Hoffmann Bibliothek © arpa
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort 5
Erster Band
Erster Abschnitt 9
[Der Einsiedler Serapion] 20
[Rat Krespel] 36
Die Fermate 68
Der Dichter und der Komponist 92
Zweiter Abschnitt 120
Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde . 126
Der Artushof 175
Die Bergwerke zu Falun 206
Nußknacker und Mausekönig 240
Zweiter Band
Dritter Abschnitt 313
Der Kampf der Sänger 332
[Eine Spukgeschichte] 388
Die Automate 396
Doge und Dogaresse 430
Vierter Abschnitt 485
[Alte und neue Kirchenmusik] 491
Meister Martin der Küfner und seine Gesellen. . 503
Das fremde Kind 572
Anmerkungen
Entstehung 623
Wirkung 631
Erläuterungen 648

E.T.A. HOFFMANN


Gesammelte Werke in Einzelausgaben 4


Die Serapionsbrüder



Gesammelte Erzählungen und Märchen

Herausgegeben von E. T. A. Hoffmann I E.T.A. HOFFMANN


Aufbau -Verlag 1978



Textrevision und Anmerkungen von Hans-Joachim Kruse Redaktion Rudolf Mingau







I. Auflage 1978 Alle Rechte an dieser Ausgabe Aufbau-Verlag Berlin und Weimar Einbandgestaltung Harri Lütke Typographie Gisela Deutsch Offizin Andersen Nexö, Graphischer Großbetrieb, Leipzig 111/18/38 Printed in the German Democratic Republic Lizenznummer 30!. 120/63/78 Bestellnummer 611 995 Lw. Bestellnummer 611 999 8 I. dr. DDR 1/11 31,- M I.w.





Vorwort

Die Aufforderung des Herrn Verlegers, daß der Herausgeber seine in Journalen und Taschenbüchern verstreuten Erzählungen und Märchen sammeln und Neues hinzufügen möge sowie daß dieser mit einigen herzgeliebten, seinen Dichtungen geneigten Freunden nach langer Trennung wirklich an einem Serapionstage wieder zusammentrat, veranlaßten dies Buch und die Form. in der es erscheint. Ebendiese Form wird - muß an Ludwig Tiecks "Phantasus" erinnern. Wie sehr würde der Herausgeber aber bei dem Vergleich beider Werke verlieren! —Abgesehen davon, daß es ihm wohl nicht beikommen kann, den die ganze Seele ergreifenden Dichtungen des vollendeten Meisters die seinigen an die Seite stellen zu wollen, so enthalten die dort eingeflochtenen Gespräche auch die tiefsten scharfsinnigsten Bemerkungen über Kunst und Literatur; hier soll die Unterhaltung der Freunde, welche die verschiedenen Dichtungen miteinander verknüpft, aber mit das treue Bild des Zusammenseins der Gleichgesinnten aufstellen, die sich die Schöpfungen ihres Geistes mitteilen und ihr Urteil darüber aussprechen. Nur die Bedingnisse eines solchen heitern unbefangenen Gesprächs, in dem recht eigentlich ein Wort das andere gibt, können hier zum Maßstabe dienen. Auch fehlen der Gesellschaft die holden Frauen, die im "Phantasus" ein mannigfaltiges anmutiges Farbenspiel anzuregen wissen.

Den vielgeneigten Leser bittet der Herausgeber daher recht innig, jenen ihm nachteiligen Vergleich nicht anzustellen, sondern ohne weitere Ansprüche gemütlich das hinzunehmen, was ihm anspruchslos aus treuem Gemüt dargeboten wird.


Erster Band


Erster Abschnitt

"Stelle man sich auch an, wie man wolle, nicht wegzuleugnen, nicht wegzubannen ist die bittre Überzeugung, daß nimmer - nimmer wiederkehrt, was einmal dagewesen. Eitles Mühen, sich entgegenzustemmen der unbezwinglichen Macht der Zeit, die fort und fort schafft in ewigem Zerstören. Nur die Schattenbilder des in tiefe Nacht versunkenen Lebens bleiben zurück und walten in unserm Innern und necken und höhnen uns oft wie spukhafte Träume. Aber Toren! wähnen wir das, was unser Gedanke, unser eignes Ich worden, noch außer uns auf der Erde zu finden, blühend in unvergänglicher Jugendfrische. — Die Geliebte, die wir verlassen, der Freund, von dem wir uns trennen mußten, verloren sind beide für uns auf immer! — Die, die wir vielleicht nach Jahren wiedersehen, sind nicht mehr dieselben, von denen wir schieden, und sie finden ja auch uns nicht mehr wieder!"

So sprach Lothar, indem er heftig vom Stuhl aufsprang, dicht an den Kamin hinanschritt und, die Arme übereinandergeschlagen, mit finsterm Blick in das lustig knisternde Feuer hineinstarrte.

"Wenigstens", begann jetzt Theodor, "wenigstens, lieber Freund Lothar, bewährst du dich insofern ganz als denselben, von dem ich vor zwölf Jahren schied, als du noch ebenso wie damals geneigt bist, nur im mindesten schmerzlich berührt, dich allem Unmut rücksichtslos hinzugeben.

Wahr ist es, und ich, Ottmar und Cyprian, wir alle fühlen es gewiß ebenso lebhaft als du, daß unser erstes Beisammensein nach langer Trennung gar nicht so erfreulich ist, als wir es uns wohl gedacht haben mochten. Wälze die Schuld auf mich, der ich aus einer unserer unendlichen Gassen in die andere lief, der ich nicht abließ, bis ich euch heute abend hier vor meinem Kamin zusammengebracht hatte. Gescheuter wäre es vielleicht gewesen, hätt ich unser Wiedersehn dem günstigen Zufall überlassen, aber unerträglich war mir der Gedanke, daß wir, die wir jahrelang, durch herzliche Liebe, durch ein gleiches schönes Streben in Kunst und Wissenschaft innig verbunden, zusammenlebten, die nur der wilde Orkan, wie er daherbrauste in der verhängnisvollen' Zeit, die wir durchlebt, auseinanderschleudern konnte, daß wir, sage ich, auch nur einen Tag in demselben Hafen geankert haben sollten, ohne uns mit leiblichen Augen zu schauen, wie wir es unterdessen mit geistigen getan. Und nun sitzen wir schon ein paar Stunden zusammen und quälen uns mörderlich ab mit dem Enthusiasmus unserer frischblühenden Freundschaft. Und keiner hat bis zu diesem Augenblick etwas Gescheutes zu Markte gebracht, sondern fades langweiliges Zeug geschwatzt zum Bewundern. Und woher kommt das alles anders, als daß wir insgesamt recht kindische Kinder sind, daß wir glaubten, es werde nun gleich wieder fortgehen in derselben Melodie, die wir vor zwölf Jahren abbrachen. Lothar sollte uns vielleicht wieder zum ersten Male Tiecks ,Zerbino' vorlesen und ausgelassene, jauchzende, jubelnde Lust uns alle erfassen. Oder Cyprian müßte vielleicht irgendein phantastisches Gedicht oder wohl gar eine ganze überschwengliche Oper mitgebracht haben und ich sie zur Stelle komponieren und auf demselben lendenlahmen Pianoforte wie vor zwölf Jahren losdonnern, daß alles an dem armen lebenssatten Instrumente knackt und ächzt. Oder Ottmar müßte erzählen von irgendeiner herrlichen Rarität, die er aufgespürt, von einem auserlesenen Wein, von einem absonderlichen Hasenfuß etc. und uns alle in Feuer und Flamme setzen und uns aufregen zu allerlei sehr seltsamen Anschlägen, wie wir beides zu genießen und zu verarbeiten gedächten, auserlesenen Wein und absonderlichen Hasenfuß. Und da das alles nun nicht geschehen ist, schmollen wir insgeheim aufeinander, und jeder denkt vom andern: Ei, wie ist der Gute so ganz und gar nicht mehr derselbe, daß der sich so ändern könnte. nimmermehr hätt ich das gedacht! —Ja freilich sind wir alle nicht mehr dieselben! Daß wir zwölf Jahre älter worden, daß sich wohl mit jedem Jahr immer mehr und mehr Erde an uns ansetzt, die uns hinabzieht aus der luftigen Region, bis wir am Ende unter die Erde kommen, das will ich gar nicht in Anschlag bringen. Aber wen von uns hat indessen nicht der wilde Strudel von Ereignis zu Ereignis, ja von Tat zu Tat fortgerissen? Konnte denn alles Schrecken, alles Entsetzen, alles Ungeheure der Zeit an uns vorübergehen, ohne uns gewaltig zu erfassen, ohne tief in unser Inneres hinein seine blutige Spur einzugraben? — Darüber erbleichten die Bilder des früheren Lebens, und fruchtlos bleibt nun das Mühen. sie wieder aufzufrischen! —Mag es aber auch sein, daß manches, was uns damals im Leben, ja an und in uns selbst als hoch und herrlich erschien, jetzt merklich den blendenden Glanz verloren, da unsere Augen durch stärkeres Licht verwöhnt, die innere Gesinnung, aus der unsere Liebe entsproßte, ist doch wohl geblieben. Ich meine, ein jeder glaubt doch wohl noch vom andern, daß er was Erkleckliches tauge und inniger Freundschaft wert sei. Laßt uns also die alte Zeit und alle alte Ansprüche aus ihr her vergessen und, von jener Gesinnung ausgehend, versuchen, wie sich ein neues Band unter uns verknüpft."

"Dem Himmel sei gedankt", unterbrach hier Ottmar den Freund, "dem Himmel sei gedankt, daß Lothar es nicht mehr aushalten konnte in unserm närrischen verzwickten Wesen und daß du, Theodor, gleich das schadenfrohe Teufelchen fest packst, das uns alle neckt und quält. Mir wollt es die Kehle zuschnüren, dies gezwungene, fatale Freudigtun,

und ich fing gerade an, mich ganz entsetzlich zu ärgern, als Lothar losfuhr. Aber nun Theodor geradeheraus gesagt hat, woran es liegt, fühle ich mich euch allen um vieles nähergerückt, und es ist mir so, als wolle die alte Gemütlichkeit, mit der wir uns sonst zusammenfanden. alle unnütze Zweifel wegbannend, wieder die Oberhand gewinnen. Theodor hat recht, mag denn die Zeit auch vieles umgestaltet haben, feststeht doch in unserm Innern der Glaube an uns selbst. Und hiermit erkläre ich die Präliminarien unsers neuen Bundes feierlichst für abgeschlossen und setze fest, daß wir uns jede Woche an einem bestimmten Tage zusammenfinden wollen, denn sonst verlaufen wir uns in der großen Stadt hierhin, dorthin und werden auseinandergetrieben noch ärger als bisher."

"Herrlicher Einfall", rief Lothar, "füge doch noch sogleich, lieber Ottmar, gewisse Gesetze hinzu, die bei unsern bestimmten wöchentlichen Zusammenkünften stattfinden sollen. Zum Beispiel daß über dieses oder jenes gesprochen oder nicht gesprochen werden darf, oder daß jeder gehalten sein soll, dreimal witzig zu sein, oder daß wir ganz gewiß jedesmal Sardellensalat essen wollen. Auf diese Art bricht dann alle Philisterei auf uns ein, wie sie nur in irgendeinem Klub grünen und blühen mag. Glaubst du denn nicht, Ottmar, daß jede bestimmte Verabredung über unser Beisammensein sogleich einen lästigen Zwang herbeiführt, der mir wenigstens allen Genuß verleidet? Erinnere dich doch nur des tiefen Widerwillens, den wir ehemals gegen alles hegten, was sich nur im mindesten als Klub, Ressource, oder wie sonst solch eine tolle Anstalt heißen mag, in der Langeweile und Überdruß systematisch gehandhabt werden, gestalten wollte, und nun versuchst du selbst das vierblättrige Kleeblatt, das nur natürlich, ohne Zwang des Gärtners emporkeimt, in solch böse Form einzuzwängen!"

"Unser Freund Lothar", begann Theodor, "läßt nicht so leicht ab von seinem Unmut, das wissen wir ja alle ebenso, als daß er in solch böser Stimmung Gespenster sieht, mit

denen er wacker herumkämpft, bis er, todmüde, selbst eingestehen muß, daß es nur Gespenster waren, die das eigne liebe Ich schuf. — Wie ist es nur möglich, Lothar, daß du bei Ottmars harmlosem und dabei höchst vernünftigem Vorschlag sogleich an Klubs und Ressourcen denkst und an alle Philisterei, die damit notwendig verknüpft ist? Aber dabei ist mir ein gar ergötzliches Bild aus unserm frühern Leben aufgegangen. Erinnerst du dich wohl noch der Zeit, als wir das erste Mal die Residenz verließen und nach dem kleinen Städtchen P***1 zogen? — Anstand und Sitte verlangten es, wir mußten uns sofort in den Klub aufnehmen lassen, den die sogenannten Honoratioren der Stadt bildeten. Wir erhielten in einem feierlichen, im strengsten Geschäftsstil abgefaßten Schreiben die Nachricht, daß wir nach geschehener Stimmensammlung wirklich als Mitglieder des Klubs aufgenommen worden, und dabei lag ein wohl funfzehn bis zwanzig Bogen starkes, sauber gebundenes Buch, welches die Gesetze des Klubs enthielt. Diese Gesetze hatte ein alter Rat verfaßt, ganz in der Form des preußischen Landrechts, mit der Einteilung in Titel und Paragraphen. Etwas Ergötzlicheres konnte man gar nicht lesen. So war ein Titel überschrieben: ,Von Weibern und Kindern und deren Befugnissen und Rechten', worin dann nichts Geringeres sanktioniert wurde, als daß die Frauen der Mitglieder jeden Donnerstag und Sonntag des Abends in dem Lokal des Klubs Tee trinken, zur Winterszeit aber sogar vier- oder sechsmal tanzen durften. Wegen der Kinder waren die Bestimmungen schwieriger und kritischer, da der Jurist die Materie mit ungemeinem Scharfsinn behandelt und unmündige, mündige, minderjährige und unter väterlicher Gewalt stehende Personen sorglich unterschieden hatte. Die unmündigen wurden gar hübsch ihrer moralischen Qualität nach in artige und unartige Kinder eingeteilt und letzteren der Zutritt in den Klub unbedingt untersagt, als dem Fundamentalgesetz entgegen; der Klub sollte durchaus nur ein artiger sein. Hierauf folgte unmittelbar der merkwürdige Titel ,Von Hunden, Katzen und andern unvernünftigen Kreaturen'. Niemand solle, hieß es, irgendein schädliches wildes Tier in den Klub mitbringen. Hatte also ein Klubist sich etwa einen Löwen, Tiger oder Parder als Schoßhund zugelegt, so blieb alles Mühen vergebens, die Bestie in den Klub einzuführen, selbst mit verschnittenen Haaren und Nägeln verwehrten unbedingt die Vorsteher dem tierischen Schismatiker den Eintritt. Waren doch selbst gescheute Pudel und gebildete Möpse für nicht klubfähig erklärt und durften nur ausnahmsweise zur Sommerzeit, wenn der Klub im Freien speiste, auf den Grund der nach Beratung des Ausschusses erteilten Erlaubniskarte mitgebracht werden. Wir - ich und Lothar, erfanden die herrlichsten Zusätze und Deklarationen zu diesem tiefsinnigen Kodex, die wir in der nächsten Sitzung mit dem feierlichsten Ernst vortrugen und zu unserer höchsten Lust es dahin brachten, daß das unsinnigste Zeug mit großer Wichtigkeit debattiert wurde. Endlich merkte dieser, jener den heillosen Spaß, man traute uns nicht mehr, doch geschah nicht, was wir wollten. Wir glaubten nämlich, daß der förmliche Bann über uns ausgesprochen werden würde." — "Ich erinnere mich der lustigen Zeit gar wohl", sprach Lothar, "und bemerke zu meinem nicht geringen Verdruß, daß dergleichen Mystifikationen mir jetzt schlecht geraten würden. Viel zu schwerfällig bin ich geworden und sehr geneigt, darüber mich zu ärgern, was mich sonst zum Lachen reizte."

"Das glaub ich nun und nimmermehr", fiel Ottmar ein, "überzeugt bin ich vielmehr, Lothar, daß nur der Nachhall irgendeines feindlichen Ereignisses gerade heute in deiner Seele stärker nachtönt als sonst. — Aber ein neues Leben wird bald wie Frühlingshauch dein Innres durchwehen, in ihm verklingt der Mißton, und du bist wieder ganz der alte gemütliche Lothar, der du sonst warst vor zwölf Jahren! — Euer Klub in P*** hat mich übrigens an einen andern erinnert, dessen Stifter von dem herrlichsten Humor beseelt gewesen sein muß und der in der Tat nicht wenig an den prächtigen Narrenorden erinnerte. Denkt euch eine Gesellschaft,

die durchaus organisiert ist wie ein Staat! — Ein König, Minister, Staatsräte etc. Die einzige Tendenz, der ganze Zweck dieser Gesellschaft war - gut zu essen und noch besser zu trinken. Deshalb geschahen die Versammlungen in dem Hotel der Stadt, wo die beste Küche und der beste Keller anzutreffen. Hier wurde nun ernst und feierlich verhandelt über das Wohl und Wehe des Staats, das in nichts anderm bestand als eben in guten Schüsseln und auserlesenem Wein. — So berichtet der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, daß in einer entfernteren Handlung der Stadt vorzüglicher Rheinwein angekommen. Sogleich wird eine Sendung dorthin beschlossen! — Männer von vorzüglichem Talent, das heißt mit auserlesener Weinzunge, werden gewählt, sie erhalten weitläuftige Instruktionen, und der Minister der Finanzen weiset einen außerordentlichen Fonds an, die Kosten der Gesandtschaft und des Ankaufs bewährt gefundener Ware zu bestreiten. — So gerät alles in Bestürzung, weil ein Ragout mißraten - es werden Mémoires gewechselt -harte Reden über das bedrohliche Ungewitter, das über den Staat heraufgezogen. — So tritt der Staatsrat zusammen, um zu beschließen, ob und von welchen Weinen heute der kalte Punsch zu bereiten. In tiefes Nachdenken versunken, hört der König den Vortrag im Kabinett an; er nickt: das Gesetz vom kalten Punsch wird gegeben und die Ausführung dem Minister des Innern übertragen. Der Minister des Innern kann aber schwachen Magens halber nicht Zitronensäure vertragen, er schält daher Pomeranzen in das Getränk. und durch ein neues Gesetz wird der kalte Punsch dahin deklariert, daß er Kardinal sei. — So werden Künste und Wissenschaften beschützt, indem der Dichter, der ein neues Trinklied gedichtet, sowie der Sänger, der es komponiert und abgesungen, vom Könige das Ehrenzeichen der roten Hahnenfeder erhält und beiden die Erlaubnis erteilt. wird, eine Flasche Wein mehr zu trinken als gewöhnlich, das heißt auf ihre Kosten! —Übrigens trug der König, repräsentierte er seine Würde, eine ungeheure Krone, aus goldnem Pappendeckel geschnitten, sowie Zepter und Reichsapfel; die Großen des Reichs schmückten sich dagegen mit seltsam geformten Mützen. Das Symbol der Gesellschaft bestand in einer silbernen Büchse, auf der ein stattlicher Hahn, die Flügel ausgebreitet, krähend, sich mühte, Eier zu legen. — Rechnet zu dem allen, daß wenigstens zu der Zeit, als mich der Zufall in diese höchst herrliche Gesellschaft brachte, es gar nicht an geistreichen, der Rede mächtigen Mitgliedern fehlte, die, von der tiefen Ironie des Ganzen ergriffen, ihre Rollen wacker durchführten, so werdet ihr mirs glauben, daß nicht so leicht mich ein Scherz so angeregt, ja so begeistert hat als dieser."

"Ich gebe", sprach Lothar, "der Sache meinen vollsten Beifall, nur begreife ich doch nicht, wie es auf die Länge damit gehen konnte. Der beste Spaß stumpft sich ab, vollends wenn er so dauernd und dabei doch wieder so systematisch getrieben wird, wie es in deiner Gesellschaft, in deiner Loge ,Zum eierlegenden Hahn', wirklich geschah. — Ihr habt beide, Theodor und Ottmar, nun erzählt von großen breiten Klubs mit Gesetzen und fortwuchernden Mystifikationen, laßt mich des einfachsten Klubs erwähnen, der wohl auf der Welt existiert haben mag. — In einem kleinen polnischen Grenzstädtchen, das ehemals von den Preußen in Besitz genommen, waren die einzigen deutschen Offizianten ein alter invalider Hauptmann, als Posthalter angestellt, und der Akziseeinnehmer. Beide kamen jeden Abend auf den Schlag fünf Uhr in der einzigen Kneipe, die es an dem Orte gab, und zwar in einem Kämmerchen, zusammen, das sonst niemand betreten durfte. Gewöhnlich saß der Akziseeinnehmer schon vor seinem Kruge Bier, die dampfende Pfeife im Munde, wenn der Hauptmann eintrat. Der setzte sich mit den Worten: ,Wie geht's, Herr Gevatter?' dem Einnehmer gegenüber an den Tisch, zündete die schon gestopfte Pfeife an, zog die Zeitungen aus der Tasche, fing an, emsig zu lesen, und schob die gelesenen Blätter dem Einnehmer hin, der ebenso emsig las. In tiefem Schweigen bliesen sich beide nun

den dicken Tabaksdampf ins Gesicht, bis auf den Glockenschlag acht Uhr der Einnehmer aufstand, die Pfeife ausklopfte und mit den Worten: ,Ja, so geht's, Herr Gevatter!' die Kneipe verließ. Das nannten denn beide sehr ernsthaft: unsere Ressource."

"Sehr ergötzlich", rief Theodor, "und wer in diese Ressource als ehrenwertes Mitglied recht hineingetaugt hätte, das ist unser Cyprian. Der hätte gewiß niemals die feierliche Stille unterbrochen durch unzeitiges Schwatzen. Er scheint gleich den Kamaldulensermönchen das Gelübde des ewigen Stilischweigens abgelegt zu haben, denn bis jetzt ist auch nicht ein einziges Wörtlein über seine Lippen gekommen."

Cyprian, der in der Tat bis dahin geschwiegen, seufzte auf, wie aus einem Traum erwachend, warf dann den Blick in die Höhe und sprach mit mildem Lächeln: "Ich will es euch gern gestehen, daß ich nun heute durchaus nicht die Erinnerung an ein seltsames Abenteuer loswerden kann, das ich vor mehreren Jahren erlebte, und wohl geschieht es, daß dann, wenn innere Stimmen recht laut und lebendig ertönen, der Mund sich nicht öffnen mag zur Rede. Doch ging nichts an mir vorüber, was bis jetzt zur Sprache kam, und ich kann darüber Rechenschaft geben. Fürs erste hat Theodor ganz recht, daß wir alle kindischerweise glaubten, gleich da wieder anfangen zu können, wo wir vor zwölf Jahren stehenblieben, und da dies nicht geschah, nicht geschehen konnte, aufeinander schmollten. Ich behaupte aber, daß, trabten wir wirklich gleich in demselben Geleise fort, nichts in der Welt uns mehr als eingefleischte Philister kundgetan hätte. Mir fallen dabei jene Philosophen ein - doch das muß ich fein ordentlich erzählen! — Denkt euch zwei Leute - ich will sie Sebastian und Ptolomäus nennen -, denkt euch also, daß diese auf der Universität zu K - mit dem größten Eifer die Kantische Philosophie studieren und sich beinahe täglich in den heftigsten Disputationen über diesen, jenen Satz erlaben. Eben in einem solchen philosophischen Streit, eben in dem Augenblick, als Sebastian einen kräftigen entscheidenden

Schlag geführt und Ptolomäus sich sammelt, ihn wacker zu erwidern, werden sie unterbrochen, und der Zufall will es, daß sie sich nicht mehr in K— zusammentreffen. Der eine geht hierhin, der andere dorthin. Beinahe zwanzig Jahre sind vergangen, da sieht Ptolomäus in B— auf der Straße eine Figur vor sich her wandeln, die er sogleich für seinen Freund Sebastian erkennet. Er stürzt ihm nach, klopft ihm auf die Schulter, und als Sebastian sich umschaut, fängt Ptolomäus sogleich an: ,Du behauptest also, daß —' — kurz! — er führt den Schlag, zu dem er vor zwanzig Jahren ausholte. Sebastian läßt alle Minen springen, die er in K— angelegt hatte. Beide disputieren zwei, drei Stunden hindurch, straßauf, straßab wandelnd. Beide geben sich ganz erhitzt das Wort, den Professor selbst zum Schiedsrichter aufzufordern, nicht bedenkend, daß sie in B—sind, daß der alte Immanuel schon seit vielen Jahren im Grabe ruht, trennen sich und finden sich nie mehr wieder. — Diese Geschichte, die das Eigentümliche für sich hat, daß sie sich wirklich begeben, trägt für mich wenigstens beinahe etwas Schauerliches in sich. Ohne einiges Entsetzen kann ich nicht diesen tiefen gespenstischen Philistrismus anschauen. Ergötzlicher war mir unser alter Kommissionsrat, den ich auf meiner Herreise besuchte. Er empfing mich zwar recht herzlich, indessen hatte sein Betragen etwas Ängstliches, Gedrücktes, das ich mir gar nicht erklären konnte, bis er eines Tages auf einem Spaziergange mich bat, ich möge doch um des Himmels willen mich wieder pudern und einen grauen Hut aufsetzen, sonst könne er nicht an seinen alten Cyprianus glauben. Und dabei wischte er sich den Angstschweiß von der Stirne und fichte mich an, seine Treuherzigkeit doch nur ja nicht übelzunehmen! — Also! — wir wollen keine Philister sein, wir wollen nicht darauf bestehen, jenen Faden, an dem wir vor zwölf Jahren spannen, nun fortzuspinnen, wir wollen uns nicht daran stoßen, daß wir andere Röcke tragen und andere Hüte, wir wollen andere sein als damals und doch wieder dieselben, das ist nun ausgemacht. Was Lothar ohne eigentlichen Anlaß über das Unwesen der Klubs und Ressourcen gesagt hat, mag richtig sein und beweisen, wie sehr der arme Mensch geneigt ist, sich das letzte Restchen Freiheit zu verdammen und überall ein künstlich Dach zu bauen, wo er noch allenfalls zum hellen heitern Himmel hinaufschauen könnte. Aber was geht das uns an? — Auch ich gebe meine Stimme zu Ottmars Vorschlag, daß wir uns wöchentlich an einem bestimmten Tage zusammenfinden wollen. Ich denke, die Zeit mit ihren wunderbarsten Ereignissen hat dafür gesorgt, daß wir, lag auch wirklich, wie ich indessen garnicht glauben und zugeben will, einige Anlage dazu in unserm Innern, keine Philister werden konnten. Ist es denn möglich, daß unsere Zusammenkünfte jemals in den Philistrismus eines Klubs ausarten können? — Also, es bleibt bei Ottmars Vorschlag."

"Beständig", rief Lothar, "beständig werde ich mich dagegen auflehnen, und damit wir nur gleich aus dem ärgerlichen Hinundherreden darüber herauskommen, soll uns Cyprian das seltsame Abenteuer erzählen, das ihm heute so in Sinn und Gedanken liegt." —"Ich meine", sprach Cyprian, "daß immer mehr und mehr uns eine fröhliche gemütliche Stimmung erfassen wird, zumal wenn es unserm Theodor gefällt, jene geheimnisvolle Vase, welche die feinsten aromatischen Düfte verbreitet und aus der berühmten Gesellschaft des ,Eierlegenden Hahns' herzustammen scheint, zu öffnen. Nichts in der Welt könnte aber dem frischen Aufkeimen alter Lust mehr hinderlich sein als eben mein Abenteuer. das ihr, so wie wir jetzt beisammen sind, fremdartig, uninteressant, ja albern und fratzenhaft finden müßt. Dabei trägt es einen düstern Charakter, und ich selbst spiele darin eine hinlänglich schlechte Rolle. Ursache genug, davon zu schweigen." —"Merkt ihr wohl", rief Theodor, "daß unser Cyprian, unser liebes Sonntagskind, wieder allerlei bedenkliche Geister gesehen hat, die zu erschauen nach seiner Weise er unsern gänzlich irdischen Augen nicht zutraut! — Doch nur heraus, Cyprian, mit deinem Abenteuer, und spielst du darin

eine schlechte Rolle, so verspreche ich dir sogleich, mich auf eigne Abenteuer zu besinnen und dir aufzutischen, worin ich noch viel alberner erscheine als du. Ich leide daran gar keinen Mangel."

"Mag es denn sein", sprach Cyprian und begann, nachdem er ein paar Sekunden nachdenklich vor sich hin geschaut, in folgender Art.


[Der Einsiedler Serapion]

"Ihr wißt, daß ich mich vor mehreren Jahren einige Zeit hindurch in ß***, einem Orte, der bekanntlich in der anmutigsten Gegend des südlichen Teutschlands gelegen, aufhielt. Nach meiner Weise pflegte ich allein, ohne Wegweiser, dessen ich wohl bedurft, weite Spaziergänge zu wagen, und so geschah es, daß ich eines Tages in einen dichten Wald geriet und, je emsiger ich zuletzt Weg und Steg suchte, desto mehr jede Spur eines menschlichen Fußtritts verlor. Endlich wurde der Wald etwas lichter, da gewahrte ich unfern vor mir einen Mann in brauner Einsiedlerkutte, einen breiten Strohhut auf dem Kopf, mit langem schwarzem verwildertem Bart, der dicht an einer Bergschlucht auf einem Felsstück saß und, die Hände gefaltet, gedankenvoll in die Ferne schaute. Die ganze Erscheinung hatte etwas Fremdartiges, Seltsames, ich fühlte leise Schauer mich durchgleiten. Solchen Gefühis kann man sich auch wohl kaum erwehren. wenn das, was man nur auf Bildern sah oder nur aus Büchern kannte, plötzlich ins wirkliche Leben tritt. Da saß nun der Anachoret aus der alten Zeit des Christentums in Salvator Rosas wildem Gebürge lebendig mir vor Augen. — Ich besann mich bald, daß ein ambulierender Mönch wohl eben nichts Ungewöhnliches in diesen Gegenden sei, und trat keck auf den Mann zu mit der Frage, wie ich mich wohl am leichtesten aus dem Walde herausfinden könne, um nach B*** zurückzukehren. Er maß mich mit finsterm Blick und sprach dann mit dumpfer feierlicher Stimme: ,Du handelst sehr leichtsinnig und unbesonnen, daß du mich in dem Gespräch,

das ich mit den würdigen Männern, die um mich versammelt, führe, mit einer einfältigen Frage unterbrichst! — Ich weiß es wohl, daß bloß die Neugierde, mich zu sehen und mich sprechen zu hören, dich in diese Wüste trieb, aber du siehst, daß ich jetzt keine Zeit habe, mit dir zu reden. Mein Freund Ambrosius von Kamaldoli kehrt nach Alexandrien zurück, ziehe mit ihm.' Damit stand der Mann auf und stieg hinab in die Bergschlucht. Mir war, als läg ich im Traum. Ganz in der Nähe hört ich das Geräusch eines Fuhrwerks. ich arbeitete mich durchs Gebüsch, stand bald auf einem Holzwege und sah vor mir einen Bauer, der auf einem zweirädrigen Karren daherfuhr und den ich schnell ereilte. Er brachte mich bald auf den großen Weg nach B***. Ich erzählte ihm unterweges mein Abenteuer und fragte ihn, wer wohl der wunderliche Mann im Walde sei. ,Ach, lieber Herr', erwiderte der Bauer, ,das ist der würdige Mann, der sich Priester Serapion nennt und schon seit vielen Jahren im Walde eine kleine Hütte bewohnt, die er sich selbst erbaut hat. Die Leute sagen, er sei nicht recht richtig im Kopfe, aber er ist ein lieber frommer Herr. der niemanden etwas zuleide tut und der uns im Dorfe mit andächtigen Reden recht erbaut und uns guten Rat erteilt, wie er nur kann.' Kaum zwei Stunden von ß*** hatte ich meinen Anachoreten angetroffen, hier mußte man daher auch mehr von ihm wissen, und so war es auch wirklich der Fall. Doktor S** erklärte mir alles. Dieser Einsiedler war sonst einer der geistreichsten, vielseitig ausgebildetsten Köpfe, die es in M—gab. Kam noch hinzu, daß er aus glänzender Familie entsprossen, so konnt es nicht fehlen, daß man ihn, kaum hatte er seine Studien vollendet, in ein bedeutendes diplomatisches Geschäft zog, dem er mit Treue und Eifer vorstand. Mit seinen Kenntnissen verband er ein ausgezeichnetes Dichtertalent, alles, was er schrieb, war von einer feurigen Phantasie, von einem besondern Geiste, der in die tiefste Tiefe schaute, beseelt. Sein unübertrefflicher Humor machte ihn zum angenehmsten, seine Gemütlichkeit zum liebenswürdigsten Gesellschafter, den es nur geben konnte. Von Stufe zu Stufe gestiegen, hatte man ihn eben zu einem wichtigen Gesandtschafisposten bestimmt, als er auf unbegreifliche Weise aus M— verschwand. Alle Nachforschungen blieben vergebens, und jede Vermutung scheiterte an diesem, jenem Umstande, der sich dabei ergab.

Nach einiger Zeit erschien im tiefen Tirolergebürge ein Mensch, der, in eine braune Kutte gehüllt, in den Dörfern predigte und sich dann in den wildesten Wald zurückzog, wo er einsiedlerisch lebte. Der Zufall wollte es. daß Graf P** diesen Menschen, der sich für den Priester Serapion ausgab, zu Gesicht bekam. Er erkannte augenblicklich in ihm seinen unglücklichen, aus M— verschwundenen Neffen. Man bemächtigte sich seiner, er wurde rasend, und alle Kunst der berühmtesten Ärzte in M— vermochte nichts in dem fürchterlichen Zustande des Unglücklichen zu ändern. Man brachte ihn nach B*** in die Irrenanstalt, und hier gelang es wirklich dem methodischen, auf tiefe psychische Kenntnis gegründeten Verfahren des Arztes, der damals dieser Anstalt vorstand, den Unglücklichen wenigstens aus der Tobsucht zu retten, in die er verfallen. Sei es, daß jener Arzt, seiner Theorie getreu, dem Wahnsinnigen selbst Gelegenheit gab zu entwischen oder daß dieser selbst die Mittel dazu fand, genug, er entfloh und blieb eine geraume Zeit hindurch verborgen. Serapion erschien endlich in dem Walde zwei Stunden von ß***, und jener Arzt erklärte, daß, habe man wirkliches Mitleiden mit dem Unglücklichen, wolle man ihn nicht aufs neue in Wut und Raserei stürzen, wolle man ihn ruhig und nach seiner Art glücklich sehen, so müsse man ihn im Walde und dabei vollkommene Freiheit lassen, nach Willkür zu schalten und zu walten. Er stehe für jede schädliche Wirkung. Der bewährte Ruf des Arztes drang durch, die Polizeibehörde begnügte sich damit, den nächsten Dorfgerichten die entfernte unmerkliche Aufsicht über den Unglücklichen zu übertragen, und der Erfolg bestätigte, was der Arzt vorhergesagt. Serapion baute sich eine niedliche, ja

nach den Umständen bequeme Hütte, er verfertigte sich Tisch und Stuhl, er focht sich Binsenmatten zum Lager, er legte ein kleines Gärtlein an, in dem er Gemüse und Blumen anpflanzte. Bis auf die Idee, daß er der Einsiedler Serapion sei, der unter dem Kaiser Decius in die Thebaische Wüste floh und in Alexandrien den Märtyrertod litt, und was aus dieser folgte, schien sein Geist gar nicht zerrüttet. Er war imstande, die geistreichsten Gespräche zu führen, ja nicht selten traten Spuren jenes scharfen Humors, ja wohl jener Gemütlichkeit hervor, die sonst seine Unterhaltung belebten. Übrigens erklärte ihn aber jener Arzt für gänzlich unheilbar und widerriet auf das ernstlichste jeden Versuch, ihn für die Welt und für seine vorigen Verhältnisse wiederzugewinnen. — Ihr könnt euch wohl vorstellen, daß mein Anachoret mir nun nicht aus Sinn und Gedanken kam, daß ich eine unwiderstehliche Sehnsucht empfand, ihn wiederzusehen. — Aber nun denkt euch meine Albernheit! — Ich hatte nichts Geringeres im Sinn, als Serapions fixe Idee an der Wurzel anzugreifen! — Ich las den Pinel - den Reil - alle mögliche Bücher über den Wahnsinn, die mir nur zur Hand kamen. ich glaubte, mir, dem fremden Psychologen, dem ärztlichen Laien, sei es vielleicht vorbehalten, in Serapions verfinsterten Geist einen Lichtstrahl zu werfen. Ich unterließ nicht, außer jenem Studium des Wahnsinns, mich mit der Geschichte sämtlicher Serapions, deren es in der Geschichte der Heiligen und Märtyrer nicht weniger als acht gibt, bekannt zu machen, und, so gerüstet, suchte ich an einem schönen hellen Morgen meinen Anachoreten auf. Ich fand ihn in seinem Gärtlein mit Hacke und Spaten arbeitend und ein andächtiges Lied singend. Wilde Tauben, denen er reichliches Futter hingestreut, flatterten und schwirrten um ihn her, und ein junges Reh guckte neugierig durch die Blätter des Spaliers. So schien er mit den Tieren des Waldes in vollkommener Eintracht zu leben. Keine Spur des Wahnsinns war in seinem Gesicht zu finden, dessen milde Züge von seltener Ruhe und Heiterkeit zeugten. Auf diese Weise bestätigte sich das, was mir Doktor S** in B*** gesagt hatte. Er riet mir nämlich, als er meinen Entschluß, den Anachoreten zu besuchen, erfuhr, dazu einen heitern Morgen zu wählen, weil Serapion dann am freisten im Geiste und aufgelegt sei, sich mit Fremden zu unterhalten, wogegen er abends alle menschliche Gesellschaft flöhe. Als Serapion mich gewahr wurde, ließ er den Spaten sinken und kam mir freundlich entgegen. Ich sagte, daß ich, auf weitem Wege ermüdet, mich nur einige Augenblicke bei ihm auszuruhen wünsche. ,Seid mir herzlich willkommen', sprach er, ,das wenige, womit ich Euch erquicken kann, steht Euch zu Diensten.' Damit führte er mich zu einem Moossitz vor seiner Hütte, rückte einen kleinen Tisch heraus, trug Brot, köstliche Trauben und eine Kanne Wein auf und lud mich gastlich ein, zu essen und zu trinken, indem er sich mir gegenüber auf einen Schemel setzte und mit vielem Appetit Brot genoß und einen großen Becher Wasser dazu leerte. In der Tat wußt ich gar nicht, wie ich ein Gespräch anknüpfen, wie ich meine psychologische Weisheit an dem ruhigen heitern Mann versuchen sollte. Endlich faßte ich mich zusammen und begann: .Sie nennen sich Serapion, ehrwürdiger Herr?' — ,Allerdings', erwiderte er, ,die Kirche gab mir diesen Namen.' — ,Die ältere Kirchengeschichte', fuhr ich fort, ,nennt mehrere heilige berühmte Männer dieses Namens. Einen Abt Serapion, der sich durch sein Wohltun auszeichnete, den gelehrten Bischof Serapion, dessen Hieronymus in seinem Buche »De viris illustribus« gedenkt. Auch gab es einen Mönch Serapion. Dieser befahl, wie Heraklides in seinem »Paradiese« erzählt, als er einst aus der Thebäischen Wüste nach Rom kam, einer Jungfrau, die sich zu ihm gesellte, vorgebend, sie habe der Welt entsagt und ihrer Lust, um dies zu beweisen, mit ihm entkleidet durch die Straßen von Rom zu ziehen. und verstieß sie, als sie es verweigerte. »Du zeigst«, sprach der Mönch, »daß du noch nach der Natur lebst und den Menschen gefallen willst, glaube nicht an deine Größe, rühme dich nicht, du habest die Welt überwunden!« — Irr ich nicht, ehrwürdiger Herr, so war dieser schmutzige Mönch (so nennt ihn Heraklid selbst) ebenderselbe, welcher unter dem Kaiser Decius das grausamste Märtyrertum erlitt. Man trennte bekanntlich die Junkturen der Glieder und stürzte ihn dann vom hohen Felsen hinab.' — ,So ist es', sprach Serapion, indem er erbleichte und seine Augen in dunklem Feuer aufglühten. ,So ist es, doch dieser Märtyrer hat nichts gemein mit jenem Mönch, der in aszetischer Wut gegen die Natur selbst ankämpfte. Der Märtyrer Serapion, von dem Sie sprechen, bin ich selbst.' —,Wie', rief ich mit erkünsteltem Erstaunen, ,Sie halten sich für jenen Serapion, der vor vielen hundert Jahren auf die jämmerlichste Weise umkam?' — ,Sie mögen', fuhr Serapion sehr ruhig fort, ,das unglaublich finden, und ich gestehe ein, daß es manchem, der nicht weiter zu schauen vermag, als eben seine Nase reicht, sehr wunderbar klingen muß, allein es ist nun einmal so. Die Allmacht Gottes hat mich mein Märtyrertum glücklich überstehen lassen, weil es in seinem ewigen Ratschluß lag, daß ich noch einige Zeit hindurch hier in der Thebäischen Wüste ein ihm gefälliges Leben führen sollte. Ein heftiger Kopfschmerz und ebenso heftiges Ziehen in den Gliedern, nur das allein erinnert mich noch zuweilen an die überstandenen Qualen.' Nun, glaubt ich, sei es an der Zeit, mit meiner Kur zu beginnen. Ich holte weit aus und sprach sehr gelehrt über die Krankheit der fixen Ideen. die den Menschen zuweilen befalle und nur wie ein einziger Mißton den sonst rein gestimmten Organism verderbe. Ich erwähnte jenes Gelehrten, der nicht zu bewegen war, vom Stuhle aufzustehen, weil er befürchtete, dann sogleich mit seiner Nase dem Nachbar gegenüber die Fensterscheiben einzustoßen; des Abts Molanus, der über alles sehr vernünftig sprach und bloß deshalb seine Stube nicht verließ, weil er besorgte, sofort von den Hühnern gefressen zu werden, da er sich für ein Gerstenkorn hielt. Ich kam darauf, daß die Vertauschung des eignen Ichs mit irgendeiner geschichtlichen Person gar häufig als fixe Idee sich im Innern gestalte. Nichts Tolleres, nichts Ungereimteres könne es geben, meinte ich ferner, als den kleinen, täglich von Bauern, Jägern, Reisenden und Spaziergängern durchstreiften Wald zwei Stunden von B*** für die Thebaische Wüste und sich selbst für denselben heiligen Schwärmer zu halten, der vor vielen hundert Jahren den Märtyrertod erlitt. — Serapion hörte mich schweigend an, er schien den Nachdruck meiner Worte zu fühlen und in tiefem Nachdenken mit sich selbst zu kämpfen. Nun glaubt ich den Hauptschlag führen zu müssen, ich sprang auf, ich faßte Serapions beide Hände, ich rief mit starker Stimme: ,Graf P**, erwachen Sie aus dem verderblichen Traum, der Sie bestrickt, werfen Sie diese gehässigen Kleider ab, geben Sie sich Ihrer Familie, die um Sie trauert, der Welt, die die gerechtesten Ansprüche an Sie macht, wieder!' — Serapion schaute mich an mit finsterm durchbohrenden Blick, dann spielte ein sarkastisches Lächeln um Mund und Wange, und er sprach langsam und ruhig: ,Sie haben, mein Herr, sehr lange und Ihres Bedünkens auch wohl sehr herrlich und weise gesprochen, erlauben Sie, daß ich Ihnen jetzt einige Worte erwidere. — Der Heilige Antenius, alle Männer der Kirche, die sich aus der Welt in die Einsamkeit zurückgezogen, wurden öfters von häßlichen Quälgeistern heimgesucht, die, die innere Zufriedenheit der Gottgeweihten beneidend, ihnen hart zusetzten, so lange, bis sie, überwunden, schmählich im Staube lagen. Mir geht es nicht besser. Dann und wann erscheinen mir Leute, die, vom Teufel angetrieben, mir einbilden wollen, ich sei der Graf P** aus M—, um mich zu verlocken zur Hoffart und allerlei bösem Wesen. Half nicht Gebet, so nahm ich sie bei den Schultern, warf sie hinaus und verschloß sorgfältig mein Gärtlein. Beinahe möcht ich mit Ihnen, mein Herr, verfahren auf gleiche Weise. Doch wird es dessen nicht bedürfen. Sie sind offenbar der ohnmächtigste von allen Widersachern, die mir erschienen, und ich werde Sie mit Ihren eignen Waffen schlagen, das heißt mit den Waffen der Vernunft. Es ist vom Wahnsinn die Rede, leidet einer von uns an dieser bösen Krankheit. so ist das offenbar bei Ihnen der Fall in viel höherem Grade als bei mir. Sie behaupten, es sei fixe Idee, daß ich mich für den Märtyrer Serapion halte, und ich weiß recht gut, daß viele Leute dasselbe glauben oder vielleicht nur so tun, als ob sie es glaubten. Bin ich nun wirklich wahnsinnig, so kann nur ein Verrückter wähnen, daß er imstande sein werde, mir die fixe Idee, die der Wahnsinn erzeugt hat, auszureden. Wäre dies möglich, so gäb es bald keinen Wahnsinnigen mehr auf der ganzen Erde, denn der Mensch könnte gebieten über die geistige Kraft, die nicht sein Eigentum, sondern nur anvertrautes Gut der höhern Macht ist, die darüber waltet. Bin ich aber nicht wahnsinnig und wirklich der Märtyrer Serapion, so ist es wieder ein törichtes Unternehmen, mir das ausreden und mich erst zu der fixen Idee treiben zu wollen, daß ich der Graf P** aus M— und zu Großem berufen sei. Sie sagen, daß der Märtyrer Serapion vor vielen hundert Jahren lebte und daß ich folglich nicht jener Märtyrer sein könne, wahrscheinlich aus dem Grunde, weil Menschen nicht so lange auf Erden zu wandeln vermögen. Fürs erste ist die Zeit ein ebenso relativer Begriff wie die Zahl, und ich könnte Ihnen sagen, daß, wie ich den Begriff der Zeit in mir trage, es kaum drei Stunden oder wie Sie sonst den Lauf der Zeit bezeichnen wollen, her sind, als mich der Kaiser Decius hinrichten ließ. Dann aber, davon abgesehen, können Sie mir nur den Zweifel entgegenstellen, daß ein solch langes Leben, wie ich geführt haben will, beispiellos und der menschlichen Natur entgegen sei. Haben Sie Kenntnis von dem Leben jedes einzelnen Menschen, der auf der ganzen weiten Erde existiert hat, daß Sie das Wort beispiellos keck aussprechen können? — Stellen Sie die Allmacht Gottes der armseligen Kunst des Uhrmachers gleich, der die tote Maschine nicht zu retten vermag vor dem Verderben? — Sie sagen, der Ort, wo wir uns befinden, sei nicht die Thebaische Wüste, sondern ein kleiner Wald, der zwei Stunden von B*** liege und täglich von Bauern, Jägern und andern Leuten durchstreift werde. Beweisen Sie mir das!'

Hier glaubte ich meinen Mann fassen zu können. ,Auf', rief ich, ,kommen Sie mit mir, in zwei Stunden sind wir in B***, und das, was ich behauptet, ist bewiesen.'

,Armer verblendeter Tor', sprach Serapion, ,welch ein Raum trennt uns von B***! — Aber gesetztenfalls, ich folgte Ihnen wirklich nach einer Stadt, die Sie B*** nennen, würden Sie mich davon überzeugen können, daß wir wirklich nur zwei Stunden wandelten, daß der Ort, wo wir hingelangten, wirklich B*** sei? —Wenn ich nun behauptete, daß eben Sie, von einem heillosen Wahnsinn befangen, die Thebaische Wüste für ein Wäldchen und das ferne, ferne Alexandrien für die süddeutsche Stadt ß*** hielten, was würden Sie sagen können? Der alte Streit würde nie enden und uns beiden verderblich werden. — Und noch eins mögen Sie recht ernstlich bedenken! — Sie müssen es wohl merken, daß der, der mit Ihnen spricht, ein heitres ruhiges, mit Gott versöhntes Leben führt. Nur nach überstandenem Märtyrertum geht ein solches Leben im Innern auf. Hat es nun der ewigen Macht gefallen, einen Schleier zu werfen über das, was vor jenem Märtyrertum geschah, ist es nicht eine grausame heillose Teufelei, an diesem Schleier zu zupfen?'

Mit all meiner Weisheit stand ich vor diesem Wahnsinnigen verwirrt - beschämt! — Mit der Konsequenz seiner Narrheit hatte er mich gänzlich aus dem Felde geschlagen, und ich sah die Torheit meines Unternehmens in vollem Umfange ein. Noch mehr als das, den Vorwurf, den seine letzten Worte enthielten, fühlte ich ebenso tief, als mich das dunkle Bewußtsein des frühern Lebens, das darin wie ein höherer unverletzbarer Geist hervorschimmerte, in Erstaunen setzte.

Serapion schien meine Stimmung recht gut zu bemerken, er schaute mir mit einem Blick, in dem der Ausdruck der reinsten unbefangensten Gemütlichkeit lag, ins Auge und sprach dann: ,Gleich hielt ich Sie eben für keinen schlimmen Widersacher, und so ist es auch in der Tat. Wohl mag es sein, daß dieser, jener, ja vielleicht der Teufel selbst Sie aufgeregt

hat, mich zu versuchen, in Ihrer Gesinnung lag es gewiß nicht; und vielleicht nur, daß Sie mich anders fanden, als Sie sich den Anachoreten Serapion gedacht hatten, bestärkte Sie in den Zweifeln, die Sie mir entgegenwarfen. Ohne im mindesten von jener Frömmigkeit abzuweichen, die dem ziemt, der sein ganzes Leben Gott und der Kirche geweiht, ist mir jener aszetische Zynismus fremd, in den viele von meinen Brüdern verfielen und dadurch statt der gerühmten Stärke innere Ohnmacht, ja offenbare Zerrüttung aller Geisteskräfte bewiesen. Des Wahnsinns hätten Sie mich beschuldigen können, fanden Sie mich in dem heillosen abscheulichen Zustande, den jene besessene Fanatiker sich oft selbst bereiten. Sie glaubten den Mönch Serapion zu finden, jenen zynischen Mönch, blaß, abgemagert, entstellt von Wachen und Hungern, alle Angst, alles Entsetzen der abscheulichen Träume im düstern Blick, die den heiligen Antonius zur Verzweiflung brachten, mit schlotternden Knien, kaum vermögend, aufrecht zu stehen, in schmutziger blutbedeckter Kutte, und treffen auf einen ruhigen heitern Mann. Auch ich überstand diese Qualen, von der Hölle selbst in meiner Brust entzündet, aber als ich mit zerrissenen Gliedern, mit zerschelltem Haupt erwachte, erleuchtete der Geist mein Innres und ließ Seele und Körper gesunden. Möge dich, o mein Bruder! der Himmel schon auf Erden die Ruhe, die Heiterkeit genießen lassen, die mich erquickt und stärkt. Fürchte nicht die Schauer der tiefen Einsamkeit, nur in ihr geht dem frommen Gemüt solch ein Leben auf!'

.Serapion, der die letzten Worte mit wahrhaft priesterlicher Salbung gesprochen, schwieg jetzt und hob den verklärten Blick gen Himmel. Wars denn anders möglich, mußte mir nicht ganz unheimlich zumute werden? — Ein wahnsinniger Mensch, der seinen Zustand als eine herrliche Gabe des Himmels preist, nur in ihm Ruhe und Heiterkeit findet und recht aus der innersten Überzeugung mir ein gleiches Schicksal wünscht!

Ich gedachte mich zu entfernen, doch in demselben Augenblick begann Serapion mit verändertem Ton: ,Sie sollten nicht meinen, daß diese rauhe unwirtbare Wüste mir für meine stille Betrachtungen oft beinahe zu lebhaft wird. Täglich erhalte ich Besuche von den merkwürdigsten Männern der verschiedensten Art. Gestern war Ariost bei mir, dem bald darauf Dante und Petrarch folgten, heute abends erwarte ich den wackern Kirchenlehrer Evagrius und gedenke, so wie gestern über Poesie, heute über die neuesten Angelegenheiten der Kirche zu sprechen. Manchmal steige ich auf die Spitze jenes Berges, von der man bei heitrem Wetter ganz deutlich die Türme von Alexandrien erblickt, und vor meinen Augen begeben sich die wunderbarsten Ereignisse und Taten. Viele haben das auch unglaublich gefunden und gemeint, ich bilde mir nur ein, das vor mir im äußern Leben wirklich sich ereignen zu sehen, was sich nur als Geburt meines Geistes, meiner Phantasie gestalte. Ich halte dies nun für eine der spitzfündigsten Albernheiten, die es geben kann. Ist es nicht der Geist allein, der das, was sich um uns her begibt in Raum und Zeit, zu erfassen vermag? —Ja, was hört, was sieht, was fühlt in uns? —vielleicht die toten Maschinen, die wir Auge - Ohr - Hand etc. nennen, und nicht der Geist? —Gestaltet sich nun etwa der Geist seine in Raum und Zeit bedingte Welt im Innern auf eigne Hand und überläßt jene Funktionen einem andern uns inwohnenden Prinzip? — Wie ungereimt! Ist es nun also der Geist allein, der die Begebenheit vor uns erfaßt, so hat sich das auch wirklich begeben, was er dafür anerkennt. — Eben gestern sprach Ariost von den Gebilden seiner Phantasie und meinte, er habe im Innern Gestalten und Begebenheiten geschaffen, die niemals in Raum und Zeit existierten. Ich bestritt, daß dies möglich, und er mußte mir einräumen, daß es nur Mangel höherer Erkenntnis sei, wenn der Dichter alles, was er vermöge seiner besonderen Sehergabe vor sich in vollem Leben erschaue, in den engen Raum seines Gehirns einschachteln wolle. Aber erst nach dem Märtyrertum kommt

jene höhere Erkenntnis, die genährt wird von dem Leben in tiefer Einsamkeit. — Sie scheinen nicht mit mir einig, Sie begreifen mich vielleicht gar nicht? — Doch freilich, wie sollte ein Kind der Welt, trägt es auch den besten Willen dazu in sich, den Gott geweihten Anachoreten begreifen können in seinem Tun und Treiben! —Lassen Sie mich erzählen, was sich heute, als die Sonne aufging und ich auf der Spitze jenes Berges stand, vor meinen Augen begab.'

Serapion erzählte jetzt eine Novelle, angelegt, durchgeführt, wie sie nur der geistreichste, mit der feurigsten Phantasie begabte Dichter anlegen, durchführen kann. Alle Gestalten traten mit einer plastischen Ründung, mit einem glühenden Leben hervor, daß man, fortgerissen, bestrickt von magischer Gewalt wie im Traum, daran glauben mußte, daß Serapion alles selbst wirklich von seinem Berge erschaut. Dieser Novelle folgte eine andere und wieder eine andere, bis die Sonne hoch im Mittag über uns stand. Da erhob sich Serapion von seinem Sitz und sprach, in die Ferne blickend: ,Dort kommt mein Bruder Hilarion, der in seiner zu großen Strenge immer mit mir zürnt, daß ich mich der Gesellschaft fremder Leute zu sehr hingebe.' Ich verstand den Wink und nahm Abschied, indem ich fragte, ob es mir wohl vergönnt sei, wieder einzukehren. Serapion erwiderte mit mildem Lächeln: ,Ei, mein Freund, ich dachte, du würdest hinauseilen aus dieser wilden Wüste, die deiner Lebensweise gar nicht zuzusagen scheint. Gefällt es dir aber, einige Zeit hindurch deine Wohnung in meiner Nähe aufzuschlagen, so sollst du mir jederzeit willkommen sein in meiner Hütte, in meinem Gärtlein! Vielleicht gelingt es mir, den zu bekehren, der zu mir kam als böser Widersacher! — Gehab dich wohl, mein Freund!' — Garnicht vermag ich den Eindruck zu beschreiben, den der Besuch bei dem Unglücklichen auf mich machte. Indem mich sein Zustand, sein methodischer Wahnsinn, in dem er das Heil seines Lebens fand, mit tiefem Schauer erfüllte, setzte mich sein hohes Dichtertalent in Staunen, erweckte seine Gemütlichkeit, sein ganzes Wesen,

das die ruhigste Hingebung des reinsten Geistes atmete, in mir die tiefste Rührung. Ich gedachte jener schmerzlichen Worte Opheliens: ,0 welch ein edler Geist ist hier zerstört! Des Hofmanns Auge, des Gelehrten Zunge, des Kriegers Arm, des Staates Blum und Hoffnung, der Sitte Spiegel und der Bildung Muster, das Merkziel der Betrachter, ganz, ganz hin - ich sehe die edle hochgebietende Vernunft, mißtönend wie verstimmte Glocken jetzt; dies hohe Bild, die Züge blühender Jugend, durch Schwärmerei zerrüttet -', und doch konnt ich die ewige Macht nicht anklagen, die vielleicht auf diese Weise den Unglücklichen vor bedrohlichen Klippen rettete in den sichern Hafen. Je öfter ich nun meinen Anachoreten besuchte, desto herzlicher gewann ich ihn lieb. Immer fand ich ihn heiter und gesprächig, und ich hütete mich wohl, etwa wieder den psychologischen Arzt machen zu wollen. Es war bewundrungswürdig, mit welchem Scharfsinn, mit welchem durchdringenden Verstande mein Anachoret über das Leben in allen seinen Gestaltungen sprach, höchst merkwürdig aber, aus welchen von jeder aufgestellten Ansicht ganz abweichenden tiefern Motiven er geschichtliche Begebenheiten entwickelte. Nahm ich's mir zuweilen heraus, sosehr mich auch der Scharfsinn seiner Divinationen traf, doch einzuwenden, daß kein historisches Werk der besonderen Umstände erwähne, die er anführe, so versicherte er mit mildem Lächeln, daß wohl freilich kein Historiker der Welt das alles so genau wissen könne als er, der es ja aus dem Munde der handelnden Personen selbst hätte, die ihn besucht. —Ich mußte B***verlassen und kehrte erst nach drei Jahren wieder zurück. Es war später Herbst, in der Mitte des Novembers, wenn ich nicht irre, gerade der vierzehnte. als ich hinauslief, um meinen Anachoreten aufzusuchen. Von weitem hörte ich den Ton der kleinen Glocke, die über seiner Hütte angebracht war, und fühlte mich von seltsamen Schauern, von düsterer Ahnung durchbebt. Ich kam endlich an die Hütte, ich trat hinein. Serapion lag ausgestreckt, die Hände auf der Brust gefaltet, auf seinen Binsenmatten. Ich glaubte, daß er schliefe. Ich trat näher heran, da merkt ich es wohl - er war gestorben!"

"Und du begrubst ihn mit Hülfe zweier Löwen!" — So unterbrach Ottmar den Freund. "Wie? — was sagst du?" rief Cyprian, ganz erstaunt. "Ja", fuhr Ottmar fort, "es ist nicht anders. Schon im Walde, noch ehe du Serapions Hütte erreicht hattest, begegneten dir seltsame Ungeheuer, mit denen du sprachst. Ein Hirsch brachte dir den Mantel des heiligen Athanasius und bat dich, Serapions Leichnam darin einzuwickeln. —Genug, dein letzter Besuch bei deinem wahnsinnigen Anachoreten gemahnt mich an jenen wunderbaren Besuch, den Antonius dem Einsiedler Paulus abstattete und von dem der heilige Mann so viel phantastisches Zeug erzählt, daß man wohl wahrnimmt, wie es ihm ziemlich stark im Kopf spukte. Du siehst, daß ich mich auch auf die Legenden der Heiligen verstehe! — Nun weiß ich, warum vor einigen Jahren deine ganze Phantasie von Mönchen, Klöstern, Einsiedlern, Heiligen erfüllt war. Ich merkte das aus dem Briefe, den du mir damals schriebst und in dem ein solch eigner mystischer Ton herrschte, daß ich auf allerlei sonderbare Gedanken geriet. — Irr ich nicht, so dichtetest du damals ein seltsames Buch, das, auf den tiefsten katholischen Mystizismus basiert, so viel Wahnsinniges und Teuflisches enthielt, daß es dich hätte bei sanften hochgescheuten Personen um allen Kredit bringen können. Gewiß spukte damals der höchste Serapionismus in dir." — "So ist es", erwiderte Cyprian, "und ich möchte beinahe wünschen, jenes phantastische Buch, das indessen doch als Warnungszeichen den Teufel an der Stirn trägt, vor dem sich ein jeder hüten kann, nicht in die Welt geschickt zu haben. Freilich regte mich der Umgang mit dem Anachoreten dazu an. Ich hätt ihn vielleicht meiden sollen, aber du, Ottmar, ihr alle kennt ja meinen besondern Hang zum Verkehr mit Wahnsinnigen; immer glaubt ich, daß die Natur gerade beim Abnormen Blicke vergönne in ihre schauerlichste Tiefe, und in der Tat, selbst in dem Grauen, das mich oft bei jenem seltsamen Verkehr befing, gingen mir Ahnungen und Bilder auf, die meinen Geist zum besonderen Aufschwung stärkten und belebten. Mag es sein, daß die von Grund aus Verständigen diesen besondern Aufschwung nur für den Paroxismus einer gefährlichen Krankheit halten; was tut das, wenn der der Krankheit Angeklagte sich nur selbst kräftig und gesund fühlt."

"Das bist du ganz gewiß, mein lieber Cyprian", nahm Theodor das Wort, "und das beweiset deine robuste Konstitution, um die ich dich beinah beneiden möchte. Du sprichst von dem Blick in die schauerlichste Tiefe der Natur, möge nur jeder sich vor einem solchen Blick hüten, der sich nicht frei weiß von allem Schwindel. — So wie du uns deinen Serapion dargestellt hast, wird wohl niemand leugnen, daß sein gutmütiger stiller Wahnsinn gar nicht in Betracht kommen konnte, da der Umgang mit dem geistreichsten, lebendigsten Dichter kaum mit dem seinigen zu vergleichen. Gestehe aber nur ein, daß, vorzüglich da nun Jahre darüber vergangen, als du ihn lebend verließest, du uns seine Gestalt nur in vollem glänzenden Licht, wie sie in deinem Innern lebt, darstellen konntest. Dann aber behaupte ich meinerseits, daß mich wenigstens bei einem Menschen, der eben auf solche Weise wahnsinnig wie dein Serapion, die innere Angst, ja das Entsetzen nie verlassen würde. Schon bei deiner Erzählung, als Serapion seinen Zustand als den glücklichsten pries, als er dich so selig wünschte, als er selbst sich fühlte, standen mir die Haare zu Berge. — Es wäre heillos, wenn der Gedanke dieses glücklichen Zustandes Wurzel fassen im Gemüt und dadurch den wirklichen Wahnsinn herbeiführen könnte. — Nie hätte ich mich schon deshalb Serapions Umgange hingegeben, und dann ist noch außer der geistigen Gefahr die leibliche zu fürchten, daß, wie der französische Arzt Pinel häufige Fälle anführt, von fixen Ideen Befallene oft plötzlich in Tobsucht geraten und wie ein wütendes Tier alles um sich her morden."

,.Theodor hat recht", sprach Ottmar, "ich tadle, o Cyprian, deinen närrischen Hang zur Narrheit, deine wahnsinnige Lust am Wahnsinn. Es liegt etwas Überspanntes darin, das dir selbst mit der Zeit wohl lästig werden wird. Daß ich Wahnsinnige fliehe wie die Pes; versteht sich wohl, aber schon Menschen von überreizter Phantasie. die sich auf diese oder jene Weise spleenig äußert, sind mir unheimisch und fatal."

"Du", nahm Theodor das Wort, "du, lieber Ottmar, gehst hierin wieder offenbar zu weit, indem, wie ich' wohl weiß, du alles, was sich von innen heraus im Äußern auf nicht gewöhnliche, etwas seltsame Weise gebärden will, hassest. Das Mißverhältnis des innern Gemüts mit dem äußern Leben, welches der reizbare Mensch fühlt, treibt ihn wohl zu besonderen Grimassen, die die ruhigen Gesichter, über die der Schmerz so wenig Gewalt hat als die Lust, nicht begreifen können, sondern sich nur darüber ärgern. Merkwürdig ist es aber, daß du, mein Ottmar, selbst so leicht verwundlich, geneigt bist, aus allen Schranken zu treten, und schon oft den Vorwurf des vollkommensten Spleens auf dich geladen hast. — Ich denke eben an einen Mann, dessen toller Humor in der Tat bewirkte, daß die halbe Stadt, wo er lebte, ihn für wahnsinnig ausschrie, unerachtet kein Mensch weniger Anlage zum eigentlichen, entschiedenen Wahnsinn haben konnte als eben er. — Die Art, wie ich seine Bekanntschaft machte, ist ebenso seltsam komisch, als die Lage, in der ich ihn wiederfand, rührend und das innerste Herz ergreifend. Ich möcht euch davon erzählen, um den sanften Übergang vom Wahnsinn durch den Spleen in die völlig gesunde Vernunft zu bewirken. Befürchten muß ich nur, zumal da von Musik viel die Rede sein dürfte, daß ihr mir denselben Vorwurf machen werdet, den ich unserm Cyprianus entgegenwarf, nämlich daß ich meinen Gegenstand phantastisch ausschmücke und viel von dem Meinigen hinzufüge, was denn doch gar nicht der Fall sein wird. — Ich bemerke indessen, daß Lothar sehnsüchtige Blicke nach jener Vase wirft, die Cyprian geheimnisvoll genannt und sich von ihrem Inhalt

viel Ersprießliches versprochen hat. Laßt uns den Zauber lösen!"

Theodor nahm den Deckel von dem Gefäße herab und schenkte seinen Gästen ein Getränk ein, das König und Minister der Gesellschaft vom "Eierlegenden Hahn" als übervortrefflich anerkannt und ohne Bedenken im Staat eingeführt haben würden. "Nun", rief Lothar, nachdem er ein paar Gläser geleert hatte, "nun, Theodor, erzähle von deinem spleenigen Mann. Sei humoristisch -lustig - rührend - ergreifend - sei alles, was du willst, nur erlöse uns von dem vermaledeiten wahnsinnigen Anachoreten, hilf uns heraus aus dem Bedlam, in das uns Cyprianus geschleppt!"


[Rat Krespel]



"Der Mann", begann Theodor, "von dem ich sprechen will, ist niemand anders als der Rat Krespel in H—.

