr." Dann nahm er einen Glockenturm, stocherte mit dem spitzigen Dach die Knöchelchen aus Seinen Zähnen und sagte lachend:


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"Guck, wie viel Beinelchen Hat so ein Schweinelchen!"



und stellte den Glockenturm wieder schön an seinen Platz.

Dem jungen König brannte der Zorn auf der Stirne. "Du großes Mannsbild!" rief er und griff nach seinem Schwerte. "Dir hab ich mein Glück zu danken! Aber glaubst du, daß ich von dir mein gutes Volk verschlucken lasse?"


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Da sah ihn der Riese mit ernsten Augen an. Und blickte über die Köpfe der erschrockenen Menschen hin. Und sprach mit seiner Donnerstimme:

"Die Guten, die laß ich wohlgeraten! Die Schlechten, die freß ich ungebraten!"

In dem Schweigen, das diesen Worten folgte, rieb sich der weise König Grawigrüweling die Hände und schmunzelte:

"Mir daucht, mir dünkt, mir scheint, Der hat's wieder gut gemeint Dem brennt der Karfunkel im Blut! Der weiß, was er tut!"

Und allen Bösen und Ungetreuen, die noch nicht gefressen waren, fuhr ein heiliger Schreck in die Glieder.

Sie machten flink in ihrem Herzen Reu und Leid und besserten sich, und wurden brave, redliche Leute, so daß man bald im Reiche von Ohlstadt alle Richter und Wächter pensionieren und die Gefängnisse in Badestuben verwandeln konnte.

Kein Wunder, daß dem jungen König Holdrio und seiner glücklichen Königin inmitten eines so braven und reinlichen Volkes das Regieren eine Freude war!

Die Prophezeiung des weisen Königs Grawigrüweling erfüllte sich getreu an diesen beiden: sie wurden reicher


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in ihrem Glück, als je ein Menschenpaar auf Erden gewesen.

Und Jahr um Jahr, so oft die Kirschen reiften und die Haselnüsse sich zu bräunen begannen, zog der junge König Holdrio mit seiner lachenden Königin Holdria und mit seinem ganzen fröhlichen Volk im roten Abendglanz zur schönen Wiese auf dem Berge Wetterstein. Und Holdrio legte den Königsmantel ab und schlüpfte in den Hirtenkittel; und pflückte auf den Almen sieben rote Röslein für das schlanke Hälschen seiner lachenden Königin, die barfuß auf der Wiese stand; und holte von den höchsten Felsen sieben silberweiße Sterne für das Goldhaar seiner schönen Frau. Dann kamen jauchzend die hunderttausendmal tausend kleinen Männchen mit ihrem König Fingerlang heraufgestiegen aus der Tiefe, schmunzelnd setzte sich der Riese mit seiner grünen Krone auf den Gipfel des Berges man knackte fröhlich die milchfeinen Haselnüsse und Schmauste die süssen Kirschen und wenn der Mond heraufschwamm durch die Silbernacht, dann fing der König Holdrio das Lied vom frohen Leben zu blasen an, und alles tanzte mit Lust nach seiner Pfeife: der Riese, die Zwerge, das ganze Volk und seine Geißen. Und die Königin Holdria drehte sich flink im Kreis und war in der Silbernacht mit dem Strahlenkranz ihres wehenden Goldhaars anzusehen wie eine lachende Sonne.


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Hundert Jahre und sieben Tage sind der König holdrio und seine Königin jung geblieben. Und sieben schmucke, wohlgeratene Kinder blühten wie ihr Vater und ihre Mutter.

Und weil im frohen Reiche von Ohlstadt niemand altern konnte und keiner sterben wollte, sagte der Riese eines Tages mit Lachen zum König Fingerlang: "He! Du! Das geht doch nicht! Was lebt, muß sterben. Aber die von Ohlstadt sind gesund für hunderttausend Jahre. Die muß ich wohl lebendig in die Ewigkeit hinüberschaffen!"

"Freilich," sagte der kluge König Grawigrüweling und strich sich den weißen Bart, der schon zehn Ellen lang gewachsen war, so daß ihn hundert Zwerge tragen mußten. "Freilicht Schick sie nur herunter zu mir! Dann kommen goldene Zeiten in meinem Reich!"

Da schlug der Riese mit seiner mächtigen Faust auf die Berge hin. Und die Erde tat sich auf, und das lachende Königspaar mit Kindern und Kindeskindern, mit dem schönen Garten und der Königsburg, mit allem Volk und mit der ganzen, fröhlichen Stadt versank in die blauen Tiefen der Ewigkeit.

Das ist so wahr, wie daß die Sonne unsterblich ist!

Neunhundert Jahre sind vergangen — und wo die große Stadt gestanden, hat man ein kleines Dorf gebaut. Doch der tausendjährige Name ist geblieben. Und wo sich einst die Königsburg


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erhob, das Flecklein Erde, auf dem das ewig junge Glück des Holdrio und seiner lachenden Königin grünte — dieses schöne Flecklein Erde blieb gesegnet bis auf den heutigen Tag.