Dieser Rat Krespel war nämlich einer der allerwunderlichsten Menschen, die mir jemals im Leben vorgekommen. Als ich nach H— zog, um mich einige Zeit dort aufzuhalten, sprach die ganze Stadt von ihm, weil soeben einer seiner allernärrischten Streiche in voller Blüte stand. Krespel war berühmt als gelehrter gewandter Jurist und als tüchtiger Diplomatiker. Ein nicht eben bedeutender regierender Fürst in Deutschland hatte sich an ihn gewandt, um ein Memorial auszuarbeiten, das die Ausführung seiner rechtsbegründeten Ansprüche auf ein gewisses Territorium zum Gegenstand hatte und das er dem Kaiserhofe einzureichen gedachte. Das geschah mit dem glücklichsten Erfolg, und da Krespel einmal geklagt hatte, daß er nie eine Wohnung seiner Bequemlichkeit gemäß finden könne, übernahm der Fürst, um ihn für jenes Memorial zu lohnen, die Kosten eines Hauses, das Krespel ganz nach seinem Gefallen aufbauen lassen sollte. Auch den Platz dazu wollte der Fürst nach Krespels Wahl ankaufen lassen; das nahm Krespel indessen nicht an, vielmehr blieb er dabei, daß das Haus in seinem vor dem Tor in der schönsten Gegend belegenen Garten erbaut werden

solle. Nun kaufte er alle nur mögliche Materialien zusammen und ließ sie herausfahren; dann sah man ihn, wie er tagelang in seinem sonderbaren Kleide (das er übrigens selbst angefertigt nach bestimmten eigenen Prinzipien) den Kalk löschte, den Sand siebte, die Mauersteine in regelmäßige Haufen aufsetzte und so weiter. Mit irgendeinem Baumeister hatte er nicht gesprochen, an irgendeinen Riß nicht gedacht. An einem guten Tage ging er indessen zu einem tüchtigen Mauermeister in H— und bat ihn, sich morgen bei Anbruch des Tages mit sämtlichen Gesellen und Burschen, vielen Handlangern und so weiter in dem Garten einzufinden und sein Haus zu bauen. Der Baumeister fragte natürlicherweise nach dem Bauriß und erstaunte nicht wenig, als Krespel erwiderte, es bedürfe dessen gar nicht und es werde sich schon alles, wie es sein solle, fügen. Als der Meister anderen Morgens mit seinen Leuten an Ort und Stelle kam, fand er einen im regelmäßigen Viereck gezogenen Graben, und Krespel sprach: ,Hier soll das Fundament meines Hauses gelegt werden, und dann bitte ich die vier Mauern so lange heraufzuführen, bis ich sage, nun ist's hoch genug.' — ,Ohne Fenster und Türen, ohne Quermauern?' fiel der Meister, wie über Krespels Wahnsinn erschrocken, ein. ,So wie ich Ihnen es sage, bester Mann', erwiderte Krespel sehr ruhig, ,das übrige wird sich alles finden.' Nur das Versprechen reicher Belohnung konnte den Meister bewegen, den unsinnigen Bau zu unternehmen; aber nie ist einer lustiger geführt worden, denn unter beständigem Lachen der Arbeiter, die die Arbeitsstätte nie verließen, da es Speis und Trank vollauf gab, stiegen die vier Mauern unglaublich schnell in die Höhe, bis eines Tages Krespel rief: ,Halt!' Da schwieg Kell' und Hammer, die Arbeiter stiegen von den Gerüsten herab, und indem sie den Krespel im Kreise umgaben, sprach es aus jedem lachenden Gesicht: ,Aber wie nun weiter?' — ,Platz!' rief Krespel, lief nach einem Ende des Gartens und schritt dann langsam auf sein Viereck los, dicht an der Mauer schüttelte er unwillig den Kopf, lief nach dem andern Ende des Gartens, schritt wieder auf das Viereck los und machte es wie zuvor. Noch einige Male wiederholte er das Spiel, bis er endlich, mit der spitzen Nase hart an die Mauer anlaufend, laut schrie: ,Heran, heran, ihr Leute, schlagt mir die Tür ein, hier schlagt mir eine Tür ein!' — Er gab Länge und Breite genau nach Fuß und Zoll an, und es geschah, wie er geboten. Nun schritt er hinein in das Haus und lächelte wohlgefällig, als der Meister bemerkte, die Mauern hätten gerade die Höhe eines tüchtigen zweistöckigen Hauses. Krespel ging in dem innern Raum bedächtig auf und ab, hinter ihm her die Maurer mit Hammer und Hacke, und sowie er rief: ,Hier ein Fenster, sechs Fuß hoch, vier Fuß breit! —dort ein Fensterchen, drei Fuß hoch, zwei Fuß breit !'. so wurde es flugs eingeschlagen. Gerade während dieser Operation kam ich nach H—, und es war höchst ergötzlich anzusehen, wie Hunderte von Menschen um den Garten herumstanden und allemal laut aufjubelten, wenn die Steine herausflogen und wieder ein neues Fenster entstand, da, wo man es gar nicht vermutet hatte. Mit dem übrigen Ausbau des Hauses und mit allen Arbeiten, die dazu nötig waren, machte es Krespel auf ebendieselbe Weise, indem sie alles an Ort und Stelle nach seiner augenblicklichen Angabe verfertigen mußten. Die Possierlichkeit des ganzen Unternehmens, die gewonnene Überzeugung, daß alles am Ende sich besser zusammengeschickt, als zu erwarten stand, vorzüglich aber Krespels Freigebigkeit, die ihm freilich nichts kostete, erhielt aber alle bei guter Laune. So wurden die Schwierigkeiten, die die abenteuerliche Art zu bauen herbeiführen mußte, überwunden, und in kurzer Zeit stand ein völlig eingerichtetes Haus da, welches von der Außenseite den tollsten Anblick gewährte, da kein Fenster dem andern gleich war und so weiter, dessen innere Einrichtung aber eine ganz eigene Wohlbehaglichkeit erregte. Alle, die hineinkamen, versicherten dies, und ich selbst fühlte es, als Krespel nach näherer Bekanntschaft mich hineinführte. Bis jetzt hatte ich nämlich mit dem seltsamen Manne noch nicht gesprochen, der Bau beschäftigte ihn so sehr, daß er nicht einmal sich bei dem Professor M***dienstags, wie er sonst pflegte, zum Mittagsessen einfand und ihm, als er ihn besonders eingeladen, sagen ließ, vor dem Einweihungsfeste seines Hauses käme er mit keinem Tritt aus der Tür. Alle Freunde und Bekannte verspitzten sich auf ein großes Mahl, Krespel hatte aber niemanden gebeten als sämtliche Meister, Gesellen, Bursche und Handlanger, die sein Haus erbaut. Er bewirtete sie mit den feinsten Speisen; Maurerbursche fraßen rücksichtslos Rebhuhnpasteten, Tischlerjungen hobelten mit Glück an gebratenen Fasanen, und hungrige Handlanger langten diesmal sich selbst die vortreiflichsten Stücke aus dem Trüffelfrikassee zu. Des Abends kamen die Frauen und Töchter, und es begann ein großer Ball. Krespel walzte etwas weniges mit den Meisterfrauen, setzte sich aber dann zu den Stadtmusikanten, nahm eine Geige und dirigierte die Tanzmusik bis zum hellen Morgen. Den Dienstag nach diesem Feste, welches den Rat Krespel als Volksfreund darstellte, fand ich ihn endlich zu meiner nicht geringen Freude bei dem Professor M***. Verwunderlicheres als Krespels Betragen kann man nicht erfinden. Steif und ungelenk in der Bewegung, glaubte man jeden Augenblick, er würde irgendwo anstoßen, irgendeinen Schaden anrichten, das geschah aber nicht, und man wußte es schon, denn die Hausfrau erblaßte nicht im mindesten, als er mit gewaltigem Schritt um den mit den schönsten Tassen besetzten Tisch sich herumschwang, als er gegen den bis zum Boden reichenden Spiegel manövrierte, als er selbst einen Blumentopf von herrlich gemaltem Porzellan ergriff und in der Luft herumschwenkte, als ob er die Farben spielen lassen wolle. Überhaupt besah Krespel vor Tische alles in des Professors Zimmer auf das genaueste, er langte sich auch wohl, auf den gepolsterten Stuhl steigend, ein Bild von der Wand herab und hing es wieder auf. Dabei sprach er viel und heftig; bald (bei Tische wurde es auffallend) sprang er schnell von einer Sache auf die andere, bald konnte er von einer Idee gar nicht loskommen; immer sie wieder ergreifend, geriet er in allerlei wunderliche Irrgänge und konnte sich nicht wiederfinden, bis ihn etwas anders erfaßte. Sein Ton war bald rauh und heftig schreiend, bald leise gedehnt, singend, aber immer paßte er nicht zu dem, was Krespel sprach. Es war von Musik die Rede, man rühmte einen neuen Komponisten, da lächelte Krespel und sprach mit seiner leisen singenden Stimme: ,Wollt ich doch, daß der schwarzgefiederte Satan den verruchten Tonverdreher zehntausend Millionen Klafter tief in den Abgrund der Hölle schlüge!' — Dann fuhr er heftig und wild heraus: ,Sie ist ein Engel des Himmels, nichts als reiner, Gott geweihter Klang und Ton! — Licht und Sternbild alles Gesanges!' — Und dabei standen ihm Tränen in den Augen. Man mußte sich erinnern, daß vor einer Stunde von einer berühmten Sängerin gesprochen worden. Es wurde ein Hasenbraten verzehrt, ich bemerkte, daß Krespel die Knochen auf seinem Teller vom Fleische sorglich säuberte und genaue Nachfrage nach den Hasenpfoten hielt, die ihm des Professors fünfjähriges Mädchen mit sehr freundlichem Lächeln brachte. Die Kinder hatten überhaupt den Rat schon während des Essens sehr freundlich angeblickt, jetzt standen sie auf und nahten sich ihm, jedoch in scheuer Ehrfurcht und nur auf drei Schritte. Was soll denn das werden, dachte ich im Innern. Das Dessert wurde aufgetragen; da zog der Rat ein Kistchen aus der Tasche, in dem eine kleine stählerne Drehbank lag, die schrob er sofort an den Tisch fest, und nun drechselte er mit unglaublicher Geschicklichkeit und Schnelligkeit aus den Hasenknochen allerlei winzig kleine Döschen und Büchschen und Kügelchen, die die Kinder jubelnd empfingen. Im Moment des Aufstehens von der Tafel fragte des Professors Nichte: ,Was macht denn unsere Antonie, lieber Rat?' —Krespel schnitt ein Gesicht, als wenn jemand in eine bittere Pomeranze beißt und dabei aussehen will, als wenn er Süßes genossen; aber bald verzog sich dies Gesicht zur graulichen Maske, aus der recht bitterer, grimmiger, ja, wie es mir schien, recht teuflischer Hohn herauslachte. ,Unsere? Unsere liebe Antonie?' frug er mit gedehntem, unangenehm singenden Tone. Der Professor kam schnell heran; in dem strafenden Blick, den er der Nichte zuwarf, las ich, daß sie eine Saite berührt hatte, die in Krespels Innerm widrig dissonieren mußte. ,Wie steht es mit den Violinen?' frug der Professor recht lustig, indem er den Rat bei beiden Händen erfaßte. Da heiterte sich Krespels Gesicht auf, und er erwiderte mit seiner starken Stimme: ,Vortrefflich, Professor, erst heute hab ich die treffliche Geige von Amati, von der ich neulich erzählte, welch ein Glücksfall sie mir in die Hände gespielt, erst heute habe ich sie aufgeschnitten. Ich hoffe, Antonie wird das übrige sorgfältig zerlegt haben.' —,Antonie ist ein gutes Kind', sprach der Professor. ,Ja wahrhaftig, das ist sie!' schrie der Rat, indem er sich schnell umwandte und, mit einem Griff Hut und Stock erfassend, schnell zur Türe hinaussprang. Im Spiegel erblickte ich, daß ihm helle Tränen in den Augen standen.

Sobald der Rat fort war, drang ich in den Professor, mir doch nur gleich zu sagen, was es mit den Violinen und vorzüglich mit Antonien für eine Bewandtnis habe. ,Ach', sprach der Professor, ,wie denn der Rat überhaupt ein ganz wunderlicher Mensch ist, so treibt er auch das Violinbauen auf ganz eigene tolle Weise.' —,Violinbauen?' fragte ich ganz erstaunt. ,Ja', fuhr der Professor fort, ,Krespel verfertigt nach dem Urteil der Kenner die herrlichsten Violinen, die man in neuerer Zeit nur finden kann; sonst ließ er manchmal, war ihm eine besonders gelungen, andere darauf spielen, das ist aber seit einiger Zeit ganz vorbei. Hat Krespel eine Violine gemacht, so spielt er selbst eine oder zwei Stunden darauf, und zwar mit höchster Kraft, mit hinreißendem Ausdruck, dann hängt er sie aber zu den übrigen, ohne sie jemals wieder zu berühren oder von andern berühren zu lassen. Ist nur irgendeine Violine von einem alten vorzüglichen Meister aufzutreiben, so kauft sie der Rat um jeddi Preis, den man ihm stellt. Ebenso wie seine Geigen, spielt er sie aber nur ein einziges Mal, dann nimmt er sie auseinander,

um ihre innere Struktur genau zu untersuchen, und wirft, findet er nach seiner Einbildung nicht das, was er gerade suchte, die Stücke unmutig in einen großen Kasten, der schon voll Trümmer zerlegter Violinen ist.' — ,Wie ist es aber mit Antonien?' frug ich schnell und heftig. ,Das ist nun', fuhr der Professor fort, ,das ist nun eine Sache, die den Rat mich könnte in höchstem Grade verabscheuen lassen, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß bei dem im tiefsten Grunde bis zur Weichlichkeit gutmütigen Charakter des Rates es damit eine besondere geheime Bewandtnis haben müsse. Als vor mehreren Jahren der Rat hieher nach H—kam, lebte er anachoretisch mit einer alten Haushälterin in einem finstern Hause auf der -straße. Bald erregte er durch seine Sonderbarkeiten die Neugierde der Nachbarn, und sogleich, als er dies merkte, suchte und fand er Bekanntschaften. Eben wie in meinem Hause gewöhnte man sich überall so an ihn, daß er unentbehrlich wurde. Seines rauhen Äußeren unerachtet, liebten ihn sogar die Kinder, ohne ihn zu belästigen, denn trotz aller Freundlichkeit behielten sie eine gewisse scheue Ehrfurcht. die ihn vor allem Zudringlichen schützte. Wie er die Kinder durch allerlei Künste zu gewinnen weiß, haben Sie heute gesehen. Wir hielten ihn alle für einen Hagestolz, und er widersprach dem nicht. Nachdem er sich einige Zeit hier aufgehalten, reiste er ab, niemand wußte wohin, und kam nach einigen Monaten wieder. Den andern Abend nach seiner Rückkehr waren Krespels Fenster ungewöhnlich erleuchtet, schon dies machte die Nachbarn aufmerksam, bald vernahm man aber die ganz wunderherrliche Stimme eines Frauenzimmers, von einem Pianoforte begleitet. Dann wachten die Töne einer Violine auf und stritten in regem feurigen Kampfe mit der Stimme. Man hörte gleich, daß es der Rat war, der spielte. — Ich selbst mischte mich unter die zahlreiche Menge, die das wundervolle Konzert vor dem Hause des Rates versammelt hatte, und ich muß Ihnen gestehen, daß gegen die Stimme, gegen den ganz eigenen, tief in das Innerste dringenden Vortrag der Unbekannten mir der Gesang der berühmtesten Sängerinnen, die ich gehört, matt und ausdruckslos schien. Nie hatte ich eine Ahnung von diesen lang ausgehaltenen Tönen, von diesen Nachtigallwirbeln, von diesem Auf- und Abwogen, von diesem Steigen bis zur Stärke des Orgellautes, von diesem Sinken bis zum leisesten Hauch. Nicht einer war, den der süßeste Zauber nicht umfing, und nur leise Seufzer gingen in der tiefen Stille auf, wenn die Sängerin schwieg. Es mochte schon Mitternacht sein, als man den Rat sehr heftig reden hörte, eine andere männliche Stimme schien, nach dem Tone zu urteilen, ihm Vorwürfe zu machen, dazwischen klagte ein Mädchen in abgebrochenen Reden. Heftiger und heftiger schrie der Rat, bis er endlich in jenen gedehnten singenden Ton fiel, den Sie kennen. Ein lauter Schrei des Mädchens unterbrach ihn, dann wurde es totenstille, bis plötzlich es die Treppe herabpolterte und ein junger Mensch schluchzend hinausstürzte, der sich in eine nahe stehende Postchaise warf und rasch davonfuhr. Tags darauf erschien der Rat sehr heiter, und niemand hatte den Mut, ihn nach der Begebenheit der vorigen Nacht zu fragen. Die Haushälterin sagte aber auf Befragen, daß der Rat ein bildhübsches, blutjunges Mädchen mitgebracht, die er Antonie nenne und die eben so schön gesungen. Auch sei ein junger Mann mitgekommen, der sehr zärtlich mit Antonien getan und wohl ihr Bräutigam sein müsse. Der habe aber, weil es der Rat durchaus gewollt, schnell abreisen müssen. — In welchem Verhältnis Antonie mit dem Rat stehet, ist bis jetzt ein Geheimnis, aber soviel ist gewiß, daß er das arme Mädchen auf die gehässigste Weise tyrannisiert. Er bewacht sie wie der Doktor Bartolo im ,Barbier von Sevilien' seine Mündel; kaum darf sie sich am Fenster blicken lassen. Führt er sie auf inständiges Bitten einmal in Gesellschaft, so verfolgt er sie mit Argusblicken und leidet durchaus nicht, daß sich irgendein musikalischer Ton hören lasse, viel weniger daß Antonie singe, die übrigens auch in seinem Hause nicht mehr singen darf. Antoniens Gesang in jener Nacht ist daher unter dem Publikum der Stadt zu einer Phantasie und Gemüt aufregenden Sage von einem herrlichen Wunder geworden, und selbst die, welche sie gar nicht hörten, sprechen oft, versucht sich eine Sängerin hier am Orte: ,Was ist denn das für ein gemeines Quinkelieren? —Nur Antonie vermag zu singen.'

Ihr wißt, daß ich auf solche phantastische Dinge ganz versessen bin, und könnt wohl denken, wie notwendig ich es fand, Antoniens Bekanntschaft zu machen. Jene Äußerungen des Publikums über Antoniens Gesang hatte ich selbst schon öfters vernommen, aber ich ahnte nicht, daß die Herrliche am Orte sei und in den Banden des wahnsinnigen Krespels wie eines tyrannischen Zauberers liege. Natürlicherweise hörte ich auch sogleich in der folgenden Nacht Antoniens wunderbaren Gesang, und da sie mich in einem herrlichen Adagio (lächerlicherweise kam es mir vor, als hätte ich es selbst komponiert) auf das rührendste beschwor, sie zu retten, so war ich bald entschlossen, ein zweiter Astolfo, in Krespels Haus wie in Alzinens Zauberburg einzudringen und die Königin des Gesanges aus schmachvollen Banden zu befreien.

Es kam alles anders, wie ich es mir gedacht hatte; denn kaum hatte ich den Rat zwei- bis dreimal gesehen und mit ihm eifrig über die beste Struktur der Geigen gesprochen, als er mich selbst einlud, ihn in seinem Hause zu besuchen. Ich tat es, und er zeigte mir den Reichtum seiner Violinen. Es hingen deren wohl dreißig in einem Kabinett, unter ihnen zeichnete sich eine durch alle Spuren der hohen Altertümlichkeit (geschnitzten Löwenkopf und so weiter) aus, und sie schien, höher gehängt und mit einer darüber angebrachten Blumenkrone, als Königin den andern zu gebieten. ,Diese Violine', sprach Krespel, nachdem ich ihn darum befragt, ,diese Violine ist ein sehr merkwürdiges, wunderbares Stück eines unbekannten Meisters, wahrscheinlich aus Tartinis Zeiten. Ganz überzeugt bin ich, daß in der innern Struktur etwas Besonderes liegt und daß, wenn ich sie zerlegte, sich mir ein Geheimnis erschließen würde, dem ich längst nachspürte,

aber - lachen Sie mich nur aus, wenn Sie wollen - dies tote Ding, dem ich selbst doch nur erst Leben und Laut gebe, spricht oft aus sich selbst zu mir auf wunderliche Weise, und es war mir, da ich zum ersten Male darauf spielte, als wär ich nur der Magnetiseur, der die Somnambule zu erregen vermag, daß sie selbsttätig ihre innere Anschauung in Worten verkündet. — Glauben Sie ja nicht, daß ich geckhaft genug bin, von solchen Phantastereien auch nur das mindeste zu halten, aber eigen ist es doch, daß ich es nie über mich erhielt, jenes dumme tote Ding dort aufzuschneiden. Lieb ist es mir jetzt, daß ich es nicht getan, denn seitdem Antonie hier ist, spiele ich ihr zuweilen etwas auf dieser Geige vor. — Antonie hört es gern - gar gern.' Die Worte sprach der Rat mit sichtlicher Rührung, das ermutigte mich zu den Worten: ,0 mein bester Herr Rat, wollten Sie das nicht in meiner Gegenwart tun?' Krespel schnitt aber sein süßsaures Gesicht und sprach mit gedehntem singenden Ton: ,Nein, mein bester Herr Studiosus!' Damit war die Sache abgetan. Nun mußte ich noch mit ihm allerlei, zum Teil kindische Raritäten besehen; endlich griff er in ein Kistchen und holte ein zusammengelegtes Papier heraus, das er mir in die Hand drückte, sehr feierlich sprechend: ,Sie sind ein Freund der Kunst, nehmen Sie dies Geschenk als ein teures Andenken, das Ihnen ewig über alles wert bleiben muß.' Dabei schob er mich bei beiden Schultern sehr sanft nach der Tür zu und umarmte mich ander Schwelle. Eigentlich wurde ich doch von ihm auf symbolische Weise zur Tür hinausgeworfen. Als ich das Papierchen aufmachte, fand ich ein ungefähr ein Achtelzoll langes Stückchen einer Quinte und dabei geschrieben: ,Von der Quinte, womit der selige Stamitz seine Geige bezogen hatte, als er sein letztes Konzert. spielte.' — Die schnöde Abfertigung, als ich Antoniens erwähnte, schien mir zu beweisen, daß ich sie wohl nie zu sehen bekommen würde; dem war aber nicht so, denn als ich den Rat zum zweiten Male besuchte, fand ich Antonien in seinem Zimmer, ihm helfend bei dem Zusammensetzen einer Geige. Antoniens Äußeres machte auf den ersten Anblick keinen starken Eindruck, aber bald konnte man nicht loskommen von dem blauen Auge und den holden Rosenlippen der ungemein zarten lieblichen Gestalt. Sie war sehr blaß, aber wurde etwas Geistreiches und Heiteres gesagt, so flog in süßem Lächeln ein feuriges Inkarnat über die Wangen hin, das jedoch bald im rötlichen Schimmer erblaßte. Ganz unbefangen sprach ich mit Antonien und bemerkte durchaus nichts von den Argusblicken Krespels, wie sie der Professor ihm angedichtet hatte, vielmehr blieb er ganz in gewöhnlichem Geleise, ja, er schien sogar meiner Unterhaltung mit Antonien Beifall zu geben. So geschah es, daß ich öfter den Rat besuchte und wechselseitiges Aneinandergewöhnen dem kleinen Kreise von uns dreien eine wunderbare Wohlbehaglichkeit gab, die uns bis ins Innerste hinein erfreute. Der Rat blieb mit seinen höchst seltsamen Skurrilitäten mir sehr ergötzlich; aber doch war es wohl nur Antonie, die mit unwiderstehlichem Zauber mich hinzog und mich manches ertragen ließ, dem ich sonst, ungeduldig, wie ich damals war, entronnen. In das -Eigentümliche; Rates mischte sich nämlich gar zu oft Abgeschmacktes und Langweiliges, vorzüglich zuwider war es mir aber, daß er, sobald ich das Gespräch auf Musik, insbesondere auf Gesang lenkte, mit seinem diabolisch lächelnden Gesicht und seinem widrig singenden Tone einfiel, etwas ganz Heterogenes, mehrenteils Gemeines, auf die Bahn bringend. An der tiefen Betrübnis, die dann aus Antoniens Blicken sprach, merkte ich wohl, daß es nur geschah, um irgendeine Aufforderung zum Gesange mir abzuschneiden. Ich ließ nicht nach. Mit den Hindernissen, die mir der Rat entgegenstellte, wuchs mein Mut, sie zu übersteigen, ich mußte Antoniens Gesang hören, um nicht in Träumen und Ahnungen dieses Gesanges zu verschwimmen. Eines Abends war Krespel bei besonders guter Laune; er hatte eine alte Cremoneser Geige zerlegt und gefunden, daß der Stimmstock um eine halbe Linie schräger als sonst gestellt war. Wichtige, die Praxis bereichernde Erfahrung! — Es gelang mir, ihn über die wahre Art des Violinenspielens in Feuer zu setzen. Der großen wahrhaftigen Sängern abgehorchte Vortrag der alten Meister, von dem Krespel sprach, führte von selbst die Bemerkung herbei, daß jetzt gerade umgekehrt der Gesang sich nachden erkünstelten Sprüngen und Läufen der Instrumentalisten verbilde. ,Was ist unsinniger', rief ich, vom Stuhle aufspringend, hin zum Pianoforte laufend und es schnell öffnend. ,was ist unsinniger als solche vertrackte Manieren, welche, statt Musik zu sein, dem Tone über den Boden hingeschütteter Erbsen gleichen.' Ich sang manche der modernen Fermaten, die hin und her laufen und schnurren wie ein tüchtig losgeschnürter Kreisel, einzelne schlechte Akkorde dazu anschlagend. Übermäßig lachte Krespel und schrie: ,Haha! mich dünkt, ich höre unsere deutschen Italiener oder unsere italienischen Deutschen, wie sie sich in einer Arie von Pucitta oder Portogallo oder sonst einem Maestro di capella oder vielmehr Schiavo d'un primo uomo übernehmen.' — Nun, dachte ich, ist der Zeitpunkt da. ,Nicht wahr', wandte ich mich zu Antonien, ,nicht wahr, von dieser Singerei weiß Antonie nichts?', und zugleich intonierte ich ein herrliches seelenvolles Lied vom alten Leonardo Leo. Da glühten Antoniens Wangen, Himmelsglanz blitzte aus den neubeseelten Augen, sie sprang an das Pianoforte - sie öffnete die Lippen. — Aber in demselben Augenblick drängte sie Krespel fort, ergriff mich bei den Schultern und schrie im kreischenden Tenor: ,Söhnchen —Söhnchen - Söhnchen.' — Und gleich fuhr er fort, sehr leise singend und in höflich gebeugter Stellung meine Hand ergreifend: ,In der Tat, mein höchst verehrungswürdiger Herr Studiosus, in der Tat, gegen alle Lebensart, gegen alle guten Sitten würde es anstoßen, wenn ich laut und lebhaft den Wunsch äußerte, daß Ihnen hier auf der Stelle gleich der höllische Satan mit glühenden Krallenfäusten sanft das Genick abstieße und Sie auf die Weise gewissermaßen kurz expedierte; aber davon abgesehen, müssen Sie eingestehen, Liebwertester! daß es bedeutend dunkelt, und da heute keine Laterne brennt, könnten Sie, würfe ich Sie auch gerade nicht die Treppe herab, doch Schaden leiden an Ihren lieben Gebeinen. Gehen Sie fein zu Hause und erinnern Sie sich freundschaftlichst Ihres wahren Freundes, wenn Sie ihn etwa nie mehr - verstehen Sie wohl? — nie mehr zu Hause antreffen sollten!' — Damit umarmte er mich und drehte sich, mich festhaltend, langsam mit mir zur Türe heraus, so daß ich Antonien mit keinem Blick mehr anschauen konnte. — Ihr gesteht, daß es in meiner Lage nicht möglich war, den Rat zu prügeln, welches doch eigentlich hätte geschehen müssen. Der Professor lachte mich sehr aus und versicherte, daß ich es nun mit dem Rat auf immer verdorben hätte. Den schmachtenden, ans Fenster heraufblickenden Amoroso, den verliebten Abenteurer zu machen, dazu war Antonie mir zu wert, ich möchte sagen, zu heilig. Im Innersten zerrissen, verließ ich H—, aber wie es zu gehen pflegt, die grellen Farben des Phantasiegebildes verblaßten, und Antonie - ja selbst Antoniens Gesang, den ich nie gehört, leuchtete oft in mein tiefstes Gemüt hinein wie ein sanfter tröstender Rosenschimmer.

Nach zwei Jahren war ich schon in B** angestellt, als ich eine Reise nach dem südlichen Deutschland unternahm. Im duftigen Abendrot erhoben sich die Türme von H—; sowie ich näher und näher kam, ergriff mich ein unbeschreibliches Gefühl der peinlichsten Angst; wie eine schwere Last hatte es sich über meine Brust gelegt, ich konnte nicht atmen; ich mußte heraus aus dem Wagen ins Freie. Aber bis zum physischen Schmerz steigerte sich meine Beklemmung. Mir war es bald, als hörte ich die Akkorde eines feierlichen Chorals durch die Lüfle schweben - die Töne wurden deutlicher, ich unterschied Männerstimmen, die einen geistlichen Choral absangen. — ,Was ist das? — was ist das?' rief ich, indem es wie ein glühender Dolch durch meine Brust fuhr! — ,Sehen Sie denn nicht', erwiderte der neben mir fahrende Postillion, ,sehen Sie es denn nicht? da drüben auf dem Kirchhof begraben sie einen!' In der Tat befanden wir uns in der Nähe

des Kirchhofes, und ich sah einen Kreis schwarzgekleideter Menschen um ein Grab stehen, das man zuzuschütten im Begriff stand. Die Tränen stürzten mir aus den Augen, es war, als begrübe man dort alle Lust, alle Freude des Lebens. Rasch vorwärts von dem Hügel herabgeschritten, konnte ich nicht mehr in den Kirchhof hineinsehen, der Choral schwieg, und ich bemerkte unfern des Tores schwarzgekleidete Menschen, die von dem Begräbnis zurückkamen. Der Professor mit seiner Nichte am Arm, beide in tiefer Trauer, schritten dicht bei mir vorüber, ohne mich zu bemerken. Die Nichte hatte das Tuch vor die Augen gedrückt und schluchzte heftig. Es war mir unmöglich, in die Stadt hineinzugehen, ich schickte meinen Bedienten mit dem Wagen nach dem gewohnten Gasthofe und lief in die mir wohlbekannte Gegend heraus, um so eine Stimmung loszuwerden, die vielleicht nur physische Ursachen, Erhitzung auf der Reise und so weiter, haben konnte. Als ich in die Allee kam, welche nach einem Lustorte führt, ging vor mir das sonderbarste Schauspiel auf. Rat Krespel wurde von zwei Trauermännern geführt, denen er durch allerlei seltsame Sprünge entrinnen zu wollen schien. Er war, wie gewöhnlich, in seinem wunderlichen grauen, selbst zugeschnittenen Rock gekleidet, nur hing von dem kleinen dreieckigen Hütchen, das er martialisch auf ein Ohr gedrückt, ein sehr langer schmaler Trauerflor herab, der inder Luft hin und her flatterte. Um den Leib hatte er ein schwarzes Degengehenk geschnallt, doch statt des Degens einen langen Violinbogen hineingesteckt. Eiskalt fuhr es mir durch die Glieder; der ist wahnsinnig, dacht ich, indem ich langsam folgte. Die Männer führten den Rat bis an sein Haus. da umarmte er sie mit lautem Lachen. Sie verließen ihn, und nun fiel sein Blick auf mich, der dicht neben ihm stand. Er sah mich lange starr an, dann rief er dumpf: ,Willkommen, Herr Studiosus! — Sie verstehen es ja auch' — damit packte er mich beim Arm und riß mich fort in das Haus — die Treppe herauf in das Zimmer hinein, wo die Violinen hingen. Alle waren mit schwarzem Flor umhüllt; die Violine des alten Meisters fehlte, an ihrem Platze hing ein Zypressenkranz. — Ich wußte, was geschehen. —,Antonie! ach, Antonie!' schrie ich auf in trostlosem Jammer. Der Rat stand wie erstarrt mit übereinandergeschlagenen Armen neben mir. Ich zeigte nach dem Zypressenkranz. ,Als sie starb', sprach der Rat sehr dumpf und feierlich, ,als sie starb, zerbrach mit dröhnendem Krachen der Stimmstock in jener Geige, und der Resonanzboden riß sich auseinander. Die Getreue konnte nur mit ihr, in ihr leben; sie liegt bei ihr im Sarge, sie ist mit ihr begraben worden.' — Tief erschüttert sank ich in einen Stuhl, aber der Rat fing an, mit rauhem Ton ein lustig Lied zu singen, und es war recht graulich anzusehen, wie er auf einem Fuße dazu herumsprang und der Flor (er hatte den Hut auf dem Kopfe) im Zimmer und an den aufgehängten Violinen herumstrich; ja, ich konnte mich eines überlauten Schreies nicht erwehren, als der Flor bei einer raschen Wendung des Rates über mich her fuhr; es war mir, als wollte er mich verhüllt herabziehen in den schwarzen entsetzlichen Abgrund des Wahnsinns. Da stand der Rat plötzlich stille und sprach in seinem singenden Ton: ,Söhnchen? —Söhnchen? — warum schreist du so; hast du den Totenengel geschaut? — das geht allemal der Zeremonie vorher!' — Nun trat er in die Mitte des Zimmers, riß den Violinbogen aus dem Gehenke, hielt ihn mit beiden Händen über den Kopf und zerbrach ihn, daß er in viele Stücke zersplitterte. Laut lachend rief Krespel: ,Nun ist der Stab über mich gebrochen, meinst du, Söhnchen? nicht wahr? Mitnichten, mitnichten, nun bin ich frei - frei - frei —heisa, frei! — Nun bau ich keine Geigen mehr - keine Geigen mehr - heisa, keine Geigen mehr.' — Das sang der Rat nach einer schauerlich lustigen Melodie, indem er wieder auf einem Fuße herumsprang. Voll Grauen wollte ich schnell zur Türe heraus, aber der Rat hielt mich fest, indem er sehr gelassen sprach: ,Bleiben Sie, Herr Studiosus, halten Sie diese Ausbrüche des Schmerzes, der mich mit Todesmartern zerreißt, nicht für Wahnsinn, aber es geschieht nur alles deshalb, weil ich mir vor einiger Zeit einen Schlafrock anfertigte, in dem ich aussehen wollte wie das Schicksal oder wie Gott!' — Der Rat schwatzte tolles grauliches Zeug durcheinander, bis er ganz erschöpft zusammensank; auf mein Rufen kam die alte Haushälterin herbei, und ich war froh, als ich mich nur wieder im Freien befand. — Nicht einen Augenblick zweifelte ich daran, daß Krespel wahnsinnig geworden, der Professor behauptete jedoch das Gegenteil. ,Es gibt Menschen', sprach er, ,denen die Natur oder ein besonderes Verhängnis die Decke wegzog, unter der wir andern unser tolles Wesen unbemerkter treiben. Sie gleichen dünngehäuteten Insekten, die im regen sichtbaren Muskelspiel mißgestaltet erscheinen, ungeachtet sich alles bald wieder in die gehörige Form fügt. Was bei uns Gedanke bleibt, wird dem Krespel alles zur Tat. — Den bittern Hohn, wie der in das irdische Tun und Treiben eingeschachtete Geist ihn wohl oft beider Hand hat, führt Krespel aus in tollen Gebärden und geschickten Hasensprüngen. Das ist aber sein Blitzableiter. Was aus der Erde steigt, gibt er wieder der Erde, aber das Göttliche weiß er zu bewahren: und so steht es mit seinem innern Bewußtsein recht gut, glaub ich, unerachtet der scheinbaren, nach außen herausspringenden Tollheit. Antoniens plötzlicher Tod mag freilich schwer auf ihn lasten, aber ich wette, daß der Rat schon morgenden Tages seinen Eselstritt im gewöhnlichen Geleise weiter forttrabt.' — Beinahe geschah es so, wie der Professor es vorausgesagt. Der Rat schien andern Tages ganz der vorige, nur erklärte er, daß er niemals mehr Violinen bauen und auch auf keiner jemals mehr spielen wolle. Das hat er, wie ich später erfuhr, gehalten.

Des Professors Andeutungen bestärkten meine innere Überzeugung, daß das nähere, so sorgfältig verschwiegene Verhältnis Antoniens zum Rat, ja daß selbst ihr Tod eine schwer auf ihn lastende, nicht abzubüßende Schuld sein könne. Nicht wollte ich H—verlassen, ohne ihm das Verbrechen. welches ich ahnete, vorzuhalten; ich wollte ihn bis ins Innerste hinein erschüttern und so das offene Geständnis der

gräßlichen Tat erzwingen. Je mehr ich der Sache nachdachte, desto klarer wurde es mir, daß Krespel ein Bösewicht sein müsse, und desto feuriger, eindringlicher wurde die Rede, die sich wie von selbst zu einem wahren rhetorischen Meisterstück formte. So gerüstet und ganz erhitzt, lief ich zu dem Rat. Ich fand ihn, wie er mit sehr ruhiger lächelnder Miene Spielsachen drechselte. ,Wie kann nur', fuhr ich auf ihn los, ,wie kann nur auf einen Augenblick Frieden in Ihre Seele kommen, da der Gedanke an die gräßliche Tat Sie mit Schlangenbissen peinigen muß?' —Der Rat sah mich verwundert an, den Meißel beiseite legend. ,Wieso, mein Bester?' fragte er - ,setzen Sie sich doch gefälligst auf jenen Stuhl.!' — Aber eifrig fuhr ich fort, indem ich, mich selbst immer mehr erhitzend, ihn geradezu anklagte, Antonien ermordet zu haben, und ihm mit der Rache der ewigen Macht drohte. Ja, als nicht längst eingeweihte Justizperson, erfüllt von meinem Beruf, ging ich so weit, ihn zu versichern, daß ich alles anwenden würde, der Sache auf die Spur zu kommen und so ihn dem weltlichen Richter schon hienieden in die Hände zu liefern. — Ich wurde in der Tat etwas verlegen, da nach dem Schlusse meiner gewaltigen pomphaften Rede der Rat, ohne ein Wort zu erwidern, mich sehr ruhig anblickte, als erwarte er, ich müsse noch weiter fortfahren. Das versuchte ich auch in der Tat, aber es kam nun alles so schief, ja so albern heraus, daß ich gleich wieder schwieg. Krespel weidete sich an meiner Verlegenheit, ein boshaftes ironisches Lächeln flog über sein Gesicht. Dann wurde er aber sehr ernst und sprach mit feierlichem Tone: ,Junger Mensch! du magst mich für närrisch, für wahnsinnig halten, das verzeihe ich dir, da wir beide in demselben Irrenhause eingesperrt sind und du mich darüber, daß ich Gott der Vater zu sein wähne, nur deshalb schiltst, weil du dich für Gott den Sohn hältst; wie magst du dich aber unterfangen, in ein Leben eindringen zu wollen, seine geheimsten Fäden erfassend, das dir fremd blieb und bleiben mußte? — Sie ist dahin und das Geheimnis gelöst!' — Krespel hielt inne, stand auf und schritt die Stube einige Male auf und ab. Ich wagte die Bitte um Aufklärung; er sah mich starr an, faßte mich bei der Hand und führte mich an das Fenster, beide Flügel öffnend. Mit aufgestützten Armen legte er sich hinaus, und so in den Garten herabblickend, erzählte er mir die Geschichte seines Lebens. — Als er geendet, verließ ich ihn gerührt und beschämt.

Mit Antonien verhielt es sich kürzlich in folgender Art. — Vor zwanzig Jahren trieb die bis zur Leidenschaft gesteigerte Liebhaberei, die besten Geigen alter Meister aufzusuchen und zu kaufen, den Rat nach Italien. Selbst baute er damals noch keine und unterließ daher auch das Zerlegen jener alten Geigen. In Venedig hörte er die berühmte Sängerin Angela -i, welche damals auf dem Teatro di S. Benedetto in den ersten Rollen glänzte. Sein Enthusiasmus galt nicht der Kunst allein, die Signora Angela freilich auf die herrlichste Weise übte, sondern auch wohl ihrer Engelsschönheit. Der Rat suchte Angelas Bekanntschaft, und trotz aller seiner Schroffheit gelang es ihm, vorzüglich durch sein keckes und dabei höchst ausdrucksvolles Violinspiel, sie ganz für sich zu gewinnen. -Das engste Verhältnis führte in wenigen Wochen zur Heirat, die deshalb verborgen blieb, weil Angela sich weder vom Theater noch von dem Namen, der die berühmte Sängerin bezeichnete, trennen oder ihm auch nur das übeltönende ,Krespel' hinzufügen wollte. — Mit der tollsten Ironie beschrieb Krespel die ganz eigene Art, wie Signora Angela, sobald sie seine Frau worden, ihn marterte und quälte. Aller Eigensinn, alles launische Wesen sämtlicher erster Sängerinnen sei, wie Krespel meinte, in Angelas kleine Figur hineingebannt worden. Wollte er sich einmal in Positur setzen, so schickte ihm Angela ein ganzes Heer von Abbates, Maestros, Akademicos über den Hals, die, unbekannt mit seinem eigentlichen Verhältnis, ihn als den unerträglichsten, unhöflichsten Liebhaber, der sich in die liebenswürdige Laune der Signora nicht zu schicken wisse. ausfilzten. Gerade nach einem solchen stürmischen

Auftritt war Krespel auf Angelas Landhaus geflohen und vergaß, auf seiner Cremoneser Geige fantasierend, die Leiden des Tages. Doch nicht lange dauerte es, als Signora, die dem Rat schnell nachgefahren, in den Saal trat. Sie war gerade in der Laune, die Zärtliche zu spielen, sie umarmte den Rat mit süßen schmachtenden Blicken, sie legte das Köpfchen auf seine Schulter. Aber der Rat, in die Welt seiner Akkorde verstiegen, geigte fort, daß die Wände widerhallten, und es begab sich, daß er mit Arm und Bogen die Signora etwas unsanft berührte. Die sprang aber voller Furie zurück; ,bestia tedesca', schrie sie auf, riß dem Rat die Geige aus der Hand und zerschlug sie an dem Marmortisch in tausend Stücke. Der Rat blieb, erstarrt zur Bildsäule, vor ihr stehen, dann aber, wie aus dem Traume erwacht, faßte er Signora mit Riesenstärke, warf sie durch das Fenster ihres eigenen Lusthauses und floh, ohne sich weiter um etwas zu bekümmern, nach Venedig - nach Deutschland zurück. Erst nach einiger Zeit wurde es ihm recht deutlich, was er getan; obschon er wußte, daß die Höhe des Fensters vom Boden kaum fünf Fuß betrug, und ihm die Notwendigkeit, Signora bei obbewandten Umständen durchs Fenster zu werfen, ganz einleuchtete, so fühlte er sich doch von peinlicher Unruhe gequält, um so mehr, da Signora ihm nicht undeutlich zu verstehen gegeben, daß sie guter Hoffnung sei. Er wagte kaum Erkundigungen einzuziehen, und nicht wenig überraschte es ihn, als er nach ungefähr acht Monaten einen gar zärtlichen Brief von der geliebten Gattin erhielt, worin sie jenes Vorganges im Landhause mit keiner Silbe erwähnte und der Nachricht, daß sie von einem herzallerliebsten Töchterchen entbunden, die herzlichste Bitte hinzufügte, daß der Marito amato e padre felicissimo doch nur gleich nach Venedig kommen möge. Das tat Krespel nicht, erkundigte sich vielmehr bei einem vertrauten Freunde nach den näheren Umständen und erfuhr, daß Signora damals, leicht wie ein Vogel, in das weiche Gras herabgesunken sei und der Fall oder Sturz durchaus keine andere als psychische Folgen gehabt habe. Signora sei nämlich nach Krespels heroischer Tat wie umgewandelt; von Launen, närrischen Einfällen, von irgendeiner Quälerei ließe sie durchaus nichts mehr verspüren, und der Maestro, der für das nächste Karneval komponiert, sei der glücklichste Mensch unter der Sonne, weil Signora seine Arien ohne hunderttausend Abänderungen, die er sich sonst gefallen lassen müssen, singen wolle. Übrigens habe man alle Ursache, meinte der Freund, es sorgfältig zu verschweigen, wie Angela kuriert worden, da sonst jedes Tages Sängerinnen durch die Fenster fliegen würden. Der Rat geriet nicht in geringe Bewegung, er bestellte Pferde, er setzte sich in den Wagen. ,Halt!' rief er plötzlich. — ,Wie', murmelte er dann in sich hinein, ,ist's denn nicht ausgemacht, daß, sobald ich mich blicken lasse, der böse Geist wieder Kraft und Macht erhält über Angela? — Da ich sie schon zum Fenster herausgeworfen, was soll ich nun in gleichem Falle tun? was ist mir noch übrig?' — Er stieg wieder aus dem Wagen, schrieb einen zärtlichen Brief an seine genesene Frau, worin er höflich berührte, wie zart es von ihr sei, ausdrücklich es zu rühmen, daß das Töchterchen gleich ihm ein kleines Mal hinter dem Ohre trage, und - blieb in Deutschland. Der Briefwechsel dauerte sehr lebhaft fort. — Versicherungen der Liebe - Einladungen - Klagen über die Abwesenheit der Geliebten - verfehlte Wünsche - Hoffnungen und so weiter flogen hin und her von Venedig nach H—, von H— nach Venedig. —Angela kam endlich nach Deutschland und glänzte, wie bekannt, als Primadonna auf dem großen Theater in F**. Ungeachtet sie gar nicht mehr jung war, riß sie doch alles hin mit dem unwiderstehlichen Zauber ihres wunderbar herrlichen Gesanges. Ihre Stimme hatte damals nicht im mindesten verloren. Antonie war indessen herangewachsen, und die Mutter konnte nicht genug dem Vater schreiben, wie in Antonien eine Sängerin vom ersten Range aufblühe. In der Tat bestätigten dies die Freunde Krespels in F**, die ihm zusetzten, doch nur einmal nach F** zu kommen, um die seltne Erscheinung zwei ganz sublimer Sängerinnen zu bewundern. Sie ahneten nicht, in welchem nahen Verhältnis der Rat mit diesem Paare stand. Krespel hätte gar zu gern die Tochter, die recht in seinem Innersten lebte und die ihm öfters als Traumbild erschien, mit leiblichen Augen gesehen, aber sowie er an seine Frau dachte, wurde es ihm ganz unheimlich zumute, und er blieb zu Hause unter seinen zerschnittenen Geigen sitzen.

Ihr werdet von dem hoffnungsvollen jungen Komponisten B... in F** gehört haben, der plötzlich verscholl, man wußte nicht wie - oder kanntet ihr ihn vielleicht selbst? Dieser verliebte sich in Antonien so sehr, daß er. da Antonie seine Liebe recht herzlich erwiderte, die Mutter anlag, doch nur gleich in eine Verbindung zu willigen, die die Kunst heilige. Angela hatte nichts dagegen, und der Rat stimmte um so lieber bei, als des jungen Meisters Kompositionen Gnade gefunden vor seinem strengen Richterstuhl. Krespel glaubte Nachricht von der vollzogenen Heirat zu erhalten, statt derselben kam ein schwarz gesiegelter Brief, von fremder Hand überschrieben. Der Doktor R... meldete dem Rat, daß Angela an den Folgen--einer Erkältung im Theater heftig erkrankt und gerade in der Nacht, als am andern Tage Antonie getraut werden sollen, gestorben sei. Ihm, dem Doktor, habe Angela entdeckt, daß sie Krespels Frau und Antonie seine Tochter sei; er möge daher eilen, sich der Verlassenen anzunehmen. Sosehr auch der Rat von Angelas Hinscheiden erschüttert wurde, war es ihm doch bald, als sei ein störendes unheimliches Prinzip aus seinem Leben gewichen und er könne nun erst recht frei atmen. Noch denselben Tag reiste er ab nach F**. — Ihr könnt nicht glauben, wie herzzerreißend mir der Rat den Moment schilderte, als er Antonien sah. Selbst in der Bizarrerie seines Ausdrucks lag eine wunderbare Macht der Darstellung, die auch nur anzudeuten ich gar nicht imstande bin. — Alle Liebenswürdigkeit, alle Anmut Angelas wurde Antonien zuteil, der aber die häßliche Kehrseite ganz fehlte. Es gab kein zweideutig Pferdefüßchen. das hin und wieder hervorgucken

konnte. Der junge Bräutigam fand sich ein, Antonie, mit zartem Sinn den wunderlichen Vater im tiefsten Innern richtig auffassend, sang eine jener Motetten des alten Padre Martini, von denen sie wußte, daß Angela sie dem Rat in der höchsten Blüte ihrer Liebeszeit unaufhörlich vorsingen müssen. Der Rat vergoß Ströme von Tränen, nie hatte er selbst Angela so singen hören. Der Klang von Antoniens Stimme war ganz eigentümlich und seltsam, oft dem Hauch der Äolsharfe, oft dem Schmettern der Nachtigall gleichend. Die Töne schienen nicht Raum haben zu können in der menschlichen Brust. Antonie, vor Freude und Liebe glühend, sang und sang alle ihre schönsten Lieder, und B spielte dazwischen, wie es nur die wonnetrunkene Begeisterung vermag. Krespel schwamm erst in Entzücken, dann wurde er nachdenklich - still - in sich gekehrt. Endlich sprang er auf, drückte Antonien an seine Brust und bat sehr leise und dumpf: ,Nicht mehr singen, wenn du mich liebst - es drückt mir das Herz ab - die Angst - die Angst - nicht mehr singen.'

,Nein', sprach der Rat andern Tages zum Doktor R..., ,als während des Gesanges ihre Röte sich zusammenzog in zwei dunkelrote Flecke auf den blassen Wangen, da war es nicht mehr dumme Familienähnlichkeit, da war es das, was ich gefürchtet.' — Der Doktor, dessen Miene vom Anfang des Gesprächs von tiefer Bekümmernis zeigte, erwiderte: ,Mag es sein, daß es von zu früher Anstrengung im Singen herrührt, oder hat die Natur es verschuldet, genug, Antonie leidet an einem organischen Fehler in der Brust, der eben ihrer Stimme die wundervolle Kraft und den seltsamen, ich möchte sagen, über die Sphäre des menschlichen Gesanges hinaustönenden Klang gibt. Aber auch ihr früher Tod ist die Folge davon, denn singt sie fort, so gebe ich ihr noch höchstens sechs Monate Zeit.' Den Rat zerschnitt es im Innern wie mit hundert Schwertern. Es war ihm, als hinge zum ersten Male ein schöner Baum die wunderherrlichen Blüten in sein Leben hinein, widder solle recht an der Wurzel zersägt

werden, damit er nie mehr zu grünen und zu blühen vermöge. Sein Entschluß war gefaßt. Er sagte Antonien alles, er stellte ihr die Wahl, ob sie dem Bräutigam folgen und seiner und der Welt Verlockung nachgeben, so aber früh untergehen, oder ob sie dem Vater noch in seinen alten Tagen nie gefühlte Ruhe und Freude bereiten, so aber noch jahrelang leben wolle. Antonie fiel dem Vater schluchzend in die Arme, er wollte, das Zerreißende der kommenden Momente wohl fühlend, nichts Deutlicheres vernehmen. Er sprach mit dem Bräutigam, aber unerachtet dieser versicherte, daß nie ein Ton über Antoniens Lippen gehen solle, so wußte der Rat doch wohl, daß selbst B... nicht der Versuchung würde widerstehen können, Antonien singen zu hören, wenigstens von ihm selbst komponierte Arien. Auch die Welt, das musikalische Publikum, mocht es auch unterrichtet sein von Antoniens Leiden, gab gewiß die Ansprüche nicht auf, denn dies Volk ist ja, kommt es auf Genuß an, egoistisch und grausam. Der Rat verschwand mit Antonien aus F** und kam nach H—. Verzweiflungsvoll vernahm B... die Abreise. Er verfolgte die Spur, holte den Rat ein und kam zugleich mit ihm nach H—. '—,Nur einmal ihn sehen und dann sterben', fichte Antonie. ,Sterben? — sterben?' rief der Rat in wildem Zorn, eiskalter Schauer durchbebte sein Inneres. — Die Tochter, das einzige Wesen auf der weiten Welt, das nie gekannte Lust in ihm entzündet, das allein ihn mit dem Leben versöhnte, riß sich gewaltsam los von seinem Herzen, und er wollte, daß das Entsetzliche geschehe. —B... mußte an den Flügel, Antonie sang, Krespel spielte lustig die Geige, bis sich jene roten Flecke auf Antoniens Wangen zeigten. Da befahl er einzuhalten; als nun aber B... Abschied nahm von Antonien, sank sie plötzlich mit einem lauten Schrei zusammen. ,Ich glaubte' (so erzählte mir Krespel), ,ich glaubte, sie wäre, wie ich es vorausgesehen, nun wirklich tot und blieb, da ich einmal mich selbst auf die höchste Spitze gestellt hatte, sehr gelassen und mit mir einig. Ich faßte den B..., der in seiner Erstarrung schafsmäßig und albern anzusehen war, bei den Schultern und sprach (der Rat fiel in seinen singenden Ton): »Da Sie, verehrungswürdigster Klaviermeister, wie Sie gewollt und gewünscht, Ihre liebe Braut wirklich ermordet haben, so können Sie nun ruhig abgehen, es wäre denn, Sie wollten so lange gütigst verziehen, bis ich Ihnen den blanken Hirschfänger durch das Herz renne, damit so meine Tochter, die, wie Sie sehen, ziemlich verblaßt, einige Couleur bekomme durch Ihr sehr wertes Blut. — Rennen Sie nur geschwind, aber ich könnte Ihnen auch ein flinkes Messerchen nachwerfen!« — Ich muß wohl bei diesen Worten etwas graulich ausgesehen haben; denn mit einem Schrei des tiefsten Entsetzens sprang er, sich von mir losreißend, fort durch die Türe, die Treppe herab.' — Wie der Rat nun, nachdem B... fortgerannt war, Antonien, die bewußtlos auf der Erde lag, aufrichten wollte, öffnete sie tief seufzend die Augen, die sich aber bald wieder zum Tode zu schließen schienen. Da brach Krespel aus in lautes, trostloses Jammern. Der von der Haushälterin herbeigerufene Arzt erklärte Antoniens Zustand für einen heftigen, aber nicht im mindesten gefährlichen Zufall, und in der Tat erholte sich diese auch schneller, als der Rat es nur zu hoffen gewagt hatte. Sie schmiegte sich nun mit der innigsten kindlichsten Liebe an Krespel; sie ging ein in seine Lieblingsneigungen - in seine tollen Launen und Einfälle. Sie half ihm alte Geigen auseinanderlegen und neue zusammenleimen. ,Ich will nichtmehr singen, aber für dich leben', sprach sie oft, sanft lächelnd, zum Vater, wenn jemand sie zum Gesange aufgefordert und sie es abgeschlagen hatte. Solche Momente suchte der Rat indessen ihr soviel möglich zu ersparen, und daher kam es, daß er ungern mit ihr in Gesellschaft ging und alle Musik sorgfältig vermied. Er wußte es ja wohl, wie schmerzlich es Antonien sein mußte, der Kunst, die sie in solch hoher Vollkommenheit geübt, ganz zu entsagen. Als der Rat jene wunderbare Geige, die er mit Antonien begrub, gekauft hatte und zerlegen wollte, blickte ihn Antonie sehr wehmütig an und sprach leise bittend: ,Auch diese?' — Der Rat wußte selbst nicht, welche unbekannte Macht ihn nötigte, die Geige unzerschnitten zu lassen und darauf zu spielen. Kaum hatte er die ersten Töne angestrichen, als Antonie laut und freudig rief: ,Ach, das bin ich ja - ich singe ja wieder.' Wirklich hatten die silberhellen Glokkentöne des Instruments etwas ganz eigenes Wundervolles, sie schienen in der menschlichen Brust erzeugt. Krespel wurde bis in das Innerste gerührt, er spielte wohl herrlicher als jemals, und wenn er in kühnen Gängen mit voller Kraft, mit tiefem Ausdruck auf- und niederstieg, dann schlug Antonie die Hände zusammen und rief entzückt: ,Ach, das habe ich gut gemacht! das habe ich gutgemacht!' — Seit dieser Zeit kam eine große Ruhe und Heiterkeit in ihr Leben. Oft sprach sie zum Rat: ,Ich möchte wohl etwas singen, Vater!' Dann nahm Krespel die Geige von der Wand und spielte Antoniens schönste Lieder, sie war recht aus dem Herzen froh. — Kurz vor meiner Ankunft war es in einer Nacht dem Rat so, als höre er im Nebenzimmer auf seinem Pianoforte spielen, und bald unterschied er deutlich, daß B... nach gewöhnlicher Art präludiere. Er wollte aufstehen, aber wie eine schwere Last lag es auf ihm, wie mit eisernen Banden gefesselt, vermochte er sich nicht zu regen und zu rühren. Nun fiel Antonie ein in leisen hingehauchten Tönen, die immer steigend und steigend zum schmetternden Fortissimo wurden, dann gestalteten sich die wunderbaren Laute zu dem tief ergreifenden Liede, welches B einst ganz im frommen Stil der alten Meister für Antonie komponiert hatte. Krespel sagte, unbegreiflich sei der Zustand gewesen, in dem er sich befunden, denn eine entsetzliche Angst habe sich gepaart mit nie gefühlter Wonne. Plötzlich umgab ihn eine blendende Klarheit, und in derselben erblickte er B... und Antonien, die sich umschlungen hielten und sich voll seligem Entzücken anschauten. Die Töne des Liedes und des begleitenden Pianofortes dauerten fort, ohne daß Antonie sichtbar sang oder B. das Fortepiano berührte. Der Rat fiel nun in eine Art dumpfer Ohnmacht, in der das Bild mit den Tönen versank. Als er erwachte, war ihm noch jene fürchterliche Angst aus dem Traume geblieben. Er sprang in Antoniens Zimmer. Sie lag mit geschlossenen Augen, mit holdselig lächelndem Blick, die Hände fromm gefaltet, auf dem Sofa, als schliefe sie und träume von Himmelswonne und Freudigkeit. Sie war aber tot."

Während Theodor dies alles erzählte, bewies Lothar auf mancherlei Weise seine Ungeduld, ja seinen lebhaften Widerwillen. Bald stand er auf und schritt im Zimmer auf und ab, bald setzte er sich wieder hin, ein Glas nach dem andern leerend und sich wieder einschenkend, dann trat er an Theodors Schreibtisch, wühlte unter den Papieren und Büchern und holte endlich nichts Geringeres hervor als Theodors großen, mit weißem Papier durchschossenen Hauskalender, den er eifrig durchblätterte und endlich mit einer Miene, als habe er das Merkwürdigste, Interessanteste darin gefunden, aufgeschlagen vor sich hinauf den Tisch legte.

"Nein, das ist nicht auszuhalten", rief nun, als Theodor schwieg, Lothar, "nein, das ist nicht auszuhalten! — Du willst nichts zu tun haben mit dem gutmütigen Schwärmer, den uns unser Cyprianus vor Augen führte, du warnst vor Blicken in die schauerliche Tiefe der Natur, du magst von derlei Dingen nicht reden, nicht reden hören und fällst selbst mit einer Geschichte hinein, die in ihrer kecken Tollheit mir wenigstens das Herz zerschneidet. Was ist der sanfte glückliche Serapion gegen den spleenigen und in seinem Spleen grauenhaften Krespel! Du wolltest einen sanften Übergang vom Wahnsinn durch den Spleen zur gesunden Vernunft bewirken und stellst Bilder auf, über die man, fast man sie recht scharf ins Auge, alle gesunde Vernunft verlieren könnte. Mag Cyprianus bei seiner Erzählung unbewußt von dem Seinigen hinzugefügt haben, du tatest das gewiß noch viel mehr, denn ich weiß es ja, sobald nur die Musik im Spiele ist, gerätst du in einen somnambulen Zustand und hast

die seltsamsten Erscheinungen. Nach deiner gewöhnlichen Weise hast du dem Ganzen einen geheimnisvollen Anstrich zu geben gewußt, der wie alles Wunderbare, sei es auch noch so korrupt, unwiderstehlich fortreißt, aber Maß und Ziel muß jedes Ding haben und nicht ins Blaue hinein Verstand und Geist verwirren. Antoniens Zustand, ihre Sympathie mit jenem altertümlichen Instrument Krespels ist rührend, wer wird das nicht gestehen - aber auf eine Weise rührend, daß man heißes Herzblut rinnen fühlt, und es liegt im Schluß ein Jammer, eine Trostlosigkeit, die durchaus keine Beruhigung zuläßt, und das ist abscheulich - abscheulich, sage ich und kann das harte Wort nicht zurücknehmen."

"Habe ich denn", sprach Theodor lächelnd, "habe ich denn, lieber Lothar, eine fingierte, nach der Kunst geformte Erzählung euch vortragen wollen? War nicht bloß von einem seltsamen Mann die Rede, an den ich durch den wahnsinnigen Serapion erinnert wurde? — Sprach ich nicht von einer Begebenheit, die ich wirklich erlebt, und sollte dir, lieber Lothar! manches unwahrscheinlich vorgekommen sein, so magst du bedenken, daß das, was sich wirklich begibt, beinahe immer das Unwahrscheinlichste ist."

"Das alles", erwiderte Lothar. "kann dich nicht entschuldigen, schweigen hättest du sollen von deinem fatalen Krespel, ganz schweigen oder vermöge der besonderen Kunst des Kolorits, die du wohl besitzest, dem barocken Mann aus dem Grauen heraus eine anmutigere Farbe geben. — Doch nur zuviel schon von dem Ruhe verstörenden Baumeister, Diplomatiker und Instrumentenmacher, den wir hiemit der Vergessenheit übergeben wollen. — Aber nun, mein Cyprian, ich beuge meine Knie vor dir! — Nicht mehr nenne ich dich einen phantastischen Geisterseher - du beweisest, daß es mit Rückerinnerungen ein ganz eignes geheimnisvolles Ding ist. — Dir kommt heute der arme Serapion nicht aus Sinn und Gedanken. — Ich merke dir's an, daß nun, da du nur von ihm erzählt hast, du freier im Geiste geworden! — Schaue her in dieses merkwürdige Buch, in diesen herrlichen Hauskalender,

der Aufschluß gibt über alles! — Haben wir denn nicht heute den vierzehnten November? — War es nicht am vierzehnten November, als du deinen einsiedlerischen Freund tot in seiner Hütte fandest? Und wenn du ihn auch nicht, wie Ottmar vorhin meinte, mit Hülfe zweier Löwen begrubst und ebensowenig andere Wunder auf dich zutraten, so wurdest du doch gewiß bei dem Anblick deines sanft entschlafenen Freundes bis ins Innerste getroffen. Der Eindruck blieb unauslöschlich, und wohl mag es sein, daß der innere Geist mittelst einer geheimnisvollen, dir selbst unbewußten Operation das Bild des verlorenen Freundes an seinem Todestage frischer gefärbt vorschiebt als sonst. — Tu mir den Gefallen, Cyprianus, und füge Serapions Tode noch einige wunderbare Erscheinungen hinzu, damit dem zu einfachen Schluß der Begebenheit etwas aufgeholfen werde."

"Als ich", sprach Cyprian, "tief bewegt, ja erschüttert von dem Anblick des Toten, aus der Hütte trat, sprang mir das zahme Reh, dessen ich früher gedachte, entgegen, helle Tränen perlten in seinen Augen, und die wilden Tauben umschwirrten mich mit ängstlichem Geschrei, mit banger Todesklage. Da ich aber zum Dorfe hinabstieg, um den Tod des Einsiedlers kundzutun, kamen mir die Bauern schon mit einer Totenbahre entgegen. Sie sagten, an dem Anziehn der Glocke zur ungewöhnlichen Stunde hätten sie gemerkt, daß der fromme Herr sich hingelegt habe zum Sterben und wohl schon wirklich gestorben sei. — Dies ist alles, lieber Lothar, was ich dir auftischen kann, damit du deine Neckerei daran übest."

"Was sprichst du", rief Lothar mit lauter Stimme, indem er sich vom Stuhle erhob, "was sprichst du von Neckerei, was glaubst du von mir, o mein Cyprianus? — Bin ich nicht ein ehrliches Gemüt, ein rechtschaffner Charakter, fern von Lug und Trug - eine treuherzige Seele? — schwärme ich nicht mit den Schwärmern? phantasiere ich nicht mit den Phantasten? weine ich nicht mit den Weinenden, jubiliere ich nicht mit den Jubelnden? — Aber schaue her, o mein Cyprianus, schaue nochmals in dies herrliche Werk voll unumstößlicher

Wahrheit. in diesen sehr stattlichen Hauskalender. Bei dem vierzehnten November findest du zwar den schnöden Namen Levin verzeichnet, aber werfe deinen Blick in diese katholische Kolonne! — Da steht mit roten Buchstaben: Serapion, Märtyrer! — Also an dem Tage des Heiligen, für den er sich selbst hielt, starb dein Serapion! Heute ist Serapionstag! —Auf! —ich leere dieses Glas zum Gedächtnis des Einsiedlers Serapion: tut, meine Freunde, desgleichen!"

"Aus ganzer Seele", rief Cyprian, und die Gläser erklangen.

"Überhaupt", fuhr nun Lothar fort, "bin ich jetzt, nachdem ich mich recht besonnen, oder vielmehr nachdem mich Theodor mit dem häßlichen, widrigen Krespel recht in Harnisch gebracht hat, mit Cyprians Serapion ganz ausgesöhnt. Noch mehr als das: ich verehre Serapions Wahnsinn deshalb, weil nur der Geist des vortreiflichsten oder vielmehr des wahren Dichters von ihm ergriffen werden kann. Ich will mich nicht darauf als auf etwas Altes, zum Überdruß Wiederholtes beziehen, daß sonst den Dichter und den Seher dasselbe Wort bezeichnete, aber gewiß ist es, daß man oft an der wirklichen Existenz der Dichter ebensosehr zweifeln möchte als an der Existenz verzückter Seher, welche die Wunder eines höheren Reichs verkünden! — Woher kommt es denn, daß so manches Dichterwerk, das keinesweges schlecht zu nennen, wenn von Form und Ausarbeitung die Rede, doch so ganz wirkungslos bleibt wie ein verbleichtes Bild, daß wir nicht davon hingerissen werden, daß die Pracht der Worte nur dazu dient, den inneren Frost, der uns durchgleitet, zu vermehren. Woher kommt es anders, als daß der Dichter nicht das wirklich schaute, wovon er spricht, daß die Tat, die Begebenheit, vor seinen geistigen Augen sich darstellend mit aller Lust, mit allem Entsetzen, mit allem Jubel, mit allen Schauern, ihn nicht begeisterte, entzündete, so daß nur die inneren Flammen ausströmen durften in feurigen Worten: Vergebens ist das Mühen des Dichters, uns dahin zu bringen, daß wir daran glauben sollen, woran er selbst nicht glaubt, nicht glauben kann, weil er es

nicht erschaute. Was können die Gestalten eines solchen Dichters, der jenem alten Wort zufolge nicht auch wahrhafter Seher ist, anderes sein als trügerische Puppen, mühsam zusammengeleimt aus fremdartigen Stoffen!

Dein Einsiedler, mein Cyprianus, war ein wahrhafter Dichter, er hatte das wirklich geschaut, was er verkündete, und deshalb ergriff seine Rede Herz und Gemüt. — Armer Serapion, worin bestand dein Wahnsinn anders, als daß irgendein feindlicher Stern dir die Erkenntnis der Duplizität geraubt hatte, von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist. Es gibt eine innere Welt und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit. in dem vollendetsten Glanze des regesten Lebens zu schauen, aber es ist unser irdisches Erbteil, daß eben die Außenwelt, in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt. Die innern Erscheinungen gehen auf in dem Kreise, den die äußeren um uns bilden und den der Geist nur zu überfliegen vermag in dunklen geheimnisvollen Ahnungen, die sich nie zum deutlichen Bilde gestalten. Aber du, o mein Einsiedler, statuiertest keine Außenwelt, du sahst den versteckten Hebel nicht, die auf dein Inneres einwirkende Kraft; und wenn du mit grauenhaftem Scharfsinn behauptetest, daß es nur der Geist sei, der sehe, höre, fühle, der Tat und Begebenheit fasse, und daß also auch sich wirklich das begeben, was er dafür anerkenne, so vergaßest du, daß die Außenwelt den in den Körper gebannten Geist zu jenen Funktionen der Wahrnehmung zwingt nach Willkür. Dein Leben, lieber Anachoret, war ein steter Traum, aus dem du in dem Jenseits gewiß nicht schmerzlich erwachtest. — Auch dieses Glas sei noch deinem Gedächtnis dargebracht."

"Findet ihr nicht", sprach nun Ottmar, "daß Lothar seine Miene ganz verändert hat? Dank sei es deinem wohlbereiteten Getränk, Theodor! das alles sauertöpfische Wesen gänzlich niedergekämpft hat."

"Schreibt nur nicht", nahm Lothar wieder das Wort, "mein erheitertes Wesen lediglich dem begeisternden Inhalt jener

Vase zu, ihr wißt ja, das die bessere Stimmung mir kommen muß, ehe ich ein Glas anrühre. Aber in der Tat, erst jetzt fühle ich mich wieder wohl und heimisch unter euch. Die seltsame Spannung, in der ich mich, zugestanden sei es, erst befand, ist vorüber, und da ich unserm Cyprian den wahnsinnigen Serapion verziehen nicht allein, sondern diesen auch in der Tat liebgewonnen habe, so mag auch dem Freunde Theodor sein fataler Krespel hingehen. Aber nun habe ich noch mancherlei zu reden mit euch! —Mich bedünkt, es sei nun ausgemacht, daß, wie schon vorhin Theodor erwähnte, wir alle voneinander glauben, es sei etwas an uns daran, und jeder es werthält, mit dem andern die alte Verbindung zu erneuern. Aber das Gewühl der großen Stadt, die Entfernung unserer Wohnungen, unser verschiedenartiges Geschäft wird uns auseinandertreiben. Bestimmen wir daher heute Tag, Stunde und Ort, wo wir uns wöchentlich zusammenfinden wollen. Noch mehr! — Es kann nicht fehlen, daß wir, einer dem andern, nach alter Weise manches poetische Produktlein, das wir unter dem Herzen getragen, mitteilen werden. Laßt uns nun dabei des Einsiedlers Serapion eingedenk sein! —Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen, ehe er es wagt, laut damit zu werden. Wenigstens strebe jeder recht ernstlich darnach, das Bild, das ihm im Innern aufgegangen, recht zu erfassen mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten und dann, wenn er sich recht entzündet davon fühlt, die Darstellung ins äußere Leben [zu] tragen. So muß unser Verein, auf tüchtige Grundpfeiler gestützt, dauern und für jeden von uns allen sich gar erquicklich gestalten. Der Einsiedler Serapion sei unser Schutzpatron, er lasse seine Sehergabe über uns walten, seiner Regel wollen wir folgen als getreue Serapionsbrüder!"

"Ist denn", sprach Cyprian, "ist denn unser Lothar nicht der verwunderlichste von allen verwunderlichen Menschen? — Erst ist er es allein, der gegen Ottmars ganz vernünftigen Vorschlag, uns wöchentlich an einem bestimmten Tage zusammenzufinden,

wütet und tobt, der ohne Ursache in das Kapitel von Klubs und Ressourcen gerät, sich über Gebühr ereifernd, und nun ist er es wieder, der die verworfenen Zusammenkünfte nicht allein nötig und ersprießlich findet, sondern auch schon an die Tendenz unsers Vereins denkt und. an seine Regel!"

"Mag es sein", erwiderte Lothar, "daß ich mich erst gegen alles Förmliche oder nur Bestimmte unserer Zusammenkünfte auflehnte, es geschah in mißmütiger Stimmung, die vorübergegangen. — Sollte denn bei uns poetischen Gemütern und gemütlichen Poeten jemals eine Art Philistrismus einbrechen können? — Einen gewissen Hang dazu tragen wir wohl in uns, streben wir nur wenigstens nach der sublimsten Sorte; ein kleiner Beigeschmack davon ist zuweilen nicht ganz übel! — Schweigen wir aber über alles Verfängliche unseres Vereins, das der Teufel schon von selbst hineintragen wird bei guter Gelegenheit, und sprechen wir von dem Serapiontischen Prinzip! Was haltet ihr davon?"

Theodor, Ottmar und Cyprian waren darin einig, daß ohne alle weitere Abrede sich die literarische Tendenz von selbst bei ihren Zusammenkünften eingefunden haben würde, und gaben sich das Wort, der Regel des Einsiedlers Serapion, wie sie Lothar sehr richtig angegeben, nachzuleben, wie es nur in ihren Kräften stehe, welches dann, wie Theodor sehr richtig bemerkte, eben nichts weiter heißen wollte, als daß sie übereingekommen, sich durchaus niemals mit schlechtem Machwerk zu quälen.

In voller Fröhlichkeit stießen sie die Gläser zusammen und umarmten sich als getreue Serapionsbrüder.

"Die Mitternachtsstunde", sprach nun Ottmar, "ist noch lange, lange nicht herangekommen, und es wäre in der Tat ganz hübsch, wenn jemand von uns noch irgend etwas Heiteres auftischen wollte, um all das Trübe, ja Grauenhafte, das über uns kam, in den Hintergrund zurückzustellen. Eigentlich wär es Theodors Pflicht, seinen versprochenen Übergang zur gesunden Vernunft zu vollenden."

"Ist es euch recht", sprach Theodor, "so gebe ich euch eine kleine Erzählung zum besten, die ich vor einiger Zeit aufschrieb und zu der mich ein Bild anregte. Sowie ich nämlich dieses Bild anschaute, wurde mir eine Bedeutung klar, an die der Künstler gewiß nicht gedacht hatte, nicht hatte denken können, da Rückerinnerungen aus meinem früheren Leben auf seltsame Weise aufgingen und eben erst jene Bedeutung schufen."

"Ich hoffe", sprach Lothar, "daß kein Wahnsinniger auftritt, dessen ich nun heute ein für allemal überhoben sein will, und daß sich deine Erzählung vor unserm Schutzpatron verantworten lassen wird."

"Für das erste stehe ich ein", erwiderte Theodor, "was aber das letzte betrifft, so muß ich es auf das Urteil meiner würdigen Serapionsbrüder ankommen lassen, die ich aber im voraus bitte, nicht zu strenge zu sein, da mein Werklein nur auf die Bedingnisse eines leichten, luftigen, scherzhaften Gebildes basiert ist und keine höhere Ansprüche macht, als für den Moment zu belustigen."

Die Freunde versprachen um so mehr Nachsicht, als die erst heute eingeführte Regel des Einsiedlers Serapion eigentlich nur auf künftige Produkte bezogen werden könne.

Theodor holte sein Manuskript hervor und begann in folgender Art:


Die Fermate

Hummels heitres lebenskräftiges Bild, die Gesellschaft in einer italienischen Locanda, ist bekannt worden durch die Berliner Kunstausstellung im Herbst 1814, auf der es sich befand, Aug und Gemüt gar vieler erlustigend. — Eine üppig verwachsene Laube - ein mit Wein und Früchten besetzter Tisch - an demselben zwei italienische Frauen einander gegenübersitzend - die eine singt, die andere spielt Chitarra — zwischen beiden hinterwärts stehend ein Abbate, der den Musikdirektor macht. Mit aufgehobener Battuta paßt er

auf den Moment, wenn Signora die Kadenz, in der sie mit himmelwärts gerichtetem Blick begriffen, endigen wird im langen Trillo, dann schlägt er nieder, und die Chitarristin greift keck den Dominantenakkord. — Der Abbate ist voll Bewunderung - voll seligen Genusses - und dabei ängstlich gespannt. — Nicht um der Welt willen möchte er den richtigen Niederschlag verpassen. Kaum wagt er zu atmen. Jedem Bienchen, jedem Mücklein möchte er Maul und Flügel verbinden, damit nichts sumse. Um so mehr ist ihm der geschäftige Wirt fatal, der den bestellten Wein gerade jetzt im wichtigsten höchsten Moment herbeiträgt. — Aussicht in einen Laubgang, den glänzende Streiflichter durchbrechen. — Dort hält ein Reiter, aus der Locanda wird ihm ein frischer Trunk aufs Pferd gereicht.

Vor diesem Bilde standen die beiden Freunde Eduard und Theodor. "Je mehr ich", sprach Eduard, "diese zwar etwas ältliche, aber wahrhaft virtuosisch begeisterte Sängerin in ihren bunten Kleidern anschaue, je mehr ich mich an dem ernsten, echt römischen Profil, an dem schönen Körperbau der Chitarrspielerin ergötze, je mehr mich der höchst vortreffliche Abbate belustigt, desto freier und stärker tritt mir das Ganze ins wirkliche rege Leben. — Es ist offenbar karikiert im höhern Sinn, aber voll Heiterkeit und Anmut! — Ich möchte nur gleich hineinsteigen in die Laube und eine von den allerliebsten Korbflaschen öffnen, die mich dort vom Tische herab anlächeln. — Wahrhaftig, mir ist es, als spüre ich schon etwas von dem süßen Duft des edlen Weins. — Nein, diese Anregung darf nicht verhauchen in der kalten nüchternen Luft, die uns hier umweht. — Dem herrlichen Bilde, der Kunst, dem heitern Italia, wo hoch die Lebenslust aufglüht, zu Ehren laß uns hingehen und eine Flasche italienischen Weins ausstechen."

Theodor hatte, während Eduard dies in abgebrochenen Sätzen sprach, schweigend und tief in sich gekehrt dagestanden. "Ja, das laß uns tun!" fuhr er jetzt auf, wie aus einem Traum erwachend, aber kaum loskommen konnte er von

dem Bilde, und als er, dem Freunde mechanisch folgend, sich schon an der Tür befand, warf er noch sehnsüchtige Blicke zurück nach den Sängerinnen und nach dem Abbate. Eduards Vorschlag ließ sich leicht ausführen. Sie gingen quer über die Straße, und bald stand in dem blauen Stübchen bei Sala Tarone eine Korbflasche, ganz denen in der Weinlaube ähnlich, vor ihnen. "Es scheint mir aber", sprach Eduard, nachdem schon einige Gläser geleert waren und Theodor noch immer still und in sich gekehrt blieb, "es scheint mir aber, als habe dich das Bild auf ganz besondere und gar nicht so lustige Weise angeregt als mich?" — "Ich kann versichern", erwiderte Theodor, "daß auch ich alles Heitere und Anmutige des lebendigen Bildes in vollem Maße genossen, aber ganz wunderbar ist es doch, daß das Bild getreu eine Szene aus meinem Leben mit völliger Porträtähnlichkeit der handelnden Personen darstellt. Du wirst mir aber zugestehen, daß auch heitere Erinnerungen dann den Geist gar seltsam zu erschüttern vermögen, wenn sie auf solche ganz unerwartete ungewöhnliche Weise plötzlich, wie durch einen geweckt, hervorspringen. Dies ist jetzt mein Fall." — "Aus deinem Leben", fiel Eduard ganz verwundert ein, "eine Szene aus deinem Leben soll das Bild darstellen? Für gut getroffene Porträts habe ich die Sängerinnen und den Abbate gleich gehalten, aber daß sie dir im Leben vorgekommen sein sollten? Nun, so erzähle nur gleich, wie das alles zusammenhängt; wir bleiben allein, niemand kommt um diese Zeit her." — "Ich möchte das wohl tun", sprach Theodor, "aber leider muß ich sehr weit ausholen - von meiner Jugendzeit her." — "Erzähle nur getrost", erwiderte Eduard, "ich weiß so noch nicht viel von deinen Jugendjahren. Dauert es lange, so folgt nichts Schlimmeres daraus, als daß wir eine Flasche mehr ausstechen, als wir uns vorgenommen; das nimmt aber kein Mensch übel, weder wir noch Herr Tarone."

"Daß ich nun endlich", fing Theodor an, "alles andere beiseite geworfen und mich der edlen Musika ganz und gar

ergeben, darüber wundere sich niemand, denn schon als Knabe mochte ich ja kaum was anderes treiben und klimperte Tag und Nacht auf meines Onkels altem, knarrenden, schwirrenden Flügel. Es war an dem kleinen Orte recht schlecht bestellt um die Musik, niemanden gab es, der mich hätte unterrichten können, als einen alten eigensinnigen Organisten, der war aber ein toter Rechenmeister und quälte mich sehr mit finstern übelklingenden Tokkaten und Fugen. Ohne mich dadurch abschrecken zu lassen, hielt ich treulich aus. Manchmal schalt der Alte gar ärgerlich, aber er durfte nur wieder einmal einen wackern Satz in seiner starken Manier spielen, und versöhnt war ich mit ihm und der Kunst. Ganz wunderbar wurde mir dann oft zumute, mancher Satz, vorzüglich von dem alten Sebastian Bach, glich beinahe einer geisterhaften graulichen Erzählung, und mich erfaßten die Schauer, denen man sich so gern hingibt in der phantastischen Jugendzeit. Ein ganzes Eden erschloß sich mir aber, wenn, wie es im Winter zu gschehen pflegte, der Stadtpfeifer mit seinen Gesellen, unterstützt von ein paar schwächlichen Dilettanten, ein Konzert gab und ich in der Symphonie die Pauken schlug, welches mir vergönnt wurde wegen meines richtigen Takts. Wie lächerlich und toll diese Konzerte oft waren, habe ich erst später eingesehen. Gewöhnlich spielte mein Lehrer zwei Flügelkonzerte von Wolf oder Emanuel Bach, ein Kunstpfeifergesell quälte sich mit Stamitz, und der Akziseeinnehmer blies auf der Flöte gewaltig und übernahm sich im Atem so, daß er beide Lichter am Pult ausblies, die immer wieder angezündet werden mußten. An Gesang war nicht zu denken, das tadelte mein Onkel, ein großer Freund und Verehrer der Tonkunst, sehr. Er gedachte noch mit Entzücken der älteren Zeit, als die vier Kantoren der vier Kirchen des Orts sich verbanden zur Aufführung von ,Lottchen am Hofe' im Konzertsaal. Vorzüglich pflegte er die Toleranz zu rühmen, womit die Sänger sich zum Kunstwerk vereinigt, da außer der katholischen und evangelischen noch die reformierte Gemeinde sich in zwei Zungen, der deutschen und französischen, spaltete; der französische Kantor ließ sich das Lottchen nicht nehmen und trug, wie der Onkel versicherte, brillbewaffnet die Partie mit dem anmutigsten Falsett vor, der jemals aus einer menschlichen Kehle herauspfiff. Nun verzehrte aber bei uns (am Orte, mein ich) eine fünfundfünfzigjährige Demoiselle, namens Meibel, die karge Pension, welche sie als jubilierte Hofsängerin aus der Residenz erhielt, und mein Onkel meinte richtig, die Meibel könne für das Geld noch wirklich was weniges jubilieren im Konzerte. Sie tat vornehm und ließ sich lange bitten, doch gab sie endlich nach, und so kam es im Konzerte auch zu Bravourarien. Es war eine wunderliche Person, diese Demoiselle Meibel. Ich habe die kleine hagere Gestalt noch lebhaft in Gedanken. Sehr feierlich und ernst pflegte sie mit ihrer Partie in der Hand in einem buntstoffnen Kleide vorzutreten und mit einer sanften Beugung des Oberleibes die Versammlung zu begrüßen. Sie trug einen ganz sonderbaren Kopfputz, an dessen Vorderseite ein Strauß von italienischen Porzellanblumen befestigt war, der, indem sie sang, seltsam zitterte und nickte. Wenn sie geendigt und die Gesellschaft nicht wenig applaudiert hatte, gab sie ihre Partie mit stolzem Blick meinem Lehrer. dem es vergönnt war, in die kleine Porzellandose zu greifen, die einen Mops vorstellte und die sie hervorgezogen, um daraus mit vieler Behaglichkeit Tabak zu nehmen. Sie hatte eine garstige quäkende Stimme, machte allerlei skurrile Schnörkel und Koloraturen, und du kannst denken, wie dies, verbunden mit dem lächerlichen Eindruck ihrer äußeren Erscheinung, auf mich wirken mußte. Mein Onkel ergoß sich in Lobeserhebungen, ich konnte das nicht begreifen und gab mich um so eher meinem Organisten hin, der, überhaupt ein Verächter des Gesanges, in seiner hypochondrischen boshaften Laune die alte possierliche Demoiselle gar ergötzlich zu parodieren wußte.

Je lebhafter ich jene Verachtung des Gesanges mit meinem Lehrer teilte, desto höher schlug er mein musikalisches

Genie an. Mit dem größesten Eifer unterrichtete er mich im Kontrapunkt, und bald setzte ich die künstlichsten Fugen und Tokkaten. Ebensolch ein künstliches Stück von meiner Arbeit spielte ich einst an meinem Geburtstage (neunzehn Jahr war ich alt worden) dem Onkel vor, als der Kellner aus unserm vornehmsten Gasthause ins Zimmer trat, zwei ausländische, eben angekommene Damen ankündigend. Noch ehe der Onkel den großgeblümten Schlafrock abwerfen und sich ankleiden konnte, traten die Gemeldeten schon hinein. '— Du weißt, wie jede fremde Erscheinung auf den in kleinstädtischer Beengtheit Erzogenen elektrisch wirkt; — zumal diese, welche so unerwartet in mein Leben trat, war ganz dazu geeignet, mich wie ein Zauberschlag zu treffen. Denke dir zwei schlanke, hoch gewachsene Italienerinnen, nach der letzten Mode phantastisch bunt gekleidet, recht virtuosisch keck und doch gar anmutig auf meinen Onkel zuschreitend und auf ihn hineinredend mit starker, aber wohltönender Stimme. — Was sprechen sie denn für eine sonderbare Sprache? — nur zuweilen klingt es beinahe wie deutsch! — Der Onkel versteht kein Wort -verlegen zurücktretend - ganz verstummt, zeigt er nach dem Sofa. Sie nehmen Platz - sie reden untereinander, das tönt wie lauter Musik. — Endlich verständigen sie sich dem Onkel, es sind reisende Sängerinnen, sie wollen Konzert geben am Orte und wenden sich an ihn, der solche musikalische Operationen einzuleiten vermag.

Wie sie miteinander sprachen, hatte ich ihre Vornamen herausgehorcht, und es war mir, als könne ich, da zuvor mich die Doppelerscheinung verwirrt, jetzt besser und deutlicher jede einzeln erfassen. Lauretta, anscheinend die ältere, mit strahlenden Augen umherblitzend, sprach mit überwallender Lebhaftigkeit und heftiger Gestikulation auf den ganz verlegenen Onkel hinein. Nicht eben zu groß, war sie üppig gebaut, und mein Auge verlor sich in manchen mir noch fremden Reizen. Teresina, größer, schlanker, länglichen ernsten Gesichts, sprach nur wenig, indessen verständlicher

dazwischen. Dann und wann lächelte sie ganz seltsam, es war beinahe, als ergötze sie sehr der gute Onkel, der sich in seinen seidenen Schlafrock wie in ein Gehäuse einzog und vergebens suchte ein verräterisches gelbes Band zu verstecken, womit die Nachtjacke zugebunden und das immer wieder ellenlang aus dem Busen hervorwedelte. Endlich standen sie auf, der Onkel versprach, für den dritten Tag das Konzert anzuordnen, und wurde samt mir, den er als einen jungen Virtuosen vorgestellt, höflichst auf nachmittag zur Cioccolata von den Schwestern eingeladen. Wir stiegen ganz feierlich und schwer die Treppen hinan, es war uns beiden ganz seltsam zumute, als sollten wir irgendein Abenteuer bestehen, dem wir nicht gewachsen. Nachdem der Onkel, gehörig dazu vorbereitet, über die Kunst viel Schönes gesprochen, welches niemand verstand, weder er noch wir andern, nachdem ich mit der brühheißen Schokolade mir zweimal die Zunge versengt, aber, ein Scaevola an stoischem Gleichmut, gelächelt hatte zum wütenden Schmerz, sagte Lauretta, sie wolle uns etwas vorsingen. Teresina nahm die Chitarra, stimmte und griff einige volle Akkorde. Nie hatte ich das Instrument gehört, ganz wunderbar erfaßte mich tief im Innersten der dumpfe geheimnisvolle Klang, in dem die Saiten erbebten. Ganz leise fing Lauretta den Ton an, den sie aushielt bis zum Fortissimo und dann schnell losbrach in eine kecke krause Figur durch anderthalb Oktaven. Noch weiß ich die Worte des Anfangs: ,Sento l'arnica speme.' — Mir schnürte es die Brust zusammen, nie hatte ich das geahnet. Aber sowie Lauretta immer kühner und freier des Gesanges Schwingen regte, wie immer feuriger funkelnd der Töne Strahlen mich umfingen, da ward meine innere Musik, so lange tot und starr, entzündet und schlug empor in mächtigen herrlichen Flammen. Ach! — ich hatte ja zum erstenmal in meinem Leben Musik gehört. — Nun sangen beide Schwestern jene ernste, tief gehaltene Duetten vom Abbate Steffani. Teresinas volltönender, himmlisch reiner Alt drang mir durch die Seele. Nicht zurückhalten konnte ich meine innere Bewegung, mir stürzten die Tränen aus den Augen. Der Onkel räusperte sich, mir mißfällige Blicke zuwerfend, das half nichts, ich war wirklich ganz außer mir. Den Sängerinnen schien das zu gefallen, sie erkundigten sich nach meinen musikalischen Studien, ich schämte mich meines musikalischen Treibens, und mit der Dreistigkeit, die die Begeisterung mir gegeben, erklärte ich geradezu heraus, erst heute hätte ich Musik gehört! ,Il bon fanciullo', lispelte Lauretta recht süß und lieblich. Als ich nach Hause gekommen, befiel mich eine Art von Wut, ich ergriff alle Tokkaten und Fugen, die ich zusammengedrechselt, ja sogar fünfundvierzig Variationen über ein kanonisches Thema, die der Organist komponiert und mir verehrt in sauberer Abschrift, warf alles ins Feuer und lachte recht hämisch, als der doppelte Kontrapunkt so dampfte und knisterte. Nun setzte ich mich ans Instrument und versuchte erst die Töne der Chitarra nachzuahmen, dann die Melodien der Schwestern nachzuspielen, ja endlich nachzusingen. ,Man quäke nicht so schrecklich und lege sich fein aufs Ohr', rief um Mitternacht endlich der Onkel, löschte mir beide Lichter aus und kehrte in sein Schlafzimmer zurück, aus dem er hervorgetreten. Ich mußte gehorchen. Der Traum brachte mir das Geheimnis des Gesanges - so glaubte ich -, denn ich sang vortreiflich ,Sento l'amica speme'. — Den andern Morgen hatte der Onkel alles, was nur geigen und pfeifen konnte, zur Probe bestellt. Stolz wollte er zeigen, wie herrlich unsere Musik beschaffen, es lief indessen höchst unglücklich ab. Lauretta legte eine große Szene auf, aber gleich im Rezitativ tobten sie. alle durcheinander, keiner hatte eine Idee vom Akkompagnieren. Lauretta schrie - wütete - weinte vor Zorn und Ungeduld. Der Organist saß am Flügel, über den fiel sie her mit den bittersten Vorwürfen. Er stand auf und ging in stummer Verstocktheit zur Türe hinaus. Der Stadtpfeifer, dem Lauretta ein ,Asino maledetto' an den Kopf geworfen, hatte die Violine unter den Arm genommen und den Hut trotzig auf den Kopf geworfen. Er bewegte sich ebenfalls nach der Türe, die Gesellen, Bogen in die Saiten gesteckt, Mundstücke abgeschraubt, folgten. Bloß die Dilettanten schauten umher mit weinerlichen Blicken, und der Akziseinnehmer rief tragisch: ,0 Gott, wie alteriert mich das!' — Alle meine Schüchternheit hatte mich verlassen, ich warf mich dem Stadtpfeifer in den Weg, ich bat, ich fichte, ich versprach ihm in der Angst sechs neue Menuetts mit doppeltem Trio für den Stadtball. — Es gelang mir, ihn zu besänftigen. Er kehrte zurück zum Pulte, die Gesellen traten heran, bald war das Orchester hergestellt, nur der Organist fehlte. Langsam wandelte er über den Markt, kein Winken, kein Zurufen lenkte seine Schritte zurück. Teresina hatte alles mit verbissenem Lachen angesehen; Lauretta, so zornig sie erst gewesen, so heiter war sie jetzt. Sie lobte über Gebühr meine Bemühungen, sie fragte mich, ob ich den Flügel spiele, und ehe ich mir's versah, saß ich an des Organisten Stelle vor der Partitur. Noch nie hatte ich den Gesang begleitet oder gar ein Orchester dirigiert. Teresina setzte sich mir zur Seite an den Flügel und gab mir jedes Tempo an, ich bekam ein aufmunterndes Bravo nach dem andern von Lauretta, das Orchester fügte sich, es ging immer besser. In der zweiten Probe wurde alles klar, und die Wirkung des Gesanges der Schwestern im Konzerte war unbeschreiblich. Es sollten in der Residenz bei der Rückkunft des Fürsten viele Feierlichkeiten stattfinden, die Schwestern waren hinüberberufen, um auf dem Theater und im Konzert zu singen; bis zur Zeit, wenn ihre Gegenwart notwendig, hatten sie sich entschlossen, in unserm Städtchen zu verweilen, und so kam es denn, daß sie noch ein paar Konzerte gaben. Die Bewunderung des Publikums ging über in eine Art Wahnsinn. Nur die alte Meibel nahm bedächtig eine Prise aus dem Porzellanmops und meinte: solch impertinentes Geschrei sei kein Gesang, man müsse hübsch duse singen. Mein Organist ließ sich gar nicht mehr sehen, und ich vermißte ihn auch nicht. Ich war der glückseligste Mensch auf Erden! — Den ganzen Tag saß ich bei den Schwestern, akkompagnierte und schrieb die Stimmen aus den Partituren zum Gebrauch in der Residenz. Lauretta war mein Ideal, alle bösen Launen, die entsetzlich aufbrausende Heftigkeit - die virtuosische Quälerei am Flügel - alles ertrug ich mit Geduld! — Sie, nur sie hatte mir ja die wahre Musik erschlossen. Ich fing an, das Italienische zu studieren und mich in Kanzonetten zu versuchen. Wie schwebte ich im höchsten Himmel, wenn Lauretta meine Komposition sang und sie gar lobte! Oft war es mir, als habe ich das gar nicht gedacht und gesetzt, sondern in Laurettas Gesange strahle erst der Gedanke hervor. An Teresina konnte ich mich nicht recht gewöhnen, sie sang nur selten, schien nicht viel auf mein ganzes Treiben zu geben, und zuweilen war es mir sogar, als lache sie mich hinterrücks aus. Endlich kam die Zeit der Abreise heran. Nun erst fühlte ich, was mir Lauretta geworden und die Unmöglichkeit, mich von ihr zu trennen. Oft, wenn sie recht smorfiosa gewesen, liebkoste sie mich, wiewohl auf ganz unverfängliche Weise, aber mein Blut kochte auf, und nur die seltsame Kälte, die sie mir entgegenzusetzen wußte, hielt mich ab, hell auflodernd in toller Liebeswut sie in meine Arme zu fassen. — Ich hatte einen leidlichen Tenor, den ich zwar nie geübt, der sich aber jetzt schnell ausbildete. Häufig sang ich mit Lauretta jene zärtliche italienische Duettini, deren Zahl unendlich ist. Eben ein solches Duett sangen wir, die Abreise war nahe - ,Senza di te ben mio, vivere non poss'io'. — Wer vermochte das zu ertragen! — Ich stürzte zu Laurettas Füßen - ich war in Verzweiflung! Sie hob mich auf: ,Aber mein Freund! dürfen wir uns denn trennen?' — Ich horchte voll Erstaunen hoch auf. Sie schlug mir vor, mit ihr und Teresina nach der Residenz zu gehen, denn aus dem Städtchen heraus müßte ich doch einmal, wenn ich mich der Musik ganz widmen wolle. Denke dir einen, der in den schwärzesten bodenlosen Abgrund stürzt, er verzweifelt am Leben, aber in dem Augenblick, wo er den Schlag, der ihn zerschmettert, zu empfinden glaubt, sitzt er in einer herrlichen hellen Rosenlaube, und hundert bunte Lichterchen umhüpfen ihn und rufen: ,Liebster, bis dato leben Sie noch!' — So war mir jetzt zumute. Mit nach der Residenz! das stand fest in meiner Seele! — Nicht ermüden will ich dich damit. wie ich es anfing, dem Onkel zu beweisen, daß ich nun durchaus nach der ohnehin nicht sehr entfernten Residenz müßte. Er gab endlich nach, versprach sogar mitzureisen. Welch ein Strich durch die Rechnung! — Meine Absicht, mit den Sängerinnen zu reisen, durfte ich ja nicht laut werden lassen. Ein tüchtiger Katarrh, der den Onkel befiel, rettete mich. Mit der Post fuhr ich von dannen, aber nur bis auf die nächste Station, wo ich blieb, um meine Göttin zu erwarten. Ein wohlgespickter Beute! setzte mich in den Stand, alles gehörig vorzubereiten. Recht romantisch wollte ich die Damen wie ein beschützender Paladin zu Pferde begleiten; ich wußte mir einen nicht besonders schönen, aber nach der Versicherung des Verkäufers geduldigen Gaul zu verschaffen und ritt zur bestimmten Zeit den Sängerinnen entgegen. Bald kam der kleine zweisitzige Wagen langsam heran. Den Hintersitz hatten die Schwestern eingenommen, auf dem kleinen Rücksitz saß ihr Kammermädchen. die kleine dicke Gianna, eine braune Neapolitanerin. Außerdem war noch der Wagen mit allerlei Kisten, Schachteln und Körben, von denen reisende Damen sich nie trennen, vollgepackt. Von Giannas Schoße bellten mir zwei kleine Möpse entgegen, als ich froh die Erwarteten begrüßte. Alles ging glücklich vonstatten, wir waren schon auf der letzten Station, da hatte mein Pferd den besondern Einfall, nach der Heimat zurückkehren zu wollen. Das Bewußtsein, in dergleichen Fällen nicht mit sonderlichem Erfolg Strenge, brauchen zu können, riet mir, alle nur mögliche sanfte Mittel zu versuchen, aber der starrsinnige Gaul blieb ungerührt bei meinem freundlichen Zureden. Ich wollte vorwärts, er rückwärts, alles, was ich mit Mühe über ihn erhielt, war, daß, statt rückwärts auszureißen, er sich nur im Kreise drehte. Teresina bog sich zum Wagen heraus und lachte sehr, während Lauretta, beide Hände vor dem Gesicht, laut aufschrie, als sei ich in größter Lebensgefahr. Das gab mir den Mut der Verzweiflung, ich drückte beide Sporen dem Gaul in die Rippen, lag aber auch in demselben Augenblick, unsanft hinabgeschleudert, auf dem Boden. Das Pferd blieb ruhig stehen und schaute mich mit lang vorgerecktem Halse ordentlich verhöhnend an. Ich vermochte nicht aufzustehen, der Kutscher eilte, mir zu helfen, Lauretta war herausgesprungen und weinte und schrie, Teresina lachte unaufhörlich. Ich hatte mir den Fuß verstaucht und konnte nicht wieder aufs Pferd. Wie sollte ich fort? Das Pferd wurde an den Wagen gebunden, in den ich hineinkriechen mußte. Denke dir zwei ziemlich robuste Frauenzimmer, eine dicke Magd, zwei Möpse, ein Dutzend Kisten, Schachteln und Körbe und nun noch mich dazu in einen kleinen zweisitzigen Wagen zusammengepackt - denke dir Laurettas Jammern über den unbequemen Sitz -das Heulen der Möpse -das Geschnatter der Neapolitanerin -Teresinas Schmollen - meinen unsäglichen Schmerz am Fuße, und du wirst das Anmutige meiner Lage ganz empfinden. Teresina konnte es, wie sie sagte, nicht länger aushalten. Man hielt, mit einem Satz war sie aus dem Wagen heraus. Sie band mein Pferd los, setzte sich quer über den Sattel und trabte und kurbettierte vor uns her. Gestehen mußte ich, daß sie sich gar herrlich ausnahm. Die ihr in Gang und Stellung eigene Hoheit und Grazie zeigte sich noch mehr auf dem Pferde. Sie ließ sich die Chitarra hinausreichen, und die Zügel um den Arm geschlungen, sang sie stolze spanische Romanzen, volle Akkorde dazu greifend. Ihr helles seidenes Kleid flatterte, im schimmernden Faltenwurf spielend, und wie in den Tönen kosende Luftgeister nickten und wehten die weißen Federn auf ihrem Hute. Die ganze Erscheinung war hochromantisch; ich konnte kein Auge von Teresina wenden unerachtet Lauretta sie eine phantastische Närrin schalt, der die Keckheit übel bekommen würde. Es ging aber glücklich, das Pferd hatte allen Starrsinn verloren, oder es war ihm die Sängerin lieber als der Paladin, kurz - erst vor den Toren der Residenz kroch Teresina wieder ins Wagengehäuse hinein.

Sieh mich jetzt in Konzerten und Opern, sieh mich in aller möglichen Musik schwelgen - sieh mich als fleißigen Correpetitore am Flügel, Arien, Duetten und was weiß ich sonst einstudieren. Du merkst es dem ganz veränderten Wesen an, daß ein wunderbarer Geist mich durchdringt. Alle kleinstädtische Scheu ist abgeworfen, wie ein Maestro sitze ich am Flügel vor der Partitur, die Szenen meiner Donna dirigierend. — Mein ganzer Sinn - meine Gedanken sind süße Melodie. — Ich schreibe, unbekümmert um kontrapunktische Künste, allerlei Kanzonetten und Arien, die Lauretta singt, wiewohl nur im Zimmer. — Warum will sie nie etwas von mir im Konzert singen? — Ich begreife es nicht! — Aber Teresina erscheint mir zuweilen auf stolzem Roß mit der Lyra, wie die Kunst selbst, in kühner Romantik - unwillkürlich schreib ich manch hohes ernstes Lied! — Es ist wahr. Lauretta spielt mit den Tönen wie eine launische Feenkönigin. Was darf sie wagen, das ihr nicht glücke?. Teresina bringt keine Roulade heraus -ein simpler Vorschlag, ein Mordent höchstens, aber ihr langgehaltener Ton leuchtet durch finstern Nachtgrund, und wunderbare Geister werden wach und schauen mit ernsten Augen tief hinein in die Brust. — Ich weiß nicht, wie ich so lange dafür verschlossen sein konnte.

Das den Schwestern bewilligte Benefizkonzert war herangekommen, Lauretta sang mit mir eine lange Szene von Anfossi. Ich saß wie gewöhnlich am Flügel. Die letzte Fermate trat ein. Lauretta bot alle ihre Kunst auf, Nachtigalltöne wirbelten auf und ab - aushaltende Noten - dann bunte krause Rouladen, ein ganzes Solfeggio! In der Tat schien mir das Ding diesmal beinahe zu lang, ich fühlte einen leisen Hauch; Teresina stand hinter mir. In demselben Augenblick holte Lauretta aus zum anschwellenden Harmonikatriller, mit ihm wollte sie in das a tempo hinein. Der Satan regierte mich, nieder schlug ich mit beiden Händen den Akkord,

das Orchester folgte, geschehen war es um Laurettas Triller, um den höchsten Moment, der alles in Staunen setzen sollte. Lauretta, mit wütenden Blicken mich durchbohrend, riß die Partie zusammen, warf sie mir an den Kopf, daß die Stücke um mich her flogen, und rannte wie rasend durch das Orchester in das Nebengemach. Sowie das Tutti geschlossen, eilte ich nach. Sie weinte, sie tobte. ,Mir aus den Augen, Frevier', schrie sie mir entgegen - ,Teufel, der hämisch mich um alles gebracht - um meinen Ruhm, um meine Ehre — ach, um meinen Trillo -mir aus den Augen, verruchter Sohn der Hölle!' — Sie fuhr auf mich los, ich entsprang durch die Türe. Während des Konzerts, das eben jemand vortrug, gelang es endlich Teresinen und dem Kapellmeister, die Wütende so weit zu besänftigen, daß sie wieder vorzutreten sich entschloß; ich durfte aber nicht mehr an den Flügel. Im letzten Duett, das die Schwestern sangen, brachte Lauretta noch wirklich den anschwellenden Harmonikatriller an, wurde über die Maßen beklatscht und geriet in die beste Stimmung. Ich konnte indessen die üble Behandlung, die ich in Gegenwart so vieler fremder Personen von Lauretta erduldet, nicht verwinden und war fest entschlossen, den andern Morgen nach meiner Vaterstadt zurückzureisen. Eben packte ich meine Sachen zusammen, als Teresina in mein Stübchen trat. Mein Beginnen gewahrend, rief sie voll Erstaunen: ,Du willst uns verlassen?' Ich erklärte, daß, nachdem ich solche Schmach von Lauretta erduldet, ich länger in ihrer Gesellschaft nicht bleiben könne. ,Also die tolle Aufführung einer Närrin', sprach Teresina, ,die sie schon herzlich bereut, treibt dich fort? Kannst du denn aber besser leben in deiner Kunst als bei uns? Nur auf dich kommt es ja an, durch dein Betragen Lauretta von ähnlichem Beginnen abzuhalten. Du bist zu nachgiebig, zu süß, zu sanft. Überhaupt schlägst du Laurettas Kunst zu hoch an. Sie hat keine üble Stimme und viel Umfang, das ist wahr, aber alle diese sonderbaren wirblichten Schnörkel, die ungemessenen Läufe, diese ewigen Triller, was sind sie anders als blendende Kunststückchen, die so bewundert werden wie die waghalsigen Sprünge des Seiltänzers? Kann denn so etwas tief in uns eindringen und das Herz rühren? Den Harmonikatriller, den du verdorben, kann ich nun gar nicht leiden, es wird mir ängstlich und weh dabei. Und dann dies Hochhinaufklettern in die Region der drei Striche, ist das nicht ein erzwungenes Übersteigen der natürlichen Stimme, die doch nur allein wahrhaft rührend bleibt? Ich lobe mir die Mittel- und die tiefen Töne. Ein in das Herz dringender Laut, ein wahrhaftes Portamento di voce geht mir über alles. Keine unnütze Verzierung, ein fest und stark gehaltener Ton - ein bestimmter Ausdruck, der Seele und Gemüt erfaßt, das ist der wahre Gesang, und so singe ich. Magst du Lauretta nicht mehr leiden, so denke an Teresina, die dich so gern hat, weil du nach deiner eigentlichen Art und Weise eben mein Maestro und Compositore werden wirst. — Nimm mir's nicht übel! Alle deine zierlichen Kanzonetten und Arien sind gar nichts wert gegen das einzige.' — Teresina sang mit ihrer sonoren vollen Stimme einen einfachen kirchenmäßigen Kanzone, den ich vor wenigen Tagen gesetzt. Nie hatte ich geahnt, daß das so klingen könnte. Die Töne drangen mit wunderbarer Gewalt in mich hinein, die Tränen standen mir in den Augen vor Lust und Entzücken, ich ergriff Teresinas Hand, ich drückte sie tausendmal an den Mund, ich schwur. mich niemals von ihr zu trennen. — Lauretta sah mein Verhältnis mit Teresina mit neidischem verbissenen Ärger an, indessen sie bedurfte meiner, denn trotz ihrer Kunst war sie nicht imstande, Neues ohne Hülfe einzustudieren, sie las schlecht und war auch nicht taktfest. Teresina las alles vom Blatt, und daneben war ihr Taktgefühl ohnegleichen. Nie ließ Lauretta ihren Eigensinn und ihre Heftigkeit mehr aus als beim Akkompagnieren. Nie war ihr die Begleitung recht - sie behandelte das als ein notwendiges Übel - man sollte den Flügel gar nicht hören, immer pianissimo - immer nachgeben und nachgeben - jeder Takt anders, so wie es in ihrem Kopfe sich nun gerade gestaltet hatte im Moment. Jetzt setzte ich mich ihr mit festem Sinn entgegen, ich bekämpfte ihre Unarten, ich bewies ihr, daß ohne Energie keine Begleitung denkbar sei, daß Tragen des Gesanges sich merklich unterscheide von taktloser Zerflossenheit. Teresina unterstützte mich treulich. Ich komponierte nur Kirchensachen und gab alle Soli der tiefen Stimme. Auch Teresina hofmeisterte mich nicht wenig, ich ließ es mir gefallen, denn sie hatte mehr Kenntnis und (so glaubte ich) mehr Sinn für deutschen Ernst als Lauretta.

Wir durchzogen das südliche Deutschland. In einer kleinen Stadt trafen wir auf einen italienischen Tenor, der von Mailand nach Berlin wollte. Meine Damen waren entzückt über den Landsmann; er trennte sich nicht von ihnen, vorzüglich hielt er sich an Teresina, und zu meinem nicht geringen Ärger spielte ich eine ziemlich untergeordnete Rolle. Einst wollte ich mit einer Partitur unter dem Arm gerade ins Zimmer treten, als ich drinnen ein lebhaftes Gespräch zwischen meinen Damen und dem Tenor vernahm. Mein Name wurde genannt - ich stutzte, ich horchte. Das Italienische verstand ich jetzt so gut, daß mir kein Wort entging. Lauretta erzählte eben den tragischen Vorfall im Konzert, wie ich ihr durch unzeitiges Niederschlagen den Triller abgeschnitten. ,Asino tedesco', rief der Tenor - es war mir zumute, als müßte ich hinein und den luftigen Theaterhelden zum Fenster hinauswerfen - ich hielt an mich. Lauretta sprach weiter, daß sie mich gleich fortjagen wollen, indessen sei sie durch mein flehentliches Bitten bewogen worden, mich noch ferner um sich zu dulden aus Mitleid, da ich bei ihr den Gesang studieren wollen. Teresina bestätigte dies zu meinem nicht geringen Erstaunen. ,Es ist ein gutes Kind', fügte sie hinzu, ,jetzt ist er in mich verliebt und setzt alles für den Alt. Einiges Talent ist in ihm, aber er muß sich aus dem Steifen und Ungelenken herausarbeiten, das den Deutschen eigen. Ich hoffe mir aus ihm einen Compositore zu bilden, der mir, da wenig für den Alt geschrieben wird, einige

tüchtige Sachen setzt, nachher lasse ich ihn laufen. Er ist mit seinem Liebeln und Schmachten sehr langweilig, auch quält er mich zu sehr mit seinen leidigen Kompositionen, die zur Zeit ganz erbärmlich sind.' — ,Wenigstens bin ich ihn jetzt los', fiel Lauretta ein, ,was hat mich der Mensch verfolgt mit seinen Arien und Duetten, weißt du wohl noch, Teresina?' — Nun fing Lauretta ein Duett an, das ich komponiert und das sie sonst hoch gerühmt hatte. Teresina nahm die zweite Stimme auf, und beide parodierten in Stimme und Vortrag mich auf das grausamste. Der Tenor lachte, daß es im Zimmer schallte, ein Eisstrom goß sich durch meine Glieder - mein Entschluß war gefaßt unwiderruflich. Leise schlich ich mich fort von der Tür in mein Zimmer zurück, dessen Fenster in die Seitenstraße gingen. Gegenüber war die Post gelegen, eben fuhr der Bamberger Postwagen vor, der gepackt werden sollte. Die Passagiere standen schon vor dem Torwege, doch hatte ich noch eine Stunde Zeit. Schnell raffte ich meine Sachen zusammen, bezahlte großmütig die ganze Rechnung im Gasthofe und eilte nach der Post. Als ich durch die breite Straße fuhr, sah ich meine Damen. die mit dem Tenor noch am Fenster standen und sich auf den Schall des Posthorns herausbückten. Ich drückte mich zurück in den Hintergrund und dachte recht mit Lust an die tötende Wirkung des gallbittern Billetts, das ich für sie im Gasthofe e zurückgelassen hatte."

Mit vieler Behaglichkeit schlürfle Theodor die Neige des glühenden Eleatico aus, die ihm Eduard eingeschenkt. "Der Teresina", sprach dieser, indem er eine neue Flasche öffnete und geschickt den oben schwimmenden Öltropfen wegschüttete, "der Teresina hätte ich solche Falschheit und Tücke nicht zugetraut. Das anmutige Bild, wie sie zu Pferde, das in zierlichen Kurbetten dahertanzt, spanische Romanzen singt, kommt mir nicht aus den Gedanken." —"Das war ihr Kulminationspunkt", fiel Theodor ein. "Noch erinnere ich mich des seltsamen Eindrucks, den die Szene auf mich machte. Ich vergaß meine Schmerzen; Teresina kam mir in

der Tat wie ein höheres Wesen vor. Daß solche Momente tief ins Leben greifen und urplötzlich manches eine Form gewinnt, die die Zeit nicht verdüstert, ist nur zu wahr. Ist mir jemals eine kecke Romanze gelungen, so trat gewiß in dem Augenblick des Schaffens Teresinas Bild recht klar und farbicht aus meinem Innern hervor."

"Doch", sprach Eduard, "laß uns auch die kunstreiche Lauretta nicht vergessen und gleich, allen Groll beiseite gesetzt, auf das Wohl beider Schwestern anstoßen." — Es geschah! — "Ach", sprach Theodor, "wie wehen doch aus diesem Wein die holden Düfte Italiens mich an - wie glüht mir doch frisches Leben durch Nerven und Adern! — Ach, warum mußte ich doch das herrliche Land so schnell wieder verlassen!" — "Aber", fiel Eduard ein, "noch fand ich in allem, was du erzähltest, keinen Zusammenhang mit dem himmlischen Bilde, und so, glaube ich, hast du noch mehr von den Schwestern zu sagen. Wohl merke ich, daß die Damen auf dem Bilde keine anderen sind als eben Lauretta und Teresina selbst." — "So ist es in der Tat", erwiderte Theodor, "und meine sehnsüchtigen Stoßseufzer nach dem herrlichen Lande leiten sehr gut das ein, was ich noch zu erzählen habe. Kurz vorher, als ich vor zwei Jahren Rom verlassen wollte, machte ich zu Pferde einen kleinen Abstecher. Vor einer Locanda stand ein recht freundliches Mädchen, und es fiel mir ein, wie behaglich es sein müsse, mir von dem niedlichen Kinde einen Trunk edlen Weins reichen zu lassen. Ich hielt vor der Haustüre in dem von glühenden Streiflichtern durchglänzten Laubgange. Mir schallten aus der Ferne Gesang und Chitarratöne entgegen - ich horchte hoch auf, denn die beiden weiblichen Stimmen wirkten ganz sonderbar auf mich, seltsam gingen dunkle Erinnerungen in mir auf, die sich nicht gestalten wollten. Ich stieg vom Pferde und näherte mich langsam und auf jeden Ton lauschend der Weinlaube, aus der die Musik zu ertönen schien. Die zweite Stimme hatte geschwiegen. Die erste sang allein eine Kanzonetta. Je näher ich kam, desto mehr verlor sich

das Bekannte, das mich erst so angeregt hatte. Die Sängerin war in einer bunten krausen Fermate begriffen. Das wirbelte auf und ab - auf und ab - endlich hielt sie einen langen Ton - aber nun brach eine weibliche Stimme plötzlich in tolles Zanken aus -Verwünschungen, Flüche, Schimpfreden! — Ein Mann protestiert, ein anderer lacht. — Eine zweite weibliche Stimme mischt sich in den Streit. Immer toiler und toiler braust der Zank mit aller italienischen Rabbia! —Endlich stehe ich dicht vor der Laube - ein Abbate stürzt heraus und rennt mich beinahe über den Haufen - er sieht sich nach mir um, ich erkenne meinen guten Signor Ludovico, meinen musikalischen Neuigkeitsträger aus Rom! — ,Was um des Himmels willen', rufe ich -. ,Ah, Signor Maestro! — Signor Maestro', schreit er, ,retten Sie mich - schützen Sie mich vor dieser Wütenden - vor diesem Krokodil - diesem Tiger - dieser Hyäne - diesem Teufel von Mädchen. — Es ist wahr - es ist wahr - ich gab den Takt zu Anfossis Kanzonetta und schlug zu unrechter Zeit mitten in der Fermate nieder - ich schnitt ihr den Trillo ab - aber warum sah ich ihr in die Augen, der satanischen Göttin! Hole der Teufel alle Fermaten - alle Fermaten!' — In ganz besonderer Bewegung trat ich mit dem Abbate rasch in die Weinlaube und erkannte auf den ersten Blick die Schwestern Lauretta und Teresina. Noch schrie und tobte Lauretta, noch sprach Teresina heftig in sie hinein - der Wirt, die nackten Arme übereinandergeschlagen, schaute lachend zu, während ein Mädchen den Tisch mit neuen Flaschen besetzte. Sowie mich die Sängerinnen erblickten, stürzten sie über mich her: ,Ah, Signor Teodoro!' — und überhäuften mich mit Liebkosungen. Aller Streit war vergessen. ,Seht hier', sprach Lauretta zum Abbate, ,seht hier einen Compositore, graziös wie ein Italiener, stark wie ein Deutscher!' — Beide Schwestern, sich mit Heftigkeit ins Wort fallend, erzählten nun von den glücklichen Tagen unsers Beisammenseins, von meinen tiefen musikalischen Kenntnissen schon als Jüngling - von unsern Übungen — von der Vortreiflichkeit meiner Kompositionen - nie hätten sie etwas anderes singen mögen, als was ich gesetzt. — Teresina verkündigte mir endlich, daß sie von einem Impresario zum nächsten Karneval als erste tragische Sängerin engagiert worden, sie wolle aber erklären, daß sie nur unter der Bedingung singen werde, wenn mir wenigstens die Komposition einer tragischen Oper übertragen würde. — Das Ernste, Tragische sei doch nun einmal mein Fach und so weiter. — Lauretta meinte dagegen, schade sei es, wenn ich nicht meinem Hange zum Zierlichen, Anmutigen, kurz, zur Opera buffa nachgeben wollte. Für diese sei sie als erste Sängerin engagiert, und daß niemand anders als ich die Oper, in der sie zu singen hätte, komponieren solle, verstehe sich von selbst. Du kannst denken, mit welchen besonderen Gefühlen ich zwischen beiden stand. Übrigens siehst du, daß die Gesellschaft, zu der ich trat, eben diejenige ist, welche Hummel malte, und zwar in dem Moment, als der Abbate eben im Begriff ist, in Laurettas Fermate hineinzuschlagen." — "Aber dachten sie denn", sprach Eduard, "gar nicht an dein Scheiden, an das gallbittre Billett?" — "Auch nicht mit einem Worte", erwiderte Theodor, "und ich ebensowenig, denn längst war aller Groll aus meiner Seele gewichen und mein Abenteuer mit den Schwestern mir spaßhaft geworden. Das einzige, was ich mir erlaubte, war, dem Abbate zu erzählen, wie vor mehreren Jahren mir auch in einer Anfossisehen Arie ein ganz gleicher Unfall begegnet wie heute ihm. Ich drängte mein ganzes Beisammensein mit den Schwestern in die tragikomische Szene hinein und ließ, kräftige Seitenhiebe austeilend, die Schwestern das Übergewicht fühlen, das die an mancher Lebens- und Kunsterfahrung reichen Jahre mir über sie gegeben hatten. ,Und gut war es doch', schloß ich, ,daß ich hineinschlug in die Fermate, denn das Ding war angelegt auf ewige Zeiten, und ich glaube, ließ ich die Sängerin gewähren, so säß ich noch am Flügel.' — ,Doch! Signor', erwiderte der Abbate, ,welcher Maestro darf sich anmaßen, der Primadonna Gesetze zu geben, und dann war Ihr Vergehen viel größer als das meinige, im Konzertsaal, und hier in der Laube - eigentlich war ich nur Maestro in der Idee, niemand durfte was darauf geben - und hätte mich dieser himmlischen Augen süßer Feuerblick nicht betört, so wär ich nicht ein Esel gewesen.' Des Abbate letzte Worte waren heilbringend, denn Lauretta, deren Augen, während der Abbate sprach, wieder zornig zu funkeln anfingen, wurde dadurch ganz besänftigt.

Wir blieben den Abend über beisammen. Vierzehn Jahre, so lange war es her, als ich mich von den Schwestern trennte, ändern viel. Lauretta hatte ziemlich gealtert, indessen war sie noch jetzt nicht ohne Reiz. Teresina hatte sich besser erhalten und ihr schöner Wuchs nicht verloren. Beide gingen ziemlich bunt gekleidet, und ihr ganzer Anstand war wie sonst, also vierzehn Jahre jünger als sie selbst. Teresina sang auf meine Bitte einige der ernsten Lieder, die mich sonst tief ergriffen hatten, aber es war mir, als hätten sie anders in meinem Innern widergeklungen, und so war auch Laurettas Gesang, hatte ihre Stimme auch weder an Stärke und Höhe zu merklich verloren, ganz von dem verschieden, der als der ihrige in meinem Innern lebte. Schon diese Aufdringen der Vergleichung einer innern Idee mit der nicht eben erfreulichen Wirklichkeit mußte mich noch mehr verstimmen, als es das Betragen der Schwestern gegen mich, ihre erheuchelte Ekstase, ihre unzarte Bewunderung, die doch sich wie gnädige Protektion gestaltete, schon vorher getan hatte. — Der drollige Abbate, der mit aller nur erdenklichen Süßigkeit den Amoroso von beiden Schwestern machte, der gute Wein, reichlich genossen, gaben mir endlich meinen Humor wieder, so daß der Abend recht froh in heller Gemütlichkeit verging. Auf das eifrigste luden mich die Schwestern zu sich ein, um gleich mit ihnen das Nötige über die Partien zu verabreden, die ich für sie setzen sollte. — Ich verließ Rom, ohne sie weiter aufzusuchen."

"Und doch", sprach Eduard, "hast du ihnen das Erwachen deines innern Gesanges zu verdanken."'--"Allerdings", erwiderte Theodor, "und eine Menge guter Melodien dazu,

aber ebendeshalb hätte ich sie nie wiedersehen sollen. Jeder Komponist erinnert sich wohl eines mächtigen Eindrucks, den die Zeit nicht vernichtet. Der im Ton lebende Geist sprach, und das war das Schöpfungswort, welches urplötzlich den ihm verwandten, im Innern ruhenden Geist weckte: mächtig strahlte er hervor und konnte nie mehr untergehen. Gewiß ist es, daß, so angeregt, alle Melodien, die aus dem Innern hervorgehen, uns nur der Sängerin zu gehören scheinen, die den ersten Funken jauni warf. Wir hören sie und schreiben es nur auf, was sie gesungen. Es ist aber das Erbteil von uns Schwachen, daß wir, an der Erdscholle klebend, so gern das Überirdische hinabziehen wollen in die irdische ärmliche Beengtheit. So wird die Sängerin unsere Geliebte - wohl gar unsere Frau! — Der Zauber ist vernichtet, und die innere Melodie, sonst Herrliches verkündend, wird zur Klage über eine zerbrochene Suppenschüssel oder einen Tintenfleck in neuer Wäsche. — Glücklich ist der Komponist zu preisen, der niemals mehr im irdischen Leben die wiederschaut, die mit geheimnisvoller Kraft seine innere Musik zu entzünden wußte. Mag der Jüngling sich heftig bewegen in Liebesqual und Verzweiflung, wenn die holde Zauberin von ihm geschieden, ihre Gestalt wird ein himmelherrlicher Ton, und der lebt fort in ewiger Jugendfülle und Schönheit, und aus ihm werden die Melodien geboren, die nur sie und wieder sie sind. Was ist sie denn nun aber anders als das höchste Ideal, das aus dem Innern heraus sich in der äußern fremden Gestalt spiegelte."

"Sonderbar, aber ziemlich plausibel", sagte Eduard, als die Freunde Arm in Arm aus dem Taronischen Laden hinausschritten ins Freie.



Die Freunde stimmten darin überein, daß, wenn auch Theodors Erzählung nicht im eigentlichsten Sinn, wie er einmal angenommen, serapiontisch zu nennen, da er Bild und Gestalten, die er beschrieben, wohl auch mit leiblichen Augen geschaut, ihr doch eine gewisse frohe und freie Gemütlichkeit nicht abzusprechen und sie daher des Serapionklubs nicht ganz unwürdig zu nennen sei. "Du hast", sprach Ottmar, "du hast, mein lieber Freund Theodor. mir durch deine Erzählung deine Bestrebungen in der herrlichen Kunst der Musik recht vor Augen gebracht. Ein jeder von uns trachtete dich hin zu verlocken in ein anderes Gebiet. Während Lothar nur Instrumentalsachen von dir hören wollte. bestand ich auf komische Opern, und während Cyprian in, wie er jetzt eingestehen wird, gänzlich form- und regellosen Gedichten, die du komponieren solltest, dir das Unerhörte zutraute, gefielst du dich nur in ernster Kirchenmusik. So wie die Sachen nun einmal stehen, möchte doch wohl die ernste tragische Oper die höchste Stufe sein, die zu ersteigen der Komponist streben muß, und es ist mir unbegreiflich, daß du nicht schon längst ein solches Werk unternommen und etwas Tüchtiges geleistet hast."

"Wer anders", erwiderte Theodor, "wer anders ist denn schuld an meiner Säumnis als du, Ottmar, ebenso wie Cyprian, und Lothar? Hat sich wohl einer von euch entschließen können, mir eine Oper zu schreiben, alles Bittens, Flehens, Andringens unerachtet?"

"Wunderlicher Mensch", sprach Cyprian, "hab ich nicht genug mit dir über Operntexte gesprochen, verwarfst du nicht die sublimsten Ideen als gänzlich unausführbar? — Verlangtest du nicht zuletzt sonderbarerweise, daß ich förmlich Musik studieren solle, um deine Bedürfnisse verstehen und sie befriedigen zu können? — Da mußte mir ja wohl alle Lust zur Poesie der Art vergehen, als du, von dem ich das nimmermehr geglaubt, zeigtest, daß du ebensogut wie alle handwerksmäßige Komponisten, Kapellmeister und Musikdirektoren an der hergebrachten Form klebst und davon auf keine Weise abweichen willst."

"Was aber", nahm Lothar das Wort, "was aber gar nicht zu erklären ist. — Sagt, warum in aller Welt schreibt sich Theodor, der des Wortes, des poetischen Ausdrucks mächtig

ist, nicht selbst eine Oper? —Warum mutet er uns zu, daß wir Musiker werden sollen und unser dichterisches Talent verschwenden, nur um ein Ding zu schaffen, dem er erst Leben und Regung gibt? Kennt er nicht am besten sein Bedürfnis? Liegt es nicht bloß an der Imbezillität der mehrsten Komponisten, an ihrer einseitigen Ausbildung, daß sie anderer Hülfe bedürfen zu ihrem Werk? — Ist denn nicht vollkommene Einheit des Textes und der Musik nur denkbar, wenn Dichter und Komponist ein und dieselbe Person ist?"

"Das klingt", sprach Theodor, "das klingt alles ganz erstaunlich plausibel und ist doch so ganz und gar nicht wahr. Es ist, wie ich behaupte, unmöglich, daß irgendeiner allein ein Werk schaffe, gleich vortreiflich in Wort und Ton."

"Das", fuhr Lothar fort, "das, lieber Theodor, bildest du dir nur ein, entweder wegen unbilliger Mutlosigkeit oder wegen -angeborner Faulheit. Der Gedanke, dich erst durch die Verse durcharbeiten zu müssen, um zu den Tönen zu gelangen, ist dir so fatal, daß du dich gar nicht darauf einlassen magst, unerachtet ich doch glaube, daß dem begeisterten Dichter und Komponisten Ton und Wort in einem Moment zuströmt."

"Ganz gewiß", riefen Cyprian und Ottmar.

"Ihr treibt mich in die Enge", sprach Theodor, "erlaubt, daß ich statt aller Widerlegung euch ein Gespräch zweier Freunde über die Bedingnisse der Oper vorlese, das ich vor mehreren Jahren aufschrieb. — Die verhängnisvolle Zeit, die wir erlebt, war damals im Beginnen. Ich glaubte meine Existenz in der Kunst gefährdet, ja vernichtet, und mich überfiel eine Mutlosigkeit, die auch wohl in körperlichem Kränkeln ihren Grund haben mochte. — Ich schuf mir damals einen serapiontischen Freund, der statt des Kids das Schwert ergriffen. Er richtete mich auf in meinem Schmerz, er stieß mich hinein in das bunteste Gewühl der großen Ereignisse und Taten jener glorreichen Zeit."

Ohne weiteres begann Theodor:


Der Dichter und der Komponist

Der Feind war vor den Toren, das Geschütz donnerte ringsumher, und feuersprühende Granaten durchschnitten zischend die Luft. Die Bürger rannten mit von Angst gebleichten Gesichtern in ihre Wohnungen, und die öden Straßen erhallten von dem Pferdegetrappel der Reiterpatrouillen, die dahersprengten und fluchend die zurückgebliebenen Soldaten in die Schanzen trieben. Nur Ludwig saß in seinem Hinterstübchen, ganz vertieft und versunken in die herrliche, bunte, phantastische Welt, die ihm vor dem Flügel aufgegangen; er hatte soeben eine Symphonie vollendet, in der er alles das, was in seinem Innersten erklungen, in sichtbarlichen Noten festzuhalten gestrebt, und es sollte das Werk, wie Beethovens Kompositionen der Art, in göttlicher Sprache von den herrlichen Wundern des fernen, romantischen Landes reden, in dem wir, in unaussprechlicher Sehnsucht untergehend, leben; ja, es sollte selbst, wie eines jener Wunder, in das beengte, dürftige Leben treten und mit holden Sirenenstimmen die sich willig Hingebenden hinauslokken. Da trat die Wirtin ins Zimmer, scheltend, wie er in dieser allgemeinen Angst und Not nur auf dem Flügel spielen könne und ob er sich denn in seinem Dachstübchen totschießen lassen wolle. Ludwig begriff die Frau eigentlich nicht, bis in dem Augenblick eine daherbrausende Granate ein Stück des Dachs wegriß und die Fensterscheiben klirrend hineinwarf; da rannte die Wirtin schreiend und jammernd die Treppe hinab, und Ludwig eilte, sein Liebstes, was er nun besaß, nämlich die Partitur der Symphonie, unter dem Arm tragend, ihr nach in den Keller. Hier war die ganze Hausgenossenschaft versammelt. In einem Anfall von Liberalität, die ihm sonst gar nicht eigen, hatte der im untern Stock wohnende Weinwirt ein paar Dutzend Flaschen seines besten Weins preisgegeben, die Frauen brachten unter Zittern und Zagen, doch wie immer auf des Leibes Nahrung und Notdurft sorglich bedacht, manches köstliche Stück aus

ihrem Küchenvorrat im zierlichen Strickkörbchen herbei; man aß, man trank - man ging aus dem durch Angst und Not exaltierten Zustand bald über in das gemütliche Behagen, wo Nachbar, an Nachbar sich schmiegend, Sicherheit sucht und zu finden glaubt und gleichsam jeder kleinliche künstliche Pas, den die Konvenienz gelehrt, in dem großen Dreher untergeht, zu dem des Schicksals eherne Faust den gewaltigen Takt schlägt. Vergessen war der bedrängte Zustand, ja die augenscheinliche Lebensgefahr, und muntere Gespräche ergossen sich von begeisterten Lippen. Hausbewohner, die, sich auf der Treppe begegnend, kaum den Hut gerückt, saßen Hand in Hand beieinander, ihr Innerstes in wechselseitiger, herzlicher Teilnahme aufschließend. Sparsamer fielen die Schüsse, und mancher sprach schon vom Heraufsteigen, da die Straße sicher zu werden scheine. Ein alter Militär ging weiter und bewies soeben, nachdem er zuvor über die Befestigungskunst der alten Römer und über die Wirkung der Katapulte ein paar lehrreiche Worte fallen lassen, auch aus neuerer Zeit des Vauban mit Ruhm erwähnt, daß alle Furcht unnütz sei, da das Haus ganz außer der Schußlinie liege - als eine anschlagende Kugel die Ziegelsteine, womit man die Zuglöcher verwahrt, in den Keller schleuderte. Niemand wurde indessen beschädigt, und als der Militär mit dem vollen Glase auf den Tisch sprang, von dem die Ziegelsteine die Flaschen hinabgeworfen, und jeder fernern Kugel Hohn sprach, kehrte allen der Mut wieder. — Dies war indessen auch der letzte Schreck; die Nacht verging ruhig, und am andern Morgen erfuhr man, daß die Armee eine andere Stellung genommen und dem Feinde freiwillig die Stadt geräumt habe. Als man den Keller verließ, durchstreiften schon feindliche Reiter die Stadt, und ein öffentlicher Anschlag sagte den Einwohnern Ruhe und Sicherheit des Eigentums zu. Ludwig warf sich in die bunte Menge, die, auf das neue Schauspiel begierig, dem feindlichen Heerführer entgegenzog, der unter dem lustigen Klange der Trompeten, umgeben von glänzend gekleideten Garden, eben durch das Tor ritt. — Kaum traute er seinen Augen, als er unter den Adjutanten seinen innig geliebten akademischen Freund Ferdinand erblickte, der in einfacher Uniform, den linken Arm in einer Binde tragend, auf einem herrlichen Falben dicht bei ihm vorüberkurbettierte. "Er war es — er war es wahr und wahrhaftig selbst!" rief Ludwig unwillkürlich aus. Vergebens suchte er dem Freunde zu folgen, den das flüchtige Roß schnell davontrug, und gedankenvoll eilte Ludwig in sein Zimmer zurück; aber keine Arbeit wollte vonstatten gehn, die Erscheinung des alten Freundes, den er seit Jahren ganz aus dem Gesichte verloren, erfüllte sein Inneres, und wie in hellem Glanz trat die glückselige Jugendzeit hervor, die er mit dem gemütlichen Ferdinand verlebt. Ferdinand hatte damals keinesweges irgendeine Tendenz zum Soldatenstande gezeigt; er lebte ganz den Musen, und manches geniale Erzeugnis beurkundete seinen Beruf zum Dichter. Um so weniger begreiflich war daher Ludwigen die Umformung seines Freundes, und er brannte vor Begierde, ihn zu sprechen, ohne zu wissen, wie er es anfangen solle, ihn aufzufinden. — Immer lebendiger und lebendiger wurde es nun am Orte; ein großer Teil der feindlichen Armeen zog durch, und an ihrer Spitze kamen die verbündeten Fürsten, welche sich daselbst einige Tage Ruhe gönnten. Je größer aber nun das Gedränge im Hauptquartier wurde, desto mehr schwand Ludwigen die Hoffnung, den Freund wiederzusehen, bis dieser endlich in einem entlegenen, wenig besuchten Kaffeehause, wo Ludwig sein frugales Abendbrot zu verzehren pflegte, ihm ganz unerwartet mit einem lauten Ausruf der innigsten Freude in die Arme fiel. Ludwig blieb stumm, denn ein gewisses unbehagliches Gefühl verbitterte ihm den ersehnten Augenblick des Wiederfindens. Es war ihm, wie manchmal im Traume man die Geliebten umarmt und diese sich nun schnell fremdartig umgestalten, so daß die schönsten Freuden schnell untergehen im höhnenden Gaukelspiel. — Der sanfte Sohn der Musen, der Dichter manches romantischen Liedes, das Ludwig in Klang und Ton gekleidet hatte, stand vor ihm im hohen Helmbusch, den gewaltigen, klirrenden Säbel an der Seite, und verleugnete selbst seine Stimme, im harten, rauhen Ton aufjauchzend! Ludwigs düsterer Blick fiel auf den verwundeten Arm und glitt hinauf zu dem Ehrenorden, den Ferdinand auf der Brust trug. Da umschlang ihn Ferdinand mit dem rechten Arm und drückte ihn heftig und stark an sein Herz. "Ich weiß", sagte er, "was du jetzo denkst, was du empfindest bei unserm Zusammentreffen! — Das Vaterland rief mich, und ich durfte nicht zögern, dem Rufe zu folgen. Mit der Freude, mit dem glühenden Enthusiasmus, den die heilige Sache entzündet hat in jedes Brust, den die Feigherzigkeit nicht zum Sklaven stempelt, ergriff diese Hand, sonst nur gewohnt, den leichten Kiel zu führen, das Schwert! Schon ist mein Blut geflossen, und nur der Zufall, der es wollte, daß ich unter den Augen des Fürsten meine Pflicht tat, erwarb mir den Orden. Aber glaube mir, Ludwig! die Saiten, die so oft in meinem Innern erklungen und deren Töne so oft zu dir gesprochen, sind noch unverletzt; ja, nach grausamer, blutiger Schlacht, auf einsamen Posten, wenn die Reiter im Bivouac um das Wachtfeuer lagen, da dichtete ich in hoher Begeisterung manches Lied, das in meinem herrlichen Beruf, zu streiten für Ehre und Freiheit, mich erhob und stärkte." Ludwig fühlte, wie sein Inneres sich aufschloß bei diesen Worten, und als Ferdinand mit ihm in ein kleines Seitengemach getreten und Kaskett und Säbel abgelegt, war es ihm, als habe der Freund ihn nur in wunderlicher Verkleidung geneckt, die er jetzt abgeworfen. Als beide Freunde nun das kleine Mahl verzehrten, das ihnen indessen aufgetragen war, und die Gläser, aneinandergestoßen, lustig erklangen, da erfüllte sie froher Mut und Sinn, die alte, herrliche Zeit umfing sie mit allen ihren bunten Farben und Lichtern, und alle jene holdseligen Erscheinungen, die ihr vereintes Kunststreben wie mit mächtigem Zauber hervorgerufen, kamen wieder in herrlichem Glanze erneuter Jugend. Ferdinand erkundigte sich angelegentlich nach dem, was Ludwig unter der Zeit komponiert habe, und war höchlich verwundert, als dieser ihm gestand, daß er noch immer nicht dazu gekommen sei, eine Oper zu setzen und auf das Theater zu bringen, da ihn bis jetzt durchaus kein Gedicht, was Sujet und Ausarbeitung anbelange, zur Komposition habe begeistern können.

"Ich begreife nicht", sagte Ferdinand, "daß du selbst, dem es bei einer höchst lebendigen Phantasie durchaus nicht an der Erfindung des Stoffs fehlen kann und dem die Sprache hinlänglich zu Gebote steht, dir nicht längst eine Oper gedichtet hast!"

Ludwig: Ich will dir zugestehen, daß meine Phantasie wohl lebendig genug sein mag, manches gute Opernsujet zu erfinden, ja daß, zumal wenn nachts ein leichter Kopfschmerz mich in jenen träumerischen Zustand versetzt, der gleichsam der Kampf zwischen Wachen und Schlafen ist, mir nicht allein recht gute, wahrhaft romantische Opern vorkommen, sondern wirklich vor mir aufgeführt werden mit meiner Musik. Was indessen die Gabe des Festhaltens und Aufschreibens betrifft, so glaube ich, daß sie mir fehlt, und es ist uns Komponisten auch in der Tat kaum zuzumuten, daß wir uns jenen mechanischen Handgriff, der in jeder Kunst zum Gelingen des Werks nötig und den man, nur durch steten Fleiß und anhaltende Übung erlangt, aneignen sollen, um unsere Verse selbst zu bauen. Hätte ich aber auch die Fertigkeit erworben, ein gedachtes Sujet richtig und mit Geschmack in Szenen und Verse zu setzen, so würde ich mich doch kaum entschließen können, mir selbst eine Oper zu dichten.

Ferdinand: Aber niemand könnte ja in deine musikalischen Tendenzen so eingehen als du selbst.

Ludwig: Das ist wohl wahr; mir kommt es indessen vor, als müsse dem Komponisten, der sich hinsetzte, ein gedachtes Opernsujet in Verse zu bringen, so zumute werden wie dem Maler, der von dem Bilde, das er in der Phantasie empfangen, erst einen mühsamen Kupferstich zu verfertigen genötigt

würde, ehe man ihm erlaubte, die Malerei mit lebendigen Farben zu beginnen.

Ferdinand: Du meinst, das zum Komponieren nötige Feuer würde verknistern und verdampfen bei der Versifikation?

Ludwig: Inder Tat, so ist es! Und am Ende würden mir meine Verse selbst nur armselig vorkommen wie die papiernen Hülsen der Raketen, die gestern noch in feurigem Leben prasselnd in die Lüfte fuhren. — Im Ernste aber, mir scheint zum Gelingen des Werks es in keiner Kunst so nötig, das Ganze mit allen seinen Teilen bis in das kleinste Detail im ersten, regsten Feuer zu ergreifen, als in der Musik: denn nirgends ist das Feilen und Ändern untauglicher und verderblicher, so wie ich aus Erfahrung weiß, daß die zuerst gleich bei dem Lesen eines Gedichts wie durch einen Zauberschlag erweckte Melodie allemal die beste, ja vielleicht im Sinn des Komponisten die einzig wahre ist. Ganz unmöglich würde es dem Musiker sein, sich nicht gleich bei dem Dichten mit der Musik, die die Situation hervorgerufen, zu beschäftigen. Ganz hingerissen und nur arbeitend in den Melodien, die ihm zuströmten, würde er vergebens nach den Worten ringen, und gelänge es ihm, sich mit Gewalt dazu zu treiben, so würde jener Strom, brauste er auch noch so gewaltig in hohen Wellen daher, gar bald wie im unfruchtbaren Sande versiegen. Ja, um noch bestimmter meine innere Überzeugung auszusprechen: in dem Augenblick der musikalischen Begeisterung würden ihm alle Worte, alle Phrasen ungenügend - matt - erbärmlich vorkommen, und er müßte von seiner Höhe herabsteigen, um in der untern Region der Worte für das Bedürfnis seiner Existenz betteln zu können. Würde aber hier ihm nicht bald, wie dem eingefangenen Adler, der Fittich gelähmt werden und er vergebens den Flug zur Sonne versuchen?

Ferdinand: Das läßt sich allerdings hören; aber weißt du wohl, mein Freund, daß du mehr deine Unlust, dir erst durch all die nötigen Szenen, Arien, Duetten etc, den Weg

zum musikalischen Schaffen zu bahnen, entschuldigst, als mich überzeugst?

Ludwig: Mag das sein; aber ich erneuere einen alten Vorwurf: Warum hast du schon damals, als gleiches Kunststreben uns so innig verband, nie meinem innigen Wunsche genügen wollen, mir eine Oper zu dichten?

Ferdinand: Weil ich es für die undankbarste Arbeit von der Welt halte. — Du wirst mir eingestehen, daß niemand eigensinniger in seinen Forderungen sein kann, als ihr es seid, ihr Komponisten; und wenn du behauptest, daß es dem Musiker nicht zuzumuten sei, daß er sich den Handgriff, den die mechanische Arbeit der Versifikation erfordert, aneigne, so meine ich dagegen, daß es dem Dichter wohl gar sehr zur Last fallen dürfe, sich so genau um cure Bedürfnisse, um die Struktur curer Terzetten, Quartetten, Finalen etc. zu bekümmern, um nicht, wie es denn leider uns nur zu oft geschieht, jeden Augenblick gegen die Form, die ihr nun einmal angenommen, mit welchem Recht, mögt ihr selbst wissen, zu sündigen. Haben wir in der höchsten Spannung darnach getrachtet, jede Situation in wahrer Poesie zu ergreifen und in den begeistertsten Worten, den geründetsten Versen zu malen, so ist es ja ganz erschrecklich, daß ihr oft unsere schönsten Verse unbarmherzig wegstreichet und unsere herrlichsten Worte oft durch Verkehren und Umwenden mißhandelt, ja im Gesange ersäufet. — Das will ich nur von der vergeblichen Mühe des sorglichen Ausarbeitens sagen. Aber selbst manches herrliche Sujet, das uns in dichterischer Begeisterung aufgegangen und mit dem wir stolz, in der Meinung, euch hoch zu beglücken, vor euch treten, verwerft ihr geradezu als untauglich und unwürdig des musikalischen Schmuckes. Das ist denn doch oft purer Eigensinn oder was weiß ich sonst; denn oft macht ihr euch an Texte, die unter dem Erbärmlichen stehen, und -

Ludwig: Halt, lieber Freund! — Es gibt freilich Komponisten, denen die Musik so fremd ist wie manchen Versedrechslern

die Poesie: die haben denn oft jene wirklich in jeder Hinsicht unter dem Erbärmlichen stehende Texte in Noten gesetzt. Wahrhafte, in der herrlichen, heiligen Musik lebende und webende Komponisten wählten nur poetische Texte.

Ferdinand: Aber Mozart...?

Ludwig: Wählte nur der Musik wahrhaft zusagende Gedichte zu seinen klassischen Opern, so paradox dies manchem scheinen mag. — Doch davon hier jetzt abgesehen, meine ich, daß es sich sehr genau bestimmen ließe, was für ein Sujet für die Oper paßt, so daß der Dichter nie Gefahr laufen könnte, darin zu irren.

Ferdinand: Ich gestehe, nie darüber nachgedacht zu haben, und bei dem Mangel musikalischer Kenntnisse würden mir auch die Prämissen gefehlt haben.

Ludwig: Wenn du unter musikalischen Kenntnissen die sogenannte Schule der Musik verstehst, so bedarf es deren nicht, um richtig über das Bedürfnis der Komponisten zu urteilen: denn ohne diese kann man das Wesen der Musik so erkannt haben und so in sich tragen, daß man in dieser Hinsicht ein viel besserer Musiker ist als der, der, im Schweiße seines Angesichts die ganze Schule in ihren mannigfachen Irrgängen durcharbeitend, die tote Regel, wie den selbstgeschnitzten Fetisch, als den lebendigen Geist verherrlicht und den dieser Götzendienst um die Seligkeit des höhern Reichs bringt.

Ferdinand: Und du meinst, daß der Dichter in jenes wahre Wesen der Musik eindringe, ohne daß ihm die Schule jene niedrigem Weihen erteilt hat?

Ludwig: Allerdings! —Ja, in jenem fernen Reiche, das uns oft in seltsamen Ahnungen umfängt und aus dem wunderbare Stimmen zu uns herabtönen und alle die Laute wecken, die in der beengten Brust schliefen und die, nun erwacht, wie in feurigen Strahlen freudig und froh heraufschießen, so daß wir der Seligkeit jenes Paradieses teilhaftig werden — da sind Dichter und Musiker die innigst verwandten Glieder

einer Kirche: denn das Geheimnis des Worts und des Tons ist ein und dasselbe, das ihnen die höchste Weihe erschlossen.

Ferdinand: Ich höre meinen lieben Ludwig, wie er in tiefen Sprüchen das geheimnisvolle Wesen der Kunst zu erfassen strebt, und in der Tat, schon jetzt sehe ich den Raum schwinden, der mir sonst den Dichter vom Musiker zu trennen schien.

Ludwig: Laß mich versuchen, meine Meinung über das wahre Wesen der Oper auszusprechen. In kurzen Worten: Eine wahrhafte Oper scheint mir nur die zu sein, in welcher die Musik unmittelbar aus der Dichtung als notwendiges Erzeugnis derselben entspringt.

Ferdinand: Ich gestehe, daß mir das noch nicht ganz eingeht.

Ludwig: Ist nicht die Musik die geheimnisvolle Sprache eines fernen Geisterreichs, deren wunderbare Akzente in unserm Innern widerklingen und ein höheres, intensives Leben erwecken? Alle Leidenschaften kämpfen, schimmernd und glanzvoll gerüstet, miteinander und gehen unter in einer unaussprechlichen Sehnsucht, die unsere Brust erfüllt. Dies ist die unnennbare Wirkung der Instrumentalmusik. Aber nun soll die Musik ganz ins Leben treten, sie soll seine Erscheinungen ergreifen und, Wort und Tat schmückend, von bestimmten Leidenschaften und Handlungen sprechen. Kann man denn vom Gemeinen in herrlichen Worten reden? Kann denn die Musik etwas anderes verkünden als die Wunder jenes Landes, von dem sie zu uns herübertönt? — Der Dichter rüste sich zum kühnen Fluge in das ferne Reich der Romantik; dort findet er das Wundervolle, das er in das Leben tragen soll, lebendig und in frischen Farben erglänzend, so daß man willig daran glaubt, ja daß man, wie in einem beseligenden Traume, selbst dem dürftigen, alltäglichen Leben entrückt, in den Blumengängen des romantischen Landes wandelt und nur seine Sprache, das in Musik ertönende Wort, versteht.

Ferdinand: Du nimmst also ausschließlich die romantische Oper mit ihren Feen, Geistern, Wundern und Verwandlungen in Schutz?

Ludwig: Allerdings halte ich die romantische Oper fur die einzig wahrhafte, denn nur im Reich der Romantik ist die Musik zu Hause. Du wirst mir indessen wohl glauben, daß ich diejenigen armseligen Produkte, in denen läppische, geistlose Geister erscheinen und ohne Ursache und Wirkung Wunder auf Wunder gehäuft werden, nur um das Auge des müßigen Pöbels zu ergötzen, höchlich verachte. Eine wahrhaft romantische Oper dichtet nur der geniale, begeisterte Dichter: denn nur dieser führt die wunderbaren Erscheinungen des Geisterreichs ins Leben; auf seinem Fittich schwingen wir uns über die Kluft, die uns sonst davon trennte, und einheimisch geworden in dem fremden Lande, glauben wir an die Wunder, die als notwendige Folgen der Einwirkung höherer Naturen auf unser Sein sichtbarlich geschehen und alle die starken, gewaltsam ergreifenden Situationen entwickeln, welche uns bald mit Grausen und Entsetzen, bald mit der höchsten Wonne erfüllen. Es ist, mit einem Wort, die Zauberkraft der poetischen Wahrheit, welche dem das Wunderbare darstellenden Dichter zu Gebote stehen muß, denn nur diese kann uns hinreißen, und eine bloß grillenhafte Folge zweckloser Feereien, die, wie in manchen Produkten der Art, oft bloß da sind, um den Pagliasso im Knappenkleide zu necken, wird uns als albern und possenhaft immer kalt und ohne Teilnahme lassen. — Also, mein Freund, in der Oper soll die Einwirkung höherer Naturen auf uns sichtbarlich geschehen und so vor unsern Augen sich ein romantisches Sein erschließen, in dem auch die Sprache höher potenziert oder vielmehr jenem fernen Reiche entnommen, das heißt Musik, Gesang ist, ja wo selbst Handlung und Situation, in mächtigen Tönen und Klängen schwebend, uns gewaltiger ergreift und hinreißt. Auf diese Art soll, wie ich vorhin behauptete, die Musik unmittelbar und notwendig aus der Dichtung entspringen.

Ferdinand: Jetzt verstehe ich dich ganz und denke an den Ariost und den Tasso; doch glaube ich, daß es eine schwere Aufgabe sei, nach deinen Bedingnissen das musikalische Drama zu formen.

Ludwig: Es ist das Werk des genialen, wahrhaft romantischen Dichters. — Denke an den herrlichen Gozzi. In seinen dramatischen Märchen hat er das ganz erfüllt, was ich von dem Operndichter verlange, und es ist unbegreiflich, wie diese reiche Fundgrube vortreiflicher Opernsujets bis jetzt nicht mehr benutzt worden ist.

Ferdinand: Ich gestehe, daß mich der Gozzi, als ich ihn vor mehreren Jahren las, auf das lebhafteste ansprach, wiewohl ich ihn von dem Punkte, von dem du ausgehst, natürlicherweise nicht beachtet habe.

Ludwig: Eins seiner schönsten Märchen ist unstreitig "Der Rabe". —Millo, König von Frattombrosa, kennt kein anderes Vergnügen als die Jagd. Er erblickt im Walde einen herrlichen Raben und durchbohrt ihn mit dem Pfeil. Der Rabe stürzt herab auf ein Grabmal vom weißesten Marmor, das unter dem Baume aufgerichtet ist, und bespritzt es, zum Tode erstarrend, mit seinem Blute. Da erbebt der ganze Wald, und aus einer Grotte schreitet ein fürchterliches Ungeheuer hervor, das dem armen Millo den Fluch zudonnert: "Findest du kein Weib, weiß wie des Grabmals Marmor, rot wie des Raben Blut, schwarz wie des Raben Federn, so stirb in wütendem Wahnsinn." — Vergebens sind alle Nachforschungen nach einem solchen Weibe. Da beschließt des Königs Bruder, Jennaro, der ihn auf das zärtlichste liebt, nicht eher zu ruhen und zu rasten, bis er die Schöne, die den Bruder rettet vom verzehrenden Wahnsinn, gefunden. Er durchstreicht Länder und Meere, endlich sieht er, von einem in der Nekromantik erfahrnen Greise auf die Spur geleitet, Armilla, die Tochter des mächtigen Zauberers Norand. Ihre Haut ist weiß wie des Grabmals Marmor, rot wie des Raben Blut; schwarz wie des Raben Federn sind Haare und Augenbraunen; es gelingt ihm, sie zu rauben, und bald sind sie,

nach ausgestandenem Sturm, in der Nähe von Frattombrosa gelandet. -Ein herrliches Roß und einen Falken von den seltensten Eigenschaften spielt ihm, als er kaum ans Ufer getreten, der Zufall in die Hände. und er ist voll Entzücken. nicht allein den Bruder retten, sondern ihn überdem auch mit Geschenken, die ihm so wert sein müssen, erfreuen zu können. Jennaro will in einem Zelt, das man unter einem Baume aufgeschlagen, ausruhen: da setzen sich zwei Tauben in die Zweige und fangen an zu sprechen: "Weh dir, Jennaro, daß du geboren bist! Der Falke wird dem Bruder die Augen auspicken; überreichst du ihn nicht oder verrätst du, was du weißt, so wirst du zu Stein. —Besteigt dein Bruder das Roß, so wird es ihn augenblicklich töten; gibst du es ihm nicht oder verrätst du, was du weißt, so wirst du zu Stein." Vermählt sich Millo mit Armilla, so wird ihn in der Nacht ein Ungeheuer zerfleischen; übergibst du ihm Armilla nicht oder verrätst du. was du weißt, so wirst du zu Stein." — Norand erscheint und bestätigt den Ausspruch der Tauben, der die Strafe für Armillas Raub enthält. — In dem Augenblick, als Millo Armilla sieht, ist er von dem Wahnsinn, der ihn ergriffen, geheilt. Das Roß und der Falke werden gebracht, und der König ist entzückt über die Liebe des Bruders, der durch herrliche Geschenke seinen Lieblingsneigungen schmeichelt. Jennaro trägt ihm den Falken entgegen, aber als Millo ihn ergreifen will, haut Jennaro dem Falken den Kopf ab, und des Bruders Augen sind gerettet. Ebenso, als Millo schon den Fuß in den Bügel setzt, um das Roß zu besteigen, zieht Jennaro das Schwert und haut dem Pferde auf einen Streich beide Vorderbeine ab, daß es zusammenstürzt. Millo glaubt nun überzeugt zu sein, daß eine wahnsinnige Liebe den Bruder zu diesem Betragen reize; und Armilla bestätigt die Vermutung, da Jennaros heimliche Seufzer und Tränen, sein zerstreutes ausschweifendes Betragen in ihr längst den Argwohn erzeugt haben, daß er sie liebe. Sie versichert dem Könige ihre innigste Neigung, die schon früher dadurch entstanden sei, daß Jennaro während der Reise von ihm, dem geliebten Bruder, auf die lebhafteste und rührendste Weise gesprochen. Sie bittet nun ihrerseits, um jeden Verdacht zu entfernen, die Verbindung zu beschleunigen, die denn auch vor sich geht. Jennaro sieht seines Bruders Untergang vor Augen; er ist in Verzweiflung, sich so verkannt zu sehen, und doch droht ihm ein gräßliches Verhängnis, wenn nur ein Wort des fürchterlichen Geheimnisses seinen Lippen entflieht. Da beschließt er. es koste, was es wolle, seinen Bruder zu retten, und dringt in der Nacht durch einen unterirdischen Gang in das Schlafzimmer des Königs. Ein fürchterlicher, feuersprühender Drache erscheint, Jennaro fällt ihn an, aber seine Streiche sind fruchtlos. Das Ungeheuer nähert sich dem Schlafzimmer; da faßt er in höchster Verzweiflung das Schwert mit beiden Händen, und der fürchterliche Streich, der das Ungeheuer töten soll, spaltet die Türe. Millo kommt aus dem Schlafzimmer, und da das Ungeheuer verschwunden, sieht er in dem Bruder den Meineidigen, den der Wahnsinn einer verräterischen Liebe zum Brudermorde treibt. Jennaro kann sich nicht entschuldigen; er wird von den herbeigerufenen Wachen entwaffnet und ins Gefängnis geschleppt. Er soll die ihm aufgebürdete Tat mit dem Leben auf dem Richtplatz büßen: aber noch vor dem Tode will er den heißgeliebten Bruder sprechen. Millo gibt ihm Gehör; Jennaro erinnert ihn in den rührendsten Worten an die innige Liebe, die sie seit ihrer Geburt verband: aber als er fragt, ob er ihn wohl für fähig halte, den Bruder zu morden, verlangt Millo Beweise der Unschuld, und nun entdeckt Jennaro unter wütendem Schmerz die verhängnisvollen gräßlichen Prophezeiungen der Tauben und des Nekromanten Norand. Aber zum starren Entsetzen Millos steht er nach den letzten Worten in eine Marmorstatue verwandelt da. Nun erkennt Millo Jennaros Bruderliebe, und von den herzzerreißendsten Vorwürfen gemartert, beschließt er, die Statue des geliebten Bruders nie mehr zu verlassen, sondern zu ihren Füßen in Reue und Verzweiflung zu sterben. Da erscheint Norand. "In des Schicksals ewigem Gesetzbuch", spricht er, "war des Raben Tod, dein Fluch, Armillens Raub geschrieben. Dem Bruder gibt nur eine Tat das Leben wieder, aber diese Tat ist gräßlich. — Durch diesen Dolch sterbe Armilla an der Seite der Statue, und im Leben erglüht der kalte Marmor, von ihrem Blut bespritzt. Hast du Mut, Armilla zu morden, tu es! Jammere, klage, sowie ich — Er verschwindet. Armilla entreißt dem unglücklichen Millo das Geheimnis von Norands schrecklichen Worten. Millo verläßt sie in Verzweiflung; und von Grausen und Entsetzen erfüllt, das Leben nicht mehr achtend, durchstößt sich Armilla selbst mit dem Dolch, den Norand hingeworfen. Sowie ihr Blut die Statue bespritzt, kehrt Jennaro in das Leben zurück. Millo kommt — er sieht den Bruder belebt, aber die Geliebte tot daliegend. Verzweiflungsvoll will er sich mit demselben Dolche, der Armilla tötete, ermorden. Da verwandelt sich plötzlich die finstere Gruft in einen weiten glänzenden Saal. Norand erscheint: das große, geheimnisvolle Verhängnis ist erfüllt, alle Trauer geendet, Armilla lebt, von Norand berührt, wieder auf, und alles endet glücklich.

Ferdinand: Ich erinnere mich jetzt ganz genau des herrlichen, phantastischen Stücks, und noch fühle ich den tiefen Eindruck, den es auf mich machte. Du hast recht, das Wunderbare erscheint hier als notwendig und ist so poetisch wahr, daß man willig daran glaubt. Es ist Millos Tat, der Mord des Raben, die gleichsam an die eherne Pforte des dunklen Geisterreichs anschlägt, und nun geht sie klingend auf, und die Geister schreiten hinein in das Leben und verstricken die Menschen in das wunderbare, geheimnisvolle Verhängnis, das über sie waltet.

Ludwig: So ist es, und nun betrachte die starken, herrlichen Situationen, die der Dichter aus diesem Konflikt mit der Geisterwelt zu ziehen wußte. Jennaros heroische Aufopferung, Armillas Heldentat - es liegt eine Größe darin, von der unsere moralischen Schauspieldichter, in den Armseligkeiten des alltäglichen Lebens wie in dem Auskehricht,

der aus dem Prunksaal in den Schuttkarren geworfen, wühlend, gar keine Idee haben. Wie herrlich sind nun auch die komischen Partien der Masken eingeflochten.

Ferdinand: Jawohl! — Nur im wahrhaft Romantischen mischt sich das Komische mit dem Tragischen so gefügig, daß beides zum Totaleffekt in eins verschmilzt und das Gemüt des Zuhörers auf eine eigne, wunderbare Weise ergreift.

Ludwig: Das haben selbst unsere Opernfabrikanten dunkel gefühlt. Denn daher sind wohl die sogenannten heroischkomischen Opern entstanden, in denen oft das Heroische wirklich komisch, das Komische aber nur insofern heroisch ist, als es sich mit wahrem Heroismus über alles wegsetzt, was Geschmack, Anstand und Sitte fordern.

Ferdinand: So wie du das Bedingnis des Operngedichts feststellst, haben wir in der Tat sehr wenig wahre Opern.

Ludwig: So ist es! — Die mehrsten sogenannten Opern sind nur leere Schauspiele mit Gesang, und der gänzliche Mangel dramatischer Wirkung, den man bald dem Gedicht, bald der Musik zur Last legt, ist nur der toten Masse aneinandergereihter Szenen ohne innern poetischen Zusammenhang und ohne poetische Wahrheit zuzuschreiben, die die Musik nicht zum Leben entzünden konnte. Oft hat der Komponist unwillkürlich ganz für sich gearbeitet, und das armselige Gedicht läuft nebenher, ohne in die Musik hineinkommen zu können. Die Musik kann dann in gewissem Sinn recht gut sein, das heißt, ohne durch innere Tiefe mit magischer Gewalt den Zuhörer zu ergreifen, ein gewisses Wohlbehagen erregen, wie ein munteres, glänzendes Farbenspiel. Alsdann ist die Oper ein Konzert, das auf dem Theater mit Kostüm und Dekorationen gegeben wird.

Ferdinand: Da du auf diese Weise nur die im eigentlichsten Sinne romantischen Opern gelten lässest, wie ist es nun mit den musikalischen Tragödien und dann vollends mit den komischen Opern im modernen Kostüme? Die mußt du ganz verwerfen?

Ludwig: Keinesweges! — In den mehrsten älteren, tragischen

Opern, wie sie leider nun nicht mehr gedichtet und komponiert werden, ist es ja auch das wahrhaft Heroische der Handlung, die innere Stärke der Charaktere und der Situationen, die den Zuschauer so gewaltig ergreift. Die geheimnisvolle dunkle Macht, die über Götter und Menschen waltet, schreitet sichtbarlich vor seinen Augen daher, und er hört, wie in seltsamen, ahnungsvollen Tönen die ewigen, unabänderlichen Ratschlüsse des Schicksals, das selbst die Götter beherrscht, verkündet werden. Von diesen rein tragischen Stoffen ist das eigentlich Phantastische ausgeschlossen; aber in der Verbindung mit den Göttern, die den Menschen zum höheren Leben, ja zu göttlicher Tat erweckt, muß auch eine höhere Sprache in den wundervollen Akzenten der Musik erklingen. Wurden, beiläufig gesagt, nicht schon die antiken Tragödien musikalisch deklamiert? und sprach sich nicht darin das Bedürfnis eines höhern Ausdrucksmittels. als es die gewöhnliche Rede gewähren kann, recht eigentlich aus? — Unsere musikalischen Tragödien haben den genialen Komponisten auf eine ganz eigene Weise zu einem hohen, ich möchte sagen, heiligen Stil begeistert, und es ist, als walle der Mensch in wunderbarer Weihe auf den Tönen, die den goldnen Harfen der Cherubim und Seraphim entklingen, in das Reich des Lichts, wo sich ihm das Geheimnis seines eigenen Seins erschließt. — Ich wollte, Ferdinand, nichts Geringeres andeuten als die innige Verwandtschaft der Kirchenmusik mit der tragischen Oper, aus der sich die älteren Komponisten einen eigenen herrlichen Stil bildeten, von dem die Neueren keine Idee haben, den in üppiger Fülle überbrausenden Spontini nicht ausgenommen. Des herrlichen Gluck, der wie ein Heros dasteht, mag ich gar nicht erwähnen; um aber zu fühlen, wie auch geringere Talente jenen wahrhaft großen, tragischen Stil erfaßten, so denke an den Chor der Priester der Nacht in Piccinis "Dido".

Ferdinand: Es geht mir jetzt ebenso wie in den früheren, goldnen Tagen unsers Zusammenseins: indem du von deiner Kunst begeistert sprichst, erhebst du mich zu Ansichten, die

mir sonst verschlossen waren, und du kannst mir glauben, daß ich mir in dem Augenblick einbilde, recht viel von der Musik zu verstehen. —Ja, ich glaube, kein guter Vers könne in meinem Innern erwachen, ohne in Klang und Sang hervorzugehen.

Ludwig: Ist das nicht die wahre Begeisterung des Operndichters? — Ich behaupte, der muß ebensogut gleich alles im Innern komponieren wie der Musiker, und es ist nur das deutliche Bewußtsein bestimmter Melodien, ja bestimmter Töne der mitwirkenden Instrumente, mit einem Worte, die bequeme Herrschaft über das innere Reich der Töne, die diesen von jenem unterscheidet. Doch ich bin dir meine Meinung über die Opera buffa noch schuldig.

Ferdinand: Du wirst sie, wenigstens im modernen Kostüme, kaum gelten lassen?

Ludwig: Und ich, meinesteils, lieber Ferdinand, gestehe, daß sie mir gerade im Kostüme der Zeit nicht allein am liebsten ist, sondern in dieser Art, eben in ihrem Charakter, nach dem Sinn, wie sie die beweglichen reizbaren Italiener schufen, mir nur allein wahr dazustehen scheint. Hier ist es nun das Phantastische, das zum Teil aus dem abenteuerlichen Schwunge einzelner Charaktere, zum Teil aus dem bizarren Spiel des Zufalls entsteht und das keck in das Alltagsleben hineinfährt und alles zuoberst und -unterst dreht. Man muß zugestehen: Ja, es ist der Herr Nachbar im bekannten, zimtfarbenen Sonntagskleide, mit goldbesponnenen Knöpfen, und was in aller Welt muß nur in den Mann gefahren sein, daß er sich so närrisch gebärdet? — Denke dir eine ehrbare Gesellschaft von Vettern und Muhmen mit dem schmachtenden Töchterlein und einige Studenten dazu, die die Augen der Cousine besingen und vor den Fenstern auf der Guitarre spielen. Unter diese fährt der Geist Droll in neckhaftem Spuk, und nun bewegt in tollen Einbildungen, in allerlei seltsamen Sprüngen und abenteuerlichen Grimassen sich alles durcheinander. Ein besonderer Stern ist aufgegangen, und überall stellt der Zufall seine Schlingen auf, in

denen sich die ehrbarsten Leute verfangen, strecken sie die Nase nur was weniges vor. — Eben in diesem Hineinschreiten des Abenteuerlichen in das gewöhnliche Leben, in den daraus entstehenden Widersprüchen liegt nach meiner Meinung das Wesen der eigentlichen Opera buffa; und ebendieses Auffassen des sonst fernliegenden Phantastischen, das nun ins Leben gekommen, ist es, was das Spiel der italienischen Komiker so unnachahmlich macht. Sie verstehen die Andeutungen des Dichters, und durch ihr Spiel wird das Skelett, was er nur geben durfte, mit Fleisch und Farben belebt.

Ferdinand: Ich glaube dich ganz verstanden zu haben. — In der Opera buffa wäre es also recht eigentlich das Phantastische, was in die Stelle des Romantischen tritt, das dual, unerläßliches Bedingnis der Oper aufsteilst, und die Kunst des Dichters müßte darin bestehen, die Personen nicht allein vollkommen geründet, poetisch wahr, sondern recht aus dem gewöhnlichen Leben gegriffen, so individuell auftreten zu lassen, daß man sich augenblicklich selbst sagt: Sieh da! das ist der Nachbar, mit dem ich alle Tage gesprochen! Das ist der Student, der alle Morgen ins Kollegium geht und vor den Fenstern der Cousine erschrecklich seufzt und so weiter. Und nun soll das Abenteuerliche, was sie, wie in seltsamer Krise begriffen, beginnen oder was ihnen begegnet, auf uns so wundersam wirken, als gehe ein toiler Spuk durchs Leben und treibe uns unwiderstehlich in den Kreis seiner ergötzlichen Neckereien.

Ludwig: Du sprichst meine innigste Meinung aus, und kaum hinzusetzen darf ich, wie sich nun auch nach meinem Prinzip die Musik willig der Opera buffa fügt und wie auch hier ein besonderer Stil, der auf seine Weise das Gemüt der Zuhörer ergreift, von selbst hervorgeht.

Ferdinand: Sollte aber die Musik das Komische in allen seinen Nuancen ausdrücken können?

Ludwig: Davon bin ich auf das innigste überzeugt, und geniale Künstler haben es hundertfältig bewiesen. So kann

zum Beispiel in der Musik der Ausdruck der ergötzlichsten Ironie liegen, wie er in Mozarts herrlicher Oper "Cosi fan tutte"vorwaltet.

Ferdinand: Da dringt sich mir die Bemerkung auf, daß nach deinem Prinzip der verachtete Text dieser Oper eben wahrhaft opernmäßig ist.

Ludwig: Und eben daran dachte ich, als ich vorhin behauptete, daß Mozart zu seinen klassischen Opern nur der Oper ganz zusagende Gedichte gewählt habe, wiewohl "Figaros Hochzeit" mehr Schauspiel mit Gesang als wahre Oper ist. Der heillose Versuch, das weinerliche Schauspiel auch in die Oper zu übertragen, kann nur mißlingen, und unsere "Waisenhäuser", "Augenärzte" und so weiter gehen gewiß bald der Vergessenheit entgegen. So war auch nichts erbärmlicher und der wahren Oper widerstrebender als jene ganze Reihe von Singspielen, wie sie Dittersdorf gab, wogegen ich Opern wie "Das Sonntagskind" und "Die Schwestern von Prag" gar sehr in Schutz nehme. Man könnte sie echt deutsche Opere buffe nennen.

Ferdinand: Wenigstens haben mich diese Opern bei guter Darstellung immer recht innig ergötzt, und mir ist das recht zu Herzen gegangen, was Tieck im "Gestiefelten Kater" den Dichter zum Publikum sprechen läßt: sollten sie daran Gefallen finden, so müßten sie alle ihre etwanige Bildung beiseite setzen und recht eigentlich zu Kindern werden, um sich kindlich erfreuen und ergötzen zu können.

Ludwig: Leider fielen diese Worte, wie so manche andere der Art, auf einen harten, sterilen Boden, so daß sie nicht eindringen und Wurzel fassen konnten. Aber die vox populi, welche in Sachen des Theaters meistens eine wahre vox Dci ist, übertäubt die einzelnen Seufzer, welche die superfeinen Naturen über die entsetzlichen Unnatürlichkeiten und Abgeschmacktheiten, die in solchen, nach ihrem Begriff läppischen Sachen enthalten, ausstoßen, und man hat sogar Beispiele, daß, wie hingerissen von dem Wahnsinn, der das Volk ergriffen, mancher mitten in seinem Vornehmtun

in ein entsetzliches Lachen ausgebrochen und dabei versichert, er könne sein eigenes Lachen gar nicht begreifen.

Ferdinand: Sollte Tieck nicht der Dichter sein, der, wenn es ihm gefiele, gewiß dem Komponisten romantische. Opern, ganz nach den Bedingnissen, die du aufgestellt, schreiben würde?

Ludwig: Ganz zuverlässig, da er ein echt romantischer Dichter ist; und ich erinnere mich wirklich, eine Oper in Händen gehabt zu haben, die wahrhaft romantisch angelegt, aber im Stoff überfüllt und zu ausgedehnt war. Wenn ich nicht irre, hieß sie "Das Ungeheuer und der bezauberte Wald".

Ferdinand: Du selbst bringst mich auf eine Schwierigkeit, die ihr dem Operndichter entgegenstellt. — Ich meine die unglaubliche Kürze, welche ihr uns vorschreibt. Alle Mühe, diese oder jene Situation, den Ausbruch dieser oder jener Leidenschaft recht in bedeutenden Worten aufzufassen und darzustellen, ist vergebens, denn alles muß in ein paar Versen abgetan sein, die sich noch dazu rücksichtslos nach euerm Gefallen drehen und wenden lassen sollen.

Ludwig: Ich möchte sagen, der Operndichter müsse, dem Dekorationsmaler gleich, das ganze Gemälde nach richtiger Zeichnung in starken, kräftigen Zügen hinwerfen, und es ist die Musik, die nun das Ganze so in richtiges Licht und gehörige Perspektive stellt, daß alles lebendig hervortritt und sich einzelne, willkürlich scheinende Pinselstriche zu kühn herausschreitenden Gestalten vereinen.

Ferdinand: Also nur eine Skizze sollen wir geben statt eines Gedichts?

Ludwig: Keinesweges. Daß der Operndichter rücksichtlich der Anordnung, der Ökonomie des Ganzen den aus der Natur der Sache genommenen Regeln des Drama treu bleiben müsse, versteht sich wohl von selbst; aber er hat es wirklich nötig, ganz vorzüglich bemüht zu sein, die Szenen so zu ordnen, daß der Stoff sich klar und deutlich vor den Augen

des Zuschauers entwickele. Beinahe ohne ein Wort zu verstehen, muß der Zuschauer sich aus dem, was er geschehen sieht, einen Begriff von der Handlung machen können. Kein dramatisches Gedicht hat diese Deutlichkeit so im höchsten Grade nötig als die Oper, da, ohnedem daß man bei dem deutlichsten Gesange die Worte doch immer schwerer versteht als sonst, auch die Musik gar leicht den Zuhörer in andere Regionen entführt und nur durch das beständige Hinlenken auf den Punkt. in dem sich der dramatische Effekt konzentrieren soll, gezügelt werden kann. Was nun die Worte betrifft, so sind sie dem Komponisten am liebsten, wenn sie kräftig und bündig die Leidenschaft, die Situation, welche dargestellt werden soll, aussprechen; es bedarf keines besondern Schmuckes und ganz vorzüglich keiner Bilder.

Ferdinand: Aber der gleichnisreiche Metastasio?

Ludwig: Ja, der hatte wirklich die sonderbare Meinung, daß der Komponist, vorzüglich in der Arie, immer erst durch irgendein poetisches Bild begeistert werden müßte. Daher denn auch seine ewig wiederholten Anfangsstrophen: "Come una tortorella" etc. "Come spuma in tempesta etc., und es kam auch wirklich oft, wenigstens im Akkompagnement, das Girren des Täubchens, das schäumende Meer und so weiter vor.

Ferdinand: Sollen wir uns aber nicht allein des poetischen Schmuckes enthalten, sollen wir auch jedes ferneren Ausmalens interessanter Situationen überhoben sein? Zum Beispiel: Der junge Held zieht in den Kampf und nimmt von dem gebeugten Vater, dem alten Könige, dessen Reich ein siegreicher Tyrann in seinen Grundfesten erschüttert, Abschied, oder ein grausames Verhängnis trennt den liebenden Jüngling von der Geliebten: sollen denn nun beide nichts sagen als: "Lebe wohl"?

Ludwig: Mag der erste noch in kurzen Worten von seinem Mut, von seinem Vertrauen auf die gerechte Sache reden, mag der andere noch der Geliebten sagen, daß das Leben ohne sie nur ein langsamer Tod sei - aber auch das

einfache "Lebe wohl" wird dem Komponisten, den nicht Worte, sondern Handlung und Situation begeistern müssen, genug sein, in kräftigen Zügen den innern Seelenzustand des jungen Helden oder des scheidenden Geliebten zu malen. Um recht in deinem Beispiel zu bleiben: In welchen bis tief in das Innerste dringenden Akzenten haben schon unzähligemal die Italiener das Wörtchen "Addio" gesungen! Welcher tausend und abermal tausend Nuancen ist der musikalische Ausdruck fähig! Und das ist ja eben das wunderbare Geheimnis der Tonkunst. daß sie da, wo die arme Rede versiegt, erst eine unerschöpfliche Quelle der Ausdrucksmittel öffnet!

Ferdinand: Auf diese Weise müßte der Operndichter rücksichtlich der Worte nach der höchsten Einfachheit streben, und es würde hinlänglich sein, die Situation nur auf edle und kräftige Weise anzudeuten.

Ludwig: Allerdings; denn wie gesagt, der Stoff, die Handlung, die Situation, nicht das prunkende Wort, muß den Komponisten begeistern, und außer den sogenannten poetischen Bildern sind alle und jede Reflexionen für den Musiker eine wahre Mortifikation.

Ferdinand: Glaubst du aber wohl, daß ich es recht lebhaft fühle, wie schwer es ist, nach deinen Bedingnissen eine gute Oper zu schreiben? Vorzüglich jene Einfachheit der Worte -

Ludwig: Mag euch, die ihr so gern mit Worten malt, schwer genug werden. Aber wie Metastasio, meines Bedünkens, durch seine Opern recht gezeigt hat, wie Operntexte nicht gedichtet werden müssen, so gibt es auch viele italienische Gedichte, die als wahre Muster recht eigentlicher Gesangtexte aufgestellt werden können. Was kann einfacher sein als Strophen wie folgende weltbekannte:

Almen senne poss'io
seguir l'amato bene,
affetti de! cor mio,
seguite b per me!

Wie liegt in diesen wenigen, einfachen Worten die Andeutung des von Liebe und Schmerz ergriffenen Gemüts, die der Komponist auffassen und nun in der ganzen Stärke des musikalischen Ausdrucks den innern angedeuteten Seelenzustand darstellen kann. Ja, die besondere Situation, in der jene Worte gesungen werden sollen, wird seine Phantasie so anregen, daß er dem Gesange den individuellsten Charakter gibt. Ebendaher wirst du auch finden, daß oft die poetischsten Komponisten sogar herzlich schlechte Verse gar herrlich in Musik setzten. Da war es aber der wahrhaft opernmäßige, romantische Stoff, der sie begeisterte. Als Beispiel führe ich dir Mozarts "Zauberflöte" an.

Ferdinand war im Begriff zu antworten, als auf der Straße dicht vor den Fenstern der Generalmarsch geschlagen wurde. Er schien betroffen, Ludwig drückte tief seufzend des Freundes Hand an seine Brust. "Ach, Ferdinand, teurer, innig geliebter Freund!" rief er aus, "was soll aus der Kunst werden in dieser rauhen, stürmischen Zeit? Wird sie nicht, wie eine zarte Pflanze, die vergebens ihr welkes Haupt nach den finstern Wolken wendet, hinter denen die Sonne verschwand, dahinsterben? — Ach, Ferdinand, wo ist die goldene Zeit unserer Jünglingsjahre hin? Alles Bessere geht unter in dem reißenden Strom. der, die Felder verheerend, dahinstürzt; aus seinen schwarzen Wellen blicken blutige Leichname hervor, und in dem Grausen, das uns ergreift, gleiten wir aus - wir haben keine Stütze - unser Angstgeschrei verhallt in der öden Luft -Opfer der unbezähmbaren Wut, sinken wir rettungslos hinab!"--Ludwig. schwieg, in sich versunken. Ferdinand stand auf; er nahm Säbel und Kaskett; wieder Kriegsgott zum Kampf gerüstet, stand er vor Ludwig, der ihn verwundernd anblickte. Da überflog eine Glut Ferdinands Gesicht; sein Auge erstrahlte in brennendem Feuer, und er sprach mit erhöhter Stimme: "Ludwig, was ist aus dir geworden; hat die Kerkerluft, die du hier so lange eingeatmet haben magst, denn so in dich hineingezehrt, daß du krank und siech nicht mehr den glühenden Frühlingshauch

zu fühlen vermagst, der draußen durch die in goldner Morgenröte erglänzenden Wolken streicht? — In träger Untätigkeit schwelgten die Kinder der Natur, und die schönsten Gaben, die sie ihnen bot, achteten sie nicht, sondern traten sie in einfältigem Mutwillen mit Füßen. Da weckte die zürnende Mutter den Krieg, der im duftenden Blumengarten lange geschlafen. Der trat wie ein eherner Riese unter die Verwahrlosten, und vor seiner schrecklichen Stimme, von der die Berge widerhallten, fliehend, suchten sie den Schutz der Mutter, an die sie nicht mehr geglaubt hatten. Aber mit dem Glauben kam auch die Erkenntnis: nur die Kraft bringt das Gedeihen - dem Kampfe entstrahlt das Göttliche wie dem Tode das Leben! — Ja, Ludwig, es ist eine verhängnisvolle Zeit gekommen, und wie in der schauerlichen Tiefe der alten Sagen, die, gleich in ferner Dämmerung wunderbar murmelnden Donnern, zu uns herübertönen, vernehmen wir wieder deutlich die Stimme der ewig waltenden Macht — ja, sichtbarlich in unser Leben schreitend, erweckt sie in uns den Glauben, dem sich das Geheimnis unsers Seins erschließt. — Die Morgenröte bricht an, und schon schwingen sich begeisterte Sänger in die duftigen Lüfle und verkünden das Göttliche, es im Gesange lobpreisend. Die goldnen Tore sind geöffnet, und in einem Strahl entzünden Wissenschaft und Kunst das heilige Streben, das die Menschen zu einer Kirche vereinigt. Drum, Freund, den Blick aufwärts gerichtet - Mut -Vertrauen - Glauben!" — Ferdinand drückte den Freund an sich. Dieser nahm das gefüllte Glas: "Ewig verbunden zum höhern Sein im Leben und Tode!" — "Ewig verbunden zum höhern Sein im Leben und Tode!" wiederholte Ferdinand, und in wenigen Minuten trug ihn sein flüchtiges Roß schon zu den Scharen, die in wilder Kampflust hoch jubelnd dem Feinde entgegenzogen.

Die Freunde fühlten sich tief bewegt. Jeder gedachte der Zeit, als der Druck des feindseligsten Verhängnisses auf ihn lastete und aller Lebensmut dahinzusterben, unwiederbringlich verloren zu sein schien. — Wie dann durch die finstern Wolken die ersten Strahlen des schönen Hoffnungssterns brachen, der immer heller und herrlicher aufging, erquickend und zum neuen Leben stärkend. — Wie im freudigen Kampf sich alles jauchzend regte und bewegte. — Wie den Mut -den Glauben der herrlichste Sieg krönte!

"In der Tat", sprach Lothar, "jeder von uns hat wohl in sich selbst hineingesprochen auf dieselbe Weise, wie es der serapiontische Ferdinand tat, und wohl uns, daß das bedrohliche Gewitter, das über unsern Häuptern donnerte, statt uns zu vernichten, uns nur gestärkt hat und erkräftigt wie ein tüchtiges Schwefelbad. Es ist mir so, als fühle ich erst jetzt unter euch meine vollkommene Gesundheit und neue Lust, mich nun, da jenes Gewitter sich ganz verzogen, wieder recht zu rühren in Kunst und Wissenschaft. Theodor tut das, wie ich weiß, recht tapfer, er ergibt sich nun wieder ganz und gar der alten Musik, wobei er denn doch das Dichten ganz und gar nicht verschmäht, weshalb ich glaube, daß er uns nächstens mit einer treiflichen Oper, die ihm, was Gedicht und Musik betrifft, ganz allein angehört, überraschen wird. Alles, was er sophistischerweise über die Unmöglichkeit, selbst eine Oper zu dichten und zu komponieren, vorgebracht, mag recht plausibel klingen, es hat mich aber nicht überzeugt."

"Ich bin", sprach Cyprian, "der entgegengesetzten Meinung. Doch lassen wir den unnützen Streit, der um so unnützer ist, als Theodor, leuchtet ihm jene Möglichkeit, die er bestreitet, ein, der erste sein wird, der sie mit der Tat beweiset. — Viel besser, wenn Theodor sein Pianoforte öffnet und, nachdem er uns mit ganz artigen Erzählungen ergötzt, uns auch von seinen neuesten Kompositionen irgend etwas zum besten gibt."

"Öfters", nahm Theodor das Wort, "öfters hat mir Cyprian vorgeworfen, daß ich zu sehr an der Form hänge, daß ich jedes Gedicht verwerfe, welches sich nicht in die gewöhnlichsten

Formen der Musik einschachten läßt. Ich bestreite das und will es jetzt dadurch beweisen, daß ich ein Gedicht in Musik zu setzen unternommen, welches auf eine von jeder gewöhnlichen Art, von jeder verbrauchten Form abweichende Behandlung Anspruch macht. Ich meine nichts anders als den ,Nachtgesang' aus der ,Genoveva' des Maler Müller. Alle süße Schwermut, aller Schmerz, alle Sehnsucht, alle geisterhafte Ahnung des von hoffnungsloser Liebe zerrissenen Herzens liegt in den Worten dieses herrlichen Gedichts. Kommt nun noch hinzu, daß die Verse einen altertümlichen, recht ins Herz dringenden Charakter tragen, so glaube ich, daß die Komposition ohne allen Prunk irgendeines begleitenden Instruments, bloß für Singstimmen in dem Stil des alten Alessandro Scarlatti oder des spätem Benedetto Marcello gehalten sein müsse. Das ganze Werk ist fertig im Innern, aber nur den Anfang schrieb ich auf, habt ihr nun die Musik, das Singen nicht ganz beiseite gestellt, fühlt ihr noch den Nutzen unserer ergötzlichen Übungen, nach unsichtbaren Noten zu singen, und trefft ihr noch wakker, so möchte ich wohl, daß wir das, was ich von dem Gedicht aufgeschrieben, absängen."

"Ha!" —rief Ottmar, "ich erinnere mich wohl jener Übung, die du meinst mit dem Singen nach unsichtbaren Noten. — Du zeigtest die Akkorde aus den Tasten des Pianofortes, ohne sie anzuschlagen, und jeder gab den Ton der ihm zugeteilten Stimme an, ohne sie vorher auf dem Instrumente zu hören. Denen, die jene Operation des Bezeichnens der Tasten nicht bemerkten, war es unbegreiflich, wie wir aus dem Stegreif mehrstimmige Sachen singen konnten, und für die, die das Talent haben, sich höchlich zu verwundern, ist das Ding auch wirklich eine ergötzliche musikalische Gaukelei. —Ich für mein Teil singe noch immer wie sonst meinen mittelmäßigen knurrigen Bariton und habe ebensowenig das Treffen verlernt als Lothar, der mit seinem Baß noch immer tüchtige Fundamente legt, auf denen Tenoristen wie du und Cyprian mit Sicherheit in die Höhe bauen können."

"Für den schönen weichen Tenor meines Cyprian", sprach Theodor, "ist nun mein Werk ganz und gar geeignet, ihm teile ich daher die erste Tenorstimme zu, indem ich selbst die zweite übernehme. Ottmar, der immer die Noten tüchtig traf, mag den ersten, Lothar aber den zweiten Baß singen, doch beileibe nicht donnern, sondern die Töne leise und zart tragen, wie es der Charakter des Stücks erfordert." — Theodor schlug auf dem Pianoforte einige einleitende Akkorde an, dann begannen die vier Stimmen in langen gehaltenen Tönen den Chor aus dem As-Dur:

"Klarer Liebesstern,
Du leuchtest fern und fern
Am blauen Himmelsbogen.
Dich rufen wir heut alle an,
Wir sind der Liebe zugetan,
Die hat uns ganz und gar zu 
         sich gezogen."

Die beiden Tenore traten nun im Duett f-Moll ein:

"Still und hehr die Nacht,
Des Himmels Augenpracht
Hat nun den Reihn begangen.
Schweb hoch hinauf wie Glockenklang
Der Liebe sanfter Nachtgesang,
Klopf an die Himmelspfort mit 
  brünstigem Verlangen."

Der Gesang hatte sich bei den Worten: "Schweb hoch" etc. nach Des-Dur gewandt, in b-Moll begannen Lothar und Ottmar:

"Die ihr dort oben brennt
Und keusche Flammen kennt,
Ihr Heiligen mit reinen Zungen,
Ach, benedeiet unser Herz,
Wir dulden-dulden bittern Schmerz,
Wir haben schon gerungen."

Nun sangen die vier Stimmen in F-Dur:

"Klopft sanft mit beiden Flügeln an,
Klopft sanft, und euch wird aufgetan!"

Alle, Lothar, Ottmar und Cyprian, fühlten sich von Theodors in der Tat wundervoll, ganz im einfachen, ins Innerste dringenden Stil der alten Meister gehaltner Musik tief ergriffen. Die Tränen standen ihnen in den Augen, sie umarmten den herz- und gemütreichen Tonsetzer, sie drückten ihn an ihre Brust. Die Mitternachtsstunde schlug. —"Gebenedeit", rief Lothar, "sei unser Wiederfinden! — O der herrlichen Serapionsverwandtschaft, die uns mit einem ewigen Band umschlingt! — Ja, du trefflicher Serapionsklub, grüne und blühe immerdar! — so wie heute wollen wir uns fortan auf allerlei geistreiche Weise, jedem Zwange fremd, erquicken und erheben, zunächst aber über acht Tage uns wieder hier bei unserm Theodor einfinden."

Darauf gaben sich die Freunde, als sie schieden, das Wort.


Zweiter Abschnitt

Es schlug sieben Uhr. Mit Ungeduld erwartete Theodor die Freunde. Endlich trat Ottmar hinein. "Eben", sprach er, "war Leander bei mir, er hielt mich auf bis jetzt. Ich versicherte, wie leid es mir täte, daß mich ein unaufschiebbares Geschäft abrufe. Er wollte mich begleiten bis an den Ort meiner Bestimmung, mit Mühe entschlüpfte ich ihm in der finstern Nacht. Recht gut mocht er wissen, daß ich zu dir ging, seine Absicht war, mit herzukommen." — "Und", fiel Theodor ein, "und du brachtest ihn nicht zu mir? Er wäre willkommen gewesen." — "Nein", erwiderte Ottmar, "nein, mein lieber Freund Theodor, das ging nun ganz und gar nicht an. Fürs erste getraue ich mir nicht, ohne die Zustimmung sämtlicher Serapionsbrüder einen Fremden oder, da Leander gerade kein Fremder zu nennen, überhaupt einen fünften einzuführen. Dann ist es aber auch mit Leander eine mißliche Sache worden durch Lothars Schuld. — Lothar hat mit ihm nach seiner gewöhnlichen Weise mit Begeisterung von unserm herrlichen Serapionsklub gesprochen. Er hat mit vollen Backen die vortreffliche Tendenz, das serapiontische Prinzip gerühmt und nichts weniger versichert, als daß wir, immer jenes Prinzip im Auge, an uns selbst untereinander bildende Hand legen und so uns zu allerlei sublimen Werken entzünden würden. Da fing nun Leander an, längst sei eine solche Verbindung mit literarischen

Freunden sein innigster Wunsch gewesen, under hoffe, wollten wir ihm den Beitritt nicht versagen, sich als höchst würdiger Serapionsbrüder zu beweisen. — Vieles, vieles habe er in petto. — Bei diesen Worten machte er eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand nach der Rocktasche. Sie war dick aufgeschwollen, und zu meinem nicht geringen Schreck bemerkte ich, daß es mit der andern Tasche derselbe Fall war. Beide strotzten von Manuskripten, ja selbst aus der Busentasche ragten bedrohliche Papiere hervor.

Ottmar wurde durch Lothar unterbrochen, der geräuschvoll eintrat und dem Cyprian folgte. "Eben", sprach Theodor, "zog eine kleine Gewitterwolke auf über unsern Serapionsklub, Ottmar hat sie aber geschickt abgeleitet. Leander wollte uns heimsuchen, er ist dem armen Ottmar nicht vom Leibe gegangen, bis dieser sich durch heimliche Flucht in der finstern Nacht gerettet."

"Wie", rief Lothar, "warum hat Ottmar meinen lieben Leander nicht hergebracht? Er ist verständig — geistreich — witzig - wer taugt besser zu uns Serapionsbrüdern?" — "So bist du nun einmal,. Lothar", nahm Ottmar das Wort. "Du bleibst dir immer gleich, indem du, ewig die Meinung wechselnd, immer die Opposition bildest. Hätte ich Leander wirklich hergebracht, von wem hätte ich bittrere Vorwürfe hören müssen als eben von dir! — Du nennest Leander verständig, geistreich, witzig, er ist das alles, ja noch mehr! — Alles, was er produziert, hat eine gewisse Ründe und Vollendung, die von gesunder Kritik, scharfsinnigem Urteil zeigt! — Aber! — Fürs erste, denk ich, kann niemanden weniger unser serapiontisches Prinzip inwohnen als eben unserm Leander. Alles, was er schafft, hat er gedacht, reiflich überlegt, erwogen, aber nicht wirklich geschaut. Der Verstand beherrscht nicht die Phantasie, sondern drängt sich an ihre Stelle. Und dabei gefällt er sich in einer weitschichtigen Breite, die, wenn auch nicht dem Leser, doch dem Zuhörer unerträglich wird. Werke von ihm, denen man Geist und

Verstand durchaus nicht absprechen kann, erregen, liest er sie vor, die tödlichste Langeweile."

"Überhaupt", unterbrach Cyprian den Freund, "überhaupt ist es mit dem Vorlesen ein eignes Ding. Ich meine rücksichtlich der Werke, die dazu taugen. Es scheint, als ob außer dem lebendigsten Leben durchaus nur ein geringer Umfang des Werks dazu erfordert werde."

"Dies kommt daher", nahm Theodor das Wort, "weil der Vorleser durchaus. nicht förmlich deklamieren darf, dies ist nach bekannter Erfahrung unausstehlich, sondern, die wechselnden Empfindungen, wie sie aus den verschiedenen Momenten der Handlung hervorgehen, nur mäßig andeutend, im ruhigen Ton bleiben muß, dieser Ton aber wieder auf die Länge eine unwiderstehliche narkotische Kraft übt."

"Meines Bedünkens", sprach Ottmar, "muß die Erzählung, das Gedicht, was im Vorlesen wirken soll, sich ganz dem Dramatischen nähern oder vielmehr ganz dramatisch sein. Aber wie kommt es denn nun wieder, daß die mehresten Komödien und Tragödien sich durchaus gar nicht vorlesen lassen, ohne Widerwillen- ;'u erregen und gräßliche Langeweile."

"Eben", erwiderte Lothar, "weil sie ganz undramatisch sind oder weil auf den persönlichen Vortrag des Schauspielers auf dem Theater gerechnet worden und das Gedicht so kraftlos und schwächlich ist, daß es an und für sich selbst in dem Zuhörer kein farbicht Bild mit lebendigen Figuren hervorzurufen vermag, das ihm Theater und Schauspieler reichlich ersetzt. — Aber wir kommen ab von unserm Leander, von dem ich, Ottmars Widerspruch unerachtet, noch immer keck behaupte, daß er in unsern Kreis aufgenommen zu werden verdient."

"Recht gut", sprach Ottmar, "aber erinnere dich, liebster Lothar, doch nur gefälligst an alles das, was dir schon mit Leander geschehen! — Wie er dich einmal mit einem dicken —dicken dramatischen Gedicht verfolgte und du ihm immer auswichst, bis er dich und mich zu sich einlud und uns bewirtete

mit auserlesenen Speisen und köstlichem Wein, um uns nur sein Gedicht beizubringen. Wie ich zwei Akte treulich aushielt und mich rüstete zum dritten, wie du aber ungeduldig auffuhrst und schwurst, dir sei übel und weh, und den armen Leander sitzenließest mitsamt seinen Speisen und seinem Wein. — Erinnere dich, wie Leander dich besuchte. wenn mehrere Freunde zugegen. Wie er dann und wann mit Papieren in der Tasche rauschte und mit schlauen Blicken umhersah, damit nur einer sagen sollte: ,Ei, Sie haben uns gewiß etwas Schönes mitgebracht, lieber Herr Leander!' Wie du aber insgeheim uns alle um Gottes willen batest, doch nur auf jenes bedrohliche Rauschen nicht zu achten und stillzuschweigen. Erinnere dich, wie du den guten Leander, der immer ein Trauerspiel im Busen trug, immer bewaffnet, immer schlagfertig, wie du ihn verglichst mit Meros, der zum Tyrannen schleicht, den Dolch im Busen! — Wie er einmal, als du ihn hattest einladen müssen, eintrat mit einem dicken Manuskript in der Hand, daß uns allen Mut und Laune sank. Wie er dann aber mit süßem Lächeln versicherte, nur ein Stündchen könnte er bei uns bleiben, da er früher der und der Madam versprochen, bei ihr Tee zu trinken und ihr sein neuestes Heldengedicht in zwölf Gesängen vorzulesen. Wie wir alle Atem schöpften, einer schweren Last entnommen, wie wir, als er das Zimmer verlassen, einstimmig riefen: ,Ach, die arme Madam! — die arme unglückliche Madam!"

"Höre auf", rief Lothar. "höre auf, Freund Ottmar, alles. dessen du erwähnst, hat sich in der Tat begeben, aber unter uns Serapionsbrüdern kann so etwas nicht geschehen. Bilden wir nicht eine tüchtige Opposition gegen alles, was unserm Grundprinzip widerstrebt? — Ich wette, Leander würde sich diesem Prinzip fügen."

"Glaube das ja nicht, lieber Lothar", sprach Ottmar. "Leander hat das mit vielen eitlen Dichtern und Schriftstellern gemein, daß er nicht hören mag, ebendeshalb aber nur allein lesen, nur allein sprechen will. Mit aller Gewalt

würde er dahin trachten, unsere Abende ganz auszufüllen mit seinen endlosen Werken, jeden Widerstand sehr übel vermerken, so aber alle Gemütlichkeit zerstören, die das schönste Band ist, das uns verknüpft. — Er sprach heute sogar von gemeinschaftlicher literarischer Arbeit, die wir zusammen unternehmen wollten! — Damit würd er uns nun vollends ganz entsetzlich plagen

"Überhaupt", nahm Cyprian das Wort, "ist es mit dem gemeinschaftlichen Arbeiten ein mißliches Ding. Vollends unausführbar scheint es, wenn mehrere sich vereinen wollen zu einem und demselben Werk. Gleiche Stimmung der Seele, tiefes Hineinschauen, Auffassen der Ideen, wie sie sich aufeinander erzeugen, scheint unerläßlich, soll nicht, selbst bei verabredetem Plan, verworrenes barockes Zeug herauskommen. Ich denke eben an etwas sehr Lustiges in dieser Art. — Vor einiger Zeit beschlossen vier Freunde, zu denen ich auch gehörte, einen Roman zu schreiben, zu dem ein jeder nach der Reihe die einzelnen Kapitel liefern sollte. Der eine gab als Samenkorn, aus dem alles hervorschießen und sollte-, den -Sturz--eines-Dachdeckers vom Turme herab an, der den Hals bricht. In demselben Augenblick gebärt seine Frau vor Schreck drei Knaben. Das Schicksal dieser Drillinge, sich in Wuchs, Stellung, Gesicht und so weiter völlig gleich, sollte im Roman verhandelt werden. Ein weiterer Plan wurde nicht verabredet. Der andere fing nun an und ließ im ersten Kapitel vor dem einen der Helden des Romans von einer wandernden Schauspielergesellschaft ein Stück aufführen, in dem er sehr geschickt und auf herrliche geniale Weise den ganzen Gang, den die Geschichte wohl nehmen könnte, angedeutet hatte. Hieran mußten sich nun alle halten, und so wäre jenes Kapitel ein sinnreicher Prolog des Ganzen geworden. Statt dessen erschlug der erste (der Erfinder des Dachdeckers) im zweiten Kapitel die wichtigste Person, die der zweite eingeführt, so daß sie wirkungslos ausschied, der dritte schickte die Schauspielergesellschaft nach Polen, und der vierte ließ eine

wahnsinnige Hexe mit einem weissagenden Raben auftreten und erregte Grauen ohne Not, ohne Beziehung. — Das Ganze blieb nun liegen!"

"Ich kenne", sprach Theodor, "ich kenne ein Buch, das auch von mehreren Freunden unternommen, aber nicht vollendet wurde. Es ist mit Unrecht nicht viel in die Welt gekommen, vielleicht weil der Titel nichts versprach oder weil nötige Empfehlung mangelte. Ich meine ,Karis Versuche und Hindernisse' *. Der erste Teil, welcher nur ans Licht getreten, ist eins der witzigsten, geistreichsten und lebendigsten Bücher, die mir jemals vorgekommen. Merkwürdig ist es, daß darin nicht allein mehrere bekannte Schriftsteller, wie zum Beispiel Johannes Müller, Jean Paul und andere, sondern auch von Dichtern geschaffene Personen, wie zum Beispiel Wilhelm Meister nebst seinem Söhnlein und andere, in ihrer eigentümlichsten Eigentümlichkeit auftreten."

"Ich kenne", sprach Cyprian, "ich kenne das Buch, von dem du sprichst, es hat mich gar sehr ergötzt, und ich erinnere mich noch daraus, daß Jean Paul zu einem dicken Manne, den er auf einem Felde, im Schweiß seines Angesichts Erdbeeren pflückend, antrifft, spricht: ,Die Erdbeeren müssen recht süß sein, da Sie es sich so sauer darum werden lassen!' — Doch, wie gesagt, das Zusammentreten zu einem Werk bleibt ein gewagtes Ding. Herrlich ist dagegen die wechselseitige Anregung, wie sie wohl unter gleichgestimmten poetischen Freunden stattfinden mag und die zu diesem, jenem Werk begeistert."

"Eine solche Anregung", nahm Ottmar das Wort, "verdanke ich unserm Freunde Severin, der, ist er nur erst, wie zu erwarten steht, hier angekommen, ein viel besserer Serapionsbrüder sein wird als Leander. — Mit Severin saß ich im Berliner Tiergarten, als sich das vor unsern Augen zutrug, was den Stoff hergab zu der Erzählung, die ich unter dem Titel ,Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde' aufschrieb 

* Einen Roman, der im Jahre 1808 im Verlage der Realschulbuchhandlung zu Berlin erschien.

und die ich mitgebracht habe, um sie euch vorzulesen. Als nämlich, wie ihr nachher vernehmen werdet, das schöne Mädchen das ihr heimlich zugesteckte Brieflein mit Tränen in den Augen las, warf mir Severin leuchtende Blicke zu und flüsterte: ,Das ist etwas für dich, Ottmar! — Deine Phantasie muß die Fittiche regen! — schreibe nur gleich hin, was es für eine Bewandtnis hat mit dem Mädchen, dem Brieflein und den Tränen!' —Ich tat das!"

Die Freunde setzten sich an den runden Tisch, Ottmar zog ein Manuskript hervor und las:



Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde

Am zweiten Pfingsttag war das sogenannte Webersche Zelt, ein öffentlicher Ort im Berliner Tiergarten, von Menschen allerlei Art und Gattung so überfüllt, daß Alexander nur durch unablässiges Rufen und Verfolgen dem verdrießlichen, durch die Menge hin und her gedrängten Kellner einen kleinen Tisch abzutrotzen vermochte, den er unter die schönen Bäume hintenheraus auf den Platz am Wasser stellen ließ und woran er mit seinen beiden Freunden Severin und Marzell, die unterdessen, nicht ohne strategische Künste, Stühle erbeutet, in der gemütlichsten Stimmung von der Welt sich hinsetzte. Erst seit wenigen Tagen hatte jeder sich in Berlin eingefunden, Alexander aus einer entfernten Provinz, um die Erbschaft einer alten Tante, die unverheiratet gestorben, in Empfang zu nehmen, Marzell und Severin, um die Zivilverhältnisse wieder anzuknüpfen, die sie, den eben beendigten Feldzug mitmachend, so lange aufgegeben. Heute wollten sie sich des Wiedersehens und Wiederfindens recht erfreuen, und, wie es zu geschehen pflegt, nicht der ereignisreichen Vergangenheit, nein! des nächsten Augenblicks, des eben bestehenden Tuns und Treibens im Leben wurde zuerst gedacht. "Wahrhaftig", sprach Alexander, indem er die dampfende Kaffeekanne ergriff und den Freunden

einschenkte, "wahrhaftig, wenn ihr mich sehen solltet in der abgelegenen Wohnung der verstorbenen Tante, wie ich morgens in finsterm Schweigen pathetisch die hohen, mit düstern Tapeten behängten Zimmer durchwandle, wie dann Jungfer Anne, die Haushälterin der Seligen, ein kleines gespenstisches Wesen, hineinkeucht und hüstelt, die zinnernen Präsentierteller mit dem Frühstück in den zitternden Armen tragend, das sie mit einem seltsamen rückwärts ausgleitenden Knicks auf den Tisch stellt und dann, ohne ein Wort zu reden, seufzend und auf zu weiten Pantoffeln schlarrend, wie das Bettelweib von Locarno, sich wegbegibt; wie Kater und Mops, mich mit ungewissen Blicken von der Seite anschielend, ihr folgen, wie ich dann allein, von einem melancholischen Papagei angeschnurrt, von nickenden Pagoden dumm angelächelt, eine Tasse nach der andern einschlürfe und kaum wage, das jungfräuliche Gemach, in dem sonst nur Bernstein- und Mastixopfer galten, durch schnöden Tabaksqualm zu entweihen - ja, wenn ihr mich so sehen solltet, ihr müßtet mich durchaus was weniges für verhext, für eine Art Merlin halten. Ich kann euch sagen, daß nur die leidige Bequemlichkeit, die ihr schon so oft mir vorwarfet, daran schuld ist, daß ich gleich, ohne mich nach einer andern Wohnung umzusehen, in das öde Haus der Tante zog, das die pedantische Gewissenhaftigkeit des Testamentvollziehers zu einem recht unheimlichen Aufenthalt gemacht hat. So wie die wunderliche Person, die ich kaum gekannt, es verordnete, blieb alles bis zu meiner Ankunft in unverändertem Zustande. Neben dem in schneeweißem Linnen und meergrüner Seide prangenden Bette steht noch das kleine Tabouret, auf dem, wie sonst, das ehrbare Nachtkleid mit der stattlichen vielbebänderten Haube liegt, unten stehen die grandiosen gestickten Pantoffeln, und eine silberne hellpolierte Sirene als Henkel irgendeines unentbehrlichen Geschirrs funkelt unter der mit weißen und bunten Blumen bestreuten Bettdecke hervor. Im Wohnzimmer liegt die unvollendete Nähterei, die die Selige kurz vor ihrem Hinscheiden unternahm, Arnds ,Wahres Christentum' aufgeschlagen daneben; was aber für mich wenigstens das Unheimliche und Grauliche vollendet, ist, daß in ebendemselben Zimmer das lebensgroße Bild der Tante hängt, wie sie sich vor fünfunddreißig bis vierzig Jahren in vollem Brautschmuck malen ließ, und daß, wie mir die Jungfer Anne unter vielen Tränen erzählt hat, sie in ebendiesem vollständigen Brautschmuck begraben worden ist." — "Welch eine eigne Idee!" sprach Marzell. "Die aber sehr naheliegt", fiel ihm Severin ins Wort, "da verstorbene Jungfrauen Christusbräute sind, und ich hoffe, daß niemand so ruchlos sein wird, diesen auch der bejahrten Jungfrau geziemenden frommen Glauben zu belächeln, wiewohl ich nicht verstehe, warum sich die Tante früher gerade als Braut malen ließ." — "So wie mir erzählt worden", nahm Alexander das Wort, "war die Tante einmal wirklich versprochen, ja, der Hochzeittag war da, und sie erwartete in vollem Brautschmuck den Bräutigam, der aber ausblieb, weil er für gut gefunden hatte, mit einem Mädchen, die er früher geliebt, an demselben Tage die Stadt zu verlassen. Die Tante zog sich: das sehr zu Gemüte, und ohne im mindesten verwirrten Verstandes zu sein, feierte sie von Stund an den Tag des verfehlten Ehestandes auf eigne Weise. Sie legte nämlich frühmorgens den vollständigen Brautstaat an, ließ, wie es damals geschehen, in dem sorgfältig gereinigten Putzzimmer ein kleines, mit vergoldetem Schnitzwerk verziertes Nußbaumtischchen stellen, darauf Schokolade, Wein und Gebackenes für zwei Personen servieren und harrte, indem sie seufzend und leise klagend im Zimmer auf und abging, bis zehn Uhr abends des Bräutigams. Dann betete sie eifrig, ließ sich entkleiden und ging still in sich gekehrt zu Bette." — "Das kann nun", sprach Marzell, "mich bis in das Innerste rühren. Weh dem Treulosen, der der Armen diesen nie zu verwindenden Schmerz bereitete." — "Die Sache", erwiderte Alexander, "hat eine Kehrseite. Den Mann, den du treulos schiltst und der es bleibt, mochte er auch Gründe dazu haben, wie er wollte, warnte doch wohl zuletzt ein guter Genius, oder, wenn du willst, ein besserer Sinn wurde Meister über ihn. Er hatte nur nach der Tante schnödem Mammon getrachtet, denn er wußte, daß sie herrschsüchtig, zänkisch, geizig, kurz, ein arger Quälgeist war."

"Mag das sein", sprach Severin, indem er die Pfeife auf den Tisch legte und mit übereinandergeschränkten Armen sehr ernst und nachdenklich vor sich hin schaute, "mag das sein, aber konnte denn die stille rührende Totenfeier, die resignierte, nur ins Innere hineintönende Klage um den Treulosen anders als aus einem tiefen, zarten Gemüte kommen, dem jene irdischen Gebrechen, wie du sie der armen Tante vorwirfst, fremd sein müssen? Ach! wohl oft mag jene Verbitterung, der wir, hart im Leben angegriffen, kaum zu widerstehen vermögen, wohl oft mag sie mißgestaltet hervorgetreten sein, daß es auf alles, was die Alte umgab, so verstörend wirkte; aber ein Jahr voll Plage hätte jener wiederkehrende fromme Tag für mich wenigstens gutgemacht." — "Ich gebe dir recht, Severin", sprach Marzell; "die alte Tante, der der Herr eine fröhliche Urständ geben möge, kann nicht so böse gewesen sein, wie Alexander, doch nur von Hörensagen, behauptet. Mit im Leben und durch das Leben verbitterten Personen mag ich indessen auch nicht viel zu tun haben; und es ist besser, daß Freund Alexander sich an der Geschichte von der Hochzeits-Totenfeier der Alten erbaut und die gefüllten Kisten und Kasten durchstöbert oder das reiche Inventarium beäugelt, als daß er die verlassene Braut lebendig, im Brautschmuck des Geliebten harrend, um ihren Schokoladentisch wandeln sieht." Heftig setzte Alexander die Tasse Kaffee, die er an den Mund gebracht, ohne zu trinken, wieder auf den Tisch und rief, indem er die Hände zusammenschlug: "Herr des Himmels! bleibe mir weg mit solchen Gedanken und Bildern, es ist mir wahrhaftig hier im lieben hellen Sonnenschein so zumute, als werde mitten aus jener Gruppe von jungen Mädchen dort die alte Tante im Brautschmuck recht gespenstisch

hervorgucken." — "Dieses grauliche Gefühl", sprach Severin leise lächelnd und die kleinen blauen Wölkchen aus der Pfeife, die er wieder genommen, schnell weghauchend, "dieses grauliche Gefühl ist die gerechte Strafe deines Frevels, da du von der Seligen, die dir im Tode Gutes erzeigt, schlecht gesprochen." —"Wißt ihr wohl, Leute", fing Alexander wiederum an. "wißt ihr wohl, daß es mir scheint, als wäre die Luft in meiner Wohnung so von dem Geist und Wesen der alten Jungfer imprägniert, daß man nur ein paarmal vierundzwanzig Stunden drin gewesen sein darf, um selbst etwas davon wegzubekommen?" Marzell und Severin schoben in dem Augenblick ihre leere Tassen Alexandern hin, der mit Geschicklichkeit und Umsicht den Zucker in gehörigem Verhältnis verteilte, ebenso mit Kaffee und Milch verfuhr und also weitersprach: "Schon daß mir das meiner Art und Weise ganz fremde Talent des Kaffeeinschenkens mit einemmal zugekommen, daß ich, als gält es der Übung meines Berufs, gleich die Kanne ergriff, daß ich des geheimen Verhältnisses der Süße und der Bitterkeit mächtig bin, daß ich kein Tröpfchen vergieße, schon das muß euch, ihr Leute! besonders und geheimnisvoll vorkommen, aber ihr werdet noch mehr erstaunen, wenn ich euch sage, daß sich bei mir ein besonderes Wohlgefallen an blankgescheuertem Zinn und Kupfer, an Linnen, an silberner Gerätschaft, an Porzellan und Gläsern, kurz, an einer eingerichteten Wirtschaft, wie sie im Nachlaß der Tante vorhanden, eingefunden hat. Ich schaue das alles mit einer gewissen Behaglichkeit an, und mir ist es plötzlich so, als sei es hübsch, mehr zu besitzen als ein Bett, einen Tisch, einen Schemel, einen Leuchter und ein Tintenfaß! — Mein Herr Testamentsvollzieher lächelt und meint, ich dürfe nun nachgerade heiraten, ohne mich um etwas anders zu bekümmern als um die Braut und um den Prediger. Im Herzen meint er denn nun wohl weiter, daß die Braut nicht weit zu suchen sein dürfte. Er hat nämlich selbst ein Töchterlein, ein ganz kleines putziges Ding mit großen Augen, die noch kindlich und kindisch tut, wie Guru mit naiven Redensarten um sich wirft und herumhüpft wie eine Bachstelze. Das mag nun vor sechszehn Jahren ihr, vermöge der kleinen Elfenfigur, recht gut gestanden haben, aber jetzt im zweiunddreißigsten Jahre wird einem ganz bange und unheimlich dabei." — "Ach", rief Severin, "und doch ist diese verderbliche eigene Mystifikation so natürlich! — Wo ist der Punkt zu finden, in dem ein Mädchen, das sich durch irgendeine Eigentümlichkeit im Leben festgestellt hat, plötzlich sich selbst sagen soll: Ich bin nicht mehr das, was ich war; die Farben, in die ich mich sonst putzte, sind frisch und jugendlich geblieben, aber mein Antlitz ist verbleicht! Darum - man dulde! — man ertrage! Mir flößt ein solches, doch nur in harmloser Verirrung befangenes Mädchen Gefühle der tiefsten Wehmut ein, und schon deshalb könnte ich mich tröstend ihr anschmiegen." — "Du merkst, Alexander", sprach Marzell, "daß Freund Severin heute in seiner duldsamen Stimmung ist. Erst hat er sich der alten Tante angenommen, jetzt flößt ihm deines Testamentsvollziehers - es ist ja doch wohl der Kriegsrat Falter -, ja jetzt flößt ihm Falters zweiunddreißigjähriges Alräunchen, die ich recht gut kenne, wehmütige Gefühle ein, und er wird dir gleich raten, sie zur Frau zu nehmen, um sie nur der unheimlichen Naivität zu entreißen, denn der wird sie, wenigstens hinsichts deiner, gleich nach dem Jawort entsagen. Aber tu es nicht, denn die Erfahrung lehrt, daß kleine naive Personen der Art bisweilen oder vielmehr gar oft etwas kätzlicher Natur sind und aus dem Samtpfötchen, womit sie dich vor dem Priestersegen streichelten, bald nachher bei schicklicher Gelegenheit gar nicht unebne Krallen hervorspringen lassen." —"Herr des Himmels!"unterbrach Alexander den Freund, "Herr des Himmels! welch Geschwätz! Weder Falters naives zweiunddreißigjähriges Alräunchen noch sonst ein Gegenstand, sei er zehnmal so hübsch und jung und reizend als sie, kann mich verlocken, die goldenen Jahre jugendlicher Freiheit, die ich nun erst, da mir Geld und Gut zugefallen, recht nutzen will, mir selbst mutwillig zu verderben. In der Tat, die alte bräutliche Tante wirkt so spukhaft auf mich ein, daß ich unwillkürlich mit dem Worte Braut ein unheimliches, grauliches freudestörendes Wesen verbinde." —"Ich bedaure dich", sprach Marzell, "was mich betrifft, so fühle ich, denke ich mir ein bräutlich geschmücktes Mädchen, süße heimliche Schauer mich durchbeben, und sehe ich solch ein Wesen dann wirklich, so ist es mir, als müsse mein Geist sie mit einer höhern Liebe, die nichts gemein hat mit dem Irdischen, umfassen." —"Oh, ich weiß es schon", erwiderte Alexander, "du verliebst dich in der Regel in alle Bräute, und oft steht in dem Sanctuario, das du phantastischerweise in deinem Innern angelegt, wohl auch schon die Geliebte eines andern." — "Er liebt mit den Liebenden", sprach Severin, "und darum liebe ich ihn so herzlich!" — "Ich werde ihm", rief Alexander lachend. "die alte Tante über den Hals schicken und so mich von einem Spuk befrein, der mir lästig ist. — Ihr schaut mich mit fragenden Blicken an? — Nun ja doch! — die Alte-Jungfern-Natur läßt sich in mir auch dadurch verspüren, daß ich an einer ganz unerträglichen Gespensterfurcht leide und mich gebärde wie ein kleiner Bube, den die Wartfrau mit irgendeinem Mummel ängstigt. Es passiert mir nämlich nichts Geringeres, als daß ich oft am hellen Tage, vorzüglich in der Mittagsstunde, wenn ich in die großen Kisten und Kasten schaue, dicht neben mir der alten Tante spitze Nase erblicke und ihre langen dürren Finger, wie sie hineinfahren in die Wäsche, in die Kleider und darin wühlen. — Nehme ich wohlgefällig ein Kesselchen herab oder eine Kasserolle, so schütteln sich die übrigen, und ich denke, nun wird die gespenstische Hand mir gleich ein anders Kesselchen oder Kasserollchen präsentieren. Da werfe ich alles beiseite und renne, ohne mich umzuschauen, nach dem Zimmer zurück und singe oder pfeife durchs geöffnete Fenster auf die Straße heraus, worüber sich Jungfer Anne sichtlich ärgert. Daß nun aber die Tante in der Tat jede Nacht punkt zwölf Uhr umherwandelt, steht fest." Marzell lachte laut auf, Severin blieb ernst und rief: "Erzähle nur; am Ende läuft's auf eine Abgeschmacktheit hinaus, denn wie solltest du bei deiner entsetzlichen Aufklärung zum Geisterseher werden." — "Nun, Severin", fuhr Alexander fort, "und du, Marzell, ihr wißt beide, daß niemand sich mehr gesträubt hat gegen allen Gespensterglauben als ich. Niemals in meinem Leben, bis jetzt, ist mir das mindeste Außerordentliche begegnet, und selbst die sonderbare, Sinn und Geist in körperlichem Schmerz lähmende Angst, die die Nähe des fremden geistigen Prinzips aus einer andern Welt verursachen soll, blieb mir fremd. Hört aber nur, was mir geschah in der ersten Nacht, als ich eingetroffen." —"Erzähle leise", sprach Marzell, "denn mich dünkt, hier unsere Nachbarschaft müht sich, zuzuhören und zu verstehen." —"Das soll sie", erwiderte Alexander, "um so weniger, als ich eigentlich auch euch meine Gespenstergeschichte verschweigen wollte. Doch - ich will nun einmal erzählen! Also! — Jungfer Anne empfing mich, ganz in Schmerz und Trauer aufgelöst. Den silbernen Armleuchter in der zitternden Hand, ächzte und keuchte sie vor mir her durch die öden Zimmer bis ins Schlafgemach. Hier mußte der Postknecht meinen Koffer absetzen. Der Kerl, indem er das reichliche Trinkgeld mit einem ,Schön Dank' sehr weitläuftig, den breiten Rock zurückschlagend, in die Hosentasche hineinschob, sah sich mit lachendem Gesicht im Zimmer um, bis sein Blick auf das hochaufgetürmte Bett mit den meergrünen Gardinen fiel, von dem ich schon vorhin sprach. ,Tausend - tausend!' rief er nun, ,da wird der Herr schön ruhen, besser wie im Postwagen, und da liegt ja auch schon Schlafrock und Mützchen!' —Der Ruchlose meinte der Tante ehrbares Nachtkleid. Jungfer Anne ließ, wie zusammensinkend, beinahe den silbernen Leuchter fallen, ich ergriff ihn schnell und leuchtete dem Postknecht hinaus, der sich mit einem schelmischen Blick auf die Alte entfernte. Als ich zurückkam, zitterte und bebte Jungfer Anne, sie glaubte, nun würde das Entsetzliche geschehen, nämlich ich würde sie fortschicken und ohne Umstände das jungfräuliche Bett einnehmen. Sie lebte auf, als ich höflich und bescheiden erklärte, daß ich nicht gewohnt sei, in solch weichen Betten zu schlafen, und daß sie mir, so gut es ginge, ein schlichtes Lager im Wohnzimmer bereiten möge. Das Entsetzliche unterblieb auf diese Weise, doch das Unerhörte geschah, nämlich Jungfer Annas gramverschrumpftes Gesicht heiterte sich auf, wie seitdem nicht mehr, zum holdseligen Lächeln; sie tauchte herab zur Erde mit ihren langen knochendürren Armen, fingerte geschickt die niedergetretenen Hinterteile der Pantoffeln herauf an die spitzen Fußhacken und trippelte mit einem leisen, halb furchtsamen, halb freudigen: ,Sehr wohl, mein geehrter junger Herr!' zur Tür hinaus. ,Da ich gedenke einen langen Schlaf zu tun, bitt ich um Kaffee erst zur neunten Stunde.' So beinahe mit Wallensteins Worten entließ ich die Alte. Todmüde, wie ich war, glaubt ich vom Schlaf gleich überwältigt zu werden, doch ihm widerstanden die mannigfaltigen Ideen und Gedanken, die sich in mir zu kreuzen begannen. Erst jetzt trat mich der schnelle Wechsel meiner Lage recht lebendig an. Erst jetzt, das neue Besitztum wirklich besitzend und in ihm verweilend, wurde es mir klar, daß, aus drückender Bedürftigkeit herausgerissen, das Leben sich mir in wohltuender Behaglichkeit erschließe. Des Nachtwächters widrige Pfeife quäkte - eilf - zwölf -, ich war so munter, daß ich das Picken meiner Taschenuhr, daß ich das leise Zirpen eines Heimchens vernahm, das sich irgendwo eingenistet haben mußte. Aber mit dem letzten Schlage zwölf einer aus der Ferne dumpf tönenden Turmuhr fing es an, in dem Zimmer mit leisen abgemessenen Tritten auf und ab zu wandeln, und bei jedem Tritt ließ sich ein ängstliches Seufzen und Stöhnen hören, das steigend und steigend den herzzerschneidenden Lauten eines von der Todesnot bedrängten Wesens zu gleichen begann. Dabei schnüffelte und kratzte es an der Tür des Nebenzimmers, und ein Hund winselte und jammerte wie in menschlichen Tönen. Ich hatte den alten Mops, der Tante Liebling, schon abends vorher bemerkt, seine Klage vernahm ich jetzt unstreitig. Ich fuhr auf von meinem Lager; ich blickte mit offenen starren Augen in das vom Nachtschimmer matt erleuchtete Gemach hinein: alles, was darin stand, sah ich deutlich, nur keine auf und ab wallende Gestalt, und doch vernahm ich die Tritte, und doch seufzte und stöhnte es. wie zuvor, dicht vor meinem Lager vorbei. Da ergriff mich plötzlich jene Angst der Geisternähe, die ich nie gekannt; ich fühlte, wie kalter Schweiß auf der Stirn tropfte und wie, in seinem Eise gefroren, mein Haar sich emporspießte. Nicht vermögend, ein Glied zu rühren, den Mund zum Schrei des Entsetzens zu öffnen, strömte das Blut rascher in den hüpfenden Pulsen und erhielt den inneren Sinn wach, der nur nicht über die äußern, wie im Todeskrampf erstarrten Organe zu gebieten vermochte. Plötzlich schwiegen die Tritte sowie das Stöhnen; dagegen hüstelte es dumpf, die Türe eines Schrankes knarrte auf, es klapperte wie mit silbernen Löffeln; dann war es, als würde eine Flasche geöffnet und in den Schrank gestellt, wie wenn jemand etwas verschluckt - ein seltsames widriges Räuspern - ein langgedehnter Seufzer. — In dem Augenblick wankte eine lange weiße Gestalt aus der Wand hervor; ich ging unter in dem Eisstrom des tiefsten Entsetzens, mir schwanden die Sinne.

Ich erwachte mit dem Ruck des Aus-der-Höhe-Stürzens; diese gewöhnliche Traumerscheinung kennt ihr alle, aber das eigene Gefühl, das mich nun erfaßte, vermag ich kaum euch zu beschreiben. Ich mußte mich erst darauf besinnen, wo ich mich befand, dann war es mir, als sei etwas Entsetzliches mit mir vorgegangen, dessen Erinnerung ein langer tiefer Todesschlaf weggelöscht hätte. Endlich kam mir alles nach und nach in den Sinn, indessen hielt ich es für einen spukhaften Traum, der mich geneckt. Als ich nun aufstand, fiel mir zuerst das Bild der bräutlich geschmückten Jungfrau, ein lebensgroßes Kniestück, ins Auge, und kalter Schauer fröstelte mir den Rücken herab, denn es war mir, als sei diese Gestalt mit lebhaften kennbaren Zügen in der Nacht auf und ab geschritten; doch der Umstand, daß sich

in dem ganzen Zimmer kein einziger Schrank befand, bestätigte es mir aufs neue, daß ich nur geträumt habe. Jungfer Anna brachte den Kaffee, sie blickte mir länger und länger ins Gesicht und sprach dann: ,Ei du lieber Gott, wie sehen Sie doch so krank und blaß aus, es ist Ihnen doch nichts passiert?' — Weit entfernt, der Alten nur das mindeste von meinem Spuk merken zu lassen, gab ich vor, daß ein heftiges Brustdrücken mich nicht habe schlafen lassen. ,Ei', lispelte die Alte, ,das ist der Magen, das ist der Magen, ei, ei, dafür wissen wir Rat!' — Und damit schlarrte die Alte auf die Wand zu, öffnete eine von mir nicht bemerkte Tapetentür, und ich sah in einen Schrank. in welchem sich Gläser, kleine Flaschen und ein paar silberne Löffel befanden. Nun nahm die Alte klappernd und klirrend einen Löffel heraus, dann öffnete sie eine Flasche, tröpfelte etwas von dem darin enthaltenen Saft in den Löffel. setzte sie wieder in den Schrank und wankte auf mich zu. Ich schrie auf vor Entsetzen. denn der vorigen Nacht spukhafte Erscheinungen traten ins Leben. ,Nun, nun', schnarrte die Alte mit seltsam schmunzelndem Gesicht, ,nun, nun, lieber junger Herr! es ist ja nur eine tüchtige Medizin; die selige Mamsell litt auch am Magen und nahm dergleichen öfters!' Ich ermannte mich und schluckte das kräftig brennende Magenelixir hinunter. Mein Blick war starr auf das Bild der Braut gerichtet, das gerade über dem Wandschrank hing. ,Wen stellt das Bild dort vor?' fragte ich die Alte. ,Ei du mein lieber Gott, das ist ja die selige Mamsell Tante!' erwiderte die Alte, indem ihr die Tränen aus den Augen stürzten. Der Mops fing an zu winseln wie in der Nacht, und mit Mühe das innere Erbeben beherrschend, mit Mühe Fassung erringend, sprach ich: ,Jungfer Anna, ich glaube, die selige Tante war in voriger Nacht um zwölf Uhr an dem Wandschrank dort und nahm Tropfen?' Die Alte schien gar nicht verwundert, sondern sprach leise, indem eine seltsame Totenbleiche den letzten Lebensfunken aus dem verschrumpften Gesicht weglöschte: ,Haben wir denn heute wieder Kreuzeserfindungstag? Der dritte Mai ist ja längst vorüber!' — Es war mir nicht möglich, weiterzufragen; die Alte entfernte sich, ich zog mich schnell an, ließ das Frühstück unberührt stehen und rannte hinaus in das Freie, um nur den grauenhaften träumerischen Zustand, der sich meiner aufs neue bemächtigen wollte, loszuwerden. Ohne daß ich es befohlen, hatte die Alte am Abend mein Bett in ein freundliches Kabinett nach der Straße heraus getragen. Ich habe kein Wort weiter über den Spuk mit der Alten gesprochen, noch viel weniger dem Kriegsrat etwas davon erzählt, tut mir den Gefallen und schweigt auch darüber, sonst gäb es nur ein ärgerliches Ge schwätz, ein Erkundigen und Fragen ohn End und Ziel und wohl gar lästige Nachforschungen geisterkundiger Dilettanten. Selbst in meinem Kabinett glaub ich jede Nacht Punkt zwölf Uhr die Tritte und das Stöhnen zu hören, doch will ich noch einige Tage dem Grauen widerstehen und dann zusehen, wie ich ohne vielen Rumor das Haus verlassen und eine andere Wohnung finden kann."

Alexander schwieg, und erst nach einigen Sekunden hob Marzell an: "Das mit der alten spukhaften Tante ist wunderbar und graulich genug, aber sosehr ich daran glaube, daß ein fremdes geistiges Prinzip sich uns auf diese oder jene Weise kundtun kann, so läuft mir doch deine Geschichte zu sehr ins Gemeinmaterielle; die Tritte, das Seufzen und Stöhnen, alles das lasse ich gelten, aber daß die Selige wie im Leben Magentropfen zu sich nimmt, das gemahnt mich an jene nach dem Tode wiederkehrende Frau, die wie ein Kätzchen am verschlossenen Fenster herumklirrte." — "Das ist nun", sprach Severin, "wieder eine uns ganz eigene Mystifikation, daß wir, nachdem wir die mögliche Kundmachung des fremden geistigen Prinzips durch wenigstens scheinbares Einwirken auf unsere äußeren Sinne festgestellt, nun auch gleich diesem Prinzip eine gehörige Edukation geben und es darüber belehren wollen, was ihm anständig sei oder nicht. Nach deiner Theorie, lieber Marzell, darf ein Geist mit Pantoffeln einhergehen, seufzen, stöhnen,

nur keine Flasche öffnen oder gar ein Schlückchen nehmen. Hier ist nun zu bemerken, daß unser Geist im Traum an das höhere, nur in Ahnungen sich gestaltende Sein oft Gemeinplätze des befangenen Lebens hängt, dieses aber dadurch auf bittere Weise zu ironisieren weiß. Kann diese Ironie, die tief in der ihrer Entartung sich bewußten Natur liegt, nicht auch der entpuppten, der Traumwelt entzogenen Psyche eigen sein, wenn ihr Rückblicke in den verlassenen Körper vergönnt sind? So würde das lebhafte Wollen und Einwirken des fremden geistigen Prinzips, welches den Wachenden im Wachen in die Traumwelt führt, jede Erscheinung bedingen, die er mit äußeren Sinnen wahrzunehmen glaubt, und es wäre doch komisch, wenn wir diesen Erscheinungen irgendeine sittliche Norm nach unserer Art geben wollten. Merkwürdig ist es, daß Nachtwandler, aktive Träumer, oft in den gemeinsten Funktionen des Lebens befangen sind; denkt nur an jenen, der in jeder Vollmondsnacht sein Pferd aus dem Stalle zog, es sattelte, wieder absattelte, in den Stall zurückführte und dann das verlassene Bett suchte. — Alles, was ich sage, sind nur membra disjecta, ich meine aber nur -" — "Du glaubst also doch an die alte Tante?" unterbrach der ziemlich erblaßte Alexander den Freund. "Was wird er nicht glauben", rief Marzell, "bin ich denn nicht auch ein Gläubiger, wiewohl kein so ausgemachter entschiedener Visionär wie unser Severin? Nun will ich's auch aber länger nicht verhehlen, daß mich in meiner Wohnung ein beinahe noch ärgerer Spuk, als wie ihn Freund Alexander erfuhr, bis auf den Tod erschreckt hat." — "Ist es mir denn besser gegangen?" murmelte Severin. — "Gleich nachdem ich angekommen", fuhr Marzell fort, "mietete ich in der Friedrichsstraße ein nettes möbliertes Zimmer; wie Alexander warf ich mich todmüde aufs Lager; doch kaum mochte ich wohl eine Stunde geschlafen haben, als es mir wie ein heller Schein auf die geschlossenen Augenlider brannte. Ich öffne die Augen und - denkt euch mein Entsetzen! dicht vor meinem Bette steht eine lange hagere Figur mit todbleichem, graulich verzogenem Gesicht und starrt mich an mit hohlen gespenstischen Augen. Ein weißes Hemde hängt der Gestalt um die Schultern, so daß die Brust ganz entblößt ist, die mir blutig scheint; in der linken Hand trägt sie einen Armleuchter mit zwei angezündeten Kerzen, in der rechten ein großes, mit Wasser gefülltes Glas. — Sprachlos starrte ich das gespenstische Unwesen an, das Leuchter und Glas mit schauerlich winselnden Tönen in großen Kreisen zu schwingen begann. Wie es Alexander beschrieben, so packte auch mich die Gespensterfurcht. —Langsamer und langsamer schwang das Gespenst Leuchter und Glas, bis beides stillstand. Nun war es mir, als flüstre ein leiser Gesang durch das Zimmer, da entfernte sich die Gestalt mit seltsam grinsendem Lächeln langsamen Schrittes durch die Türe. Lange dauerte es, bis ich mich ermannte, schnell aufsprang und die Türe, die ich, wie ich nun bemerkte, vor dem Schlafengehen zu verschließen vergessen, abriegelte. Wie oft war es mir im Felde geschehen, daß unvermutet ein fremder Mensch vor meinem Bette stand. wenn ich die Augen aufschloß; nie hatte mich das erschreckt; daß hier also etwas Außerordentliches, und zwar Gespenstisches, vorwalten müsse, davon war ich fest überzeugt. Am andern Morgen wollte ich zu meiner Wirtin herab, um ihr zu erzählen, welch eine grauliche Erscheinung mir den Schlaf verstört habe. Indem ich zur Stube heraus in den Flur trat, öffnete sich die Tür mir gegenüber, und eine hagere große Gestalt, in einen weiten Schlafrock gewickelt, kam mir entgegen. Im ersten Augenblicke erkannte ich das totenbleiche Gesicht und die hohlen düstern Augen des Unholds von der vorigen Nacht her, und unerachtet ich nun wohl wußte, daß das Gespenst bei ähnlicher Gelegenheit geprügelt oder herausgeworfen werden könne, so fühlte ich doch die Schauer der Nacht in mir nachbeben, und ich wollte schnell die Treppe herabschlüpfen. Der Mann vertrat mir aber den Weg, faßte mich sanft bei der Hand und fragte, indem ein gutmütiges Lächeln sein Gesicht überflog, mit leisem freundlichen Ton: ,Oh, mein sehr werter Herr Nachbar! wie haben Sie doch diese Nacht in der neuen Wohnung zu ruhen beliebt?' —Ich stand gar nicht an, ihm mein Abenteuer ausführlich zu erzählen und hinzuzufügen, daß ich glaube, er selbst sei die Gestalt gewesen, und daß ich mich nun freue, ihn nicht, im Wahn eines Überfalls in feindlicher Stadt, woran ich leicht denken können vom Feldzuge her, auf empfindliche Weise verjagt zu haben. In der Zukunft vermöge ich nicht dafür zu stehen. Während meiner Erzählung schüttelte der Mann lächelnd mit dem Kopf und sprach, als ich geendet, sehr sanft: ,Oh. mein wertester Herr Nachbar, nehmen Sie es doch ja nur nicht übel! — Ei, ei! — ja, ich dachte gleich, daß es so kommen müßte, und ich wußte ja auch schon heute morgen, daß es so gekommen war, denn ich befand mich so wohl, so im Innersten beruhigt. — Ich bin ein etwas ängstlicher Mann, wie sollte das aber auch anders sein! — Auch sagt man, daß übermorgen -' — mit dieser Wendung ging er über zu gewöhnlichen Stadtneuigkeiten, denen andere Notizen folgten, die für den Fremden oder Angekommenen von Wert sein mußten und die er lebendig und oft nicht ohne Würze feiner Ironie vorzutragen wußte. Ich kam, da mich nun der Mann recht zu interessieren anfing, jedoch wieder zurück auf die Begebenheit der Nacht und bat ihn, mir nur ohne weitere Umstände zu sagen, was ihn vermocht haben könne, auf so seltsame unheimliche Weise meinen Schlaf zu verstören. ,Ach, nehmen Sie es doch nur ja nicht übel, wertester Herr Nachbar', so fing er aufs neue an, ,daß ich mich, ohne es einmal recht zu wissen, erdreistet. —Es war nur, um von Dero Gesinnungen gegen mich unterrichtet zu sein, ich bin ein ängstlicher Mann; eine neue Nachbarschaft kann mir hart zusetzen, ehe ich weiß, wie ich daran bin mit ihr.' — Ich versicherte dem sonderbaren Menschen, daß ich bis jetzt kein Wort von allem verstehe; da nahm er mich bei der Hand und führte mich in sein Zimmer. ,Warum soll ich es Ihnen verhehlen, lieber Herr Nachbar', sprach er, indem er mit mir in das Fenster trat, ,warum es ableugnen, welch eine sonderbare Gabe mir inwohnt? Gott ist mächtig in den Schwachen, und so wurde mir armen, jedem Pfeil der Widersacher bloßgestellten Mann zum Schutz und Trutz die wunderbare Kraft verliehen, unter gewissen Bedingungen in das Innerste der Menschen zu schauen und ihre geheimsten Gedanken zu erraten. Ich ergreife nämlich dies reine sonnenhelle, mit destilliertem Wasser gefüllte Glas' (er nahm einen Pokal von der Fensterbank herab, es war derselbe, den er vorige Nacht in der Hand trug), ,richte Sinn und Gedanken auf die Person, deren Inneres ich zu erraten strebe, und bewege das Glas in bestimmten, mir nur bewußten Schwingungen hin und her. Alsbald steigen kleine Bläschen im Glase auf und nieder, die sich wie die Folie eines Spiegels formen, und bald ist es, als wenn, indem ich hineinschaue, mein eigener innerer Geist sich vernehmbar und leserlich darin abspiegle, wiewohl ein höheres Bewußtsein Bild und Abspiegelung für jenes fremde Wesen, auf das der Sinn gerichtet war, anerkennt. Oft, wenn mich die Annäherung eines fremden, noch unerforschten Wesens zu sehr ängstigt, kommt es, daß ich zur Nachtzeit operiere, und dies ist wohl in voriger Nacht der Fall gewesen; denn gestehen muß ich offenherzig, daß Sie mir gestern abend nicht wenig Unruhe verursachten.' Plötzlich schloß mich der wunderliche Mann in seine Arme, indem er wie begeistert ausrief: ,Aber welche Freude, daß ich so bald Ihre gütigen Gesinnungen für mich erkannte. O mein bester, wertester Herr Nachbar, sollte ich mich denn irren - nicht wahr? wir verlebten schon glückliche vergnügte Tage auf Ceylon; es kann kaum zweihundert Jahre her sein? — Nun verwickelte sich der Mann in die wunderlichsten Kombinationen, ich wußte zur Gnüge, wen ich vor mir hatte, und war froh, als ich, nicht ohne Mühe, mich von ihm losgewunden. Auf nähere Nachfrage bei der Wirtin erfuhr ich dann, daß mein Nachbar, so lange als vielseitig ausgebildeter Gelehrter und tüchtiger Geschäftsmann geschätzt, vor kurzer Zeit in tiefe Melancholie verfiel, in der er wähnte, daß jeder feindliche Absichten gegen ihn in sich trage und ihn auf diese oder jene Weise zu verderben suche, bis er mit einem Male das Mittel gefunden zu haben glaubte, seine Feinde zu erkennen und sich gegen sie sicherzustellen, worauf er in den jetzigen heitern beruhigten Zustand des fixen Wahnsinns überging. Er sitzt beinahe den ganzen Tag am Fenster und experimentiert mit dem Glase; sein ursprünglich guter harmloser Charakter offenbart sich aber darin, daß er beinahe jedesmal gute Gesinnungen zu erkennen glaubt und daß er, erscheint ihm irgendein Charakter zweifelhaft oder bedenklich, nicht zornig wird, sondern nur in sanfte Traurigkeit gerät. Daher ist sein Wahnsinn auch ganz unschädlich, und sein älterer Bruder, der ihn bevormundet. mag ihn ruhig ohne genauere Aufsicht für sich wohnen lassen, wo es ihm gefällt." — "Deine Erscheinung", sprach Severin, "gehört also recht eigentlich in Wagners ,Gespensterbuch', da sich die Erklärung, wie alles natürlich zugegangen und wie deine Phantasie das Beste dabei getan hat, sich ebenso wie in den gemeinen Geschichten jenes nüchternsten aller Bücher langweilig nachschleppt." — "Willst du", erwiderte Marzell, ,durchaus nur Gespenster, so hast du recht, übrigens ist aber mein Wahnsinniger, mit dem ich jetzt auf dem besten Fuß von der Welt stehe, eine höchst interessante Erscheinung, und nur das einzige gefällt mir nicht, daß er anfängt, auch andern fixen Ideen Raum zu geben, zum Beispiel daß er König auf Amboina gewesen, in Gefangenschaft geraten und funfzig Jahre hindurch als Paradiesvogel für Geld gezeigt worden ist. So was kann zur Tollheit führen. Ich erinnere mich eines Menschen, der im ruhigen friedlichen Wahnsinn jede Nacht als Mond schien, sofort aber in Tollheit geriet, als er auch des Tages als Sonne aufgehen wollte." — "Aber, ihr Leute!" rief Alexander, "was sind das heute für Gespräche hier mitten unter tausend geputzten Feiertagsgästen im hellen Sonnenschein? — Nun fehlte es noch, daß Severin, der mir auch zu düster und zu nachdenkend aussieht, noch viel Graulicheres als wir in diesen Tagen erlebt hätte und es uns auftischte." — "In der Tat", fing Severin an, "Gespenster habe ich nicht gesehen, aber wohl ist mir die unbekannte, unheimliche Macht so nahe getreten, daß ich schmerzlich die Bande gefühlt habe, womit sie mich und uns alle umstrickt hält." — "Hab ich's nicht gleich gedacht", sprach Alexander zu Marzell, "daß Severins eigene Stimmung in irgend etwas Besonderem ihren Grund finden müsse?" — "Wir werden sogleich viel Fabelhaftes hören", erwiderte Marzell lachend, worauf Severin bemerkte: "Hat Alexanders selige Tante Magentropfen eingenommen, hat der Geheime Sekretär Nettelmann, denn das ist der Wahnsinnige, den ich längst kenne, Marzells gute Gesinnungen in einem Glase Wasser erblickt, so wird es mir doch erlaubt sein, einer seltsamen Ahnung zu erwähnen, die geheimnisvollerweise, als Blumenduft gestaltet, mir ins Leben trat. — Ihr wißt, daß ich in dem entfernteren Teil des Tiergartens dem Hofjäger nahe wohne. Gleich den ersten Tag, als ich angekommen -" — — In dem Augenblick wurde Severin durch einen alten, sehr wohlgekleideten Mann unterbrochen, der höflich bat, ihm doch durch weniges Vorrücken des Stuhls freien Durchgang zu verschaffen. Severin stand auf, und der Alte führte freundlich grüßend eine ältliche Dame, die seine Frau schien, vorüber; ihnen folgte ein ungefähr zwölfjähriger Knabe. Severin wollte sich eben wieder hinsetzen, als Alexander leise rief: "Halt, das Mädchen dort scheint noch zur Familie zu gehören!"Die Freunde erblickten eine wunderherrliche Gestalt, die mit zögernden ungewissen Schritten, mit rückwärts gewandtem Kopf sich näherte. Augenscheinlich suchte sie jemanden wiederzufinden, den sie vielleicht vorübergehend bemerkt hatte. Gleich darauf schlüpfte auch ein junger Mann durch die Menge dicht an sie heran und drückte ein Zettelchen ihr in die Hand, das sie schnell im Busen verbarg. Der Alte hatte unterdessen nicht weit von den Freunden einen soeben verlassenen Tisch in Beschlag genommen und demonstrierte dem flüchtigen Kellner, den er bei der Jacke festhielt, sehr weitläufig, was er alles herbeibringen solle; die Frau klopfte sorglich den Staub von den Stühlen, und so gewahrten sie die Zögerung der Tochter nicht, die, ohne Severins Artigkeit, der noch immer mit zurückgeschobenem Stuhl stehen geblieben, im mindesten zu beachten, jetzt schnell sich zu ihnen gesellte. Sie setzte sich so, daß die Freunde ihr, trotz des tiefen Strohhuts, gerade in das wunderliebliche Gesicht, in die dunkel-sehnsüchtigen Augen blicken konnten. In ihrem ganzen Wesen, in jeder Bewegung lag etwas unendlich Anmutiges, Reizendes; sie war nach der letzten Mode sehr geschmackvoll, für den Spaziergang beinahe zu elegant gekleidet, und doch war an irgendeine Ziererei, wie sie sonst sehr geputzten Mädchen wohl eigen, gar nicht zu denken. Die Mutter grüßte eine entfernt sitzende Dame, und beide standen auf, sich annähernd zum Gespräch; der Alte trat unterdessen an die Laterne und zündete sich die Pfeife an. Diesen Augenblick benutzte das Mädchen, das Papierchen aus dem Busen zu ziehen und den Inhalt schnell zu lesen. Da sahen die Freunde. wie das Blut der Armen in das Gesicht stieg, wie große Tränen in den schönen Augen perlten, wie der Busen vor innerer Beklemmung sich hob und senkte. Sie zerriß das kleine Papier in hundert kleine Stücke und gab eins nach dem andern langsam, als sei jedes eine schöne, schwer aufzugebende Hoffnung, dem Winde preis. Die Alten kehrten wieder. Der Vater sah dem Mädchen scharf in die verweinten Augen und schien zu fragen: "Was hast du denn?" Das Mädchen sprach einige sanft klagende Worte, die die Freunde freilich nicht verstehen konnten, da sie aber gleich ein Tuch hervorzog und an die Backe hielt, so mußte sie wohl Zahnschmerzen vorschützen. Ebendeshalb kam es aber den Freunden besonders vor, daß der Alte, der überhaupt ein etwas karikiert ironisches Gesicht hatte, possierliche Mienen schnitt und so laut lachte. Keiner, weder Alexander, Marzell noch Severin, hatte bis jetzt ein Wort gesprochen, sondern unverwandt das holde Kind, das irgendeinen großen Schmerz erfahren, angeschaut. Der Knabe nahm jetzt auch Platz, und die Schwester wechselte den Sitz so, daß sie jetzt den Freunden den Rücken zukehrte. Nun war der Zauber gelöst, und Alexander fing an, indem er aufstand und Severin leise auf die Schulter klopfte: "Ei, Freund Severin, wo ist die Geschichte von der in Blumenduft sich gestalteten Ahnung? wo ist der Geheime Sekretär Nettelmann - die selige Tante, wo sind unsere tiefen Gespräche geblieben? — Ei, was ist uns denn jetzt allen erschienen, das uns die Zunge bindet und unsere Augen so verstarrt?" — "Ich sage soviel", sprach Marzell mit einem dumpfen Seufzer, "daß das Mädchen dort das holdeste, wunderherrlichste Engelskind ist, das ich jemals sah." — "Ach!" fiel Severin, noch tiefer und schmerzlicher seufzend, ein, "ach, und dieses Himmelswesen in irdischem Leiden befangen und duldend!" — "Vielleicht", sprach Marzell, "in diesem Augenblick unzart von roher Faust berührt!" —"Das meine ich auch", versetzte Alexander, "und sehr würde es mich erlustigen und befriedigen, wenn ich jenen großen hasenfüßigen Lümmel prügeln könnte, der ihr den fatalen Zettel gab. Unstreitig war es nämlich der ersehnte Geliebte, der ihr, statt der ungezwungenen Annäherung an die Familie, irgendeiner abgeschmackten Eifersüchtelei oder sonstiger dummer Liebesfehde halber, schnöde Worte brieflich einhändigte." — "Aber Alexander", fiel Marzell ihm ungeduldig ins Wort, "wie kannst du nur so ohne alle Menschenkenntnis, so ganz erbärmlich beobachten? Deine Prügel würden den seiner Breite halber freilich einladenden Rücken eines höchst unschuldigen harmlosen Briefträgers treffen. Lasest du es denn nicht in dem dümmlich lächelnden Gesicht; sahst du es denn nicht an der ganzen Manier, ja selbst am Gange, daß der junge Mensch nur Überbringer, nicht Briefsteller war? — Man mag es nun anfangen, wie man will, gibt man eigne Worte im eignen Namen ab, so steht der Inhalt leserlich auf dem Gesicht! —Wenigstens ist das Gesicht allemal die kurze Inhaltsanzeige, die den offiziellen Berichten vorgesetzt wird und die immer sagen muß, worauf es ankommt. Und es müßte dann die heilloseste, auch leicht zu erkennende Ironie sein, wie wollte man sonst der Geliebten in solch gebückter Botenstellung ein Briefchen überreichen, wie der junge Mensch es tat? Es scheint gewiß, daß das Mädchen den heimlich Geliebten, den sie nicht sehen darf oder kann, hier anzutreffen hoffte. Er wurde unabwendbar verhindert, oder auch, wie Alexander meint, irgendeine dumme Liebesfehde hielt ihn zurück. Er schickte den Freund mit dem Briefchen ab. Mag es nun aber sein, was es will, mir hat die Szene das Herz zerschnitten." — "Ach, Freund Marzell", nahm Severin das Wort, "und doch gibst du diesem tief in die Brust schneidenden Schmerz, wie ihn die Arme litt, solche gemeine Ursache? — Nein! — sie liebt heimlich - vielleicht wider den Willen des Vaters, alle Hoffnung war auf ein Ereignis gestellt, das heute - heute den Ausschlag geben sollte. Es ist fehlgeschlagen! — Alles vorbei - untergegangen der Hoffnungsstern - begraben alles Glück des Lebens! Saht ihr wohl, mit welchem in das Innerste dringenden Blick der hoffnungslosesten Wehmut das Mädchen den unglückseligen Brief, wie Ophelia die Strohblumen, wie Emilia Galotti die Rose, in hundert Stückchen zerpflückte und in die Luft verstreute? —Ach, ich hätte blutige Tränen weinen mögen, als, wie im entsetzlich höhnenden Spott, der Wind die Todesworte in luftigen Wellen fortkräuselte! Ist denn kein Trost auf Erden für das holde, süße Himmelskind?" — "Nun, Severin", rief Alexander, "du bist wieder gut im Zuge. Das Trauerspiel ist fertig! Nein, nein! wir wollen der Holden alle Hoffnungen, alles Lebensglück lassen, und ich glaube, sie zweifelt selbst noch nicht daran, da sie mir jetzt sehr gefaßt zu sein scheint. Seht nur, wie sorglich sie die neuen weißen Handschuhe auf das weiße Tuch bettet und mit wie vieler Behaglichkeit sie den Kuchen in die Teetasse einstippt - wie sie dem Alten freundlich zunickt, der ihr einigen Rum in die Tasse tröpfelt - der Junge beißt recht bengelhaft in das große Butterbrot hinein! — Pump! da liegt es im Tee, der ihm ins Gesicht sprützt - die Alten lachen - seht, seht, wie sich das Mädchen vor Lachen schüttelt." — "Ach", unterbrach Severin den Beobachter. "ach, das ist ja eben das Entsetzliche, daß die Arme den tiefen zerstörenden Schmerz im Innern mit des Lebens gemeiner Außenseite verhüllen muß. Und dann! — ist es. im Innern verstört, nicht leichter zu lachen als gleichgültig zu scheinen?" — "Ich bitte dich, Severin", sprach Marzell, "schweige, denn wir regen unsere Gefühle, lassen wir das Mädchen nicht aus den Augen, nur auf eine uns verderbliche Weise auf."Alexander stimmte der Äußerung Marzells ganz bei, und nun mühten sich die Freunde, ein heiteres, von Gegenstand auf Gegenstand launicht springendes Gespräch zu beginnen. Dies gelang ihnen auch insofern, als mit vielem Geräusch die unbedeutendsten Dinge aufs Tapet gebracht und unendlich interessant gefunden wurden. Alles, was jeder sprach, hatte aber wirklich solch besondere Farbe, solch besondern Ton, der niemals zur Sache paßte, so daß die Worte nur ganz was anders bedeutende Chiffern schienen. Sie beschlossen, den herrlichen Tag des Wiedersehens mit einem kalten Punsch zu feiern, und fielen schon bei dem dritten Glase einander weinend in die Arme. Das Mädchen stand auf, ging an die Barriere des Wassers und schaute, hinübergelehnt, mit recht wehmütigen Blicken den fliehenden Wolken nach. "Eilende Wolken Segler der Lüfte!" — fing Marzell mit süßlich klagender Stimme an, aber Severin stürzte das Glas hinunter, und es hart auf den Tisch niederstoßend, erzählte er von einem Schlachtfelde, das er im hellen Mondschein durchwandelt, und wie ihn die bleichen Toten mit lebendig funkelnden Augen angestarrt hätten. "Gott behüte und bewahre", schrie Alexander, "was ficht dich an, Bruder!" — Das Mädchen setzte sich eben wieder an den Tisch, mit einem Ruck sprangen die drei Freunde auf und hielten eine Art Wettlauf bis an die Barriere; durch einen gewagten Sprung über zwei Stühle kam aber Alexander den Freunden zuvor und lehnte sich richtig gerade an derselben Stelle an, wo das Mädchen gestanden, behauptete auch diesen Platz hartnäckig, unerachtet Marzell von der einen, Severin von der andern Seite, unter dem Vorwande freundschaftlicher Umarmungen, ihn wegzuziehen strebten. Severin sprach nun sehr feierlich und mystisch über die Wolken und ihren Zug, erklärte auch lauter, als gerade nötig, die Bilder, die sich formten; Marzell, ohne auf ihn zu hören, verglich Bellevue mit einer römischen Villa und fand, unerachtet er durch die Schweiz und durch Franken zurückgekommen, die öde Gegend mit den gleich Kniegalgen hervorragenden Blitzableitern an den Pulverhäusern, die er "funkelnde Sterne tragende Masten" nannte, üppig reich und romantisch. Alexander begnügte sich damit, den schönen Abend und den reizenden Aufenthalt im Weberschen Zelt zu loben. Die Familie schien aufbrechen zu wollen, denn der Alte klopfte die Pfeife aus, die Frauenzimmer packten die Strickzeuge ein, und der Knabe suchte und rief nach seiner Mütze, die ihm endlich der muntere Hauspudel, der solange damit gespielt, dienstfertig apportierte. Die Freunde wurden kleinlauter, die Familie grüßte freundlich, da fuhren sie, sich schnell und heftiger als nötig bückend, mit den Köpfen zusammen, daß es merklich krachte. Indem sie sich darüber wundern wollten, war die Familie auf und davon. Nun schlichen sie in mürrischem Schweigen zurück zum kalten Punsch, den sie miserabel fanden. Die bilderreichen Wolken verhauchten im gestaltlosen dunkeln Nebel, Bellevue wurde wieder Bellevue, jeder Blitzableiter ein Blitzableiter und das Webersche Zelt eine ordinäre Kneipe. Da überdem beinahe kein Mensch mehr da war, eine unangenehme Kühle eintrat und sogar die Pfeifen nicht mehr recht brennen wollten, schlichen die Freunde in einem Gespräch, das wie ein abgebranntes Licht nur hin und wieder einmal noch aufloderte, fort. Severin trennte sich schon im Tiergarten von ihnen, um seine Wohnung zu suchen, und Marzell ließ auch, in die Friedrichsstraße einbiegend, den Freund allein nach seinem weit entlegenen Hause zur seligen Tante wandeln. Ebendieser Entlegenheit ihrer Wohnungen halber hatten die Freunde einen öffentlichen Ort in der Stadt gewählt, wo sie sich an bestimmten Tagen und Stunden sehen wollten. Es geschah auch so; sie kamen aber mehr, um das sich gegebene Wort zu halten, als aus innerm Antriebe. Vergebens blieb alles Mühen, den gemütlichen traulichen Ton, der sonst unter ihnen herrschte, wiederzufinden. Es war, als trage jeder etwas im Innern, das alle Lust, alle Freiheit verstöre und das er wie ein düsteres verderbliches Geheimnis bewahren müsse. Nach weniger Zeit war Severin plötzlich aus Berlin verschwunden. Alexander klagte kurz darauf mit einer Art von Verzweiflung, daß er vergebens um Verlängerung seines Urlaubs gebeten, daß er, ohne mit der Regulierung der Erbschaft zustande gekommen zu sein, fortreisen und seine herrliche bequeme Wohnung verlassen müsse. "Aber", fragte Marzell, "mich dünkt, du fandest ja deine Wohnung so unheimlich, ist es dir nicht lieb, wieder ins Freie zu kommen, und wie ist es mit dem alten Spuk der seligen Tante?" — "Ach", rief Alexander verdrießlich, "die spukt längst nicht mehr. — Ich kann dich versichern, daß ich mich recht nach häuslicher Ruhe sehne, und wahrscheinlich nehme ich bald meinen Abschied, um der Kunst und Literatur ungestört nachhängen zu können." Alexander mußte auch in der Tat in wenigen Tagen fort. Bald darauf brach der Krieg aufs neue aus, und plötzlich war Marzell, der, statt den frühern Plan zu verfolgen, wieder Kriegsdienste genommen, auch fort zur Armee. So trennten sich die drei Freunde aufs neue, ehe sie sich noch im eigentlichen Sinne des Worts wiedergefunden hatten.

Zwei Jahre waren vergangen, als gerade am zweiten Pfingstfeiertage Marzell, der abermals den Kriegsdienst verlassen hatte und nach Berlin zurückgekehrt war, im Weberschen Zelt über die Barriere gelehnt, mancherlei Gedanken nachhängend, in die Spree hinabsah. Es klopfte ihm jemand leise auf die Schulter, und als er um sich blickte, standen Alexander und Severin vor ihm. "So muß man die Freunde suchen und finden", rief Alexander, indem er Marzell voll inniger Freude umarmte. "Mir", fuhr Alexander fort, "mir nichts weniger träumend, als einen von euch gerade heute wiederzusehen, wandelte ich eines Geschäfts halber durch die Linden, dicht vor mir geht eine Gestalt - ich traue meinen Augen nicht -ja, es ist Severin! — Ich rufe, er dreht sich um, der meinigen gleich ist seine Freude, ich lade ihn ein in meine Wohnung, er schlägt es mir rund ab, weil ihn ein unwiderstehlicher Trieb fortjagt nach dem Weberschen Zelt. Was kann ich anders tun, als mein Geschäft aufgeben und gleich mit ihm gehen. Seine Ahnung hat ihn nicht betrogen, er wußte im Geist, daß du hier sein würdest." "In der Tat", fiel Severin ein, "es war mir in der Seele ganz deutlich, daß ich Alexander sowohl als dich hier treffen müsse, und nicht erwarten konnte ich das freudige Wiedersehen." Die Freunde umarmten sich aufs neue. "Findest du nicht, Alexander", sprach Marzell, "daß Severins kränkliche Blässe ganz verschwunden ist? Er sieht wunderbar frisch und gesund aus, und die fatalen finsteren Wolkenschatten liegen gar nicht mehr auf der freien Stirne." — "Dasselbe", erwiderte Severin, "möchte ich von dir behaupten, mein lieber Marzellus. Denn sahst du gleich nicht krank aus wie ich, der ich es wirklich war an Leib und Gemüt, so beherrschte die eigene Verstimmung im Innern dich doch so ganz und gar, daß sie dein jugendliches munteres Gesicht schier in das eines grämlichen Alten verwandelte. Ich glaube, wir sind beide durchs Fegfeuer gegangen, und am Ende auch wohl Alexander. Hatte der nicht auch zuletzt all seine Heiterkeit verloren und machte solch ein verdammtes Arzeneigesicht, auf dem man hätte lesen mögen: ,Alle Stunde einen Eßlöffel voll'? Mag ihn nun die selige Tante so geängstet oder, wie ich beinahe glaube, etwas anderes geplagt haben, aber so wie wir ist er erstanden." — "Du hast recht", fiel Marzell ein, "aber je mehr ich den Burschen ansehe, desto klarer wird es mir, was Geld und Gut vermag auf dieser Erde. Hat der Mensch jemals solch rote Backen, solch rundliches Kinn gehabt? Glänzt er nicht vor Wohlbehaglichkeit? Sprechen nicht diese süß gezogenen Lippen: ,Der Roastbeef war delikat und der Burgunder von der feinsten Sorte!'" Severin lachte. "Bemerke", fuhr Marzell weiter fort, indem er Alexandern bei beiden Armen erfaßte und sanft herumdrehte, "bemerke gefälligst dies superfeine Tuch des modernen Fracks, diese blendend weiße, sauber gefältelte Wäsche, diese reiche Uhrkette mit siebenhundert goldenen Petschaffen! —Nein, sage, Junge! wie bist du zu dieser enormen, dir ganz fremden Eleganz gekommen? — Gott weiß, ich glaube gar, der üppige Mensch, von dem wir sonst, wie Falstaff vom Friedensrichter Schaal, sagten, daß er füglich in eine Aalhaut gepackt werden könne, fängt an, sich ganz rundlich zu formen. — Sage, was ist mit dir vorgegangen?" — "Ei", erwiderte Alexander, indem eine leise Röte sein Gesicht überflog, "ei, was ist an meiner Gestalt weiter Verwunderliches? Seit einem Jahr habe ich dem königlichen Dienst entsagt und lebe froh und heiter." — "Eigentlich", fing Severin, der nicht viel auf Marzell gehört, sondern nachdenklich gestanden, jetzt wie erwachend an, "eigentlich verließen wir uns recht unfreundlich, gar nicht, wie es alten Freunden ziemt." — "Du vorzüglich", sprach Alexander: "denn du liefst davon, ohne einem Menschen etwas zu sagen." — "Ach", erwiderte Severin, "ich war damals in großer Narrheit befangen, so wie du und Marzell, denn -" — er stockte plötzlich, und die Freunde sahen sich mit funkelndem Blick an, wie Leute, die derselbe Gedanke gleich einem elektrischen Schlage durchblitzt. Sie waren nämlich unter Severins Worten Arm in Arm vorgeschritten und standen gerade an dem Tisch, wo vor zwei Jahren am Pfingstfeiertage das schöne holde Himmeiskind saß, das allen die Köpfe verrückte. "Hier - hier saß sie", sprach es jedem aus den Augen, es war so, als wenn sie an demselben Tisch Platz nehmen wollten; Marzell rückte schon die Stühle ab, doch gingen sie schweigend weiter, und Alexander ließ einen Tisch gerade an die Stelle setzen, wo sie vor zwei Jahren saßen. Schon war der bestellte Kaffee da, und noch sprach keiner ein Wort; Alexander schien der beklommenste von allen. Der Kellner, Zahlung erwartend, blieb stehen, er blickte bald den einen, bald den andern der stummen Gäste verwundert an, er rieb sich die Hände, er hüstelte, endlich frug er mit gedämpfter Stimme: "Befehlen Sie vielleicht Rum, meine Herrn?"Da schauten sich die Freunde an und brachen dann plötzlich in ein unmäßiges Gelächter aus. "Ach, du meine Güte, mit denen ist es nicht recht!" rief der Kellner, bestürzt zwei Schritte rückwärts springend. Alexander beschwichtigte den Erschrockenen durch Zahlung, und nachdem er sich wieder hingesetzt, fing Severin an: "Das, was ich erst weiter ausführen wollte, haben wir alle drei mimisch dargestellt, und der beruhigende Schluß nebst Nutzanwendung lag in unserm recht aus dem Innern herausströmenden Lachen! — Heute vor zwei Jahren fingen wir uns in großer Narrheit, wir schämen uns ihrer und sind davon totaliter geheilt." — "In der Tat", sprach Marzell, "das freilich wunderhübsche Mädchen hatte uns allen die Köpfe sattsam verrückt." —"Wunderhübsch, ja wunderhübsch", lächelte Alexander behaglich. "Aber", fuhr er mit etwas ängstlich beklommenem Ton fort, "du behauptest, Severin, daß wir alle von der Narrheit. das heißt von dem tollen Verliebtsein in jenes uns unbekannt gebliebene Mädchen, geheilt sind, aber, ich setze den Fall, daß sie ebenso schön, ebenso anmutig im ganzen Wesen in diesem Augenblick wieder hier erschiene und sich dort an jenen Platz setzte, würden wir nicht aufs neue in die alte Torheit verfallen?" —"Für mich", nahm Severin das Wort, "kann ich wenigstens einstehen, denn ich bin auf eine sehr empfindliche Weise geheilt worden." — "Mir", sprach Marzell, "ist es nicht besser gegangen, denn toller kann niemand in der Welt mystifiziert werden, als ich es wurde bei näherer Bekanntschaft mit der unvergleichlichen Dame." —"Unvergleichliche Dame, nähere Bekanntschaft!" — fiel Alexander ihm heftig ins Wort. "Nun ja, leugnen mag ich es nicht", fuhr Marzell fort, "daß jenem Abenteuer hier - beinahe mag ich's so nennen - ein kleiner Roman in einem Bande, eine Posse in einem Akt folgte." — "Ist es mir denn besser gegangen", sprach Severin; "hatte aber, o Marzellus! dein Roman einen Band, deine Posse einen Akt, so spielte ich nur ein Duodezbändchen, nur eine Szene durch!"Alexander war blutrot im Gesicht geworden, Schweißtropfen standen ihm auf der Stirne, er holte kurz Atem, wühlte in dem wohlgekräuselten Toupet, kurz, aller Merkmale der heftigsten innern Erregung konnte er, sichtlichen Anstrengens unerachtet, so wenig Herr werden, daß Marzell fragte: "Aber sage mir nur, Bruder, was hast du? was geht in dir vor?" — "Was wird es anders sein", sprach Severin lachend, "als daß er in die Dame, der wir entsagt, noch bis über die Ohren verliebt ist und uns nicht traut oder wohl gar wunder denkt, wie unsere Romane beschaffen waren, und plötzlich eifersüchtig wird, ohne im mindesten Ursache dazu zu haben, denn wenigstens ich bin garstig gemißhandelt worden." — "Ich auf gewisse Weise ebenfalls", sprach Marzell, "und ich schwöre dir zu, Alexander, daß der Funke, der damals in meine Seele fiel, völlig zum Niewiederaufglimmen verlöscht ist, du kannst also getrost die Dame lieben, soviel du willst." —"Meinetwegen auch", setzte Severin hinzu. Alexander, völlig aufgeheitert, lachte nun sehr, indem er sprach: "In gewisser Art habt ihr mich richtig beurteilt, aber dann seid ihr auch wieder auf ganz falschem Wege. Hört also: Leugnen mag ich es gar nicht, daß, gedenkend des verhängnisvollen Nachmittags, jenes holde Mädchen in all ihrem wunderbaren Liebreiz mir so lebendig vor Augen stand, daß ich ihre anmutige Stimme zu hören, ihre weiße, zarte, nach mir ausgestreckte Hand erfassen zu können glaubte. Da war es, als könne ich nur sie mit der ganzen Gewalt der höchsten, im Innern brennenden Leidenschaft lieben, als könne ich nur in ihrem Besitz glücklich sein - und das wäre denn doch ein großes Unglück." — "Wieso? — warum?" riefen Marzell und Severin heftig. "Weil", erwiderte Alexander gelassen, "weil ich seit einem Jahr verheiratet bin!" — "Du? verheiratet? seit einem Jahre?" — so schrien die Freunde, indem sie die Hände zusammenschlugen und dann hell auflachten. "Wer ist deine Ehehälfte? — ist sie schön? — reich? — arm? — jung? — alt? — wie - wo - wann - was -" —"Ich bitte euch", fuhr Alexander kleinlaut fort, indem er, die linke Hand auf den Tisch gestützt, mit der rechten, an deren kleinem Finger neben einem Chrysopras der Trauring blitzte, den Löffel ergriff und den Kaffee, tief in die Tasse guckend, umrührte - "ich bitte euch, verschont mich mit allen Fragen, und wollt ihr mir obendrein einen recht herzlichen Gefallen erzeigen, so erzählt mir hübsch, was euch nach jenem Abenteuer mit der Dame geschah." —"Ei, ei, Bruder", sprach Marzell, "mir scheint, als ob du übel angekommen seist. Sollte der Teufel dich geplagt haben, gar Falters goldgelbes Alräunchen -" —"Hast du mich lieb", fiel ihm Alexander ins Wort, "so quäle mich nicht mit Fragen, sondern erzähle mir deinen Roman." — "Da haben wir den Spuk", rief Severin ganz verdrießlich, "zu seinen Tellern und Schüsseln, Kesseln und Kasserollen hat er eine Frau, gleichviel welche, stellen zu müssen geglaubt, blindlings zugegriffen, und nun sitzt er da, Reue und verbotene Liebe im Herzen - wozu nun freilich sein glaues Aussehen nicht recht passen will. Was sagt denn die selige Tante mit ihren Magentropfen dazu?" —"Die ist sehr zufrieden mit mir", sprach Alexander sehr ernsthaft, "aber", fuhr er fort, "wollt ihr mir die Stunde des Wiedersehns nicht auf immer verbittern, wollt ihr mich nicht mit Gewalt von euch forttreiben, so hört auf mit Fragen und erzählt."

Alexanders Betragen kam den Freunden ganz wunderlich vor, doch merkten sie wohl, daß sie den tief Verwundeten nicht mehr reizen dürften, Marzell fing daher den gewünschten Roman ohne weiteres in folgender Art an:

"Es steht fest, daß heute vor zwei Jahren ein hübsches Mädchen auf den ersten Blick uns allen dreien die Köpfe verrückte, daß wir uns wie junge verliebte Hasenfüße betrugen und den Wahnsinn, der uns befangen, nicht loswerden konnten. Nacht und Tag, wo ich ging und stand, verfolgte

mich des Mädchens Gestalt, sie schritt mit mir zum Kriegsminister, sie trat mir aus dem Schreibpult des Präsidenten entgegen und verwirrte durch ihren holden Liebesblick meine wohlstudierten Reden, so daß man mitleidig fragte, ob ich noch an meiner Kopfwunde litte. Sie wiederzusehn war all mein Ziel und rastloses Streben. Ich lief wie ein Briefträger von Morgen bis Abend durch die Straßen, schaute nach allen Fenstern hübscher Leute, aber umsonst - umsonst. —Jeden Nachmittag war ich im Tiergarten, hier im Weberschen Zelt." — "Ich auch! ich auch!" — riefen Severin und Alexander. "Ich habe euch wohl gesehen, aber sorglich vermieden", sprach Marzell. "Geradeso haben wir es auch gemacht", riefen die Freunde und alle drei zusammen im Tutti; "o wir Esel!" — "Alles, alles war vergebens", fuhr Marzell fort, "aber ich hatte keine Rast, keine Ruhe. Gerade die Überzeugung, daß die Unbekannte schon liebe, daß ich in hoffnungslosem Schmerz vergehen werde, wenn ich, ihr nähergekommen, mein Unglück recht mit leiblichen Augen schauen würde, nämlich ihren trostlosen Jammer um den Verlornen, ihre Sehnsucht, ihre Treue, gerade das fachte das Feuer in mir erst recht an. Severins tragische Deutung jenes Moments hier im Tiergarten kam mir in den Sinn, und indem ich alles nur mögliche Liebesunglück auf das Mädchen häufte, war ich selbst immer der noch Unglücklichere. In den schlaflosen Nächten, ja selbst auf einsamen Spaziergängen spann ich die seltsamsten verwickeltsten Romane aus, in der natürlicherweise die Unbekannte, der Geliebte und ich die Hauptrollen spielten. Welche Szenen waren zu abenteuerlich, um sie nicht in meinen Roman zu bringen? — Ich gefiel mir erstaunlich als Heros in resignierter Liebesnot! — Wie gesagt, ich durchstrich unsinnigerweise ganz Berlin, um sie, die meine Gedanken, mein ganzes Ich beherrschte, wiederzufinden. So bin ich auch eines Vormittags, es mochte schon zwölf Uhr sein, in die Neue Grünstraße geraten, die ich, in mir vertieft, durchwandle, da tritt mir ein junger, sauber gekleideter Mann in den Weg und frägt mich, höflich den Hut rückend, ob ich nicht wisse, wo hier der Geheime Rat Asling wohne. Ich verneine es, doch der Name Asling fällt mir auf. Asling - Asling! Da fällt es mir mit einemmal schwer aufs Herz, daß ich, ganz befangen von meiner romanesken Liebe, eines Briefs an den Geheimen Rat Asling ganz vergessen habe, den mir sein im Hospital zu Deutz wund liegender Neffe mitgab, mich aufs dringendste bittend, ihn selbst zu besorgen. Ich beschließe, den unverzeihlich verschobenen Auftrag zur Stelle auszurichten, sehe, daß der junge Mann, von einem Diener aus dem nahen Laden zurechtgewiesen, in das ansehnliche Haus dicht vor mir hineingeht, und folge ihm. Der Bediente führt mich ins Vorzimmer und bittet mich, einen Augenblick zu warten, da der Herr Geheime Rat soeben mit einem fremden Herrn spreche. Er läßt mich allein, ich betrachte gedankenlos die großen Kupferstiche an den Wänden, da öffnet sich die Tür hinter mir, ich drehe mich um und erblicke - sie! —sie selbst! das holde Himmelskind aus dem Tiergarten. Ich mag euch nun gar nicht beschreiben, wie mir zumute wurde, aber soviel ist gewiß, daß mir aller Lebensatem verging - daß ich keines Wortes mächtig war, daß ich glaubte, nun werde ich gleich leblos der Holden zu Füßen sinken." — "Ei, ei", rief Alexander etwas betreten, "da warst du ja wohl in der Tat gar arg verliebt, Bruder!" —"Wenigstens", fuhr Marzell fort, "konnte in diesem Augenblick das Gefühl der wahnsinnigsten Liebe nicht heftiger wirken. Meine Erstarrung muß deutlich auf meinem Gesicht, in meiner ganzen Stellung kennbar gewesen sein, denn Pauline schaute mich betroffen an, und da ich nun keine Silbe hervorbrachte und sie mein Betragen für Dummheit oder Tölpelei halten mußte, fragte sie endlich, indem ein leises ironisches Lächeln ihr Gesicht überflog: ,Sie warten gewiß auf meinen Vater?' Mit der tiefen Scham, die ich nun über mich selbst empfand, kam mir volles Bewußtsein wieder. Ich raffte mich mit aller Kraft zusammen, mit höflicher Verbeugung nannte ich meinen Namen und erwähnte des Auftrags, den ich an den Geheimen Rat auszurichten hatte. Da rief Pauline laut und freudig: ,Oh, mein Gott - mein Gott, Nachrichten vom Vetter! — Sie waren bei ihm, Sie sprachen ihn? — Ich traue seinen Briefen nicht, immer schreibt er von völliger Herstellung! — sagen Sie nur gleich das Schmerzhafteste heraus! Nicht wahr, er bleibt verkrüppelt, der Arme?' Ich versicherte dagegen, wie ich es mit Recht tun konnte, daß die Schußwunde, da beinahe die Kniescheibe zerschmettert, allerdings gefährlich gewesen sei und man mit Amputation gedroht habe, alle Gefahr sei indessen nicht allein vorüber, sondern auch Hoffnung da, daß der junge vollkräftige Mann in einiger Zeit die Krücke würde wegwerfen können, die er jetzt wohl mehrere Monate hindurch werde brauchen müssen. An Paulinens Anblick, an den Zauber ihrer Nähe gewöhnt, durch das Erzählen jener Tatsachen ermutigt, gelang es mir, dem Bericht von dem Zustande des wunden Neffen die Erzählung des Gefechts, das ich, mit ihm in einem Bataillon dienend, bestand und in welchem er die Wunde erhielt, zuzufügen. Ihr wißt es wohl, daß in solcher Exaltation man der lebensvollsten, farbenreichsten Darstellung mächtig ist, ja wohl selbst mehr als nötig in jenen emphatischen Stil gerät, der seine volle Wirkung auf junge Mädchen niemals verfehlt. Ebenso werdet ihr wohl glauben, daß ich nicht gerade von der Stellung der Truppen, von dem kunstreichen Plan des Manövers, von maskierten Angriffen - versteckten Hinterhalten von Batterien - vom Debouchieren und Entwickeln der Kavalleriemassen und so weiter sprach, sondern vielmehr all die kleinen, Herz und Gemüt ergreifenden Einzelnheiten, die im Felde so häufig sich darbieten, heraushob. Gestehen muß ich, daß manches Ereignis, das ich kaum beachtet, sich jetzt in der Erzählung als höchst wunderbar und rührend gestaltete, und so geschah es, daß Pauline bald vor Schauer und Schreck verblaßte, bald mild und fromm durch die Tränen, die ihr in den Augen standen, lächelte. ,Ach', sprach sie endlich, als ich einen Augenblick schwieg, ,Sie standen so regungslos, so in Gedanken vertieft da, als ich eintrat, gewiß weckte jenes Schlachtstück dort irgendeine sehr schmerzhafte Erinnerung!' — Wie ein glühender Pfeil durchfuhr es mein Inneres, ich muß blutrot geworden sein bei diesen Worten Paulinens. ,Ich gedachte', sprach ich mit einem wahrscheinlich recht kläglichen Seufzer, "ich gedachte eines Augenblicks, der der seligste meines Lebens war, unerachtet ich auf den Tod verwundet wurde.' — ,Aber doch wieder ganz geheilt', fragte Pauline mit inniger Teilnahme; ,gewiß traf Sie eine böse Kugel im Augenblick, als der glorreichste Sieg entschieden?' Mir wurde etwas albern zumute, doch unterdrückte ich dies Gefühl. und ohne aufzublicken, sondern zur Erde schauend wie ein gescholtener Bube, sprach ich sehr leise und dumpf: ,Ich hatte schon das Glück, Sie zu sehen, mein Fräulein!' Nun ging das Gespräch auf erbauliche Weise weiter, indem Pauline anfing: ,Ich wüßte doch in der Tat nicht -' — ,Nur wenige Tage sind es her - der herrlichste Frühlingshauch ging über die Erde hin und erquickte Geist und Gemüt, ich feierte mit zwei meiner mir im Innersten verwandten Freunde das Fest des Wieder-sehens nach-langer-Trennung-!'-— ,Das muß recht hübsch gewesen sein!' — ,Ich sah Sie, mein Fräulein!' — ,In der Tat? — ach! das war gewiß im Tiergarten!' — ,Am zweiten Pfingstfeiertage im Weberschen Zelt!' — ,Ja, ja, ganz recht, ich war da mit Vater und Mutter! Es gab viel Leute, ich amüsierte mich recht gut, aber Sie habe ich gar nicht gesehen!' — Die vorige Albernheit kam wieder mit aller Stärke, ihr gemäß war ich im Begriff, etwas sehr Abgeschmacktes zu sagen, als der Geheime Rat hereintrat, dem Pauline in voller Freude gleich verkündete, daß ich Briefe vom Vetter brächte. Der Alte schrie jubelnd auf: ,Was! Briefe von Leopold! — lebt er? — wie geht's mit der Wunde? — wann kann er reisen?' — Und damit packte er mich bei der Rockklappe und zog mich in sein Zimmer. Pauline folgte, er rief nach Frühstück, er hörte nicht auf mit Fragen. Kurz! zwei volle Stunden mußte ich bleiben, und als ich endlich in steigender Beklommenheit, da Pauline sich dicht neben mir gesetzt und mir fortwährend mit kindlicher Unbefangenheit in die Augen schaute, mich losriß, lud mich der Alte mit herzlicher Umarmung ein, nur so oft hinzukommen - vorzüglich zur Teestunde -, als ich wollte. Nun war ich also, wie es oft in der Feldschlacht zu ergehen pflegt, unversehens mitten im Feuer. Wollt ich euch nun meine Qualen schildern, wie ich oft, von unwiderstehlichem Zauber befangen, nach dem Hause, das mir so verderblich schien, hineilte, wie ich die Klinke, die ich schon in der Hand hatte, wieder fahrenließ und nach Hause lief, wieder zurückkehrte, das Haus umkreiste und dann in einer Art von Verzweiflung hineinstürzte, dem Sommervogel gleich, der nicht lassen kann von der Lichtflamme, die ihm zuletzt den freiwilligen Tod gibt - wahrhaftig, ihr würdet lachen, da ihr wohl das Geständnis erwartet, daß ich mich damals auf die ärgste Weise selbst mystifizierte. Beinahe jeden Abend, wenn ich den Geheimen Rat besuchte, fand ich mehrere Gesellschaft da, und ich muß gestehen, daß ich mich nirgends behaglicher gefühlt als dort, unerachtet ich, mein eigener Dämon, mir geistige Rippenstöße gab und in die Ohren schrie: ,Du liebst ja unglücklich, du bist ja ein verlorner Mensch!' — Jedesmal kam ich verliebter und unglücklicher nach Hause. Aus Paulinens frohem unbefangenen Betragen merkt ich bald, daß von einem Liebesunglück nicht die Rede sein könne, und manche Anspielungen der Gäste deuteten offenbar dahin, daß sie versprochen sei und bald heiraten werde. Überhaupt herrschte in des Geheimen Rats Zirkel eine gar herrliche gemütliche Lustigkeit, die er selbst, ein lebenskräftiger jovialer Mann, auf die ungezwungenate Weise zu entzünden wußte. Oft schienen größer angelegte Späße Stoff zum Lachen zu geben, die nur, da sie, vielleicht auf Persönlichkeiten sich beziehend, mich als Fremden nicht ansprechen konnten, verschwiegen wurden. So erinnere ich mich, daß ich einst, als ich nach langem Kampfe sehr spät abends eintrat, den Alten und Paulinen, von jungen Mädchen umgeben, in der Ecke stehend erblickte. Der Alte las etwas vor, und ein schallendes Gelächter folgte, als er geendet. Zu meiner Verwunderung hatte er eine große weiße, mit einem ungeheuern Nelkenstrauß geschmückte Schlafmütze in der Hand, die setzte er, nachdem er noch einige Worte gesprochen, auf und nickte seltsam mit dem Kopfe hin und her, worauf alle aufs neue in ein unmäßiges Gelächter ausbrachen." — "Teufel - Teufel!" rief hier Severin, indem er sich heftig vor die Stirne schlug. "Was hast du? — was hast du, Herr Bruder?" riefen die Freunde besorgt. "Nichts, nichts -nicht das mindeste, fahr nur fort, lieber Bruder! —nachher, nachher! —jetzt nur weiter." Dies erwiderte Severin, nicht ohne bitter in sich hineinzulachen; Marzell erzählte weiter. "Sei es nun, daß die Kameradschaft mit dem Neffen oder daß die aus meiner beständigen Exaltation sich erzeugende besondere Art meines ganzen Wesens meiner Unterhaltung, mir selbst ein besonderes Interesse gab, kurz, der Alte gewann mich in kurzer Zeit sehr lieb, vorzüglich müßte ich aber ganz verblendet gewesen sein, hätte ich nicht merken sollen, daß Pauline mich vor allen andern jungen Männern, die sie umgaben, ganz besonders auszeichnete."—"Wirklich, wirklich?" fragte Alexander mit betrübtem Ton. "In der Tat war es so", fuhr Marzell fort, "und ihr mußte ich ja schon deshalb nähergetreten sein, weil sie, wie jedes nur irgend sinnige Mädchen, mit einem feinen Takt aus allem, was ich sprach, was ich tat, den vollstimmigen Hymnus ihres wunderbaren Liebreizes heraushören, die tiefste Adoration ihres ganzen, mit glühender Liebe erfaßten Wesens herausfühlen mußte. — Unbeachtet ließ sie oft ihre Hand minutenlang in der meinigen ruhen, sie erwiderte ihren leisen Druck, ja, als einmal in fröhlichem Übermute nach den Tönen eines alten Flügels sich die Mädchen zu drehen anfingen, flog sie in meinen Arm, und ich fühlte ihren Busen glutvoll beben und ihren süßen Liebeshauch an meinen Wangen. — Ich war außer mir! — Feuer brannte auf meinen Lippen - ich hatte sie geküßt -" —"Donnerwetter!" schrie hier Alexander, wie besessen aufspringend und sich mit beiden Fäusten in die Haare fahrend. "Schäme dich, schäme dich, Ehemann", sprach Severin, indem er ihn auf den Stuhl niederdrückte, "du bist, hoi mich der Teufel, noch in Paulinen verliebt, schäme dich, schäme dich, Ehemann - armer, ins Joch gebeugter Ehemann." — "So fahre nur fort", sprach Alexander wie trostlos, "es werden noch schöne Dinge kommen, merk ich schon." — "Ihr könnt euch nach diesem allen", sprach Marzell weiter, "meine Stimmung wohl denken. Ich wurde, so glaubt ich, von tausend Qualen zerrissen, ich steigerte mich herauf zum höchsten Heroismus, ich wollte mit einem Zuge den vollen verderblichen Giftbecher leeren und dann fern von der Geliebten mein Leben aushauchen. Das heißt mit andern Worten, ich wollte ihr meine Liebe gestehen und dann sie meiden —wenigstens bis zum Hochzeitstage, da konnt ich denn, wie es geschrieben steht in vielen Büchern, halb versteckt hinter einem Kirchenpfeiler die Trauung mit ansehen und nach dem unglücklichen ,Ja!' mit vielem Geräusch der Länge lang ohnmächtig zu Boden sinken, von mitleidigen Bürgersleuten herausgetragen werden und so weiter. Von diesen Ideen ganz erfüllt, ganz wahnsinnig, lief ich eines Tages früher als gewöhnlich zum Geheimen Rat. — Ich treffe Paulinen allein im Zimmer - noch ehe sie recht erschrecken kann über mein verstörtes Wesen, stürze ich ihr zu Füßen, ergreife ihre Hände, drücke sie an meine Brust -gestehe ihr, daß ich sie bis zur hellen Raserei liebe, und nenne mich, indem ich einen Strom von Tränen vergieße, den unglücklichsten, dem bittersten Tode geweihten Menschen, da sie nicht mein werden könne, da sie Herz und Hand dem glücklichen Nebenbuhler früher geschenkt. Pauline ließ mich austoben, hob mich dann auf, nötigte mich mit holdem Lächeln neben sich aufs Sofa und fragte mit rührend sanfter Stimme: ,Was ficht Sie an? lieber - lieber Marzell! beruhigen Sie sich doch nur, Sie sind in einer Stimmung, die mich ängstet!' — Ich wiederholte, wiewohl besonnener, alles, was ich gesagt, da sprach Pauline: ,Aber wie kommt es Ihnen denn in den Sinn, daß ich schon liebe, ja daß ich schon versprochene Braut sein soll? — Es ist nicht das mindeste davon wahr, ich kann es versichern.' Als ich dagegen behauptete, daß ich schon seit dem ersten Augenblick, als ich sie sah, auf das klarste überzeugt worden sei, daß sie liebe, und sie immer mehr in mich drang, doch mich nur deutlicher zu erklären, so erzählte ich ihr ganz treuherzig unsere ganze famöse Geschichte vom Pfingstfeiertage im Weberschen Zelt. Kaum habe ich geendet, da springt Pauline auf und hüpft mit lautem Gelächter in der Stube umher und ruft: ,Nein, das ist zu arg! — nein, solche Träume - solche Einbildungen - nein, das ist zu arg!' — Ich bleibe ganz verdutzt sitzen; Pauline kehrt zu mir zurück, faßt meine beiden Hände und schüttelt sie, wie wenn man jemanden aus tiefem Traum wecken will. ,Nun horchen Sie wohl auf', fängt sie, kaum vermögend, das Lachen zu unterdrücken, an, ,der junge Mensch, den Sie für den Liebesboten hielten, war ein Diener aus dem Bramigkschen Laden, das Billettchen, das er mir brachte, von Herrn Bramigk selbst. Er, der gefälligste, artigste Mann von der Welt, hatte mir versprochen, ein allerliebstes Pariser Hütchen, dessen Modell ich gesehen, zu verschreiben und mir Nachricht zu geben, wenn es angekommen. Ich wollte es gerade den andern Tag, als Sie mich bei Weber sahen, zu einem Singetee - Sie wissen, daß hier so eine Abendgesellschaft heißt, bei der man Tee trinkt, um zu singen, und singt, um Tee zu trinken -, also da wollt ich ihn aufsetzen. Der Hut war wirklich angekommen, aber durch die Schuld des Versenders so übel zugerichtet, daß er ohne gänzliches Umarbeiten nicht getragen werden konnte. Das war die fatale Nachricht, die mir Tränen auspreßte. Ich mocht's dem Vater gar nicht merken lassen, aber er wußte den Grund meines tiefen Kummers bald auszuforschen und lachte mich derb aus. Daß ich die Gewohnheit habe, in derlei Fällen mein Tuch an die Backe zu bringen, bemerkten Sie längst.' — Pauline lachte aufs neue, aber mir fröstelte es eiskalt durch Mark und Glieder, ein Glutstrom folgte, und es war, als riefe es im Innern: ,Alberne törichte, widrige Putznärrin!'" -"Hoho, das ist zu grob und unwahr", unterbrach Alexander den Erzähler ganz erzürnt, "doch nur weiter!" setzte er gelassener hinzu. "Nicht beschreiben", fuhr Marzell fort, "nicht beschreiben kann ich euch mein Gefühl. Ich war aus dem Traum erwacht, in dem mich ein böser Geist geneckt, ich wußte es, daß niemals ich Paulinen liebte und daß nur eine unbeschreibliche narrenhafte Täuschung der Spuk war, der mich so toll umhergetrieben. Kaum vermochte ich ein Wort zu sprechen, vor innerm Verdruß zitterte ich am ganzen Leibe, und als Pauline erschrocken fragte, was mir wäre, schützte ich eine plötzliche Kränklichkeit vor, die ich nicht zum Ausbruch kommen lassen dürfte, und rannte wie ein gehetztes Wild von dannen. Als ich über den Gensd'armesplatz kam, stellte sich gerade ein Trupp Freiwilliger zum Abmarsch, da stand es klar vor meiner Seele, was ich tun müsse, mich selbst zu beschwichtigen und die ärgerliche Geschichte zu vergessen. Statt nach Hause zu gehen, lief ich augenblicklich zu der Behörde, die meine Wiedereinstellung bewirkte. In zwei Stunden war alles abgemacht, nun lief ich nach Hause, zog meine Uniform an, packte meinen Tornister, nahm mein Seitengewehr und meine Büchse und ging zur Wirtin, um ihr meinen Koffer in Verwahrung zu geben. Indem ich mit ihr sprach, ließ sich ein Geräusch auf der Treppe hören. ,Ach, jetzt werden sie ihn bringen', sprach die Wirtin und öffnete die Türe. Da sah ich zwischen zwei Männern den wahnsinnigen Nettelmann herabkommen. Er hatte eine hohe Krone von Goldpapier aufgesetzt und trug ein langes Lineal, auf das er einen vergoldeten Apfel gespießt, als Zepter in der Hand. ,Er ist nun wieder König von Amboina geworden', flüsterte die Wirtin, ,und machte in der letzten Zeit solche tolle Streiche, daß ihn der Bruder nach der Charité bringen lassen muß.' Im Vorübergehen erkannte mich Nettelmann, lächelte mit gnädigern Stolz auf mich herab und sprach: ,Jetzt, nachdem die Bulgaren durch meinen Feldherrn, den vormaligen Hauptmann Tellheim, geschlagen, kehre ich zurück in meine beruhigte Staaten.' Ohne daß ich Miene machte zu sprechen, setzte er, mit der Hand abwehrend, hinzu: ,Schon gut - schon gut - ich weiß, was Er sagen will, mein Lieber! — Nichts weiter, ich war mit Ihm zufrieden, ich habe es gern getan! — Nehm Er die Wenigkeit als ein Zeichen meiner Gnade und Affektion!' — Mit diesen Worten drückte er mir ein paar Gewürznelken, die er aus der Westentasche hervorgesucht, in die Hand. Nun hoben ihn die Männer in den Wagen, der unterdessen vorgefahren. Als er fortrollte, traten mir die Tränen in die Augen. ,Kommen Sie gesund, freudig und siegreich in unsere Stadt zurück', rief die Wirtin, mir treuherzig die Hand schüttelnd. Mit mannigfachen schmerzlichen Gefühlen in der aufgeregten Brust rannte ich fort in die Nacht hinein und erreichte in weniger Zeit den Trupp der lustige Kriegslieder singenden Kameraden." — "Also bist du überzeugt, Bruder", fragte Alexander, "daß deine Liebe zu Paulinen nur Selbsttäuschung war?" — "Wie von meinem Leben", erwiderte Marzell, "und wenn du nur ein bißchen Menschenkenntnis zu Rate ziehst, wirst du auch finden, daß die plötzliche Sinnesänderung, als ich erfuhr, daß ich keinen Nebenbuhler hatte, sonst nicht möglich war. — Übrigens liebe ich jetzt ernstlich, und unerachtet ich über deinen Ehestand so gelacht, Alexander, weil du mir, nimm's nicht übel, als Pater familias gar zu schnakisch vorkommst, so hoffe ich doch bald in einer schönern Gegend als die unsrige ein holdes Mädchen als Braut heimführen zu können." — "In der Tat", rief Alexander ganz erfreut, "in der Tat! O du lieber charmanter Bruder!" Er umarmte den Marzell mit Heftigkeit. "Nun seht doch", sprach Severin, "wie er sich freut, daß ein anderer ihm seine tollen Streiche nachmacht. Nein. was mich betrifft, so umfängt mich der Gedanke an den Ehestand mit unheimlichem Grauen. Doch nun will ich euch meine Geschichte mit Fräulein Paulinen auftischen zu curer Ergötzlichkeit." — "Was hast du denn mit Paulinen vorgehabt?" fragte Alexander verdrießlich. "Nicht viel", erwiderte Severin, "gegen Marzells ausführliche, mit psychologischer Ein- und Ansicht vorgetragene Geschichte ist die meinige nur ein dürftiger magerer Schwank. — Ihr wißt, daß ich mich vor zwei Jahren in einer ganz besonderen Stimmung befand. Wohl mochte es meine physische Kränklichkeit sein, die mich ganz und gar zum empfindelnden Geisterseher umschuf. Ich schwamm in einem bodenlosen Meer von Ahnungen und Träumen. Ich glaubte, wie ein persischer Magier, den Gesang der Vögel zu verstehen, ich hörte in dem Rauschen des Waldes bald tröstende, bald warnende Stimmen, ich sah mich selbst in den Wolken wandeln. So geschah es, daß ich einst in einer abgelegenen wilden Partie des Tiergartens, auf einer Moosbank sitzend, in einen Zustand geriet, den ich nur dem wunderbaren Delirieren, das dem Einschlafen vorherzugehen pflegt, vergleichen kann. Mir war es, als würde ich plötzlich von süßem Rosenduft umwallt, indessen erkannte ich bald, daß der Rosenduft ein holdes Wesen sei, das ich schon längst bewußtlos mit glühender inbrünstiger Liebe umfangen. Ich wollte sie mit leiblichen Augen erschauen, aber da legte es sich wie eine große dunkelrote Nelke über meine Stirn, und ihr Duft, wie mit brennenden Strahlen den Hauch der Rose wegsengend, betäubte meine Sinne, so daß ein bitter schmerzliches Gefühl mich durchdrang, welches laut werden wollte in tief klagenden Akzenten. Wie wenn der Abendwind mit leisem Fittich die Äolsharfe anschlägt und den Zauber löst, von dem bestrickt ihre Töne im Innern schliefen, so klang es durch den Wald, aber nicht meine Klage war das, sondern die Stimme jenes Wesens, das wie ich von der Nelke zum Sterben berührt worden. — Erlaßt es mir, mein Traumgesicht zum indischen Mythos zu formen und zu ründen, genug, Ros und Nelke wurden mir Leben und Tod, und all meine Tollheit, die ich heut vor zwei Jahren ausließ, kam hauptsächlich davon her, daß ich in dem Himmelskinde, das dort drüben saß und das sich leiblicherweise jetzt als Fräulein Pauline Asling gestaltet hat, das ätherischem Rosenduft entkeimte Wesen zu erkennen glaubte, dessen Liebesglut sich mir erschlossen. Ihr erinnert euch, daß ich gleich im Tiergarten euch verließ, um nach meiner Wohnung zu eilen, aber eine ganz deutliche bestimmte Ahnung sagte mir, daß, wenn ich mit Anstrengung fort- und hineinliefe durch das Leipziger Tor und dann nach den Linden, ich die sehr langsam davonschreitende Familie am Ausgang derselben oder in der Nähe des Schlosses antreffen würde. Nun rannte ich fort, und zwar nicht da, wo ich glaubte, wohl aber in der Breiten Straße, in die ich unwillkürlich hineingefahren, sah ich die Familie. sah ich das wunderbare Bild vor mir her wandeln. Ich folgte von weitem und erfuhr auf diese Weise noch denselben Abend die Wohnung der Geliebten. Ihr werdet wahrscheinlich sehr lachen, daß ich in der Grünstraße - ich sage in der Grünstraße, einen geheimnisvollen Nelken- und Rosenduft zu verspüren glaubte. — Ja! so weit ging mein Wahnsinn! Übrigens gebärdete ich mich jetzt ganz wie ein verliebter Knabe, der wider die Forstordnung die schönsten Bäume mit dem Einschneiden verschlungener Namenzüge ruiniert, ein verdorrtes Blumenblatt, das der Geliebten entfiel, -in-sieben-Papiere auf dem Herzen trägt und so weiter. Das heißt, ich fing, wie es jener allemal tut, damit an, des Tages zwölf-, funfzehn-, zwanzigmal vorbeizulaufen und, stand sie am Fenster, ohne zu grüßen mit Blicken hinaufzustarren, die seltsam genug gewesen sein müssen. Sie bemerkte mich, und der Himmel mag wissen, wie ich dazu kam, mir einzubilden, daß sie mich verstehe, ja daß sie sich ihres psychischen Einwirkens auf mich in jener Blumenvision bewußt sei und nun in mir den erkenne, über den die feindselige Nelke dunkle Schleier warf, als er sie, die ihm tief im Innern als Liebesstern aufgegangen, voll inbrünstiger Sehnsucht erfassen wollte. Selbigen Tages setzte ich mich hin und schrieb an sie. Ich erzählte ihr meine Vision, wie ich sie dann im Weberschen Zelt gesehen und als das Traumbild erkannt habe, wie ich wisse, daß sie schon zu lieben vermeine, daß aber in dieser Hinsicht irgend etwas Bedrohliches in ihr Leben getreten sei. Es könne, sagte ich ferner, kein Wahn sein, daß auch sie in gleichem Traumesahnen unsere psychische Verwandtschaft, unsere Liebe erkannt, doch vielleicht habe ihr nun erst meine Vision deutlich erschlossen, was tief in ihrem eigenen Innern geruht. Aber damit das froh und freudig ins Leben trete, damit ich mit freier Brust mich ihr nahen könne, flehe ich sie an, künftigen Tages in der zwölften Stunde am Fenster zu erscheinen und als deutliches Wahrzeichen unsers Liebesglücks frisch blühende Rosen an der Brust zu tragen. Sei sie aber in feindlicher Täuschung von einem andern Wesen unwiderstehlich verlockt, wäre mein Sehnen hoffnungslos, verwerfe sie mich ganz und gar, so solle sie zur selbigen Stunde statt der Rosen Nelken an die Brust stecken. — Der Brief mag ein tolles, unsinniges Stück Arbeit gewesen sein, das kann ich mir jetzt wohl denken. Ich schickte ihn mit solch sicherer Botschaft ab, daß ich überzeugt sein konnte, er werde in die rechten Hände gelangen. — Voll innerer Angst und Beklemmung gehe ich den andern Tag nach der Grünstraße - ich nähere mich dem Hause des Geheimen Rats - ich sehe eine weiße Gestalt am Fenster - das Herz schlägt mir, als wolle es die Brust zersprengen - ich stehe dicht vor dem Hause - da öffnet der Alte - er war die weiße Gestalt - das Fenster - er hat eine hohe, weiße Nachtmütze auf, einen ungeheuren Nelkenstrauß daran befestigt - er nickt sehr freundlich heraus. so daß die Blumen seltsam schwanken und zittern - er wirft mir mit süßlich lächelnder Miene Kußhändchen zu. — In dem Augenblick werde ich auch Paulinen gewahr, wie sie verstohlen hinter der Gardine hervorsieht. — Sie lacht - sie lacht! wie verzaubert war ich bewegungslos stehengeblieben, aber nun rannte ich fort - fort wie toll! — Nun! ihr könnt denken! — zweifelt ihr wohl daran, daß ich durch diesen hämischen Spott gänzlich geheilt war? — Doch die Scham ließ mich nicht rasten. Wie Marzell es später tat, ging ich schon damals zur Armee, und nur ein böses Verhängnis hat es gewollt, daß wir niemals zusammentrafen."

Alexander lachte unmäßig über den humoristischen Alten,

"Also diese Geschichte war es", sprach Marzell, "welche der Geheime Rat damals vortrug, und wahrscheinlich war das, was er vorlas, dein exzentrischer Brief." — "Daran ist gar nicht zu zweifeln", erwiderte Severin; "und unerachtet ich jetzt das Lächerliche meines Beginnens sehr wohl einsehe, unerachtet ich dem Alten recht gebe und ihm für die angewandte schneidende Arzenei danken muß, so erfüllt mich mein Abenteuer doch noch immer mit tiefem Verdruß, und ich mag bis jetzt deshalb keine Nelken leiden."

"Nun", sprach Marzell, "wir haben beide hinlänglich für unsere Torheit gebüßt. Alexander, der, wie es scheint, nun erst, da wir's überstanden, in Paulinen verliebt ist, war der Vernünftigste von uns allen, und daher blieb er frei von weiterer Narrheit und hat nichts davon aufzutischen." — "Dafür", rief Severin, "kann er uns erzählen, wie er zur Frau kam." — "Ach, lieber Bruder", nahm Alexander das Wort, "was kann ich viel mehr von meiner Heiratsgeschichte sagen als: ich sah sie, verliebte mich, und sie wurde meine Braut, meine Frau. Doch das einzige mag vielleicht einigermaßen interessieren, wie die selige Tante sich dabei benahm." — "Nun? nun?" — fragten die Freunde voll Neugierde. "Ihr werdet euch erinnern", fuhr Alexander fort, "daß ich damals mit dem größten Widerwillen Berlin und vorzüglich auch das durch den graulichen Spuk mir unheimlich gewordene Haus verließ. Das hing so zusammen. Einst, an einem hellen Morgen, nachdem ich die Nacht wieder durch das Hinundhertappen, welches diesmal bis in mein Kabinett hineindringen zu wollen schien, recht arg verstört worden, lieg ich abgemattet und verdrießlich im Fenster, ich sehe gedankenlos die Straße herab, da wird schrägüber in dem großen Hause ein Fenster geöffnet, und ein wunderhübsches Mädchen in einem zierlichen Morgenkleide schaut heraus. Sosehr mir Pauline gefallen, so fand ich doch dies Gesichtchen unendlich viel anziehender. Mein Blick blieb starr auf sie geheftet, sie sah endlich herüber, sie mußte mich bemerken, ich grüßte, und sie dankte mit unbeschreiblicher Anmut. Durch Jungfer

Anne erfuhr ich gleich, wer drüben wohne, und mein Entschluß stand fest, auf irgendeine Weise die Bekanntschaft der Familie zu machen und so dem holden lieblichen Wesen, das meinen ganzen Sinn gefangen hatte, näherzutreten. Es war eigen, daß, da ich nun all meine Gedanken auf das Mädchen gerichtet hatte, da ich mich in süßen Träumen des schönsten Liebesglücks verlor, der unheimliche Spuk der Tante ausblieb. —Jungfer Anna, der ich so liebreich begegnet, als es nur in meinen Kräften stand, und die alle Scheu abgelegt hatte, erzählte mir oft viel von der Seligen, sie war untröstlich, daß die Verstorbene, die doch ein solch gottseliges frommes Leben geführt, keine Ruhe im Grabe habe, und schob alle Schuld auf den ruchlosen Bräutigam und den unverwindlichen Schmerz jenes unglücklichen Hochzeittages, an dem der Bräutigam ausblieb. Nun verkündigte ich ihr mit vieler Freude, daß ich nichts mehr höre. ,Ach, du lieber Gott', rief sie weinerlich, ,wenn nur erst Kreuzeserfindungstag vorüber wäre.' — ,Was ist das mit dem Kreuzeserfindungstag?' fragte ich schnell. ,Ach du lieber Gott', sprach Jungfer Anne weiter, ,das ist ja eben der unglückliche Hochzeittag. Sie wissen, lieber Herr, daß die selige Mamsell gerade am dritten April dahinschied. Acht Tage darauf wurde sie begraben. Die Stuben wurden bis auf das große Zimmer und das daran stoßende Kabinett versiegelt. So mußte ich dann in diesen Gemächern hausen, unerachtet mir, selbst wußt ich nicht warum, dies ängstlich und graulich war. Kaum brach nun am Kreuzeserfindungstage der Morgen an, als mir eine eiskalte Hand über das Gesicht fuhr und ich ganz deutlich der Seligen Stimme vernahm, welche sprach: »Steh auf, steh auf, Anna! es ist Zeit, daß du mich schmückest, der Bräutigam kommt!« Voller Schreck sprang ich aus dem Bette und zog mich rasch an. Es war alles still, und nur eine schneidende Zugluft blies durch den Kamin. Mimi winselte und jammerte unaufhörlich, und selbst Hans, wie es sonst gar nicht Katzennatur ist, ächzte vernehmlich und drückte sich scheu in die Ecken. Nun war es, als würden Kommoden und Schränke geöffnet, als rausche es mit seidenen Kleidern, und dabei sang es ein Morgenlied. Ach, lieber Herr! — alles hörte ich deutlich, und doch sah ich niemanden, die Angst wollte mich ganz übermannen, aber ich kniete in die Ecke des Zimmers und betete eifrig. Nun war es, als würde ein Tischchen gerückt, als würden Gläser und Tassen daraufgesetzt — und es ging im Zimmer auf und ab! — Ich konnte kein Glied rühren, und - was soll ich denn nun noch weiter sagen - wie jedesmal an jenem Unglückstage hörte. ich die selige Mamsell herumgehen und stöhnen und seufzen und beten, bis die Uhr zehn schlug, da vernahm ich wieder ganz deutlich die Worte: »Geh nur zu Bette, Anne! es ist aus!« — Aber da fiel ich auch bewußtlos zur Erde nieder, und so fanden mich am andern Morgen die Leute im Hause, welche, da ich mich gar nicht blicken lassen, glaubten, mir sei etwas zugestoßen, und die verschlossene Türe aufbrechen ließen. Niemanden als Ihnen, lieber Herr, habe ich indessen erzählt. was mir an jenem Tage geschehen.'

Nach dem, was ich erfahren, durfte ich gar nicht daran zweifeln, daß alles sich sa, wie Jungfer Anne erzählte, Zugetragen, und ich war froh, daß ich nicht früher angekommen und so den argen graulichen Spuk mit zu bestehen gehabt hatte. — Gerade jetzt, als ich den Spuk verbannt glaubte, als in der Nachbarschaft mir süße Hoffnungen aufgingen, mußte ich fort, und daher kam die Verstimmung, die ihr an mir bemerktet. — Nicht sechs Monate waren verflossen. als ich meinen Abschied erhalten hatte und wiederkehrte. Es gelang mir sehr bald, die Bekanntschaft jener nachbarlichen Familie zu machen, und ich fand das Mädchen, die mir auf den ersten Blick so reizend, so anmutig erschien, bei näherer Bekanntschaft immer anziehender in allem ihren Wesen und Tun, so daß nur in der innigsten Verbindung mit ihr mein Lebensglück blühen konnte. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich durchaus glaubte, sie liebe schon einen andern, und diese Meinung wurde bestätigt, als einst von einem jungen Mann die Rede war, bei dessen Erwähnung das Mädchen, helle

Tränen in den Augen, schnell aufstand und sich entfernte. — Demunerachtet tat ich mir gar keinen Zwang an, sondern ließ ihr, ohne geradezu von Liebe zu sprechen, in vollem Maß die innige Zuneigung merken, die mich an sie fesselte. Es schien, als würde sie mir mit jedem Tage gewogener, mit recht lieblicher Behaglichkeit nahm sie die Huldigungen auf, die sich in tausend kleinen, ihr wohlgefälligen Galanterien aussprachen." — "Niemals", fiel hier Marzell dem erzählenden Alexander in die Rede, "niemals hätt ich das alles dem ungeschickten Menschen zugetraut; er ist Geisterseher und eleganter Liebhaber zugleich, aber indem er es erzählt, glaube ich daran und sehe ihn, wie er alle Laden durchläuft, um irgendeine gewünschte Putzware zu erbeuten, wie er atemlos bei Bouché ankommt, um den schönsten Rosenoder Nelkenstock -" — "Fort mit den unseligen Blumen", schrie Severin; und Alexander erzählte also weiter: "Glaubt nicht, daß ich ungeschickterweise mit kostbaren Geschenken anrückte; daß dies in dem Hause nicht angebracht sei, sagte mir bald mein inneres richtiges Gefühl, dagegen knüpfte ich gering scheinende Aufmerksamkeiten an meine Person und erschien niemals, ohne ein gewünschtes Stickmuster, ein neues Lied, ein noch nicht gelesenes Taschenbuch und so weiter in der Tasche zu tragen. Kam ich nicht jeden Vormittag auf ein halbes Stündchen herüber, so wurde ich vermißt. — Kurz, was will ich euch denn mit solcher Umständlichkeit ermüden - mein Verhältnis mit dem Mädchen ging in jene behagliche Vertraulichkeit über, die zum offnen Geständnis der Liebe und zur Heirat führt. — Ich wollte mir den letzten Wolkenschatten vertreiben, sprach daher einst in einer gemütlichen Stunde geradezu von der vorgefaßten Meinung, daß sie schon liebe oder wenigstens geliebt habe, und erwähnte aller Umstände, die diese Meinung genährt hatten, vorzüglich aber gedachte ich jenes jungen Mannes, dessen Andenken ihr Tränen auspreßte. ,Gestehen will ich's Ihnen', sprach das Mädchen, ,daß das längere Zusammensein mit jenem Manne, der plötzlich als Fremder in unser Haus eintrat, meiner Ruhe hätte gefährlich werden können, ja daß ich eine heftige Neigung für ihn in mir aufkeimen spürte, und deshalb kann ich noch jetzt nicht ohne tiefes Mitleid, das mir Tränen entlockt, des Unglücks, das ihn auf ewig von mir schied, gedenken.' — ,Des Unglücks, das ihn verbannte?' fragte ich neugierig. ,Ja', erzählte das Mädchen weiter, ,nie kannte ich einen Mann, der so wie er durch sein ganzes Wesen, durch sein Gespräch Sinn und Gemüt zu beherrschen wußte, aber nicht leugnen konnte ich, daß er, wie mein Vater fortwährend behauptete, sich beständig in einem besonders exaltierten Zustande befand. Dies schrieb ich dem durch uns unbekannte Ursachen - vielleicht durch den Krieg, den er mitgemacht - tief erregten Innern, der Vater dagegen dem Genuß geistiger Getränke zu. Ich hatte recht, das lehrte der Erfolg. Er überraschte mich einst allein und offenbarte eine Stimmung, die ich erst für den Ausbruch der leidenschaftlichsten Liebe, dann aber, als er, wie von Frost geschüttelt, an allen Gliedern zitternd, unter unverständlich ausgestoßenen Lauten davonrannte, für Wahnsinn halten mußte. Es war so. Zufällig hatte er einmal Straße und Nummer seiner Wohnung genannt, die ich im Gedächtnis behalten. Als er mehrere Wochen ausgeblieben, schickte der Vater hin; die Wirtin, oder vielmehr der Hausknecht, der die dort möblierte Zimmer Bewohnenden zu bedienen pflegte und den unser Diener gerade antraf, ließ aber auf die Erkundigung sagen, der sei längst toll und nach der Charité gebracht worden. Er müsse über das Lotteriespiel verrückt geworden sein, denn er habe geglaubt, König von der Ambe zu sein." — "Gott im Himmel", schrie Marzell erschreckt, "das war Nettelmann - Ambe - Amboina." — "Es kann", sprach Severin sehr leise und dumpf, "auch eine besondere Verwechslung stattgefunden haben - mir gehn Lichter auf! — Doch nur weiter!" — Alexander blickte den Severin wehmütig lächelnd an und fuhr dann fort: "Ich war beruhigt, und bald kam es denn dahin, daß das holde Mädchen meine Braut und der Hochzeittag anberaumt wurde. Ich wollte das Haus, in dem der Spuk sich dann und wann wieder vernehmen ließ, verkaufen, der Schwiegervater riet mir's ab, und so kam es, daß ich ihm die ganze Geschichte von dem graulichen Umgehn der alten Tante erzählte. — Er wurde, sonst ein gar lebenskräftiger jovialer Mann, sehr nachdenklich, und wie ich es gar nicht erwartet hatte, sprach er: ,In alter Zeit hatten wir einen frommen schlichten Glauben, wir erkannten das Jenseits, aber auch die Blödigkeit unserer Sinne, dann kam die Aufklärung, die alles so klar machte, daß man vor lauter Klarheit nichts sah und sich am nächsten Baume im Walde die Nase stieß, jetzt soll das Jenseits erfaßt werden mit hinübergestreckten Armen von Fleisch und Bein. — Behalten Sie das Haus und lassen Sie mich machen!' — Ich erstaunte, als der Alte die Haustrauung in dem großen Zimmer meiner Wohnung am Kreuzerfindungstage, ich erstaunte noch mehr, als er alles in dem Zimmer so anordnete, wie es die selige Tante getan. Jungfer Anna schlich mit vor Angst verstörtem Gesicht leise betend umher. Die geschmückte Braut - der Geistliche kam, nichts Befremdendes ließ sich hören oder blicken. Als aber der Segen gesprochen, da ging es wie ein leiser sanfttönender Hauch durchs Zimmer, und ich, meine Braut, der Geistliche, alle Anwesende hatten nach einstimmiger Aussage in demselben Augenblick ein unbeschreibliches Wohlsein gefühlt, das uns mit elektrischer Wärme durchdrang. Seit der Zeit habe ich keinen Spuk verspürt, außer heute, da das lebhafte Andenken an die holde Pauline in meine Ehe einen neuen Spuk gebracht." Dies sprach Alexander, seltsam lächelnd und sich umschauend. "0 du großer Tor", rief Marzell. "Ich wollte nicht, daß sie heute wieder hier erschiene, wer weiß, was mir geschähe." — Es waren unterdessen viele Spaziergänger angelangt und hatten Tische und Stühle eingenommen, nur den Platz nicht, wo vor zwei Jahren die Aslingsche Familie saß. "Eine recht seltsame Ahnung", fing Severin an, "geht durch mein Inneres, indem ich jenen verhängnisvollen Platz dort anschaue, es ist mir, als ob -" In dem Augenblick schritt der Geheime Rat Asling, seine Frau am Arme, vorüber, Pauline folgte, anmutig und wunderherrlich anzuschauen, wie vor zwei Jahren. So wie damals schien sie mit rückwärts gewandtem Kopf jemanden ausspähen zu wollen. Da fiel ihr Alexander ins Auge, der aufgestanden war. "Ach, da bist du ja schon!" rief sie freudig, indem sie auf ihn zu sprang. Er faßte sie bei der Hand und sprach zu den Freunden: "Das ist, Herzensbrüder, mein liebes Weiblein Pauline

Die Freunde waren mit Ottmars Erzählung zufrieden.

"Du hattest", sprach Theodor, "bestimmten Anlaß, die Szene des Stücks nach Berlin zu verlegen und Straßen und Plätze zu nennen. Im allgemeinen ist es aber auch meines Bedünkens gar nicht übel, den Schauplatz genau zu bezeichnen. Außer dem, daß das Ganze dadurch einen Schein von historischer Wahrheit erhält, der einer trägen Phantasie aufhilft, so gewinnt es auch, zumal für den, der mit dem als Schauplatz genannten Orte bekannt ist, ungemein an Lebendigkeit und Frische."

"Seine ironische Tücke", sprach Lothar, "vorzüglich was das junge Mädchen betrifft, hat unser Freund aber doch nicht lassen können. Doch ich verzeihe ihm das gern."

"Ein wenig Salz", erwiderte Ottmar, "ein wenig Salz, mein lieber Lothar, zur magern Speise. Denn in der Tat, indem ich meine Erzählung las, fühlte ich es deutlich, daß sie zu wenig phantastisch ist, sich zu sehr in den gewöhnlichsten Kreisen bewegt."

"Findet", nahm Cyprian das Wort, "findet Theodor, daß es gut sei, den bestimmten Schauplatz zu nennen, tadelt ferner Ottmar, daß sein Stoff zu wenig phantastisch sei, will endlich Lothar auch mir etwas ironische Tücke verzeihen, so darf ich wohl eine Erzählung vortragen, zu der mich Erinnerungen meines Aufenthalts in der edlen Handelsstadt Danzig entzündeten."

Er las:


Der Artushof

Gewiß hast du, günstiger Leser! schon recht viel von der alten merkwürdigen Handelsstadt Danzig gehört. Vielleicht kennst du all das Sehenswerte, was sich dort befindet, aus mancher Beschreibung; am liebsten sollt es mir aber sein, wenn du selbst einmal in früherer Zeit dort gewesen wärest und mit eigenen Augen den wunderbaren Saal geschaut hättest, in den ich jetzt dich führen will. Ich meine den Artushof. — In den Mittagsstunden wogte drängend und treibend der Handel den mit Menschen der verschiedensten Nationen gefüllten Saal auf und ab, und ein verwirrtes Getöse betäubte die Ohren. Aber wenn die Börsenstunden vorüber, wenn die Handelsherren bei Tische saßen und nur einzelne geschäftig durch den Saal, der als Durchgang zwei Straßen verbindet, liefen, dann besuchtest du, günstiger Leser, der du in Danzig warst, den Artushof wohl am liebsten. Nun schlich ein magisches Helldunkel durch die trüben Fenster, all das seltsame Bild- und Schnitzwerk, womit die Wände überreich verziert, wurde rege und lebendig. Hirsche mit ungeheuern Geweihen, andere wunderliche Tiere schauten mit glühenden Augen auf dich herab, du mochtest sie kaum ansehen; auch wurde dir, je mehr die Dämmerung eintrat, das marmorne Königsbild in der Mitte nur desto schauerlicher. Das große Gemälde, auf dem alle Tugenden und Laster versammelt mit beigeschriebenen Namen, verlor merklich von der Moral, denn schon schwammen die Tugenden unkenntlich hoch im grauen Nebel, und die Laster, gar wunderschöne Frauen in bunten schimmernden Kleidern, traten recht verführerisch hervor und wollten dich verlocken mit süßem Gelispel. Du wandtest den Blick lieber auf den schmalen Streif, der beinahe rings um den Saal geht und auf dem sehr anmutig lange Züge buntgekleideter Miliz aus alter reichsstädtischer Zeit abgebildet sind. Ehrsame Bürgermeister mit klugen bedeutsamen Gesichtern reiten voran auf mutigen, schön geputzten Rossen, und die Trommelschläger,

die Pfeifer, die Hellebardierer schreiten so keck und lebendig daher, daß du bald die lustige Soldatenmusik vernimmst und glaubst, sie werden nun gleich alle zu jenem großen Fenster dort hinaus auf den Langen Markt ziehen. — Weil sie denn nun fortziehen wollten, konntest du nicht umhin, günstiger Leser, insofern du nämlich ein rüstiger Zeichner bist, mit Tinte und Feder jenen prächtigen Bürgermeister mit seinem wunderschönen Pagen abzukonterfeien. Auf den Tischen ringsumher lag ja sonst immer auf öffentliche Kosten Papier, Tinte und Feder bereit, das Material war also bei der Hand und lockte dich unwiderstehlich an. Dir, günstiger Leser! war so etwas erlaubt, aber nicht dem jungen Kaufherrn Traugott, der über ähnlichem Beginnen in tausend Not und Verdruß geriet. — "Avisieren Sie doch sogleich unsern Freund in Hamburg von dem zustande gekommenen Geschäft, lieber Herr Traugott!" — So sprach der Kauf- und Handelsherr Elias Roos, mit dem Traugott nächstens in Kompanie gehen und dessen einzige Tochter Christina er heiraten sollte. Traugott fand mit Mühe ein Plätzchen an den besetzten Tischen, er nahm ein Blatt, tunkte die Feder ein und wollte eben mit einem kecken kalligraphischen Schnörkel beginnen, als er, nochmals schnell das Geschäft, von dem er zu schreiben hatte, überdenkend, die Augen in die Höhe warf. — Nun wollte es der Zufall, daß er gerade vor den in einem Zuge abgebildeten Figuren stand, deren Anblick ihn jedesmal mit seltsamer unbegreiflicher Wehmut befing. — Ein ernster, beinahe düsterer Mann mit schwarzem krausem Barte ritt in reichen Kleidern auf einem schwarzen Rosse, dessen Zügel ein wundersamer Jüngling führte, der in seiner Lockenfülle und zierlicher bunter Tracht beinahe weiblich anzusehen war. Die Gestalt, das Gesicht des Mannes erregten dem Traugott innern Schauer, aber aus dem Gesichte des holden Jünglings strahlte ihm eine ganze Welt süßer Ahnungen entgegen. Niemals konnte er loskommen von dieser beider Anblick, und so geschah es denn auch jetzt, daß, statt den Aviso des Herrn Elias Roos nach Hamburg zu schreiben, er nur das wundersame Bild anschaute und gedankenlos mit der Feder auf dem Papier herumkritzelte. Das mochte schon einige Zeit gedauert haben, als ihn jemand hinterwärts auf die Schulter klopfte und mit dumpfer Stimme rief: "Gut, —recht gut! — so lieb ich's, das kann was werden!" — Traugott kehrte sich, aus dem Traume erwachend, rasch um, aber es traf ihn wie ein Blitzstrahl - Staunen, Schrecken machten ihn sprachlos, er starrte hinein in das Gesicht des düstern Mannes, der vor ihm abgebildet. Dieser war es, der jene Worte sprach, und neben ihm stand der zarte wunderschöne Jüngling und lächelte ihn an wie mit unbeschreiblicher Liebe. Sie sind es ja selbst, so fuhr es dem Traugott durch den Sinn. — Sie sind es ja selbst! — Sie werden nun gleich die häßlichen Mäntel abwerfen und dastehen in glänzender altertümlicher Tracht! — Die Menschen wogten durcheinander, verschwunden im Gewühl waren bald die fremden Gestalten, aber Traugott stand mit seinem Avisobriefe in der Hand, wie zur starren Bildsäule geworden, auf derselben Stelle, als die Börsenstunden längst vorüber und nur noch einzelne durch den Saal liefen. Endlich wurde Traugott Herrn Elias Roos gewahr, der mit zwei fremden Herren auf ihn zu schritt. "Was spintisieren Sie noch in später Mittagszeit, werter Herr Traugott", rief Elias Roos, "haben Sie den Aviso richtig abgeschickt?" — Gedankenlos reichte Traugott ihm das Blatt hin, aber da schlug Herr Elias Roos die Fäuste über den Kopf zusammen, stampfte erst ein klein wenig, dann aber sehr stark mit dem rechten Fuße und schrie, daß es im Saale schallte: "Herr Gott! — Herr Gott! —Kinderstreiche! —dumme Kinderstreiche! — Verehrter Traugott -korrupter Schwiegersohn - unkluger Associé. — Ew. Edlen sind wohl ganz des Teufels? — Der Aviso - der Aviso, o Gott! die Post!" — Herr Elias Roos wollte ersticken vor Ärger, die fremden Herren lächelten über den wunderlichen Aviso, der freilich nicht recht brauchbar war. Gleich nach den Worten: "Auf Ihr Wertes vom zwanzigsten hujus uns beziehend" hatte nämlich Traugott in zierlichern kecken Umriß jene beiden wundersamen Figuren, den Alten und den Jüngling, gezeichnet. Die fremden Herren suchten den Herrn Elias Roos zu beruhigen, indem sie ihm auf das liebreichste zusprachen; der zupfte aber die runde Perücke hin und her, stieß mit dem Rohrstock auf den Boden und rief: "Das Satanskind - avisieren soll er, macht Figuren - zehntausend Mark sind - fit!" — Er blies durch die Finger und weinte dann wieder: "Zehntausend Mark!" —"Beruhigen Sie sich, lieber Herr Roos", sprach endlich der ältere von den fremden Herrn. "die Post ist zwar freilich fort, in einer Stunde geht indessen ein Kurier ab, den ich nach Hamburg schicke, dem gebe ich Ihren Aviso mit, und so kommt er noch früher an Ort und Stelle, als es durch die Post geschehen sein würde." —"Unvergleichlichster Mann!" rief Herr Elias mit vollem Sonnenschein im Blick. Traugott hatte sich von seiner Bestürzung erholt, er wollte schnell an den Tisch, um den Aviso zu schreiben, Herr Elias schob ihn aber weg, indem er mit recht hämischem Blicke zwischen den Zähnen murmelte: "Ist nicht vonnöten, mein Söhnlein!" — Während Herr Elias gar eifrig schrieb, näherte sich der ältere Herr dem jungen Traugott, der in stummer Beschämung dastand, und sprach: "Sie scheinen nicht an Ihrem Platze zu sein, lieber Herr! Einem wahren Kaufmann würde es nicht eingefallen sein, statt, wie es recht ist, zu avisieren, Figuren zu zeichnen." — Traugott mußte das für einen nur zu gegründeten Vorwurf halten. Ganz betroffen erwiderte er: "Ach Gott, wie viel vortreffliche Avisos schrieb schon diese Hand. aber nur zuweilen kommen mir solche vertrackte Einfälle!" —"Ei, mein Lieber", fuhr der Fremde lächelnd fort. "das sollten nun eben keine vertrackte Einfälle sein. Ich glaube in der Tat, daß alle Ihre Avisos nicht so vortreiflich sind als diese mit fester Hand keck und sauber umrissenen Figuren. Es ist wahrhaftig ein eigener Genius darin." Unter diesen Worten hatte der Fremde den in Figuren übergegangenen Avisobrief dem Traugott aus der Hand genommen, sorgsam zusammengefaltet und eingesteckt. Da stand es ganz fest in Traugotts Seele, daß er etwas viel Herrlicheres gemacht habe als einen Avisobrief, ein fremder Geist funkelte in ihm auf, und als Herr Elias Roos, der mit dem Schreiben fertig geworden, noch bitterböse ihm zurief: "Um zehntausend Mark hätten mich Ihre Kinderstreiche bringen können", da erwiderte er lauter und bestimmter als jemals: "Gebärden sich Ew. Edlen nur nicht so absonderlich, sonst schreib ich Ihnen in meinem ganzen Leben keinen Avisobrief mehr, und wir sind geschiedene Leute!" — Herr Elias schob mit beiden Händen die Perücke zurecht und stammelte mit starrem Blick: "Liebenswürdiger Associé, holder Sohn! was sind das für stolze Redensarten?" Der alte Herr trat abermals ins Mittel, wenige Worte waren hinlänglich, den vollen Frieden herzustellen, und so schritten sie zum Mittagsmahl in das Haus des Herrn Elias, der die Fremden geladen hatte. Jungfer Christine empfing die Gäste in sorgsam geschniegelten und gebügelten Feierkleidem und schwenkte bald mit geschickter Hand den überschweren silbernen Suppenlöffel. — Wohl könnte ich dir, günstiger Leser! die fünf Personen, während sie bei Tische sitzen, bildlich vor Augen bringen, ich werde aber nur zu flüchtigen Umrissen gelangen, und zwar viel schlechteren, als wie sie Traugott in dem ominösen Avisobriefe recht verwegen hinkritzelte, denn bald ist das Mahl geendet, und die wundersame Geschichte des wackern Traugott, die ich für dich, günstiger Leser! aufzuschreiben unternommen, reißt mich fort mit unwiderstehlicher Gewalt! — Daß Herr Elias Roos eine runde Perücke trägt, weißt du, günstiger Leser! schon aus obigem, und ich darf auch gar nichts mehr hinzusetzen, denn nach dem, was er gesprochen, siehst du jetzt schon den kleinen rundlichen Mann in seinem leberfarbenen Rocke, Weste und Hosen mit goldbesponnenen Knöpfen, recht vor Augen. Von dem Traugott habe ich sehr viel zu sagen, weil es eben seine Geschichte ist, die ich erzähle, er also wirklich darin vorkommt. Ist es aber nun gewiß, daß Gesinnung, Tun und Treiben, aus dem Innern heraustretend, so die äußere Gestalt modeln und formen, daß daraus die wunderbare, nicht zu erklärende, nur zu fühlende Harmonie des Ganzen entsteht, die wir Charakter nennen, so wird dir. günstiger Leser! aus meinen Worten Traugotts Gestalt von selbst recht lebendig hervorgehen. Ist dies nicht der Fall, so taugt all mein Geschwätz gar nichts, und du kannst meine Erzählung nur geradezu für nicht gelesen achten. Die beiden fremden Herrn sind Onkel und Neffe, ehedem Handel, jetzt Geschäfte treibend mit erworbenem Gelde, und Herrn Elias Roos' Freunde, das heißt mit ihm in starkem Geldverkehr. Sie wohnen in Königsberg, tragen sich ganz englisch, führen einen Mahagonistiefelknecht aus London mit sich, haben viel Kunstsinn und sind überhaupt feine, ganz gebildete Leute. Der Onkel besitzt ein Kunstkabinett und sammelt Zeichnungen (videatur der geraubte Avisobrief). Eigentlich war es mir hauptsächlich nur darum zu tun, dir, günstiger Leser, die Christina recht lebhaft darzustellen, denn ihr flüchtiges Bild wird, wie ich merke, bald verschwinden, und so ist es gut, daß ich gleich einige Züge zu Buch bringe. -Mag-sie dann entfliehen! Denke dir, lieber Leser! ein mittelgroßes wohlgenährtes Frauenzimmer von etwa zwei- bis dreiundzwanzig Jahren, mit rundem Gesicht, kurzer, ein wenig aufgestülpter Nase, freundlichen lichtblauen Augen, aus denen es recht hübsch jedermann anlächelt: Nun heirate ich bald! — Sie hat eine blendendweiße Haut, die Haare sind gerade nicht zu rötlich - recht küssige Lippen - einen zwar etwas weiten Mund, den sie noch dazu seltsam verzieht, aber zwei Reihen Perlenzähne werden dann sichtbar. Sollten etwa aus des Nachbars brennendem Hause die Flammen in ihr Zimmer schlagen, so wird sie nur noch geschwinde den Kanarienvogel füttern und die neue Wäsche verschließen, dann aber ganz gewiß in das Comptoir eilen und dem Herrn Elias Roos zu erkennen geben, daß nunmehro auch sein Haus brenne. Niemals ist ihr eine Mandeltorte mißraten, und die Buttersauce verdickt sich jedesmal gehörig, weil sie niemals links, sondern immer rechts im Kreise mit dem Löffel rührt! —Da Herr Elias Roos schon den letzten Römer alten Franz eingeschenkt, bemerke ich nur noch in der Eile, daß Christinchen den Traugott deshalb ungemein liebhat, weil er sie heiratet, denn was sollte sie wohl in aller Welt anfangen, wenn sie niemals Frau würde! — Nach der Mahlzeit schlug Herr Elias Roos den Freunden einen Spaziergang auf den Wällen vor. Wie gern wäre Traugott, in dessen Innerm sich noch nie so viel Verwunderliches geregt hatte als eben heute, der Gesellschaft entschlüpft, es ging aber nicht; denn wie er eben zur Tür hinauswollte, ohne einmal seiner Braut die Hand geküßt zu haben, erwischte ihn Herr Elias beim Rockschoß, rufend: "Wetter Schwiegersohn, holder Associé, Sie wollen uns doch nicht verlassen?", und so mußte er wohl bleiben. —Jener Professor physices meinte: der Weltgeist habe als ein wackrer Experimentalist irgendwo eine tüchtige Elektrisiermaschine gebaut, und von ihr aus liefen gar geheimnisvolle Drähte durchs Leben, die umschlichen und umgingen wir nun bestmöglichst, aber in irgendeinem Moment müßten wir darauftreten, und Blitz und Schlag führen durch unser Inneres, in dem sich nun plötzlich alles anders gestalte. Auf den Draht war wohl Traugott getreten, in dem Moment, als er bewußtlos die zeichnete, welche lebendig hinter ihm standen, denn mit Blitzesgewalt hatte ihn die seltsame Erscheinung der Fremden durchzuckt, und es war ihm, als wisse er nun alles deutlich, was sonst nur Ahnung und Traum gewesen. Die Schüchternheit, die sonst seine Zunge band, sobald das Gespräch sich auf Dinge wandte, die wie ein heiliges Geheimnis tief in seiner Brust verborgen lagen, war verschwunden, und so kam es, daß, als der Onkel die wunderlichen, halb gemalten, halb geschnitzten Bilder im Artushof als geschmacklos angriff und vorzüglich die kleinen Soldatengemälde als abenteuerlich verwarf, er dreist behauptete, wie es wohl sein könne, daß das alles sich mit den Regeln des Geschmacks nicht zusammenreime, indessen sei es ihm selbst wie wohl schon mehreren ergangen: eine wunderbare phantastische Welt habe sich ihm in dem Artushof erschlossen, und einzelne Figuren hätten ihn sogar mit lebensvollen Blicken, ja wie mit deutlichen Worten daran gemahnt, daß er auch ein mächtiger Meister sein und schaffen und bilden könne wie der, aus dessen geheimnisvoller Werkstatt sie hervorgegangen. — Herr Elias sah in der Tat dümmer aus wie gewöhnlich, als der Jüngling solche hohe Worte sprach, aber der Onkel sagte mit recht hämischer Miene: "Ich behaupte es noch einmal, daß ich nicht begreife, wie Sie Kaufmann sein wollen und sich nicht lieber der Kunst ganz zugewandt haben." — Dem Traugott war der Mann höchst zuwider, und er schloß sich deshalb bei dem Spaziergange an den Neffen, der recht freundlich und zutraulich tat. "0 Gott", sprach dieser, "wie beneide ich Sie um Ihr schönes herrliches Talent! Ach, könnte ich so wie Sie zeichnen. — An Genie fehlt es mir gar nicht, ich habe schon recht hübsch Augen und Nasen und Ohren, ja sogar drei bis vier ganze Köpfe gezeichnet, aber, lieber Gott, die Geschäfte! die Geschäfte!" —"Ich dächte", sprach Traugott, "sobald man wahres Genie, wahre Neigung zur Kunst verspüre, solle man kein anderes Geschäft kennen." — "Sie meinen, Künstler werden", entgegnete der Neffe. "Ei, wie mögen Sie das sagen! Sehen Sie, mein Wertester, über diese Dinge habe ich denn wohl mehr nachgedacht als vielleicht mancher; ja, selbst ein so entschiedener Verehrer der Kunst, bin ich tiefer in das eigentliche Wesen der Sache eingedrungen, als ich es nur zu sagen vermag, daher sind mir nur Andeutungen möglich." Der Neffe sah bei diesen Worten so gelehrt und tiefsinnig aus, daß Traugott ordentlich einige Ehrfurcht für ihn empfand. "Sie werden mir recht geben", fuhr der Neffe fort, nachdem er eine Prise genommen und zweimal geniest hatte, "Sie werden mir recht geben, daß die Kunst Blumen in unser Leben ficht -Erheiterung, Erholung vom ernsten Geschäft, das ist der schöne Zweck alles Strebens in der Kunst, der desto vollkommener erreicht wird, je vortrefflicher sich die Produktionen gestalten. Im Leben selbst ist dieser Zweck deutlich ausgesprochen, denn nur der, der nach jener Ansicht die Kunst übt, genießt die Behaglichkeit, die den immer und ewig flieht, welcher, der wahren Natur der Sache entgegen, die Kunst als Hauptsache, als höchste Lebenstendenz betrachtet. Deshalb, mein Lieber! nehmen Sie sich das ja nicht zu Herzen, was mein Onkel vorbrachte, um Sie von dem ernsten Geschäft des Lebens abzuleiten in ein Tun und Treiben, das ohne Stütze nur wie ein unbehülflich Kind hin und her wankt." Hier hielt der Neffe inne, als erwarte er Traugotts Antwort; der wußte aber gar nicht, was er sagen sollte. Alles, was der Neffe gesprochen, kam ihm unbeschreiblich albern vor. Er begnügte sich zu fragen: "Was nennen Sie denn nun aber eigentlich ernstes Geschäft des Lebens?" Der Neffe sah ihn etwas betroffen an. "Nun, mein Gott", fuhr er endlich heraus, "Sie werden mir doch zugeben, daß man im Leben leben muß, wozu es der bedrängte Künstler von Profession beinahe niemals bringt." Er schwatzte nun mit zierlichen Wörtern und gedrechselten Redensarten ins Gelag hinein. Es kam ungefähr darauf hinaus, daß er im Leben leben nichts anderes nannte, als keine Schulden, sondern viel Geld haben, gut Essen und Trinken, eine schöne Frau und auch wohl artige Kinder, die nie einen Talgfleck ins Sonntagsröckchen bringen, besitzen und so weiter. Dem Traugott schnürte das die Brust zu, und er war froh, als der verständige Neffe von ihm abließ und er sich allein auf seinem Zimmer befand. "Was führe ich doch", sprach er zu sich selbst. "für ein erbärmlich schlechtes Leben! — An dem schönen Morgen in der herrlichen goldenen Frühlingszeit, wenn selbst durch die finstern Straßen in der Stadt der laue West zieht und in seinem dumpfen Murmeln und Rauschen von all den Wundern zu erzählen scheint, die draußen in Wald und Flur erblühen, da schleiche ich träge und unmutig in Herrn Elias Roos' räuchrichtes Comptoir. Da sitzen bleiche Gesichter vor großen unförmlichen Pulten, und nur das Geräusch des Blätterns in den großen Büchern, das Klappern des gezählten Geldes, einzelne unverständliche Laute unterbrechen die düstre Stille, in die alles arbeitend versunken. Und was für Arbeit? —Wozu alles Sinnen, alles Schreiben? — Damit sich nur die Goldstücke im Kasten mehren, damit nur des Fafners unheilbringender Hort immer mehr funkte und gleiße! — Wie mag doch solch ein Künstler und Bildner fröhlich hinausziehn und hoch emporgerichteten Hauptes all die erquicklichen Frühlingsstrahlen einatmen, die die innere Welt voll herrlicher Bilder entzünden, so daß sie aufgeht im regen lustigen Leben. Aus den dunkeln Büschen treten dann wunderbare Gestalten hervor, die sein Geist geschaffen und die sein Eigen bleiben, denn in ihm wohnt der geheimnisvolle Zauber des Lichts, der Farbe, der Form, und so vermag er, was sein inneres Auge geschaut, festzubannen, indem er es sinnlich darstellt. —Was hält mich ab, mich loszureißen von der verhaßten Lebensweise? — Der alte wunderliche Mann hat es mir bestätigt, daß ich zum Künstler berufen bin, aber noch mehr der schöne holde Jüngling. Ungeachtet der nichts sprach, war es mir ja doch, als sage sein Blick mir das deutlich, was so lange sich nur als leise Ahnung in mir regte und das, niedergedrückt von tausend Zweifeln, nicht emporzustreben vermochte. Kann ich denn nicht statt meines unseligen Treibens ein tüchtiger Maler werden?" —Traugott holte alles hervor, was er jemals gezeichnet, und durchschaute es mit prüfenden Blicken. Manches kam ihm heute ganz anders vor als sonst, und zwar besser. Vorzüglich fiel ihm aber aus den kindischen Versuchen seiner frühern Knabenzeit ein Blatt in die Hände, auf dem in freilich verzerrten, jedoch sehr kenntlichen Umrissen jener alte Bürgermeister mit dem schönen Pagen abgebildet war, und er erinnerte sich recht gut, daß schon damals jene Figuren seltsam auf ihn wirkten und er einst in der Abenddämmerung wie von einer unwiderstehlichen Gewalt vom Knabenspiele fort in den Artushof gelockt wurde, wo er emsig sich bemühte, das Bild abzuzeichnen. — Traugott wurde, diese Zeichnung anschauend, von der tiefsten wehmütigsten Sehnsucht befangen! — Er sollte, nach gewöhnlicher Weise, noch ein paar Stunden in dem Comptoir arbeiten, das war. ihm unmöglich, statt dessen lief er heraus auf den Karlsberg. Da schaute er hinaus ins wogende Meer; in den Wellen, in dem grauen Nebelgewölk, das, wunderbar gestaltet, sich über Hela gelegt hatte, trachtete er wie in einem Zauberspiegel das Schicksal seiner künftigen Tage zu erspähen.

Glaubst du nicht, lieber Leser! daß das, was aus dem höhern Reich der Liebe in unsre Brust hinabgekommen, sich uns zuerst offenbaren müsse im hoffnungslosen Schmerz? — Das sind die Zweifel. die in des Künstlers Gemüt stürmen. — Er schaut das Ideal und fühlt die Ohnmacht, es zu erfassen, es entflieht, meint er, unwiederbringlich. — Aber dann kommt ihm wieder ein göttlicher Mut, er kämpft und ringt, und die Verzweiflung löst sich auf in süßes Sehnen, das ihn stärkt und antreibt, immer nachzustreben der Geliebten, die er immer näher und näher erblickt, ohne sie jemals zu erreichen.

Traugott wurde nun eben von jenem hoffnungslosen Schmerz recht gewaltig ergriffen! — Als er am frühen Morgen seine Zeichnungen, die noch auf dem Tische lagen, wieder ansah, kam ihm alles unbedeutend und läppisch vor, und er erinnerte sich jetzt der Worte eines kunstreichen Freundes, der oft sagte: großer Unfug mit mittelmäßigem Treiben der Kunst entstehe daher, daß viele eine lebhafte äußere Anregung für innern wahren Beruf zur Kunst hielten. Traugott war nicht wenig geneigt, den Artushof mit den beiden wunderbaren Figuren des Alten und des Jünglings eben für eine solche äußere Anregung zu halten, verdammte sich selbst zur Rückkehr ins Comptoir und arbeitete bei dem Herrn Elias Roos, ohne des Ekels zu achten, der ihn oft so übernahm, daß er schnell abbrechen und hinauslaufen mußte ins Freie. Herr Elias Roos schrieb dies mit sorglicher Teilnahme der Kränklichkeit zu, die nach seiner Meinung den todbleichen Jüngling ergriffen haben mußte. — Mehrere Zeit war vergangen, der Dominiksmarkt kam heran, nach dessen Ende Traugott die Christina heiraten und sich als Associé

des Herrn Elias Roos der Kaufmannswelt ankündigen sollte. Dieser Zeitpunkt war ihm der traurige Abschied von allen schönen Hoffnungen und Träumen, und schwer fiel es ihm aufs Herz, wenn er Christinchen in voller Tätigkeit erblickte, wie sie in dem mittleren Stock alles scheuern und bohnen ließ, Gardinen eigenhändig fältelte, dem messingenen Geschirr den letzten Glanz gab und so weiter. Im dicksten Gewühl der Fremden im Artushof hörte Traugott einmal eine Stimme dicht hinter sich, deren bekannter Ton ihm durchs Herz drang: "Sollten diese Papiere wirklich so schlecht stehen?" Traugott drehte sich rasch um und erblickte, wie er es vermutet, den wunderlichen Alten, welcher sich an einen Mäkler gewandt hatte, um ein Papier zu verkaufen, dessen Kurs in dem Augenblick sehr gesunken war. Der schöne Jüngling stand hinter dem Alten und warf einen wehmütig freundlichen Blick auf Traugott. Dieser trat rasch zu dem Alten hin und sprach: "Erlauben Sie, mein Herr, das Papier, welches Sie verkaufen wollen, steht in der Tat nur so hoch, wie Ihnen gesagt worden; der Kurs bessert sich indessen, wie es mit Bestimmtheit vorauszusehen ist, in wenigen Tagen sehr bedeutend. Wollen Sie daher meinen Rat annehmen, so verschieben Sie den Umsatz des Papiers noch einige Zeit." —"Ei, mein Herr!" erwiderte der Alte ziemlich trocken und rauh, "was gehen Sie meine Geschäfte an? Wissen Sie denn, ob mir in diesem Augenblick solch ein einfältig Papier nicht ganz unnütz, bares Geld aber höchst nötig ist?" Traugott, der nicht wenig betreten darüber war, daß der Alte seine gute Absicht so übel aufnahm, wollte sich schon entfernen, als der Jüngling ihn wie bittend, mit Träneh im Auge anblickte. "Ich habe es gut gemeint, mein Herr", erwiderte er schnell dem Alten, "und kann es durchaus noch nicht zugeben, daß Sie bedeutenden Schaden leiden sollen. Verkaufen Sie mir das Papier unter der Bedingung, daß ich Ihnen den höhern Kurs, den es in einigen Tagen haben wird, nachzahle." —"Sie sind ein wunderlicher Mann", sagte der Alte, "mag es darum sein, wiewohl ich nicht begreife, was Sie dazu treibt, mich bereichern zu wollen." —Er warf bei diesen Worten einen funkelnden Blick auf den Jüngling, der die schönen blauen Augen beschämt niederschlug. Beide folgten dem Traugott in das Comptoir, wo dem Alten das Geld ausgezahlt wurde, der es mit finstrer Miene einsackte. Währenddessen sagte der Jüngling leise zu Traugott: "Sind Sie nicht derselbe, der vor mehreren Wochen auf dem Artushof solch hübsche Figuren gezeichnet hatte?" —"Allerdings", erwiderte Traugott, indem er fühlte, wie ihm die Erinnerung an den lächerlichen Auftritt mit dem Avisobrief das Blut ins Gesicht trieb. "0 dann", fuhr der Jüngling fort, "nimmt es mich nicht wunder -" Der Alte blickte den Jüngling zornig an, der sogleich schwieg. —Traugott konnte eine gewisse Beklommenheit in Gegenwart der Fremden nicht überwinden, und so gingen sie fort, ohne daß er den Mut gehabt hätte, sich nach ihren nähern Lebensverhältnissen zu erkundigen. Die Erscheinung dieser beiden Gestalten hatte auch in der Tat so etwas Verwunderliches, daß selbst das Personal im Comptoir davon ergriffen wurde. Der grämliche Buchhalter hatte die Feder hinters Ohr gesteckt, und mit beiden Armen über das Haupt gelehnt, starrte er mit grellen Augen den Alten an. "Gott bewahre mich", sprach er, als die Fremden fort waren, "der sah ja aus mit seinem krausen Barte und dem schwarzen Mantel wie ein altes Bild de Anno 1400 in der Pfarrkirche zu St. Johannis!" — Herr Elias hielt ihn aber, seines edeln Anstandes, seines tief ernsten altteutschen Gesichts ungeachtet, schlechtweg für einen polnischen Juden und rief schmunzelnd: "Dumme Bestie, verkauft jetzt das Papier und bekommt in acht Tagen wenigstens zehn Prozent mehr." Freilich wußte er nichts von dem verabredeten Zuschüsse, den Traugott aus seiner Tasche zu berichtigen gemeint war, welches er auch einige Tage später, als er den Alten mit dem Jünglinge wieder auf dem Artushöfe traf, wirklich tat. "Mein Sohn", sagte der Alte, "hat mich daran erinnert, daß Sie auch Künstler sind, und so nehme ich das an, was ich sonst verweigert haben würde." —Sie standen gerade an einer der vier Granitsäulen, die des Saales Wölbung tragen, dicht vor den beiden gemalten Figuren, die Traugott damals in den Avisobrief hineinzeichnete. Ohne Rückhalt sprach er von der großen Ähnlichkeit jener Figuren mit dem Alten und dem Jünglinge. Der Alte lächelte ganz seltsam, legte die Hand auf Traugotts Schulter und sprach leise und bedächtig: "Ihr wißt also nicht, daß ich der deutsche Maler Godofredus Berklinger bin und die Figuren, welche Euch so zu gefallen scheinen, vor sehr langer Zeit, als ich noch ein Schüler der Kunst war, selbst malte? In jenem Bürgermeister habe ich mich selbst Andenkens halber abkonterfeit, und daß der das Pferd führende Page mein Sohn ist, erkennt Ihr wohl sehr leicht, wenn Ihr beider Gesichter und Wuchs anschauet!" — Traugott verstummte vor Erstaunen; er merkte aber wohl bald, daß der Alte, der sich für den Meister der mehr als zweihundert Jahre alten Gemälde hielt, von einem besondern Wahnwitze befangen sein müsse. "Überhaupt war es doch", fuhr der Alte fort, indem er den Kopf in die Höhe warf und stolz umherblickte, "eine herrliche, grünende, blühende Künstlerzeit, wie ich diesen Saal dem weisen Könige Artus und seiner Reichstafel zu Ehren mit all den bunten Bildern schmückte. Ich glaube wohl, daß es der König Artus selbst war, der in gar edler hoher Gestalt einmal, als ich hier arbeitete, zu mir trat und mich zur Meisterschaft ermahnte, die mir damals noch nicht worden!" — "Mein Vater", fiel der Jüngling ein, "ist ein Künstler, wie es wenige gibt, mein Herr! und es würde Sie nicht gereuen, wenn er es Ihnen vergönnte, seine Werke zu sehen." Der Alte hatte unterdessen einen Gang durch den schon öde gewordenen Saal gemacht, er forderte jetzt den Jüngling zum Fortgehen auf, da bat Traugott, ihm doch seine Gemälde zu zeigen. Der Alte sah ihn lange mit scharfem durchbohrenden Blicke an und sprach endlich sehr ernst: "Ihr seid in der Tat etwas verwegen, daß Ihr schon jetzt darnach trachtet, in das innerste Heiligtum einzutreten, ehe noch Eure Lehrjahre begonnen. Doch! — mag es sein! — Ist Euer Blick noch zu blöde zum Schauen, so werdet Ihr wenigstens ahnen! Kommt morgen in der Frühe zu mir." — Er bezeichnete seine Wohnung, und Traugott unterließ nicht, den andern Morgen sich schnell vom Geschäfte loszumachen und nach der entlegenen Straße zu dem wunderlichen Alten hinzueilen. Der Jüngling, ganz altdeutsch gekleidet, öffnete ihm die Tür und führte ihn in ein geräumiges Gemach, wo er den Alten in der Mitte, auf einem kleinen Schemel vor einer großen aufgespannten, grau grundierten Leinwand sitzend, antraf. "Zur glücklichen Stunde", rief der Alte ihm entgegen, "sind Sie, mein Herr, gekommen, denn soeben habe ich die letzte Hand an das große Bild dort gelegt, welches mich schon über ein Jahr beschäftigt und nicht geringe Mühe gekostet hat. Es ist das Gegenstück zu dem gleich großen Gemälde, das verlorene Paradies darstellend, welches ich voriges Jahr vollendete und das Sie auch bei mir anschauen können. Dies ist nun, wie Sie sehen, das wiedergewonnene Paradies, und es sollte mir um Sie leid sein, wenn Sie irgendeine Allegorie herausklügeln wollten. Allegorische Gemälde machen nur Schwächlinge und Stümper; mein Bild soll nicht bedeuten, sondern sein. Sie finden, daß alle diese reichen Gruppen von Menschen, Tieren, Früchten, Blumen, Steinen sich zum harmonischen Ganzen verbinden, dessen laut und herrlich tönende Musik der himmlisch reine Akkord ewiger Verklärung ist." — Nun fing der Alte an, einzelne Gruppen herauszuheben, er machte Traugott auf die geheimnisvolle Verteilung des Lichts und des Schattens aufmerksam, auf das Funkeln der Blumen und Metalle, auf die wunderbaren Gestalten, die, aus Lilienkelchen steigend, sich in die klingenden Reigen himmlisch schöner Jünglinge und Mädchen verschlangen, auf die bärtigen Männer, die, kräftige Jugendfülle in Blick und Bewegung, mit allerlei seltsamen Tieren zu sprechen schienen. — Immer stärker, aber immer unverständlicher und verworrener wurde des Alten Ausdruck. "Laß immer deine Diamantkrone funkeln, du hoher Greis!" rief er endlich, den glühenden Blick starr auf die Leinwand geheftet, "wirf ab den Isisschleier, den du über dein Haupt warfst, als Unheilige dir nahe traten! — Was schlägst du so sorglich dein finsteres Gewand über die Brust zusammen? — Ich will dein Herz schauen - das ist der Stein der Weisen, vor dem sich das Geheimnis offenbart! — Bist du denn nicht ich? — Was trittst du so keck, so gewaltig vor mir auf! —Willst du kämpfen mit deinem Meister? Glaubst du, daß der Rubin, der, dein Herz, herausfunkelt, meine Brust zermalmen könne? — Auf denn! — tritt heraus! — tritt her! — ich habe dich erschaffen - denn ich bin -" — Hier sank der Alte plötzlich, wie vom Blitze getroffen, zusammen. Traugott fing ihn auf, der Jüngling rückte schnell einen kleinen Lehnsessel herbei, sie setzten den Alten hinein, der in einen sanften Schlaf versunken schien.

"Sie wissen nun, lieber Herr!" sprach der Jüngling sanft und leise, "wie es mit meinem guten alten Vater beschaffen ist. Ein rauhes Schicksal hat alle seine Lebensblüten abgestreift, und schon seit mehreren Jahren ist er der Kunst abgestorben, für die er sonst lebte. —Er sitzt Tage hindurch vor der aufgespannten grundierten Leinwand, den starren Blick darauf geheftet; das nennt er malen, und in welchen exaltierten Zustand ihn dann die Beschreibung eines solchen Gemäldes versetzt, das haben Sie eben erfahren. Nächstdem verfolgt ihn noch ein unglückseliger Gedanke, der mir ein trübes zerrissenes Leben bereitet, ich trage das aber als ein Verhängnis, welches in dem Schwunge, in dem es ihn ergriffen, auch mich fortreißt. Wollen Sie sich von diesem seltsamen Auftritt erholen, so folgen Sie mir in das Nebenzimmer, wo Sie mehrere Gemälde aus meines Vaters früherer fruchtbarer Zeit finden." — Wie erstaunte Traugott, als er eine Reihe Bilder fand, die von den berühmtesten niederländischen Meistern gemalt zu sein schienen. Mehrenteils Szenen aus dem Leben, zum Beispiel eine Gesellschaft, die von der Jagd zurückkehrt, die sich mit Gesang und Spiel ergötzt, und anderes dergleichen darstellend, atmeten sie

doch einen tiefen Sinn, und vorzüglich war der Ausdruck der Köpfe von ganz besonderer ergreifender Lebenskraft. Schon wollte Traugott ins Vorzimmer zurückkehren, als er dicht an der Tür ein Bild wahrnahm, vor dem er wie festgezaubert stehenblieb. Es war eine wunderliebliche Jungfrau in altteutscher Tracht, aber ganz das Gesicht des Jünglings, nur voller und höher gefärbt, auch schien die Gestalt größer. Die Schauer namenlosen Entzückens durchbebten Traugott bei dem Anblick des herrlichen Weibes. An Kraft und Lebensfülle war das Bild den van Dyckschen völlig gleich. Die dunklen Augen blickten voll Sehnsucht auf Traugott herab, die süßen Lippen schienen, halb geöffnet, liebliche Worte zu flüstern! — "Mein Gott! — mein Gott!" seufzte Traugott aus tiefster Brust, "wo - wo ist sie zu finden?" — "Gehen wir", sprach der Jüngling. Da rief Traugott, wie von wahnsinniger Lust ergriffen: "Ach, sie ist es ja, die Geliebte meiner Seele, die ich so lange im Herzen trug, die ich nur in Ahnungen erkannte! — wo - wo ist sie!" —Dem jungen Berklinger stürzten die Tränen aus den Augen, er schien, wie von jähem Schmerz krampfhaft durchzuckt, sich mit Mühe zusammenzuraffen. "Kommen Sie", sagte er endlich mit festem Ton, "das Porträt stellt meine unglückliche Schwester Felizitas vor. Sie ist hin auf immer! — Sie werden sie niemals schauen!" — Beinahe bewußtlos ließ sich Traugott in das andere Zimmer zurückführen. Der Alte lag noch im Schlaf, aber plötzlich fuhr er auf, blickte Traugott mit zornfunkelnden Augen an und rief: "Was wollen Sie? — Was wollen Sie, mein Herr?" — Da trat der Jüngling vor und erinnerte ihn daran, daß er soeben dem Traugott ja sein neues Bild gezeigt habe. Berklinger schien sich nun auf alles zu besinnen, er wurde sichtlich weich und sprach mit gedämpfter Stimme: "Verzeihen Sie, lieber Herr! einem alten Mann solche Vergeßlichkeit." — "Euer neues Bild, Meister Berklinger", nahm Traugott nun das Wort, "ist ganz wunderherrlich, und habe ich dergleichen noch niemals geschaut, indessen braucht es wohl vieles Studierens und vieler Arbeit, ehe man dahin gelangt, so zu malen. Ich spüre großen unwiderstehlichen Trieb zur Kunst in mir und bitte Euch gar dringend, mein lieber alter Meister! mich zu Eurem fleißigen Schüler anzunehmen." Der Alte wurde ganz freundlich und heiter, er umarmte Traugott und versprach, sein treuer Lehrer zu sein. So geschah es denn, daß Traugott tagtäglich zu dem alten Maler ging und in der Kunst gar große Fortschritte machte. Sein Geschäft war ihm nun ganz zuwider, er wurde so nachlässig, daß Herr Elias Roos laut sich beklagte und am Ende es gern sah, daß Traugott unter dem Vorwande einer schleichenden Kränklichkeit sich von dem Comptoir ganz losmachte, weshalb denn auch, zu nicht geringem Ärger Christinens, die Hochzeit auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wurde. "Ihr Herr Traugott", sprach ein Handelsfreund zu Herrn Elias Roos, "scheint an einem innern Verdruß zu laborieren, vielleicht ein alter Herzenssaldo, den er gern löschen möchte vor neuer Heirat. Er sieht ganz blaß und verwirrt aus." —"Ach, warum nicht gar", erwiderte Herr Elias. "Sollte ihm", fuhr er nach einer Weile fort, "die schelmische Christina einen Spuk gemacht haben? Der Buchhalter, das ist ein verliebter Esel, der küßt und drückt ihr immer die Hände. Traugott ist ganz des Teufels verliebt in mein Mägdlein, das weiß ich. —Sollte vielleicht einige Eifersucht -? — Nun, ich will ihm auf den Zahn fühlen, dem jungen Herrn!"

So sorglich er aber auch fühlte, konnte er doch nichts erfühlen und sprach zum Handelsfreunde: "Das ist ein absonderlicher Homo, der Traugott, aber man muß ihn gehenlassen nach seiner Weise. Hätte er nicht funfzigtausend Taler in meiner Handlung, ich wüßte, was ich täte, da er gar nichts mehr tut."



Traugott hätte nun in der Kunst ein wahres helles Sonnenleben geführt, wenn die glühende Liebe zur schönen Felizitas, die er oft in wunderbaren Träumen sah, ihm nicht die Brust zerrissen hätte. Das Bild war verschwunden. Der Alte hatte es fortgebracht, und Traugott durfte, ohne ihn schwer zu erzürnen, nicht darnach fragen. Übrigens war der alte Berklinger immer zutraulicher geworden und litt es, daß Traugott, statt des Honorars für den Unterricht, seinen ärmlichen Haushalt auf mannigfache Weise verbesserte. Durch den jungen Berklinger erfuhr Traugott, daß der Alte bei dem Verkauf eines kleinen Kabinetts merklich hintergangen worden und daß jenes Papier, welches Traugott auswechselte, der Rest der erhaltenen Kaufsumme und ihres baren Vermögens gewesen sei. Nur selten durfte übrigens Traugott mit dem Jüngling vertraut sprechen, der Alte hütete ihn auf ganz besondere Weise und verwies es ihm gleich recht hart, wenn er frei und heiter sich mit dem Freunde unterhalten wollte. Traugott empfand dies um so schmerzlicher, als er den Jüngling seiner auffallenden Ähnlichkeit mit Felizitas halber aus voller Seele liebte. Ja, oft war es ihm inder Nähe des Jünglings, als stehe lichthell das geliebte Bild neben ihm, als fühle er den süßen Liebeshauch, und er hätte dann den Jüngling, als sei er die geliebte Felizitas selbst, an sein glühendes Herz drücken mögen.

Der Winter war vergangen, der schöne Frühling glänzte und blühte schon in Wald und Flur. Herr Elias Roos riet dem Traugott eine Brunnen- oder Molkenkur an. Christinchen freute sich wiederum auf die Hochzeit, ungeachtet Traugott sich wenig blicken ließ und noch weniger an das Verhältnis mit ihr dachte.

Eine durchaus nötige Abrechnung hatte einmal den Traugott den ganzen Tag über im Comptoir festgehalten, er mußte seine Malstunden versäumen, und erst in später Abenddämmerung schlich er nach Berklingers entlegener Wohnung. Im Vorzimmer fand er niemand, aus dem Nebengemach ertönten Lautenklänge. Nie hatte er hier noch das Instrument gehört. — Er horchte - wie leise Seufzer schlich ein abgebrochener Gesang durch die Akkorde hin. Er drückte die Tür auf - Himmel! — den Rücken ihm zugewendet, saß eine weibliche Gestalt, altteutsch gekleidet mit hohem

Spitzenkragen, ganz der auf dem Gemälde gleich! —Auf das Geräusch, das Traugott unwillkürlich beim Hereintreten gemacht, erhob sich die Gestalt, legte die Laute auf den Tisch und wandte sich um. Sie war es, sie selbst! — "Felizitas!" schrie Traugott auf voll Entzücken, niederstürzen wollte er vor dem geliebten Himmelsbilde, da fühlte er sich von hinten gewaltig gepackt beim Kragen und mit Riesenkraft herausgeschleppt. "Verruchter! — Bösewicht ohnegleichen!" schrie der alte Berklinger, indem er ihn fortstieß, "das war deine Liebe zur Kunst? — Morden willst du mich!" Und damit riß er ihn zur Tür heraus. Ein Messer blitzte in seiner Hand; Traugott floh die Treppe herab; betäubt, ja halb wahnsinnig vor Lust und Schrecken, lief Traugott in seine Wohnung zurück.

Schlaflos wälzte er sich auf seinem Lager. "Felizitas! — Felizitas!" rief er ein Mal übers andere, von Schmerz und Liebesqual zerrissen. "Du bist da - du bist da, und ich soll dich nicht schauen, dich nicht in meine Arme schließen? — Du liebst mich, ach, ich weiß es ja! — In dem Schmerz, der so tötend meine Brust durchbohrt, fühle ich es, daß du mich liebst." Hell schien die Frühlingssonne in Traugotts Zimmer, da raffte er sich auf und beschloß, es koste, was es wolle, das Geheimnis in Berklingers Wohnung zu erforschen. Schnell eilte er hin zum Alten, aber wie ward ihm, als er sah, daß alle Fenster in Berklingers Wohnung geöffnet und Mägde beschäftigt waren, die Zimmer zu reinigen. Ihm ahnte, was geschehen. Berklinger hatte noch am späten Abend mit seinem Sohn das Haus verlassen und war fortgezogen, niemand wußte, wohin. Ein mit zwei Pferden bespannter Wagen hatte die Kiste mit Gemälden und die beiden kleinen Koffer, welche das ganze ärmliche Besitztum Berklingers in sich schlossen, abgeholt. Er selbst war mit seinem Sohn eine halbe Stunde nachher fortgegangen. Alle Nachforschungen, wo sie geblieben, waren vergebens, kein Lohnkutscher hatte an Personen, wie Traugott sie beschrieb, Pferde und Wagen vermietet, selbst an den Toren konnte er nichts

Bestimmtes erfahren; kurz, Berklinger war verschwunden, als sei er auf dem Mantel des Mephistopheles davongeflogen. Ganz in Verzweiflung rannte Traugott in sein Haus zurück. "Sie ist fort - sie ist fort, die Geliebte meiner Seele — alles, alles verloren!" So schrie er, bei Herrn Elias Roos, der sich gerade auf dem Hausflur befand, vorbei nach seinem Zimmer stürzend. "Herr Gott des Himmels und der Erden", rief Herr Elias, indem er an seiner Perücke rückte und zupfte - "Christina! — Christina!" — schrie er dann, daß es weit im Hause schallte. "Christina - abscheuliche Person, mißratene Tochter!" Die Comptoirdiener stürzten heraus mit erschrockenen Gesichtern, der Buchhalter fragte bestürzt: "Aber Herr Roos!" Der schrie indessen immerfort: "Christina! — Christina!" — Mamsell Christina trat zur Haustür hinein und fragte, nachdem sie ihren breiten Strohhut etwas gelüpft hatte, lächelnd, warum denn der Herr Vater so ungemein brülle. "Solches unnützes Weglaufen verbitte ich mir", fuhr Herr Elias auf sie los, "der Schwiegersohn ist ein melancholischer Mensch und Inder Eifersucht türkisch gesinnt. Man bleibe fein zu Hause, sonst geschieht noch ein Unglück. Da sitzt nun der Associé drinnen und heult und greint über die vagabondierende Braut." Christina sah verwundert den Buchhalter an, der zeigte aber mit bedeutendem Blick ins Comptoir hinein nach dem Glasschrank, wo Herr Roos das Zimtwasser aufzubewahren pflegte. "Man gehe hinein und tröste den Bräutigam", sagte er davonschreitend. Christina begab sich auf ihr Zimmer, um sich nur ein wenig umzukleiden, die Wäsche herauszugeben, mit der Köchin das Nötige wegen des Sonntagbratens zu verabreden und, sich nebenher einige Stadtneuigkeiten erzählen zu lassen, dann wollte sie gleich sehen, was dem Bräutigam denn eigentlich fehle.

Du weißt, lieber Leser! daß wir alle in Traugotts Lage unsere bestimmten Stadien durchmachen müssen, wir können nicht anders. — Auf die Verzweiflung folgt ein dumpfes betäubtes Hinbrüten, in dem die Krisis eintritt, und dann

geht es über zu milderem Schmerz, in dem die Natur ihre Heilmittel wirkungsvoll anzubringen weiß.

In diesem Stadium des wehmütigen wohltuenden Schmerzes saß nun Traugott nach einigen Tagen auf dem Karlsberge und sah wieder in die Meereswellen, in die grauen Nebelwolken, die über Hela lagen. Aber nicht wie damals wollte er seiner künftigen Tage Schicksal erspähen; verschwunden war alles, was er gehofft, was er geahnt. "Ach", sprach er, "bittre, bittre Täuschung war mein Beruf zur Kunst; Felizitas war das Trugbild, das mich verlockte, zu glauben an dem, das nirgends lebte als in der wahnwitzigen Phantasie eines Fieberkranken. — Es ist aus! —ich gebe mich! — zurück in den Kerker! — es sei beschlossen!" — Traugott arbeitete wieder im Comptoir, und der Hochzeittag mit Christina wurde aufs neue angesetzt. Tages vorher stand Traugott im Artushof und schaute nicht ohne innere herzzerschneidende Wehmut die verhängnisvollen Gestalten des alten Bürgermeisters und seines Pagen an, als ihm der Mäkler, an den Berklinger damals das Papier verkaufen wollte, ins Auge hei. Ohne sich zu besinnen, beinahe unwillkürlich, schritt er auf ihn zu, fragend: "Kannten Sie wohl den wunderlichen Alten mit schwarzem krausem Bart, der vor einiger Zeit hier mit einem schönen Jüngling zu erscheinen pflegte?" — "Wie wollte ich nicht", antwortete der Mäkler, "das war der alte verrückte Maler Gottfried Berklinger." — "Wissen Sie denn nicht", fragte Traugott weiter, "wo er geblieben ist, wo er sich jetzt aufhält?" — "Wie wollte ich nicht", erwiderte der Mäkler; "der sitzt mit seiner Tochter schon seit geraumer Zeit ruhig in Sorrent." —"Mit seiner Tochter Felizitas?" rief Traugott so heftig und laut, daß alle sich nach ihm umdrehten. "Nun ja", fuhr der Mäkler ruhig fort, "das war ja eben der hübsche Jüngling, der dem Alten beständig folgte. Halb Danzig wußte, daß das ein Mädchen war, ungeachtet der alte verrückte Herr glaubte, kein Mensch würde das vermuten können. Es war ihm prophezeit worden, daß, sowie seine Tochter einen Liebesbund schlüsse, er eines

schmählichen Todes sterben müsse, darum wollte er. daß niemand etwas von ihr wissen solle, und brachte sie als Sohn in Kurs." — Erstarrt blieb Traugott stehen, dann rannte er durch die Straßen - fort durch das Tor ins Freie, ins Gebüsch hinein, laut klagend: "Ich Unglückseliger! — Sie war es, sie war es selbst, neben ihr habe ich gesessen tausendmal - ihren Atem eingehaucht, ihre zarten Hände gedrückt — in ihr holdes Auge geschaut - ihre süßen Worte gehört! — und nun ist sie verloren! — Nein! — nicht verloren. Ihr nach in das Land der Kunst - ich erkenne den Wink des Schicksals! — Fort - fort nach Sorrent!" — Er lief zurück nach Hause. Herr Elias Roos kam ihm laden Wurf, den packte er und riß ihn fort ins Zimmer. "Ich werde Christinen nimmermehr heiraten", schrie er, "sie sieht der Voluptas ähnlich und der Luxuries und hat Haare wie die Ira auf dem Bilde im Artushof. — O Felizitas, Felizitas! —holde Geliebte -wie streckst du so sehnend die Arme nach mir aus! —ich komme! — ich komme! — Und daß Sie es nur wissen, Elias", fuhr er fort, indem erden bleichen Kaufherrn aufs neue packte, "niemals sehen Sie mich wieder in Ihrem verdammten Comptoir. Was scheren mich Ihre vermaledeiten Hauptbücher und Strazzen, ich bin ein Maler, und zwar ein tüchtiger, Berklinger ist mein Meister, mein Vater, mein alles, und Sie sind nichts, gar nichts!" —Und damit schüttelte er den Elias; der schrie aber über alle Maßen: "Helft! helft! —herbei, ihr Leute - helft! der Schwiegersohn ist toll geworden - der Associé wütet - helft! helft!" —Alles aus dem Comptoir lief herbei; Traugott hatte den Elias losgelassen und war erschöpft auf den Stuhl gesunken. Alle drängten sich um ihn her, als er aber plötzlich aufsprang und mit wildem Blicke rief: "Was wollt ihr?" — da fuhren sie in einer Reihe, Herrn Elias in der Mitte, zur Tür hinaus. Bald darauf raschelte es draußen wie von seidenen Gewändern, und eine Stimme fragte: "Sind Sie wirklich verrückt geworden, lieber Herr Traugott, oder spaßen Sie nur?" Es war Christina. "Keineswegen bin ich toll geworden, lieber Engel", erwiderte Traugott, "aber ebensowenig spaße ich. Begeben Sie sich nur zur Ruhe, Teure, mit der morgenden Hochzeit ist es nichts, heiraten werde ich Sie nun und nimmermehr!" — "Es ist auch gar nicht vonnöten", sagte Christina sehr ruhig, "Sie gefallen mir so nicht sonderlich seit einiger Zeit, und gewisse Leute werden es ganz anders zu schätzen wissen, wenn sie mich, die hübsche reiche Mamsell Christina Roos, heimführen können als Braut! — Adieu!" Damit rauschte sie fort. Sie meint den Buchhalter, dachte Traugott. Ruhiger geworden, begab er sich zu Herrn Elias und setzte es ihm bündig auseinander, daß mit ihm nun einmal weder als Schwiegersohn noch als Associé etwas anzufangen sei. Herr Elias fügte sich in alles und versicherte herzlich froh im Comptoir ein Mal übers andere, daß er Gott danke, den aberwitzigen Traugott los zu sein, als dieser schon weit - weit von Danzig entfernt war.

Das Leben ging dem Traugott auf in neuem herrlichen Glanze, als er sich endlich in dem ersehnten Lande befand. In Rom nahmen ihn die deutschen Künstler auf in den Kreis ihrer Studien, und so geschah es, daß er dort länger verweilte, als es die Sehnsucht, Felizitas wiederzufinden, von der er bis jetzt rastlos fortgetrieben wurde, zuzulassen schien. Aber milder war diese Sehnsucht geworden, sie gestaltete sich im Innern wie ein wonnevoller Traum, dessen duftiger Schimmer sein ganzes Leben umfloß, so daß er all sein Tun und Treiben, das Üben seiner Kunst dem höhern überirdischen Reiche seliger Ahnungen zugewandt glaubte. Jede weibliche Gestalt, die er mit wackrer Kunstfertigkeit zu schaffen wußte, hatte die Züge der holden Felizitas. Den jungen Malern fiel das wunderliebliche Gesicht, dessen Original sie vergebens in Rom suchten, nicht wenig auf, sie bestürmten Traugott mit tausend Fragen, wo er denn die Holde geschaut. Traugott trug indessen Scheu, seine seltsame Geschichte von Danzig her zu erzählen, bis endlich einmal nach mehreren Monaten ein alter Freund aus Königsberg, namens Matuszewski, der in Rom sich auch der Malerei

ganz ergeben hatte, freudig versicherte: er habe das Mädchen, das Traugott in all seinen Bildern abkonterfeie, in Rom erblickt. Man kann sich Traugotts Entzücken denken; länger verhehlte er nicht, was ihn so mächtig zur Kunst, so unwiderstehlich nach Italien getrieben, und man fand Traugotts Abenteuer in Danzig so seltsam und anziehend, daß alle versprachen, eifrig der verlorenen Geliebten nachzuforschen. Matuszewskis Bemühungen waren die glücklichsten, er hatte bald des Mädchens Wohnung ausgeforscht und noch überdies erfahren, daß sie wirklich die Tochter eines alten armen Malers sei, der eben jetzt die Wände in der Kirche Trinita dcl Monte anstreiche. Das traf nun alles richtig zu. Traugott eilte sogleich mit Matuszewski nach jener Kirche und glaubte wirklich in dein Maler, der auf einem sehr hohen Gerüste stand, den alten Berklinger zu erkennen. Von dort eilten die Freunde, ohne von dein Alten bemerkt zu sein, nach seiner Wohnung. "Sie ist es", rief Traugott, als er des Malers Tochter erblickte, die, mit weiblicher Arbeit beschäftigt, auf dein Balkon stand. "Felizitas! — meine Felizitas!" — so laut aufjauchzend, stürzte Traugott ins Zimmer. Das Mädchen blickte ihn ganz erschrocken an. — Sie hatte die Züge der Felizitas, sie war es aber nicht. Wie mit tausend Dolchen durchbohrte die bittre Täuschung des armen Traugotts wunde Brust. — Matuszewski erklärte in wenig Worten dem Mädchen alles. Sie war in holder Verschämtheit mit hochroten Wangen und niedergeschlagenen Augen gar wunderlieblich anzuschauen, und Traugott, der sich schnell erst wieder entfernen wollte, blieb, als er nur noch einen schmerzhaften Blick auf das anmutige Kind geworfen, wie von sanften Banden festgehalten, stehen. Der Freund wußte der hübschen Donna allerlei Angenehmes zu sagen und so die Spannung zu mildern, in die der wunderliche Auftritt sie versetzt hatte. Donna zog "ihrer Augen dunklen Fransenvorhang" auf und schaute die Fremden mit süßem Lächeln an, indem sie sprach: der Vater werde bald von der Arbeit kommen und sich freuen, deutsche Künstler, die er sehr hochachte, bei sich zu finden. Traugott mußte gestehen, daß außer Felizitas kein Mädchen so ihn im Innersten aufgeregt hatte als Donna. Sie war in der Tat beinahe Felizitas selbst, nur schienen ihm die Züge stärker, bestimmter sowie das Haar dunkler. Es war dasselbe Bild, von Raffael und von Rubens gemalt. — Nicht lange dauerte es, so trat der Alte ein, und Traugott sah nun wohl, daß die Höhe des Gerüstes in der Kirche. auf dem der Alte stand, ihn sehr getäuscht hatte. Statt des kräftigen Berklinger war dieser alte Maler ein kleinlicher, magerer, furchtsamer, von Armut gedrückter Mann. Ein trügerischer Schlagschatten hatte inder Kirche seinem glatten Kinn Berklingers schwarzen krausen Bart gegeben. Im Kunstgespräch entwickelte der Alte gar tiefe praktische Kenntnisse, und Traugott beschloß, eine Bekanntschaft fortzusetzen, die, im ersten Moment so schmerzlich, nun immer wohltuender wurde. Donna, die Anmut, die kindliche Unbefangenheit selbst, ließ deutlich ihre Neigung zu dem jungen deutschen Maler merken. Traugott erwiderte das herzlich. Er gewöhnte sich so an das holde funfzehnjährige Mädchen, daß er bald ganze Tage bei der kleinen Familie zubrachte, seine Werkstätte in die geräumige Stube, die neben ihrer Wohnung leer stand, verlegte und endlich sich zu ihrem Hausgenossen machte. So verbesserte er auf zarte Weise ihre ärmliche Lage durch seinen Wohlstand, und der Alte konnte nicht anders denken, als Traugott werde Donna heiraten, welches er ihm denn unverhohlen äußerte. Traugott erschrak nicht wenig, denn nun erst dachte er deutlich daran, was aus dem Zweck seiner Reise geworden. Felizitas stand ihm wieder lebhaft vor Augen, und doch war es ihm, als könne er Donna nicht lassen. — Auf wunderbare Weise konnte er sich den Besitz der entschwundenen Geliebten als Frau nicht wohl denken. Felizitas stellte sich ihm dar als ein geistig Bild, das er nie verlieren, nie gewinnen könne. Ewiges geistiges Inwohnen der Geliebten - niemals physisches Haben und Besitzen. — Aber Donna kam ihm oft in Gedanken als sein liebes Weib, süße Schauer durchbebten ihn, eine sanfte Glut durchströmte seine Adern. und doch dünkte es ihm Verrat an seiner ersten Liebe, wenn er sich mit neuen unauflöslichen Banden fesseln ließe. — So kämpften in Traugotts Innerm die widersprechendsten Gefühle, er konnte sich nicht entscheiden, er wich dem Alten aus. Der glaubte aber, Traugott wolle ihn um sein liebes Kind betrügen. Dazu kam, daß er von Traugotts Heirat schon als von etwas Bestimmtem gesprochen und daß er nur in dieser Meinung das vertrauliche Verhältnis Donnas mit Traugott, das sonst das Mädchen in übeln Ruf bringen mußte, geduldet hatte. Das Blut des Italieners wallte auf in ihm, und er erklärte dem Traugott eines Tages bestimmt, daß er entweder Donna heiraten oder ihn verlassen müsse, da er auch nicht eine Stunde länger den vertraulichen Umgang dulden werde. Traugott wurde von dem schneidendsten Ärger und Verdruß ergriffen. Der Alte kam ihm vor wie ein gemeiner Kuppler, sein eignes Tun und Treiben erschien ihm verächtlich, daß er jemals von Felizitas gelassen, sündhaft und abscheulich. — Der Abschied von Donna zerriß ihm das Herz, aber er wand sich gewaltsam los aus den süßen Banden. Er eilte fort nach Neapel, nach Sorrent.

Ein Jahr verging in den strengsten Nachforschungen nach Berklinger und Felizitas, aber alles blieb vergebens, niemand wußte etwas von ihnen. Eine leise Vermutung, die sich nur auf eine Sage gründete, daß ein alter deutscher Maler sich vor mehreren Jahren in Sorrent blicken lassen, war alles, was er erhaschen konnte. Wie auf einem wogenden Meer hin und her getrieben, blieb Traugott endlich in Neapel, und so wie er wieder die Kunst fleißigen trieb, ging auch die Sehnsucht nach Felizitas linder und milder in seiner Brust auf. Aber kein holdes Mädchen, war sie nur in Gestalt, Gang und Haltung Dorinen im mindesten ähnlich, sah er. ohne auf das schmerzlichste den Verlust des süßen lieben Kindes zu fühlen. Beim Malen dachte er niemals an Donna, wohl aber an Felizitas, die blieb sein stetes Ideal. — Endlich erhielt er Briefe aus der Vaterstadt. Herr Elias

Roos hatte, wie der Geschäftsträger meldete, das Zeitliche gesegnet, und Traugotts Gegenwart war nötig, um sich mit dem Buchhalter, der Mamsell Christina geheiratet und die Handlung übernommen hatte, auseinanderzusetzen. Auf dem nächsten Wege eilte Traugott nach Danzig zurück. — Da stand er wieder im Artushof an der Granitsäule dem Bürgermeister und Pagen gegenüber, er gedachte des wunderbaren Abenteuers, das so schmerzlich in sein Leben gegriffen, und von tiefer hoffnungsloser Wehmut befangen, starrte er den Jüngling an, der ihn wie mit lebendigen Blicken zu begrüßen und mit holder süßer Stimme zu lispeln schien: "So konntest du doch von mir nicht lassen!"

..Seh ich denn recht? sind Ew. Edlen wirklich wieder da und frisch und gesund, gänzlich geheilt von der bösen Melancholie?" — So quäkte eine Stimme neben Traugott, es war der bekannte Mäkler. "Ich habe sie nicht gefunden", sprach Traugott unwillkürlich. "Wen denn? wen haben Ew. Edlen nicht gefunden?"fragte der Mäkler. "Den Maler Godofredus Berklinger und seine Tochter Felizitas", erwiderte Traugott, "ich habe sie in ganz Italien gesucht, in Sorrent wußte kein Mensch etwas von ihnen." Da sah ihn der Mäkler an mit starren Blicken und stammelte: "Wo haben Ew. Edlen den Maler und die Felizitas gesucht? — in Italien? in Neapel? in Sortent?" — "Nun ja doch, freilich!" rief Traugott voll Ärger. Da schlug aber der Mäkler ein Mal übers andere die Hände zusammen und schrie immer dazwischen: "Ei du meine Güte! ei du meine Güte! aber Herr Traugott, Herr Traugott!" — "Nun, was ist denn da viel sich darüber zu verwundern", sagte dieser; "gebärden Sie sich nur nicht so närrisch. Um der Geliebten willen reiset man wohl nach Sorrent. Ja, ja! ich liebte die Felizitas und zog ihr nach." Aber der Mäkler hüpfte auf einem Beine und schrie immerfort: "Ei du meine Güte! ei du meine Güte!", bis ihn Traugott festhielt und mit ernstem Blicke fragte: "Nun, so sagen Sie doch nur um des Himmels willen, was Sie so seltsam finden?" — "Aber, Herr Traugott", fing endlich

der Mäkler an. "wissen Sie denn nicht, daß der Herr Aloysius Brandstetter, unser verehrter Ratsherr und Gildeältester, sein kleines Landhaus dicht am Fuß des Karlsberges, im Tannenwäldchen, nach Konradshammer hin, ,Sorrent' genannt hat? Der kaufte dem Berklinger seine Bilder ab und nahm ihn nebst Tochter ins Haus, das heißt nach ,Sorrent' hinaus. Da haben sie gewohnt jahrelang, und Sie hätten, verehrter Herr Traugott, standen Sie nur mit Ihren beiden lieben Füßen mitten auf dem Karlsberge, in den Garten hineinschauen und die Mamsell Felizitas in wunderlichen altdeutschen Weiberkleidern, wie auf jenen Bildern dort, herumwandeln sehn können, brauchten gar nicht nach Italien zu reisen. Nachher ist der Alte - doch das ist eine traurige Geschichte!" — "Erzählen Sie", sprach Traugott dumpf. "Ja!" fuhr der Mäkler fort, "der junge Brandstetter kam von England zurück, sah die Mamsell Felizitas und verliebte sich in dieselbe. Er überraschte die Mamsell im Garten. fiel romanhafterweise vor ihr auf beide Knie und schwur, daß er sie heiraten und aus der tyrannischen Sklaverei ihres Vaters befreien wolle. Der Alte stand, ohne daß es die jungen Leute bemerkt hatten, dicht hinter ihnen, und in dem Augenblick, als Felizitas sprach: ,Ich will die Ihrige sein', fiel er mit einem dumpfen Schrei nieder und war mausetot. Er soll sehr häßlich ausgesehen haben - ganz blau und blutig, weil ihm, man weiß nicht wie, eine Pulsader gesprungen war. Den jungen Herrn Brandstetter konnte die Mamsell Felizitas nachher gar nicht mehr leiden und heiratete endlich den Hof- und Kriminalrat Mathesius in Marienwerder. Ew. Edlen können die Frau Kriminalrätin besuchen aus alter Anhänglichkeit. Marienwerder ist doch nicht so weit als das wahrhafte italienische Sorrent. Die liebe Frau soll sich wohl befinden und diverse Kinder in Kurs gesetzt haben." Stumm und starr eilte Traugott von dannen. Dieser Ausgang seines Abenteuers erfüllte ihn mit Grauen und Entsetzen. "Nein, sie ist es nicht", rief er, "sie ist es nicht - nicht Felizitas, das Himmelsbild, das in meiner Brust ein unendlich Sehnen entzündet, dem ich nachzog in ferne Lande, es vor mir und immer vor mir erblickend wie meinen in süßer Hoffnung funkelnden flammenden Glückstern! — Felizitas! — Kriminairätin Mathesius -ha, ha, ha! — Kriminairätin Mathesius —Traugott, von wildem Jammer erfaßt, lachte laut auf und lief wie sonst durchs Olivaer Tor, durch Langfuhr bis auf den Karlsberg. Er schaute hinein in "Sorrent", die Tränen stürzten ihm aus den Augen. "Ach", rief er, "wie tief, wie unheilbar tief verletzt dein bittrer Hohn, du ewig waltende Macht, des armen Menschen weiche Brust! Aber nein, nein! was klagt das Kind über heillosen Schmerz, das indic Flamme greift, statt sich zu laben an Licht und Wärme. — Das Geschick erfaßte mich sichtbarlich, aber mein getrübter Blick erkannte nicht das höhere Wesen, und vermessen wähnte ich, das, was, vom alten Meister geschaffen, wunderbar zum Leben erwacht, auf mich zutrat, sei meinesgleichen und ich könne es herabziehen in die klägliche Existenz des irdischen Augenblicks. Nein, nein, Felizitas, nie habe ich dich verloren, du bleibst mein immerdar, denn du selbst bist ja die schaffende Kunst, die in mir lebt. Nun - nun erst habe ich dich erkannt. Was hast du, was habe ich mit der Kriminalrätin Mathesius zu schaffen! — Ich meine, gar nichts — "Ich wüßte auch nicht, was Sie, verehrter Herr Traugott, mit der zu schaffen haben sollten", fiel hier eine Stimme ein. — Traugott erwachte aus einem Traum. Er befand sich, ohne zu wissen auf welche Weise, wieder im Artushöfe, an die Granitsäule gelehnt. Der, welcher jene Worte gesprochen, war Christinens Eheherr. Er überreichte dem Traugott einen eben aus Rom angelangten Brief. Matuszewski schrieb:

"Dorina ist hübscher und anmutiger als je, nur bleich vor Sehnsucht nach Dir, geliebter Freund! Sie erwartet Dich stündlich, denn fest steht es in ihrer Seele, daß Du sie nimmer lassen könntest. Sie liebt Dich gar inniglich. Wann sehen wir Dich wieder?" —

"Sehr lieb ist es mir", sprach Traugott, nachdem er dies gelesen, zu Christinens Eheherrn, "daß wir heute abgeschlossen haben, denn morgen reise ich nach Rom, wo mich eine geliebte Braut sehnlichst erwartet."



Die Freunde rühmten, als Cyprian geendigt, den heitern gemütlichen Ton, der in dem Ganzen herrsche. Theodor meinte nur, daß die Mädchen und Frauen wohl manches auszusetzen finden möchten. Nicht allein die blonde Christine mit ihrem glänzenden Küchengeschirr, sondern auch die Mystifikation des Helden, die Kriminalrätin Mathesius, das ganze Schlußstück, in dem eine tiefe Ironie liege, würde ihnen höchlich mißfallen. "Willst du", rief Lothar. "überall den Maßstab darnach, was den Weibern gefällt, anlegen, so mußt du alle Ironie, aus der sich der tiefste ergötzlichste Humor erzeugt, ganz verbannen; denn dafür haben sie, wenigstens in der Regel, ganz und gar keinen Sinn." — "Welches", erwiderte Theodor, "mir auch sehr wohl gefällt. Du wirst mir eingestehen, daß der Humor, der sich in unserer eigentümlichsten Natur aus den seltsamsten Kontrasten bildet, der weiblichen Natur ganz widerstrebt. Wir fühlen das nur zu lebhaft, sollten wir uns auch niemals ganz klare Rechenschaft darüber geben können. Denn sage mir, magst du auch einige Zeit Gefallen finden an dem Gespräch einer humoristischen Frau, würdest du sie dir als Geliebte oder Gattin wünschen?" — "Gewiß nicht", sprach Lothar, "wiewohl sich über dies weitschichtige Thema, inwiefern der Humor den Weibern anstehe oder nicht, noch gar vieles sagen ließe und ich mir deshalb hiemit ausdrücklich vorbehalte. bei guter Gelegenheit zu meinen würdigen Serapionsbrüdern so tief und weise darüber zu sprechen, als noch jemals irgendein rüstiger Psycholog darüber gesprochen haben mag. Übrigens frage ich dich, o Theodor! ob es denn unumgänglich vonnöten, sich jede vorzügliche Dame, mit der man sich in ein vernünftiges Gespräch eingelassen, als seine Geliebte oder Gattin zu denken?" —"Ich meine", erwiderte Theodor, "daß jede Annäherung an ein weibliches Wesen nur dann zu interessieren vermag, wenn man vor dem Gedanken, wenn es die Geliebte oder Gattin wäre, wenigstens nicht erschrickt, und daß, je mehr dieser Gedanke behaglichen Raum findet im Innern, um desto höher jenes Interesse steigt."

"Das ist", rief Ottmar lachend, "das ist eine von Theodors gewagtesten Behauptungen, die ich schon lange kenne. Er hat stets darnach gehandelt und schon mancher Vortrefflichen auf grobe Weise den Rücken gedreht, weil er auch auf ein paar Stunden sich nicht in sie zu verlieben vermochte. Als tanzender Student pflegte er ernsthaft zu versichern, jedem Mädchen, mit dem er sich herumschwenke, reiche er sein Herz dar, wenigstens auf die Zeit der Angloise oder Quadrille, und suche in den zierlichsten Pas das auszudrücken, wovon sein Mund schweigen müsse, seufze auch sehr, sowie es nur der Atem verstatte."

"Erlaubt", rief Theodor, "daß ich dies unserapiontische Gespräch unterbreche. Es wird spät, und das Herz würde es mir abdrücken, wenn ich euch nicht noch heute eine Erzählung vorlesen sollte, die ich gestern endigte. — Mir gab der Geist ein, ein sehr bekanntes und schon bearbeitetes Thema von einem Bergmann zu Falun auszuführen des breiteren, und ihr sollt entscheiden, ob ich wohlgetan, der Hingebung zu folgen oder nicht. — Der trübe Ton, den mein Gemälde erhalten mußte, wird vielleicht nicht gut abstechen gegen Cyprians heitres Bild. Verzeiht das und gönnt mir ein geneigtes Ohr!" Theodor las:


Die Bergwerke zu Falun

An einem heitern sonnenhellen Juliustage hatte sich alles Volk zu Götaborg auf der Reede versammelt. Ein reicher Ostindienfahrer, glücklich heimgekehrt aus dem fernen

Lande, lag im Klippahafen vor Anker und ließ die langen Wimpel, die schwedischen Flaggen, lustig hinauswehen in die azurblaue Luft, während Hunderte von Fahrzeugen, Böten, Kähnen, vollgepfropft mit jubelnden Seeleuten, auf den spiegelblanken Wellen der Götaelf hin und her schwammen und die Kanonen von Masthuggetorg ihre weithallenden Grüße hinüberdonnerten in das weite Meer. Die Herren von der Ostindischen Kompagnie wandelten am Hafen auf und ab und berechneten mit lächelnden Gesichtern den reichen Gewinn, der ihnen geworden, und hatten ihre Herzensfreude daran, wie ihr gewagtes Unternehmen nun mit jedem Jahr mehr und mehr gedeihe und das gute Götaborg im schönsten Handelsflor immer frischer und herrlicher emporblühe. Jeder sah auch deshalb die wackern Herrn mit Lust und Vergnügen an und freute sich mit ihnen, denn mit ihrem Gewinn kam ja Saft und Kraft in das rege Leben der ganzen Stadt.

Die Besatzung des Ostindienfahrers, wohl an die hundertundfünfzig Mann stark, landete in vielen Böten, die dazu ausgerüstet, und schickte sich an, ihren Hönsning zu halten. So ist nämlich das Fest geheißen, das bei derlei Gelegenheit von der Schiffsmannschaft gefeiert wird und das oft mehrere Tage dauert. Spielleute in wunderlicher bunter Tracht zogen vorauf mit Geigen, Pfeifen, Oboen und Trommeln, die sie wacker rührten, während andere allerlei lustige Lieder dazu absangen. Ihnen folgten die Matrosen zu Paar und Paar. Einige mit buntbebänderten Jacken und Hüten schwangen flatternde Wimpel, andere tanzten und sprangen, und alle jauchzten und jubelten, daß das helle Getöse weit in den Lüften erhallte.

So ging der fröhliche Zug fort über die Werfte - durch die Vorstädte bis nach der Hagavorstadt, wo in einem Gästgifvaregard tapfer geschmaust und gezecht werden sollte.

Da floß nun das schönste Öl in Strömen, und Bumper auf Bumper wurde geleert. Wie es denn nun bei Seeleuten, die heimkehren von weiter Reise, nicht anders der Fall ist,

allerlei schmucke Dirnen gesellten sich alsbald zu ihnen, der Tanz begann, und wilder und wilder wurde die Lust und lauter und toller der Jubel.

Nur ein einziger Seemann, ein schlanker hübscher Mensch, kaum mocht er zwanzig Jahr alt sein, hatte sich fortgeschlichen aus dem Getümmel und draußen einsam hingesetzt auf die Bank, die neben der Tür des Schenkhauses stand.

Ein paar Matrosen traten zu ihm, und einer von ihnen rief, laut auflachend: "Elis Fröbom! — Eus Fröbom! — Bist du mal wieder ein recht trauriger Narr worden und vertrödelst die schöne Zeit mit dummen Gedanken? — Hör, Eus, wenn du von unserm Hönsning wegbleibst, so bleib lieber auch ganz weg vom Schiff! — Ein ordentlicher tüchtiger Seemann wird doch so aus dir niemals werden. Mut hast du zwar genug, und tapfer bist du auch in der Gefahr, aber saufen kannst du gar nicht und behältst lieber die Dukaten in der Tasche, als sie hier gastlich den Landratzen zuzuwerfen. —Trink, Bursche! oder der Seeteufel Näcken - der ganze Troll soll dir über den Hals kommen!"

Eus Fröbom sprang hastig von der Bank auf, schaute den Matrosen an mit glühendem Blick, nahm den mit Branntwein bis an den Rand gefüllten Becher und leerte ihn mit einem Zuge. Dann sprach er: "Du siehst, Joens, daß ich saufen kann wie einer von euch, und ob ich ein tüchtiger Seemann bin, mag der Kapitän entscheiden. Aber nun halt dein Lästermaul und schier dich fort! — Mir ist eure wilde Tollheit zuwider. — Was ich hier draußen treibe, geht dich nichts an!" —"Nun, nun", erwiderte Joens, "ich weiß es ja, du bist ein Neriker von Geburt, und die sind alle trübe und traurig und haben keine rechte Lust am wackern Seemannsleben! — Wart nur, Eus, ich werde dir jemand herausschicken, du sollst bald weggebracht werden von der verhexten Bank, an die dich der Näcken genagelt hat."

Nicht lange dauerte es, so trat ein gar feines schmuckes Mädchen aus der Tür des Gästgifvaregard und setzte sich hin neben dem trübsinnigen Elis, der sich wieder, verstummt

und in sich gekehrt, auf die Bank niedergelassen hatte. Man sah es dem Putz, dem ganzen Wesen der Dirne wohl an, daß sie sich leider böser Lust geopfert, aber noch hatte das wilde Leben nicht seine zerstörende Macht geübt anden wunderlieblichen sanften Zügen ihres holden Antlitzes. Keine Spur von zurückstoßender Frechheit, nein, eine stille sehnsüchtige Trauer lag in dem Blick der dunkeln Augen.

"Elis! — wollt Ihr denn gar keinen Teil nehmen an der Freude Eurer Kameraden? —Regt sich denn gar keine Lust in Euch, da Ihr wieder heimgekommen und, der bedrohlichen Gefahr der trügerischen Meereswellen entronnen, nun wieder auf vaterländischem Boden steht?"

So sprach die Dirne mit leiser, sanfter Stimme, indem sie den Arm um den Jüngling schlang. Elis Fröbom, wie aus tiefern Traum erwachend, schaute dem Mädchen ins Auge, er faßte ihre Hand. er drückte sie an seine Brust, man merkte wohl, daß der Dirne süß Gelispel recht in sein Inneres hineingeklungen.

"Ach", begann er endlich, wie sich besinnend, "ach, mit meiner Freude, mit meiner Lust ist es nun einmal gar nichts. Wenigstens kann ich durchaus nicht einstimmen in die Toberei meiner Kameraden. Geh nur hinein, mein gutes Kind, juble und jauchze mit den andern, wenn du es vermagst, aber laß den trüben, traurigen Elis hier draußen allein; er würde dir nur alle Lust verderben. — Doch wart! — Du gefällst mir gar wohl und sollst an mich fein denken, wenn ich wieder auf dem Meere bin."

Damit nahm er zwei blanke Dukaten aus der Tasche, zog ein schönes ostindisches Tuch aus dem Busen und gab beides der Dirne. Der traten aber die hellen Tränen in die Augen, sie stand auf, sie legte die Dukaten auf die Bank, sie sprach: "Ach, behaltet doch nur Eure Dukaten, die machen mich nur traurig, aber das schöne Tuch, das will ich tragen Euch zum teuern Andenken, und Ihr werdet mich wohl übers Jahr nicht mehr finden, wenn Ihr Hönsning haltet hier in der Haga."

Damit schlich die Dirne. nicht mehr zurückkehrend in das Schenkhaus, beide Hände vors Gesicht gedrückt, fort über die Straße.

Aufs neue versank Eus Fröbom in seine düstre Träumerei und rief endlich, als der Jubel in der Schenke recht laut und toll wurde: "Ach, läg ich doch nur begraben indem tiefsten Meeresgrunde! — denn im Leben gibt's keinen Menschen mehr, mit dem ich mich freuen sollte!"

Da sprach eine tiefe rauhe Stimme dicht hinter ihm: "Ihr müßt gar großes Unglück erfahren haben, junger Mensch, daß Ihr Euch schon jetzt, da das Leben Euch erst recht aufgehen sollte, den Tod wünschet."

Eus schaute sich um und gewahrte einen alten Bergmann, der mit übereinandergeschlagenen Armen an die Plankenwand des Schenkhauses angelehnt stand und mit ernstem durchdringenden Blick auf ihn herabschaute.

Sowie Eus den Alten länger ansah, wurde es ihm, als trete in tiefer wilder Einsamkeit, in die er sich verloren geglaubt, eine bekannte Gestalt ihm freundlich tröstend entgegen. Er sammelte sich und erzählte, wie sein Vater ein tüchtiger Steuermann gewesen, aber in demselben Sturme umgekommen, aus dem er gerettet worden auf wunderbare Weise. Seine beiden Brüder wären als Soldaten geblieben in: der Schlacht, und er allein habe seine arme verlassene Mutter erhalten mit dem reichen Solde, den er nach jeder Ostindienfahrt empfangen. Denn Seemann habe er doch nun einmal, von Kindesbeinen an dazu bestimmt, bleiben müssen, und da habe es ihm ein großes Glück gedünkt, in den Dienst der Ostindischen Kompagnie treten zu können. Reicher als jemals sei diesmal der Gewinn ausgefallen, und jeder Matrose habe noch außer dem Sold ein gut Stück Geld erhalten, sodaß er, die Tasche voll Dukaten, in heller Freude hingelaufen sei nach dem kleinen Häuschen, wo seine Mutter gewohnt. Aber fremde Gesichter hätten ihn aus dem Fenster angeguckt, und eine junge Frau, die ihm endlich die Tür geöffnet und der er sich zu erkennen gegeben, habe ihm mit

kaltem rauhen Ton berichtet, daß seine Mutter schon vor drei Monaten gestorben und daß er die paar Lumpen, die, nachdem die Begräbniskosten berichtigt, noch übriggeblieben, auf dem Rathause in Empfang nehmen könne. Der Tod seiner Mutter zerreiße ihm das Herz, er fühle sich von aller Welt verlassen, einsam, wie auf ein ödes Riff verschlagen, hülfios, elend. Sein ganzes Leben auf der See erscheine ihm wie ein irres zweckloses Treiben, ja, wenn er daran denke, daß seine Mutter, vielleicht schlecht gepflegt von fremden Leuten, so ohne Trost sterben müssen, komme es ihm ruchlos und abscheulich vor, daß er überhaupt zur See gegangen und nicht lieber daheim geblieben, seine arme Mutter nährend und pflegend. Die Kameraden hätten ihn mit Gewalt fortgerissen zum Hönsning, und er selbst habe geglaubt, daß der Jubel um ihn her, ja auch wohl das starke Getränk seinen Schmerz betäuben werde, aber statt dessen sei es ihm bald geworden, als sprängen alle Adern in seiner Brust und er müsse sich verbluten.

"Ei", sprach der alte Bergmann, "ei, du wirst bald wieder in See stechen, Elis, und dann wird dein Schmerz vorüber sein in weniger Zeit. Alte Leute sterben, das ist nun einmal nicht anders, und deine Mutter hat ja, wie du selbst gestehst, nur ein armes mühseliges Leben verlassen."

"Ach", erwiderte Elis, "ach, daß niemand an meinen Schmerz glaubt, ja daß man mich wohl albern und töricht schilt, das ist es ja eben, was mich hinausstößt aus der Welt. —Auf die See mag ich nicht mehr, das Leben ekelt mich an. Sonst ging mir wohl das Herz auf, wenn das Schiff, die Segel wie stattliche Schwingen ausbreitend, über das Meer dahinfuhr und die Wellen in gar lustiger Musik plätscherten und sausten und der Wind dazwischen pfiff durch das knätternde Tauwerk. Da jauchzte ich fröhlich mit den Kameraden auf dem Verdeck, und dann - hatte ich in stiller dunkler Mitternacht die Wache, da gedachte ich der Heimkehr und meiner guten alten Mutter, wie die sich nun wieder freuen würde, wenn Elis zurückgekommen! — Hei! da konnt ich

wohl jubeln auf dem Hönsning, wenn ich dem Mütterchen die Dukaten in den Schoß geschüttet, wenn ich ihr die schönen Tücher und wohl noch manch anderes Stück seltner Ware aus dem fernen Lande hingereicht. Wenn ihr dann vor Freude die Augen hell aufleuchteten, wenn sie die Hände ein Mal über das andere zusammenschlug, ganz erfüllt von Vergnügen und Lust, wenn sie geschäftig hin und her trippelte und das schönste Aehl herbeiholte, das sie für Eus aufbewahrt. Und saß ich denn nun abends bei der Alten, dann erzählte ich ihr von den seltsamen Leuten, mit denen ich verkehrt, von ihren Sitten und Gebräuchen, von allem Wunderbaren, was mir begegnet auf der langen Reise. Sie hatte ihre große Lust daran und redete wieder zu mir von den wunderbaren Fahrten meines Vaters im höchsten Norden und tischte mir dagegen manches schauerliche Seemannsmärlein auf, das ich schon hundertmal gehört und an dem ich mich doch gar nicht satt hören konnte! —Ach! wer bringt mir diese Freude wieder! —Nein, niemals mehr auf die See. —Was sollt ich unter den Kameraden, die mich nur aushöhnen würden, und-wo-sollt-ich-Lust-hernehmen-zur-Arbeit, die mir nur ein mühseliges Treiben um nichts dünken würde

"Ich höre Euch", sprach der Alte, als Eus schwieg, "ich höre Euch mit Vergnügen reden, junger Mensch, so wie ich schon seit ein paar Stunden, ohne daß Ihr mich gewahrtet, Euer ganzes Betragen beobachtete und meine Freude daran hatte. Alles, was Ihr tatet, was Ihr spracht, beweist, daß Ihr ein tiefes, in sich selbst gekehrtes, frommes, kindliches Gemüt habt, und eine schönere Gabe konnte Euch der hohe Himmel gar nicht verleihen. Aber zum Seemann habt Ihr Eure Lebetage gar nicht im mindesten getaugt. Wie sollte Euch stillem, wohl gar zum Trübsinn geneigten Neriker (daß Ihr das seid, seh ich an den Zügen Eures Gesichts, an Eurer ganzen Haltung), wie sollte Euch das wilde unstete Leben auf der See zusagen? Ihr tut wohl daran, daß Ihr dies Leben aufgebt für immer. Aber die Hände werdet Ihr doch nicht in den Schoß legen? — Folgt meinem Rat,

Eus Fröbom! geht nach Falun, werdet ein Bergmann. Ihr seid jung, rüstig, gewiß bald ein tüchtiger Knappe, dann Hauer, Steiger und immer höher herauf. Ihr habt tüchtige Dukaten in der Tasche, die legt Ihr an, verdient dazu, kommt wohl gar zum Besitz eines Bergmannshemmans, habt Eure eigne Kuxe inder Grube. Folgt meinem Rat, Eus Fröborn, werdet ein Bergmann

Eus Fröbom erschrak beinahe über die Worte des Alten. "Wie", rief er, "was ratet Ihr mir? Von der schönen freien Erde. aus dem heitern sonnenhellen Himmel, der mich umgibt, labend, erquickend, soll ich hinaus -hinab indic schauerliche Höllentiefe und, dem Maulwurf gleich, wühlen und wühlen nach den Erzen und Metallen, schnöden Gewinns halber?"

"So ist", rief der Alte erzürnt, "so ist nun das Volk, es verachtet das, was es nicht zu erkennen vermag. Schnöder Gewinn! Als ob alle grausame Quälerei auf der Oberfläche der Erde, wie sie der Handel herbeiführt, sich edler gestalte als die Arbeit des Bergmanns, dessen Wissenschaft, dessen unverdrossenem Fleiß die Natur ihre geheimsten Schatzkammern erschließt. Du sprichst von schnödem Gewinn, Eus Fröbom! —ei, es möchte hier wohl noch Höheres gelten. Wenn der blinde Maulwurf in blindem Instinkt die Erde durchwühlt, so möcht es wohl sein, daß in der tiefsten Teufe bei dem schwachen Schimmer des Grubenlichts des Menschen Auge hellsehender wird, ja daß es endlich, sich mehr und mehr erkräftigend, in dem wunderbaren Gestein die Abspieglung dessen zu erkennen vermag, was oben über den Wolken verborgen. Du weißt nichts von dem Bergbau, Elis Fröbom, laß dir davon erzählen."

Mit diesen Worten setzte sich der Alte hin auf die Bank neben Eus und begann sehr ausführlich zu beschreiben, wie es bei dem Bergbau hergebe, und mühte sich, mit den lebendigsten Farben dem Unwissenden alles recht deutlich vor Augen zu bringen. Er kam auf die Bergwerke von Falun, in denen er, wie er sagte, seit seiner frühen Jugend gearbeitet,

er beschrieb die große Tagesöffnung mit den schwarzbraunen Wänden, die dort anzutreffen, er sprach von dem unermeßlichen Reichtum der Erzgrube. an dem schönsten Gestein. Immer lebendiger und lebendiger wurde seine Rede, immer glühender sein Blick. Er durchwanderte die Schachten wie die Gänge eines Zaubergartens. Das Gestein lebte auf, die Fossile regten sich, der wunderbare Pyrosmalith, der Almandin blitzten im Schein der Grubenlichter - die Bergkristalle leuchteten und flimmerten durcheinander.

Elis horchte hoch auf; des Alten seltsame Weise, von den unterirdischen Wundern zu reden, als stehe er gerade in ihrer Mitte, erfaßte sein ganzes Ich. Er fühlte seine Brust beklemmt, es war ihm, als sei er schon hinabgefahren mit dem Alten in die Tiefe und ein mächtiger Zauber halte ihn unten fest, so daß er nie mehr das freundliche Licht des Tages schauen werde. Und doch war es ihm wieder, als habe ihm der Alte eine neue unbekannte Welt erschlossen, in die er hineingehöre, und aller Zauber dieser Welt sei ihm schon zur frühsten Knabenzeit in seltsamen geheimnisvollen Ahnungen aufgegangen.

"Ich habe", sprach endlich der Alte, "ich habe Euch, Eus Fröbom, alle Herrlichkeit eines Standes dargetan, zu dem Euch die Natur recht eigentlich bestimmte. Geht nur mit Euch selbst zu Rate und tut dann, wie Euer Sinn es Euch eingibt!"

Damit sprang der Alte hastig auf von der Bank und schritt von dannen, ohne Elis weiter zu grüßen oder sich nach ihm umzuschauen. Bald war er seinem Blick entschwunden.

In dem Schenkhause war es indessen still worden. Die Macht des starken Aehls (Biers), des Branntweins hatte gesiegt. Manche vom Schiffsvolk waren fortgeschlichen mit ihren Dirnen, andere lagen in den Winkeln und schnarchten. Eus, der nicht mehr einkehren konnte in das gewohnte Obdach, erhielt auf sein Bitten ein kleines Kämmerlein zur Schlafstelle.

Kaum hatte er sich, müde und matt, wie er war, hingestreckt auf sein Lager, als der Traum über ihm seine Fittiche rührte. Es war ihm, als schwämme er in einem schönen Schiff mit vollen Segeln auf dem spiegelblanken Meer und über ihm wölbe sich ein dunkler Wolkenhimmel. Doch wie er nun in die Wellen hinabschaute, erkannte er bald, daß das, Waser für das Meer gehalten, eine feste durchsichtige funkelnde Masse war, in deren Schimmer das ganze Schiff auf wunderbare Weise zerfloß, so daß er auf dem Kristallboden stand und über sich ein Gewölbe von schwarz flimmerndem Gestein erblickte. Gestein war das nämlich, was er erst für den Wolkenhimmel gehalten. Von unbekannter Macht fortgetrieben, schritt er vorwärts, aber in dem Augenblick regte sich alles um ihn her, und wie kräuselnde Wogen erhoben sich aus dem Boden wunderbare Blumen und Pflanzen von blinkendem Metall, die ihre Blüten und Blätter aus der tiefsten Tiefe emporrankten und auf anmutige Weise ineinander verschlangen. Der Boden verso klar, daß Elis die Wurzeln der Pflanzen deutlich erkennen konnte, aber bald immer tiefer mit dem Blick eindringend, erblickte er ganz unten -unzählige holde jungfräuliche Gestalten, die sich mit weißen glänzenden Armen umschlungen hielten, und aus ihren Herzen sproßten jene Wurzeln, jene Blumen und Pflanzen empor, und wenn die Jungfrauen lächelten, ging ein süßer Wohllaut durch das weite Gewölbe, und höher und freudiger schossen die wunderbaren Metallblüten empor. Ein unbeschreibliches Gefühl von Schmerz und Wollust ergriff den Jüngling, eine Welt von Liebe, Sehnsucht, brünstigem Verlangen ging auf in seinem Innern. "Hinab - hinab zu euch", rief er und warf sich mit ausgebreiteten Armen auf den kristallenen Boden nieder. Aber der wich unter ihm, und er schwebte wie in schimmerndem Äther. "Nun, Elis Fröbom, wie gefällt es dir in dieser Herrlichkeit?" — So rief eine starke Stimme. Eus gewahrte neben sich den alten Bergmann, aber sowie er ihn mehr und mehr anschaute, wurde er zur Riesengestalt, aus glühendem Erz gegossen.

Eus wollte sich entsetzen, aber in dem Augenblick leuchtete es auf aus der Tiefe wie ein jäher Blitz, und das ernste Antlitz einer mächtigen Frau wurde sichtbar. Eus fühlte, wie das Entzücken in seiner Brust, immer steigend und steigend, zur zermalmenden Angst wurde. Der Alte hatte ihn umfaßt und rief: "Nimm dich in acht, Eus Fröbom, das ist die Königin, noch magst du heraufschauen." —Unwillkürlich drehte er das Haupt und wurde gewahr, wie die Sterne des nächtlichen Himmels durch eine Spalte des Gewölbes leuchteten. Eine sanfte Stimme rief wie in trostlosem Weh seinen Namen. Es war die Stimme seiner Mutter. Er glaubte ihre Gestalt zu schauen oben an der Spalte. Aber es war ein holdes junges Weib, die ihre Hand tief hinabstreckte in das Gewölbe und seinen Namen rief. "Trage mich empor", rief er dem Alten zu, "ich gehöre doch der Oberwelt an und ihrem freundlichen Himmel." — "Nimm dich in acht", sprach der Alte dumpf, "nimm dich in acht, Fröbom! — sei treu der Königin, der du dich ergeben." Sowie nun aber der Jüngling wieder hinabschaute in das starre Antlitz der mächtigen Frau, fühlte er, daß sein Ich zerfloß in dem glänzenden Gestein. Er kreischte auf in namenloser Angst und erwachte aus dem wunderbaren Traum, dessen Wonne und Entsetzen tief in seinem Innern widerklang.

"Es konnte", sprach Elis, als er sich mit Mühe gesammelt, zu sich selbst, "es konnte wohl nicht anders sein, es mußte mir solch wunderliches Zeug träumen. Hat mir doch der alte Bergmann so viel erzählt von der Herrlichkeit der unterirdischen Welt, daß mein ganzer Kopf davon erfüllt ist, noch in meinem ganzen Leben war mir nicht so zumute als eben jetzt. — Vielleicht träume ich noch fort -. Nein, nein - ich bin wohl nur krank, hinaus ins Freie, der frische Hauch der Seeluft wird mich heilen!"

Er raffte sich auf und rannte nach dem Klippahafen, wo der Jubel des Hönsnings aufs neue sich erhob. Aber bald gewahrte er, wie alle Lust an ihm vorüberging, wie er keinen Gedanken in der Seele festhalten konnte, wie Ahnungen,

Wünsche, die er nicht zu nennen vermochte, sein Inneres durchkreuzten. — Er dachte mit tiefer Wehmut an seine verstorbene Mutter, dann war es ihm aber wieder, als sehne er sich nur, noch einmal jener Dirne zu begegnen, die ihn gestern so freundlich angesprochen. Und dann fürchtete er wieder, träte auch die Dirne aus dieser oder jener Gasse ihm entgegen, so würd es am Ende der alte Bergmann sein, vor dem er sich, selbst konnte er nicht sagen warum, entsetzen müsse. Und doch hätte er wieder auch von dem Alten sich gern mehr erzählen lassen von den Wundern des Bergbaues.

Von all diesen treibenden Gedanken hinund her geworfen, schaute er hinein in das Wasser. Da wollt es ihm bedünken, als wenn die silbernen Wellen erstarrten zum funkelnden Glimmer, in dem nun die schönen großen Schiffe zerfließen, als wenn die dunklen Wolken, die eben heraufzogen an dem heitern Himmel, sich hinabsenken würden und verdichten zum steinernen Gewölbe. — Er stand wieder in seinem Traum, er schaute wieder das ernste Antlitz der mächtigen Frau, und die verstörende Angst des sehnsüchtigsten Verlangens erfaßte ihn aufs neue.

Die Kameraden rüttelten ihn auf aus der Träumerei, er mußte ihrem Zuge folgen. Aber nun war es, als flüstre eine unbekannte Stimme ihm unaufhörlich ins Ohr: "Was willst du noch hier? —fort! — fort - in den Bergwerken zu Falun ist deine Heimat. — Da geht alle Herrlichkeit dir auf, von der du geträumt -fort, fort nach Falun!"

Drei Tage trieb sich Eus Fröbom in den Straßen von Götaborg umher, unaufhörlich verfolgt von den wunderlichen Gebilden seines Traums, unaufhörlich gemahnt von der unbekannten Stimme.

Am vierten Tage stand Eus an dem Tore, durch welches der Weg nach Gefle führt. Da schritt eben ein großer Mann vor ihm hindurch. Eus glaubte den alten Bergmann erkannt zu haben und eilte, unwiderstehlich fortgetrieben, ihm nach, ohne ihn zu erreichen.

Rastlos ging es nun fort und weiter fort.

Eus wußte deutlich, daß er sich auf dem Wege nach Falun befinde, und eben dies beruhigte ihn auf besondere Weise, denn gewiß war es ihm, daß die Stimme des Verhängnisses durch den alten Bergmann zu ihm gesprochen, der ihn nun auch seiner Bestimmung entgegenführe.

In der Tat sah er auch manchmal, vorzüglich wenn der Weg ihm ungewiß werden wollte, den Alten, wie er aus einer Schlucht, aus dickem Gestrüpp, aus dunklem Gestein plötzlich hervortrat und vor ihm, ohne sich umzuschauen, daherschritt, dann aber schnell wieder verschwand.

Endlich nach manchem mühselig durchwanderten Tage erblickte Eus in der Ferne zwei große Seen, zwischen denen ein dicker Dampf aufstieg. Sowie er mehr und mehr die Anhöhe westlich erklimmte, unterschied er indem Rauch ein paar Türme und schwarze Dächer. Der Alte stand vor ihm riesengroß, zeigte mit ausgestrecktem Arm hin nach dem Dampf und verschwand wieder im Gestein.

"Das ist Falun rief Eus, "das ist Falun, das Ziel meiner Reise!" — Er hatte recht, denn Leute, die ihm hinterherwanderten, bestätigten es, daß dort zwischen den Seen Runn und Warpann die Stadt Falun liege und daß er soeben den Guffrisberg hinansteige, wo die große Pinge oder Tagesöffnung der Erzgrube befindlich.

Elis Fröbom schritt guten Mutes vorwärts, als er aber vor dem ungeheuern Höllenschlunde stand, da gefror ihm das Blut in den Adern, und er erstarrte bei dem Anblick der fürchterlichen Zerstörung.

Bekanntlich ist die große Tagesöffnung der Erzgrube zu Falun an zwölfhundert Fuß lang, sechshundert Fuß breit und einhundertundachtzig Fuß tief. Die schwarzbraunen Seitenwände gehen anfangs größtenteils senkrecht nieder; dann verflachen sie sich aber gegen die mittlere Tiefe durch ungeheuern Schutt und Trümmerhalden. In diesen und an den Seitenwänden blickt hin und wieder die Zimmerung alter Schächte hervor, die aus starken, dicht aufeinandergelegten

und an den Enden ineinandergefügten Stämmen nach Art des gewöhnlichen Blockhäuserbaues aufgeführt sind. Kein Baum, kein Grashalm sproßt in dem kahlen zerbröckelten Steingeklüft, und in wunderlichen Gebilden, manchmal riesenhaften versteinerten Tieren, manchmal menschlichen Kolossen ähnlich, ragen die zackigen Felsenmassen ringsumher empor. Im Abgrunde liegen in wilder Zerstörung durcheinander Steine, Schlacken - ausgebranntes Erz, und ein ewiger betäubender Schwefeldunst steigt aus der Tiefe, als würde unten der Höllensud gekocht, dessen Dämpfe alle grüne Lust der Natur vergiften. Man sollte glauben, hier sei Dante herabgestiegen und habe den Inferno geschaut mit all seiner trostlosen Qual, mit all seinem Entsetzen *.

Als nun Eus Fröbom hinabschaute in den ungeheueren Schlund, kam ihm in den Sinn, was ihm vor langer Zeit der alte Steuermann seines Schiffs erzählt. Dem war es. als er einmal im Fieber gelegen, plötzlich gewesen, als seien die Wellen des Meeres verströmt und unter ihm habe sich der unermeßliche Abgrund geöffnet, so daß er die scheußlichen Untiere der Tiefe erblicke, die sich zwischen Tausenden von seltsamen Muscheln, Korallenstauden. zwischen wunderlichem Gestein in häßlichen Verschlingungen hin und her wälzten, bis sie mit aufgesperrtem Rachen, zum Tode erstarrt, liegengeblieben. Ein solches Gesicht, meinte der alte Seemann, bedeute den baldigen Tod in den Wellen, und wirklich stürzte er auch bald darauf unversehens von dem Verdeck in das Meer und war rettungslos verschwunden. Daran dachte Elis, denn wohl bedünkte ihm der Abgrund wie der Boden der von den Wellen verlassenen See, und das schwarze Gestein, die blaulichen, roten Schlacken des Erzes schienen ihm abscheuliche Untiere, die ihre häßlichen Polypenarme nach ihm ausstreckten. — Es geschah, daß eben einige Bergleute aus der Teufe emporstiegen, die in ihrer 

* Siehe die Beschreibung der großen Pinge zu Falun in Hausmanns "Reise durch Skandinavien', V. Teil, Seite 96ff.

dunklen Grubentracht, mit ihren schwarz verbrannten Gesichtern wohl anzusehen waren wie häßliche Unholde, die. aus der Erde mühsam hervorgekrochen, sich den Weg bahnen wollten bis auf die Oberfläche.

Eus fühlte sich von tiefen Schauern durchbebt und, was dem Seemann noch niemals geschehen, ihn ergriff der Schwindel; es war ihm, als zögen unsichtbare Hände ihn hinab in den Schlund.

Mit geschlossenen Augen rannte er einige Schritte fort, und erst als er weit von der Pinge den Guffrisberg wieder hinabstieg und er hinaufblickte zum heitern sonnenhellen Himmel, war ihm alle Angst jenes schauerlichen Anblicks entnommen. Er atmete wieder frei und rief recht aus tiefer Seele: "0 Herr meines Lebens, was sind alle Schauer des Meeres gegen das Entsetzen, was dort in dem öden Steingeklüft wohnt! — Mag der Sturm toben, mögen die schwarzen Wolken hinabtauchen in die brausenden Wellen, bald siegt doch wieder die schöne herrliche Sonne, und vor ihrem freundlichen Antlitz verstummt das wilde Getöse, aber nie dringt ihr Blick in jene schwarze Höhlen, und kein frischer Frühlingshauch erquickt dort unten jemals die Brust. —Nein, zu euch mag ich mich nicht gesellen, ihr schwarzen Erdwürmer, niemals würd ich mich eingewöhnen können in euer trübes Leben

Eus gedachte in Falun zu übernachten und dann mit dem frühesten Morgen seinen Rückweg anzutreten nach Götaborg.

Als er auf den Marktplatz, der Helsingtorget geheißen, kam, fand er eine Menge Volks versammelt.

Ein langer Zug von Bergleuten in vollem Staat, mit Grubenlichtern in den Händen, Spielleute vorauf, hielt eben vor einem stattlichen Hause. Ein großer schlanker Mann von mittleren Jahren trat heraus und schaute mit mildem Lächeln umher. An dem freien Anstande, an der offnen Stirn. an den dunkelblau leuchtenden Augen mußte man den echten Dalkarl erkennen. Die Bergleute schlossen einen Kreis

um ihn, jedem schüttelte er treuherzig die Hand, mit jedem sprach er freundliche Worte.

Elis Fröbom erfuhr auf Befragen, daß der Mann Pehrson Dahlsjö sei, Masmeister, Altermann und Besitzer einer schönen Bergsfrälse bei Stora-Kopparberg. Bergsfrälse sind in Schweden Ländereien geheißen, die für die Kupfer- und Silberbergwerke verliehen wurden. Die Besitzer solcher Frälsen haben Kuxe in den Gruben, für deren Betrieb sie zu sorgen gehalten sind.

Man erzählte dem Eus weiter, daß eben heute der Bergsthing (Gerichtstag) geendigt und daß dann die Bergleute herumzögen bei dem Bergmeister, dem Hüttenmeister und den Altermännern, überall aber gastlich bewirtet würden.

Betrachtete Eus die schönen stattlichen Leute mit den freien freundlichen Gesichtern, so konnte er nicht mehr an jene Erdwürmer in der großen Pinge denken. Die helle Fröhlichkeit, die, als Pehrson Dahlsjö hinaustrat, wie aufs neue angefacht, durch den ganzen Kreis aufloderte, war wohl ganz anderer Art als der wilde tobende Jubel der Seeleute beim Hönsning.

Dem stillen ernsten Elis ging die Art, wie sich diese Bergmänner freuten, recht tief ins Herz. Es wurde ihm unbeschreiblich wohl zumute, aber der Tränen konnt er sich vor Rührung kaum enthalten, als einige der jüngeren Knappen ein altes Lied anstimmten, das in gar einfacher, in Seele und Gemüt dringender Melodie den Segen des Bergbaues pries.

Als das Lied geendet, öffnete Pehrson Dahlsjö die Türe seines Hauses, und alle Bergleute traten nacheinander hinein. Eus folgte unwillkürlich und blieb an der Schwelle stehen, so daß er den ganzen geräumigen Flur übersehen konnte, in dem die Bergleute auf Bänken Platz nahmen. Ein tüchtiges Mahl stand auf einem Tisch bereitet.

Nun ging die hintere Türe dem Elis gegenüber auf, und eine holde, festlich geschmückte Jungfrau trat hinein. Hoch und schlank gewachsen, die dunklen Haare in vielen Zöpfen über der Scheitel aufgeflochten, das nette schmucke Mieder

mit reichen Spangen zusammengenestelt, ging sie daher in der höchsten Anmut der blühendsten Jugend. Alle Bergleute standen auf, und ein leises freudiges Gemurmel lief durch die Reihen: "Ulla Dahlsjö — Ulla Dahlsjö! — Wie hat Gott gesegnet unsern wackern Altermann mit dem schönen frommen Himmelskinde!" — Selbst den ältesten Bergleuten funkelten die Augen, als Ulla ihnen so wie allen übrigen die Hand bot zum freundlichen Gruß. Dann brachte sie schöne silberne Krüge, schenkte treffliches Ach!, wie es denn nun in Falun bereitet wird, ein und reichte es dar den frohen Gästen, indem aller Himmelsglanz der unschuldvollsten Unbefangenheit ihr holdes Antlitz überstrahlte.

Sowie Eus Fröbom die Jungfrau erblickte, war es ihm, als schlüge ein Blitz durch sein Innres und entflamme alle Himmelslust. allen Liebesschmerz - alle Inbrunst, die in ihm verschlossen. — Ulla Dahlsjö war es, die ihm in dem verhängnisvollen Traum die rettende Hand geboten; er glaubte nun die tiefe Deutung jenes Traums zu erraten und pries, des alten Bergmanns vergessend, das Schicksal, dem er nach Falun gefolgt.

Aber dann fühlte er sich, auf der Türschwelle stehend, ein unbeachteter Fremdling, elend, trostlos, verlassen und wünschte, er sei gestorben, ehe er Ulla Dahlsjö geschaut, da er doch nun vergehen müsse in Liebe und Sehnsucht. Nicht das Auge abzuwenden vermochte er von der holden Jungfrau, und als sie nun bei ihm ganz nahe vorüberstreifte, rief er mit leiser bebender Stimme ihren Namen. Ulla schaute sich um und erblickte den armen Elis, der, glühende Röte im ganzen Gesicht, mit niedergesenktem Blick dastand - erstarrt -keines Wortes mächtig.

Ulla trat auf ihn zu und sprach mit süßem Lächeln: "Ei, Ihr seid ja wohl ein Fremdling, lieber Freund! das gewahre ich an Eurer seemännischen Tracht! — Nun! — warum steht Ihr denn so auf der Schwelle? —Kommt doch nur hinein und freut Euch mit uns — Damit nahm sie ihn bei der Hand, zog ihn in den Flur und reichte ihm einen vollen Krug Achl!

"Trinkt", sprach sie, "trinkt, mein lieber Freund, auf guten gastlichen Willkommen!"

Dem Eus war es, als läge er in dem wonnigen Paradiese eines herrlichen Traums, aus dem er gleich erwachen und sich unbeschreiblich elend fühlen werde. Mechanisch leerte er den Krug. In dem Augenblick trat Pehrson Dahlsjö an ihn heran und fragte, nachdem er ihm die Hand geschüttelt zum freundlichen Gruß, von wannen er käme und was ihn hingebracht nach Falun.

Elis fühlte die wärmende Kraft des edlen Getränks in allen Adern. Dem wackern Pehrson ins Auge blickend, wurde ihm heiter und mutig zu Sinn. Er erzählte, wie er, Sohn eines Seemanns, von Kindesbeinen an auf der See gewesen, wie er, eben von Ostindien zurückgekehrt, seine Mutter, die er mit seinem Solde gehegt und gepflegt, nicht mehr am Leben gefunden, wie er sich nun ganz verlassen, auf der Welt fühle, wie ihm nun das wilde Leben auf der See ganz und gar zuwider geworden, wie seine innerste Neigung ihn zum Bergbau treibe und wie er hier in Falun sich mühen werde, als Knappe unterzukommen. Das letzte, so sehr allem entgegen, was er vor wenigen Augenblicken beschlossen, fuhr ihm ganz unwillkürlich heraus, es war ihm, als hätte er dem Altermann gar nichts anders eröffnen können, ja als wenn er eben seinen innersten Wunsch ausgesprochen, an den er bisher selbst nur nicht geglaubt.

Pehrson Dahlsjö sah den Jüngling mit sehr ernstem Blick an, als wollte er sein Innerstes durchschauen, dann sprach er: "Ich mag nicht vermuten, Elis Fröbom, daß bloßer Leichtsinn Euch von Euerem bisherigen Beruf forttreibt und daß Ihr nicht alle Mühseligkeit, alle Beschwerde des Bergbaues vorher reiflich erwägt habt, ehe Ihr den Entschluß gefaßt, sich ihm zu ergeben. Es ist ein alter Glaube bei uns, daß die mächtigen Elemente, in denen der Bergmann kühn waltet, ihn vernichten, strengt er nicht sein ganzes Wesen an, die Herrschaft über sie zu behaupten, gibt er noch andern Gedanken Raum, die die Kraft schwächen, welche er ungeteilt

der Arbeit in Erd und Feuer zuwenden soll. Habt Ihr aber Euern innern Beruf genugsam geprüft und ihn bewährt gefunden, so seid Ihr zur guten Stunde gekommen. In meiner Kuxe fehlt es an Arbeitern. Ihr könnt, wenn Ihr wollt, nun gleich bei mir bleiben und morgenden Tages mit dem Steiger anfahren, der Euch die Arbeit schon anweisen wird."

Das Herz ging dem Elis auf bei Pehrson Dahlsjös Rede. Er dachte nicht mehr an die Schrecken des entsetzlichen Höllenschlundes, in den er geschaut. Daß er nun die holde Ulla täglich sehen, daß er mit ihr unter einem Dache wohnen werde, das erfüllte ihn mit Wonne und Entzücken; er gab den süßesten Hoffnungen Raum.

Pehrson Dahlsjö tat deh Bergleuten kund, wie sich eben ein junger Knappe zum Bergdienst bei ihm gemeldet, und stellte ihnen den Elis Fröbom vor.

Alle schauten wohlgefällig auf den rüstigen Jüngling und meinten, mit seinem schlanken kräftigen Gliederbau sei er ganz zum Bergmann geboren, und an Fleiß und Frömmigkeit werd es ihm gewiß auch nicht fehlen.

Einer von-den--Bergleuten, schon hoch in--Jahren, näherte sich und schüttelte ihm treuherzig die Hand, indem er sagte, daß er der Obersteiger in der Kuxe Pehrson Dahlsjös sei und daß er sich's recht angelegen sein lassen werde, ihn sorglich in allem zu unterrichten, was ihm zu wissen nötig. Elis mußte sich zu ihm setzen, und sogleich begann der Alte beim Kruge Aehl weitläuftig über die erste Arbeit der Knappen zu sprechen.

Dem Elis kam wieder der alte Bergmann aus Götaborg in den Sinn, und auf besondere Weise wußte er beinahe alles, was der ihm gesagt, zu wiederholen. "Ei", rief der Obersteiger voll Erstaunen, "Elis Fröbom, wo habt Ihr denn die schönen Kenntnisse her? — Nun, da kann es Euch ja gar nicht fehlen, Ihr müßt in kurzer Zeit der tüchtigste Knappe inder Zeche sein!"

Die schöne Ulla, unter den Gästen auf und ab wandelnd und sie bewirtend, nickte oft freundlich dem Eus zu und

munterte ihn auf, recht froh zu sein. Nun sei er, sprach sie, ja nicht mehr fremd, sondern gehöre ins Haus und nicht mehr das trügerische Meer, nein! —Falun mit seinen reichen Bergen sei seine Heimat! — Ein ganzer Himmel voll Wonne und Seligkeit tat sich dem Jüngling auf bei Ullas Worten. Man merkte es wohl, daß Ulla gern bei ihm weilte, und auch Pehrson Dahlsjö betrachtete ihn in seinem stillen ernsten Wesen mit sichtlichem Wohlgefallen.

Das Herz wollte dem Elis doch mächtig schlagen, alser wieder bei dem rauchenden Höllenschlunde stand und, eingehüllt in die Bergmannstracht, die schweren, mit Eisen beschlagenen Dalkarlschuhe an den Füßen, mit dem Steiger hinabfuhr in den tiefen Schacht. Bald wollten heiße Dämpfe, die sich auf seine Brust legten, ihn ersticken, bald flackerten die Grubenlichter von dem schneidend kalten Luftzuge, der die Abgründe durchströmte. Immer tiefer und tiefer ging es hinab, zuletzt auf kaum ein Fuß breiten eisernen Leitern, und Elis Fröbom merkte wohl, daß alle Geschicklichkeit, die er sich als Seemann im Klettern erworben, ihm hier nichts helfen könne.

Endlich standen sie in der tiefsten Teufe, und der Steiger gab dem Elis die Arbeit an, die er hier verrichten sollte.

Elis gedachte der holden Ulla, wie ein leuchtender Engel sah er ihre Gestalt über sich schweben und vergaß alle Schrecken des Abgrundes, alle Beschwerden der mühseligen Arbeit. Es stand nun einmal fest in seiner Seele, daß nur dann, wenn er sich bei Pehrson Dahlsjö mit aller Macht des Gemüts, mit aller Anstrengung, die nur der Körper dulden wolle, dem Bergbau ergebe, vielleicht dereinst die süßesten Hoffnungen erfüllt werden könnten, und so geschah es, daß er in unglaublich kurzer Zeit es dem geübtesten Bergmann in der Arbeit gleichtat.

Mit jedem Tage gewann der wackre Pehrson Dahlsjö den fleißigen frommen Jüngling mehr lieb und sagte es ihm öfters unverhohlen, daß er in ihm nicht sowohl einen tüchtigen Knappen als einen geliebten Sohn gewonnen. Auch

Ullas innige Zuneigung tat sich immer mehr und mehr kund. Oft, wenn Eus zur Arbeit ging und irgend Gefährliches im Werke war, bat, beschwor sie ihn, die hellen Tränen in den Augen, doch nur ja sich vor jedem Unglück zu hüten. Und wenn er dann zurückkam, sprang sie ihm freudig entgegen und hatte immer das beste Ach! zur Hand oder sonst ein gut Gericht bereitet, ihn zu erquicken.

Das Herz bebte dem Elis vor Freude, als Pehrson Dahlsjö einmal zu ihm sprach, daß, da er ohnedies ein gut Stück Geld mitgebracht, es bei seinem Fleiß, bei seiner Sparsamkeit ihm gar nicht fehlen könne, künftig zum Besitztum eines Berghemmans oder wohl gar einer Bergfrälse zu gelangen, und daß dann wohl kein Bergbesitzer zu Falun ihn abweisen werde, wenn er um die Hand der Tochter werbe. Er hätte nun gleich sagen mögen, wie unaussprechlich er Ulla liebe und wie er alle Hoffnung des Lebens auf ihren Besitz gestellt. Doch unüberwindliche Scheu, mehr aber wohl noch der bange Zweifel, ob Ulla, wie er manchmal ahne, ihn auch wirklich liebe, verschlossen ihm den Mund.

Es begab sich, daß Eus Fröbom einmal in der tiefsten Teufe arbeitete, in dicken Schwefeldampf gehüllt, so daß sein Grubenlicht nur schwach durchdämmerte und er die Gänge des Gesteins kaum zu unterscheiden vermochte. Da hörte er, wie aus noch tieferm Schacht ein Klopfen heraustönte, als werde mit dem Puchhammer gearbeitet. Da dergleichen Arbeit nun nicht wohl in der Teufe möglich und Elis wohl wußte, daß außer ihm heute niemand herabgefahren, da der Steiger eben die Leute im Förderschacht anstellte, so wollte ihm das Pochen und Hämmern ganz unheimlich bedünken. Er ließ Handfäustel und Eisen ruhen und horchte zu den hohl anschlagenden Tönen, die immer näher und näher zu kommen schienen. Mit eins gewahrte er dicht neben sich einen schwarzen Schatten und erkannte, da eben ein schneidender Luftstrom den Schwefeldampf verblies, den alten Bergmann von Götaborg, der ihm zur Seite stand. "Glück auf!" rief der Alte, "Glück auf, Eus Fröbom, hier

unten im Gestein! — Nun, wie gefällt dir das Leben, Kamerad?" — Eus wollte fragen, auf welche wunderbare Art der Alte in den Schacht gekommen; der schlug aber mit seinem Hammer an das Gestein mit solcher Kraft, daß Feuerfunken umherstoben und es wie ferner Donner im Schacht widerhallte, und rief dann mit entsetzlicher Stimme: "Das ist hier ein herrlicher Trappgang, aber du schnöder schuftiger Geselle schauest nichts als einen Trum, der kaum eines Strohhalms mächtig. — Hier unten bist du ein blinder Maulwurf, dem der Metallfürst ewig abhold bleiben wird, und oben vermagst du auch nichts zu unternehmen und stellst vergebens dem Garkönig nach. — Hei! des Pehrson Dahlsjö Tochter Ulla willst du zum Weibe gewinnen, deshalb arbeitest du hier ohne Lieb und Gedanken. — Nimm dich in acht, du falscher Gesell, daß der Metallfürst, den du verhöhnst, dich nicht faßt und hinabschleudert, daß deine Glieder zerbröckeln am scharfen Gestein. — Und nimmer wird Ulla dein Weib, das sag ich dir!"

Dem Eus wallte der Zorn auf vor den schnöden Worten des Alten. "Was tust du", rief er, "was tust du hier in dem Schacht meines Herrn Pehrson Dahlsjö, in dem ich arbeite mit aller Kraft und wie es meines Berufs ist? Hebe dich hinweg, wie du gekommen, oder wir wollen sehen, wer hier unten einer dem andern zuerst das Gehirn einschlägt." — Damit stellte sich Eus Fröbom trotzig vor den Alten hin und schwang sein eisernes Handfäustel, mit dem er gearbeitet, hoch empor. Der Alte lachte höhnisch auf, und Elis sah mit Entsetzen, wie er behende, gleich einer Eichkatz, die schmalen Sprossen der Leiter heraufhüpfte und in dem schwarzen Geklüft verschwand.

Eus fühlte sich wie gelähmt an allen Gliedern, die Arbeit wollte nicht mehr vonstatten gehen, er stieg herauf. Als der alte Obersteiger, der eben aus dem Förderschacht gestiegen, ihn gewahrte, rief er: "Um Christus willen, was ist dir widerfahren, Elis, du siehst blaß und verstört aus wie der Tod! — Gelt! — der Schwefeldampf, den du noch nicht gewohnt,

hat es dir angetan? —Nun -trink, guter Junge, das wird dir wohltun." — Eus nahm einen tüchtigen Schluck Branntwein aus der Flasche, die ihm der Obersteiger darbot, und erzählte dann erkräftigt alles, was sich unten im Schacht begeben sowie auf welche Weise er die Bekanntschaft des alten unheimlichen Bergmanns in Götaborg gemacht.

Der Obersteiger hörte alles ruhig an, dann schüttelte er aber bedenklich den Kopf und sprach: "Elis Fröbom, das ist der alte Torbern gewesen, dem du begegnet, und ich merke nun wohl, daß das mehr als ein Märlein ist, was wir uns hier von ihm erzählen. Vor mehr als hundert Jahren gab es hier in Falun einen Bergmann namens Torbern. Er soll einer der ersten gewesen sein, der den Bergbau zu Falun recht in Flor gebracht hat, und zu seiner Zeit war die Ausbeute bei weitem reicher als jetzt. Niemand verstand sich damals auf den Bergbau so als Torbern, der, in tiefer Wissenschaft erfahren, dem ganzen Bergwesen in Falun vorstand. Als sei er mit besonderer höherer Kraft ausgerüstet, erschlossen sich ihm die reichsten Gänge, und kam noch hinzu, daß er ein finstrer tiefsinniger Mann war, der, ohne Weib und Kind, ja ohne eigentliches Obdach in Falun zu haben, beinahe niemals ans Tageslicht kam, sondern unaufhörlich in den Teufen wühlte, so konnte es nicht fehlen, daß bald von ihm die Sage ging, er stehe mit der geheimen Macht, die im Schoß der Erde waltet und die Metalle kocht, im Bunde. Auf Torberns strenge Ermahnungen nicht achtend, der unaufhörlich Unglück prophezeite, sobald nicht wahre Liebe zum wunderbaren Gestein und Metall den Bergmann zur Arbeit antreibe, weitete man in gewinnsüchtiger Gier die Gruben immer mehr und mehr aus, bis endlich am Johannistage des Jahres eintausendsechshundertundsiebenundachtzig sich der fürchterliche Bergsturz ereignete, der unsere ungeheuere Pinge schuf und dabei den ganzen Bau dergestalt verwüstete, daß erst nach vielem Mühen und mit vieler Kunst mancher Schacht wiederhergestellt werden konnte. Von Torbern war nichts mehr zu hören und zu sehn, und gewiß schien es, daß

er, in der Teufe arbeitend, durch den Einsturz verschüttet. — Bald darauf, und zwar als die Arbeit immer besser und besser vonstatten ging, behaupteten die Hauer, sie hätten im Schacht den alten Torbern gesehen, der ihnen allerlei guten Rat erteilt und die schönsten Gänge gezeigt. Andere hatten den Alten oben an der Pinge umherstreichend erblickt, bald wehmütig klagend, bald zornig tobend. Andere Jünglinge kamen sowie du hieher und behaupteten, ein alter Bergmann habe sie ermahnt zum Bergbau und hiehergewiesen. Das geschah allemal, wenn es an Arbeitern mangeln wollte, und wohl mochte der alte Torbern auch auf diese Weise für den Bergbau sorgen. — Ist es nun wirklich der alte Torbern gewesen, mit dem du Streit gehabt im Schacht, und hat er von einem herrlichen Trappgange gesprochen, so ist es gewiß, daß dort eine reiche Eisenader befindlich, der wir morgen nachspüren wollen. — Du hast nämlich nicht vergessen, daß wir hier die eisengehaltige Ader im Gestein Trappgang nennen und daß Trum eine Ader von dem Gange ist, die sich in verschiedene Teile zerschlägt und wohl gänzlich auseinandergeht."

Als Elis Fröbom, von mancherlei Gedanken hin und her geworfen, eintrat in Pehrson Dahlsjös Haus, kam ihm nicht wie sonst Ulla freundlich entgegen. Mit niedergeschlagenem Blick und, wie Eus zu bemerken glaubte, mit verweinten Augen saß Ulla da und neben ihr ein stattlicher junger Mann, der ihre Hand festhielt in der seinigen und sich mühte, allerlei Freundliches, Scherzhaftes vorzubringen, worauf Ulla aber nicht sonderlich achtete. — Pehrson Dahlsjö zog den Eus, der, von trüber Ahnung ergriffen, den starren Blick auf das Paar heftete, fort ins andere Gemach und begann: "Nun, Elis Fröbom, wirst du bald deine Liebe zu mir, deine Treue beweisen können, denn habe ich dich schon immer wie meinen Sohn gehalten, so wirst du es nun wirklich werden ganz und gar. Der Mann, den du bei mir siehst, ist der reiche Handelsherr, Eric Olawsen geheißen, aus Götaborg. Ich geb ihm auf sein Werben meine Tochter

zum Weibe; er zieht mit ihr nach Götaborg, und du bleibst dann allein bei mir, Eus, meine einzige Stütze im Alter. — Nun, Eus, du bleibst stumm? —du erbleichst, ich hoffe nicht, daß dir mein Entschluß mißfällt, daß du jetzt, da meine Tochter mich verlassen muß, auch von mir willst! —doch ich höre Herrn Olawsen meinen Namen nennen - ich muß hinein!"

Damit ging Pehrson wieder in das Gemach zurück.

Elis fühlte sein Inneres von tausend glühenden Messern zerfleischt. — Er hatte keine Worte, keine Tränen. — In wilder Verzweiflung rannte er aus dem Hause fort -fort - bis zur großen Pinge. Bot das ungeheuere Geklüft schon im Tageslicht einen entsetzlichen Anblick dar, so war vollends jetzt, da die Nacht eingebrochen und die Mondesscheibe erst aufdämmerte, das wüste Gestein anzusehen, als wühle und wälze unten eine zahllose Schar gräßlicher Untiere, die scheußliche Ausgeburt der Hölle, sich durcheinander am rauchenden Boden und blitze herauf mit Flammenaugen und strecke die riesigen Krallen aus nach dem armen Menschenvolk.

"Torbern -Torbern!"schrie Eus mit furchtbarer Stimme, daß die öden Schlüfte widerhallten - "Torbern, hier bin ich! — Du hattest recht, ich war ein schuftiger Gesell, daß ich alberner Lebenshoffnung auf der Oberfläche der Erde mich hingab! — Unten liegt mein Schatz, mein Leben, mein alles! — Torbern! — steig herab mit mir, zeig mir die reichsten Trappgänge, da will ich wühlen und bohren und arbeiten und das Licht des Tages fürder nicht mehr schauen! — Torbern! —Torbern -steig herab mit mir!"

Elis nahm Stahl und Stein aus der Tasche, zündete sein Grubenlicht an und stieg hinab in den Schacht, den er gestern befahren, ohne daß sich der Alte sehen ließ. Wie ward ihm, als er in der tiefsten Teufe deutlich und klar den Trappgang erblickte, so daß er seiner Salbänder Streichen und Fallen zu erkennen vermochte.

Doch als er fester und fester den Blick auf die wunderbare

Ader im Gestein richtete, war es, als ginge ein blendendes Licht durch den ganzen Schacht, und seine Wände wurden durchsichtig wie der reinste Kristall. Jener verhängnisvolle Traum, den er in Götaborg geträumt, kam zurück. Er blickte in die paradiesischen Gefilde der herrlichsten Metallbäume und Pflanzen, an denen wie Früchte, Blüten und Blumen feuerstrahlende Steine hingen. Er sah die Jungfrauen, er schaute das hohe Antlitz der mächtigen Königin. Sie erfaßte ihn, zog ihn hinab, drückte ihn an ihre Brust, da durchzuckte ein glühender Strahl sein Inneres, und sein Bewußtsein war nur das Gefühl, als schwämme er in den Wogen eines blauen, durchsichtig funkelnden Nebels.

"Elis Fröbom, Elis Fröbom!" — rief eine starke Stimme von oben herab, und der Widerschein von Fackeln fiel in den Schacht. Pehrson Dahlsjö selbst war es, der mit dem Steiger hinabkam, um den Jüngling, den sie wie im hellen Wahnsinn nach der Pinge rennen gesehen, zu suchen.

Sie fanden ihn wie erstarrt stehend, das Gesicht gedrückt in das kalte Gestein.

"Was", rief Pehrson ihn an, "was machst du hier unten zur Nachtzeit, unbesonnener junger Mensch! — Nimm deine Kraft zusammen und steige mit uns herauf, wer weiß, was du oben Gutes erfahren wirst!"

In tiefem Schweigen stieg Elis herauf, in tiefem Schweigen folgte er dem Pehrson Dahlsjö, der nicht aufhörte, ihn tapfer auszuschelten, daß er sich in solche Gefahr begeben.

Der Morgen war hell aufgegangen, als sie ins Haus traten. Ulla stürzte mit einem lauten Schrei dem Elis an die Brust und nannte ihn mit den süßesten Namen. Aber Pehrson Dahlsjö sprach zu Elis: "Du Tor! mußte ich es denn nicht längst wissen, daß du Ulla liebtest und wohl nur ihretwegen mit so vielem Fleiß und Eifer in der Grube arbeitetest? Mußte ich nicht längst gewahren, daß auch Ulla dich liebte recht aus dem tiefsten Herzensgrunde? Konnte ich mir einen bessern Eidam wünschen als einen tüchtigen fleißigen frommen Bergmann, als eben dich, mein braver Eus? —Aber daß

ihr schwiegt, das ärgerte, das kränkte mich." —"Haben wir", unterbrach Ulla den Vater, "haben wir denn selbst gewußt, daß wir uns so unaussprechlich liebten?" — "Mag", fuhr Pehrson Dahlsjö fort, "mag dem sein, wie ihm wolle, genug, ich ärgerte mich, daß Eus nicht offen und ehrlich von seiner Liebe zu mir sprach, und deshalb und weil ich dein Herz auch prüfen wollte, förderte ich gestern das Märchen mit Herrn Eric Olawsen zutage, worüber du bald zugrunde gegangen wärst. Du toller Mensch! — Herr Eric Olawsen ist ja längst verheiratet, und dir, braver Elis Fröbom, gebe ich meine Tochter zum Weibe, denn ich wiederhole es, keinen bessern Schwiegersohn konnt ich mir wünschen."

Dem Eus rannten die Tränen herab vor lauter Wonne und Freude. Alles Lebensglück war so unerwartet auf ihn herabgekommen, und es mußte ihm beinahe bedünken, er stehe abermals im süßen Traum!

Auf Pehrson Dahlsjös Gebot sammelten sich die Bergleute mittags zum frohen Mahl.

Ulla hatte sich in ihren schönsten Schmuck gekleidet und sah anmutiger aus als jemals, so daß alle ein Mal über das andere riefen: "Ei, welche hochherrliche Braut hat unser wackrer Elis Fröbom erworben! — Nun! — der Himmel segne beide in ihrer Frömmigkeit und Tugend!"

Auf Elis Fröboms bleichem Gesicht lag noch das Entsetzen der Nacht, und oft starrte er vor sich hin, wie entrückt allem, was ihn umgab.

"Was ist dir, mein Elis?"fragte Ulla. Elis drückte sie an seine Brust und sprach: "Ja, ja! — Du bist wirklich mein, und nun ist ja alles gut!"

Mitten in aller Wonne war es dem Eus manchmal, als griffe auf einmal eine eiskalte Hand in sein Inneres hinein und eine dunkle Stimme spräche: "Ist es denn nun noch dein Höchstes, daß du Ulla erworben? Du armer Tor! — Hast du nicht das Antlitz der Königin geschaut?"

Er fühlte sich beinahe übermannt von einer unbeschreiblichen Angst, der Gedanke peinigte ihn, es werde nun plötzlich

einer von den Bergleuten riesengroß sich vor ihm erheben und er werde zu seinem Entsetzen den Torbern erkennen, der gekommen, ihn fürchterlich zu mahnen an das unterirdische Reich der Steine und Metalle, dem er sich ergeben!

Und doch wußte er wieder gar nicht, warum ihm der gespenstische Alte feindlich sein, was überhaupt sein Bergmannshantieren mit seiner Liebe zu schaffen haben solle.

Pehrson merkte wohl Eus Fröboms verstörtes Wesen und schrieb es dem überstandenen Weh, der nächtlichen Fahrt in den Schacht zu. Nicht so Ulla, die, von geheimer Ahnung ergriffen, in den Geliebten drang, ihr doch nur zu sagen, was ihm denn Entsetzliches begegnet, das ihn ganz von ihr hinwegreiße. Dem Eus wollte die Brust zerspringen. — Vergebens rang er darnach, der Geliebten von dem wunderbaren Gesicht, das sich ihm in der Teufe aufgetan, zu erzählen. Es war, als verschlösse ihm eine unbekannte Macht mit Gewalt den Mund. als schaue aus seinem Innern heraus das furchtbare Antlitz der Königin, und nenne er ihren Namen, so würde, wie bei dem Anblick des entsetzlichen Medusenhaupts, sich alles um ihn her versteinen zum düstern schwarzen Geklüft! — Alle Herrlichkeit, die ihn unten in der Teufe mit der höchsten Wonne erfüllt, erschien ihm jetzt wie eine Hölle voll trostloser Qual, trügerisch ausgeschmückt zur verderblichsten Verlockung!

Pehrson Dahlsjö gebot, daß Elis Fröbom einige Tage hindurch daheim bleiben solle, um sich ganz von der Krankheit zu erholen, in die er gefallen schien. In dieser Zeit verscheuchte Ullas Liebe, die nun hell und klar aus ihrem kindlichen frommen Herzen ausströmte, das Andenken an die verhängnisvollen Abenteuer im Schacht. Elis lebte ganz auf in Wonne und Freude und glaubte an sein Glück, das wohl keine böse Macht mehr verstören könne.

Als er wieder hinabfuhr in den Schacht, kam ihm in der Teufe alles ganz anders vor wie sonst. Die herrlichsten Gänge lagen offen ihm vor Augen, er arbeitete mit verdoppeltem

Eifer, er vergaß alles, er mußte sich, auf die Oberfläche hinaufgestiegen, auf Pehrson Dahlsjö, ja auf seine Ulla besinnen, er fühlte sich wie in zwei Hälften geteilt, es war ihm, als Stiege sein besseres, sein eigentliches Ich hinab in den Mittelpunkt der Erdkugel und ruhe aus in den Armen der Königin, während er in Falun sein düsteres Lager suche. Sprach Ulla mit ihm von ihrer Liebe und wie sie so glücklich miteinander leben würden, so begann er von der Pracht der Teufen zu reden, von den unermeßlich reichen Schätzen, die dort verborgen lägen, und verwirrte sich dabei in solch wunderliche unverständliche Reden, daß Angst und Beklommenheit das arme Kind ergriff und sie gar nicht wußte, wie Eus sich auf einmal so in seinem ganzen Wesen geändert. — Dem Steiger, Pehrson Dahlsjö selbst verkündete Eus unaufhörlich in voller Lust, wie er die reichhaltigsten Adern, die herrlichsten Trappgänge entdeckt, und wenn sie dann nichts fanden als taubes Gestein, so lachte er höhnisch und meinte, freilich verstehe er nur allein die geheimen Zeichen, die bedeutungsvolle Schrift, die die Hand der Königin selbst hineingrabe -das Steingeklüff, und genug sei es auch eigentlich, diese Zeichen zu verstehen, ohne das, was sie verkündeten, zutage zu fördern.

Wehmütig blickte der alte Steiger den Jüngling an, der mit wild funkelndem Blick von dem glanzvollen Paradiese sprach, das im tiefen Schoß der Erde aufleuchte.

"Ach, Herr", lispelte der Alte Pehrson Dahlsjön leise ins Ohr, "ach, Herr, dem armen Jungen hat's der böse Torbern angetan!"

"Glaubt", erwiderte Pehrson Dahlsjö, "glaubt nicht an solche Bergmannsmärlein, Alter! — Dem tiefsinnigen Neriker hat die Liebe den Kopf verrückt, das ist alles. Laßt nur erst die Hochzeit vorüber sein, dann wird's sich schon geben mit den Trappgängen und Schätzen und dem ganzen unterirdischen Paradiese!"

Der von Pehrson Dahlsjö bestimmte Hochzeittag kam endlich heran. Schon einige Tage vorher war Eus Fröbom

stiller, ernster, in sich gekehrter gewesen als jemals, aber auch nie hatte er sich SO ganz in Liebe der holden Ulla hingegeben als in dieser Zeit. Er mochte sich keinen Augenblick von ihr trennen, deshalb ging er nicht zur Grube; er schien an sein unruhiges Bergmannstreiben gar nicht zu denken. denn kein Wort von dem unterirdischen Reich kam über seine Lippen. Ulla war ganz voll Wonne: alle Angst, wie vielleicht die bedrohlichen Mächte des unterirdischen Geklüfts, von denen sie oft alte Bergleute reden gehört, ihren Eus ins Verderben locken würden, war verschwunden. Auch Pehrson Dahlsjö sprach lächelnd zum alten Steiger: "Seht Ihr wohl, daß Eus Fröbom nur schwindlicht geworden im Kopfe vor Liebe zu meiner Ulla!"

Am frühen Morgen des Hochzeitstages - es war der Johannistag - klopfte Elis an die Kammer seiner Braut. Sie öffnete und fuhr erschrocken zurück, als sie den Elis erblickte schon in den Hochzeitskleidern, todbleich, dunkel sprühendes Feuer in den Augen. "Ich will", sprach er mit leiser schwankender Stimme, "ich will dir nur sagen, meine herzgeliebte Ulla, daß wir dicht an der Spitze des höchsten Glücks stehen, wie es nur dem Menschen hier auf Erden beschieden. Mir ist in dieser Nacht alles entdeckt worden. Unten in der Teufe liegt in Chlorit und Glimmer eingeschlossen der kirschrot funkelnde Almandin, auf den unsere Lebenstafel eingegraben, den mußt du von mir empfangen als Hochzeitsgabe. Er ist schöner als der herrlichste blutrote Karfunkel, und wenn wir, in treuer Liebe verbunden, hineinblicken in sein strahlendes Licht, können wir es deutlich erschauen, wie unser Inneres verwachsen ist mit dem wunderbaren Gezweige, das aus dem Herzen der Königin im Mittelpunkt der Erde emporkeimt. Es ist nur nötig, daß ich diesen Stein hinauffördere zutage, und das will ich nunmehro tun. Gehab dich solange wohl, meine herzgeliebte Ulla! — bald bin ich wieder hier."

Ulla beschwor den Geliebten mit heißen Tränen, doch abzustehen von diesem träumerischen Unternehmen, da ihr

großes Unglück ahne; doch Eus Fröbom versicherte, daß er ohne jenes Gestein niemals eine ruhige Stunde haben würde und daß an irgendeine bedrohliche Gefahr gar nicht zu denken sei. Er drückte die Braut innig an seine Brust und schied von dannen.

Schon waren die Gäste versammelt, um das Brautpaar nach der Kopparbergskirche, wo nach gehaltenem Gottesdienst die Trauung vor sich gehen sollte, zu geleiten. Eine ganze Schar zierlich geschmückter Jungfrauen, die nach der Sitte des Landes als Brautmädchen der Braut voranziehen sollten, lachten und scherzten um Ulla her. Die Musikanten stimmten ihre instrumente und versuchten einen fröhlichen Hochzeitsmarsch. — Schon war es beinahe Mittag, noch immer ließ sich Eus Fröbom nicht sehen. Da stürzten plötzlich Bergleute herbei, Angst und Entsetzen in den bleichen Gesichtern, und meldeten, wie eben ein fürchterlicher Bergfall die ganze Grube, in der Dahlsjös Kuxe befindlich, verschüttet.

"Elis - mein Elis. du bist hin - hin!" — So schrie Ulla laut auf und fiel wie tot nieder. Nun erfuhr erst Pehrson Dahlsjö von dem Steiger, daß Eus am frühen Morgen nach der großen Pinge gegangen und hinabgefahren, sonst hatte, da Knappen und Steiger iur Hochzeit geladen, niemand in dem Schacht gearbeitet. Pehrson Dahlsjö, alle Bergleute eilten hinaus, aber alle Nachforschungen, SO wie sie nur selbst mit der höchsten Gefahr des Lebens möglich, blieben vergebens. Elis Fröbom wurde nicht gefunden. Gewiß war es, daß der Erdsturz den Unglücklichen im Gestein begraben; und so kam Elend und Jammer über das Haus des wackern Pehrson Dahlsjö in dem Augenblick, als er Ruhe und Frieden für seine alten Tage sich zu bereiten gedacht.



Längst war der wackre Masmeister Altermann Pehrson Dahlsjö gestorben, längst seine Tochter Ulla verschwunden, niemand in Falun wußte von beiden mehr etwas, da seit Fröboms unglückseligem Hochzeitstage wohl an die funfzig Jahre verflossen. Da geschah es, daß die Bergleute, als sie zwischen zwei Schachten einen Durchschlag versuchten, in einer Teufe von dreihundert Ellen im Vitriolwasser den Leichnam eines jungen Bergmanns fanden, der versteinert schien, als sie ihn zutage förderten.

Es war anzusehen, als läge der Jüngling in tiefem Schlaf, so frisch, so wohlerhalten waren die Züge seines Antlitzes, so ohne alle Spur der Verwesung seine zierliche Bergmannskleider, ja selbst die Blumen an der Brust. Alles Volk aus der Nähe sammelte sich um den Jüngling, den man heraufgetragen aus der Pinge, aber niemand kannte die Gesichtszüge des Leichnams, und keiner der Bergleute vermochte sich auch zu entsinnen, daß irgendeiner der Kameraden verschüttet. Man stand im Begriff, den Leichnam weiter fortzubringen nach Falun, als aus der Ferne ein steinaltes eisgraues Mütterchen auf Krücken hinankeuchte. "Dort kommt das Johannismütterchen!" riefen einige von den Bergleuten. Diesen Namen hatten sie der Alten gegeben, die sic schon seit vielen Jahren bemerkt, wie sie jedesmal am Johannistage erschien, in die Tiefe schauend, die Hände ringend, in den wehmütigsten Tönen ächzend und klagend, an der Pinge umherschlich und dann wieder verschwand.

Kaum hatte die Alte den erstarrten Jüngling erblickt, als sie beide Krücken fallen ließ, die Arme hoch emporstreckte zum Himmel und mit dem herzzerschneidendsten Ton der tiefsten Klage rief: "0 Elis Fröbom - o mein Elis - mein süßer Bräutigam!" Und damit kauerte sie neben dem Leichnam nieder und faßte die erstarrten Hände und drückte sie an ihre im Alter erkaltete Brust, in der noch, wie heiliges Naphthafeuer unter der Eisdecke, ein Herz voll heißer Liebe schlug. "Ach", sprach sie dann, sich im Kreise umschauend. "ach, niemand, niemand von euch kennt mehr die arme Ulla Dahlsjö, dieses Jünglings glückliche Braut vor funfzig Jahren! — Als ich mit Gram und Jammer fortzog nach Ornäs, da tröstete mich der alte Torbern und sprach, ich würde meinen Elis, den das Gestein begrub am Hochzeitstage,

noch wiedersehen hier auf Erden. und da bin ich jahraus, jahrein hergekommen und habe, ganz Sehnsucht und treue Liebe, hinabgeschaut in die Tiefe. — Und heute ist mir ja wirklich solch seliges Wiedersehen vergönnt! — O mein Eus -mein geliebter Bräutigam!"

Aufs neue schlug sic die dürren Arme um den Jüngling, als wolle sie ihn nimmer lassen, und alle standen tiefbewegt ringsumher.

Leiser und leiser wurden die Seufzer. wurde das Schluchzen der Alten, bis es dumpf vertonte.

Die Bergleute traten hinan, sie wollten die arme Ulla aufrichten, aber sie hatte ihr Leben ausgehaucht auf dem Leichnam des erstarrten Bräutigams. Man bemerkte, daß der Körper des Unglücklichen, der fälschlicherweise für versteinert gehalten, in Staub zu zerfallen begann.

In der Kopparbergskirche, dort, wo vor funfzig Jahren das Paar getraut werden sollte, wurde die Asche des jünglings beigesetzt und mit ihr die Leiche der bis in den bittern Tod getreuen Braut.



"Ich merke", sprach Theodor, als er geendet und die Freunde schweigend vor sich hin blickten, "ich merke es wohl, daß euch meine Erzählung nicht ganz recht ist, oder behagte euch nur in diesem Augenblick vielleicht nicht der düstre wehmütige Stoff?"

"Es ist nicht anders", erwiderte Ottmar, "deine Erzählung läßt einen sehr wehmütigen Eindruck zurück, aber, aufrichtig gestanden, will mir all der Aufwand von schwedischen Bergfrälschesitzern, Volksfesten, gespenstischen Bergmännern und Visionen gar nicht recht gefallen. Die einfache Beschreibung in Schuberts ,Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft', wie der Jüngling in der Erzgrube zu Falun gefunden wurde, in dem ein altes Mütterchen ihren vor funfzig Jahren verschütteten Bräutigam wiedererkannte, hat viel tiefer auf mich gewirkt."

"Ich flehe", rief Theodor lächelnd, "unsern Patron, den Einsiedler Serapion, an, daß er mich in Schutz nehme, denn wahrlich, mir ging nun einmal die Geschichte von dem Bergmann mit den lebendigsten Farben gerade so auf, wie ich sic erzählt habe."

"Laßt", sprach Lothar, "jedem seine Weise. Aber gut ist es, lieber Theodor, daß du uns die Geschichte vorlasest, die wir alle, mein ich, etwas von der Bergmannswissenschaft sowie von den Bergwerken zu Falun und den schwedischen Sitten und Gebräuchen gehört haben. Andere würden dir mit Recht vorwerfen, daß du durch zu viele bergmännische Ausdrücke oft unverständlich wurdest. und manche würden sogar, da du so oft von dem schönen Öl sprichst, womit sich die Leute traktieren, auf den Gedanken geraten, daß die guten Faluner und Götaborger schnödes Baumöl saufen, da jenes Öl doch nichts anders ist als ein schönes, starkes Bier."

"Mir hat", nahm Cyprian das Wort, "Theodors Erzählung doch im ganzen nicht so sehr mißfallen als dir, Ottmar. Wie oft stellten Dichter Menschen, welche auf irgendeine entsetzliche Weise untergehen, als im ganzen Leben mit sich entzweit, als von unbekannten finstren Mächten befangen dar. Dies hat Theodor auch getan, und mich wenigstens spricht dies immer deshalb an, weil ich meine, daß es tief in der Natur begründet ist. Ich habe Menschen gekannt, die sich plötzlich im ganzen Wesen veränderten, die entweder in sich hinein erstarrten oder, wie von bösen Mächten rastlos verfolgt, in steter Unruhe umhergetrieben wurden und die bald dieses, bald jenes entsetzliche Ereignis aus dem Leben fortriß." — "Halt", rief Lothar - "halt! — lassen wir dem geisterseherischen Cyprian nur was weniges Raum, so geraten wir gleich in ein Labyrinth von Ahnungen und Träumen! — Erlaubt, daß ich unsere trübe Stimmung mit einemmal vernichte, indem ich euch zum Schluß unseres heutigen Klubs ein Kindermärchen mitteile, das ich vor einiger Zeit aufschrieb und das mir, so glaub ich, der tolle Spukgeist Droll selbst eingegeben hat."

"Ein Kindermärchen -du, Lothar, ein Kindermärchen!" — So riefen alle.

"Ja", sprach Lothar, "wahnwitzig mag es euch bedünken, daß ich es unternahm, ein Kindermärchen zu schreiben, aber hört mich erst, und dann urteilt."

Lothar zog ein sauber geschriebenes Heft hervor und las:


Nußknacker und Mausekönig


Der Weihnachtsabend

Am vierundzwanzigsten Dezember durften die Kinder des Medizinalrats Stahlbaum den ganzen Tag über durchaus nicht in die Mittelstube hinein, viel weniger in das daranstoßende Prunkzimmer. In einem Winkel des Hinterstübchens zusammengekauert, saßen Fritz und Marie, die tiefe Abenddämmerung war eingebrochen, und es wurde ihnen recht schaurig zumute, als man, wie es gewöhnlich an dem Tage geschah, kein Licht hereinbrachte. Fritz entdeckte, ganz insgeheim wispernd, der jüngern Schwester (sie war eben erst sieben Jahr alt worden), wie er schon seit frühmorgens es habe in den verschlossenen Stuben rauschen und rasseln und leise pochen hören. Auch sei nicht längst ein kleiner dunkler Mann mit einem großen Kasten unter dem Arm über den Flur geschlichen, er wisse aber wohl, daß es niemand anders gewesen als Pate Droßelmeier. Da schlug Marie die kleinen Händchen vor Freude zusammen und rief: "Ach, was wird nur Pate Droßelmeier für uns Schönes gemacht haben." Der Obergerichtsrat Droßelmeier war gar kein hübscher Mann, nur klein und mager, hatte viele Runzeln im Gesicht, statt des rechten Auges ein großes schwarzes Pflaster und auch gar keine Haare, weshalb er eine sehr schöne weiße Perücke trug, die war aber von Glas und ein künstliches Stück Arbeit. Überhaupt war der Pate selbst auch ein sehr künstlicher Mann, der sich sogar auf Uhren verstand und

selbst welche machen konnte. Wenn daher eine von den schönen Uhren in Stahlbaums Hause krank war und nicht singen konnte, dann kam Pate Droßelmeier, nahm die Glasperücke ab, zog sein gelbes Röckchen aus, band eine blaue Schürze um und stach mit spitzigen Instrumenten in die Uhr hinein, so daß es der kleinen Marie ordentlich wehe tat. aber es verursachte der Uhr gar keinen Schaden, sondern sie wurde vielmehr wieder lebendig und fing gleich an, recht lustig zu schnurren, zu schlagen und zu singen, worüber denn alles große Freude hatte. Immer trug er, wenn er kam, was Hübsches für die Kinder in der Tasche. bald ein Männlein, das die Augen verdrehte und Komplimente machte, welches komisch anzusehen war, bald eine Dose. aus der ein Vögelchen heraushüpfte, bald was anderes. Aber zu Weihnachten, da hatte er immer ein schönes künstliches Werk verfertigt, das ihm viel Mühe gekostet, weshalb es auch, nachdem es cinbeschert worden, sehr sorglich von den Eltern aufbewahrt wurde. — "Ach, was wird nur Pate Droßelmeier für uns Schönes gemacht haben", rief nun Marie; Fritz meinte aber, es könne wohl diesmal nichts anders sein als eine Festung, in der allerlei sehr hübsche Soldaten auf und ab marschierten und exerzierten, und dann müßten andere Soldaten kommen, die in die Festung hineinwollten, aber nun schössen die Soldaten von innen tapfer heraus mit Kanonen, daß es tüchtig brauste und knallte. "Nein, nein", unterbrach Marie den Fritz, "Pate Droßelmeier hat mir von einem schönen Garten erzählt, darin ist ein großer See, auf dem schwimmen sehr herrliche Schwäne mit goldnen Halsbändern herum und singen die hübschesten Lieder. Dann kommt ein kleines Mädchen aus dem Garten an den See und lockt die Schwäne heran und füttert sie mit süßem Marzipan." — "Schwäne fressen keinen Marzipan", fiel Fritz etwas rauh ein, "und einen ganzen Garten kann Pate Droßelmeier auch nicht machen. Eigentlich haben wir wenig von seinen Spielsachen; es wird uns ja alles gleich wieder weggenommen, da ist mir denn doch das viel lieber, was uns Papa und Mama einbescheren, wir behalten es fein und können damit machen, was wir wollen." Nun rieten die Kinder hin und her, was es wohl diesmal wieder geben könne. Marie meinte, daß Mamsell Trutchen (ihre große Puppe) sich sehr verändere, denn ungeschickter als jemals, fiele sie jeden Augenblick auf den Fußboden, welches ohne garstige Zeichen im Gesicht nicht abginge, und dann sei an Reinlichkeit in der Kleidung gar nicht mehr zu denken. Alles tüchtige Ausschelten helfe nichts. Auch habe Mama gelächelt, als sie sich über Gretchens kleinen Sonnenschirm so gefreut. Fritz versicherte dagegen, ein tüchtiger Fuchs fehle seinem Marstall durchaus sowie seinen Truppen gänzlich an Kavallerie, das sei dem Papa recht gut bekannt. — So wußten die Kinder wohl, daß die Eltern ihnen allerlei schöne Gaben eingekauft hatten, die sic nun aufstellten, es war ihnen aber auch gewiß, daß dabei der liebe Heilige Christ mit gar freundlichen frommen Kindesaugen hineinleuchte und daß, wie von segensreicher Hand berührt, jede Weihnachtsgabe herrliche Lust bereite wie keine andere. Daran erinnerte die -Kinder,--die--immerfort von den zu erwartenden Geschenken wisperten, ihre ältere Schwester Luise, hinzufügend, daß es nun aber auch der Heilige Christ sei, der durch die Hand der lieben Eltern den Kindern immer das beschere, was ihnen wahre Freude und Lust bereiten könne, das wisse er viel besser als die Kinder selbst, die müßten daher nicht allerlei wünschen und hoffen, sondern still und fromm erwarten, was ihnen beschert worden. Die kleine Marie wurde ganz nachdenklich, aber Fritz murmelte vor sich hin: "Einen Fuchs und Husaren hätt ich nun einmal gern."

Es war ganz finster geworden. Fritz und Marie, fest aneinandergerückt, wagten kein Wort mehr zu reden, es war ihnen, als rausche es mit linden Flügeln um sie her und als ließe sich eine ganz ferne, aber sehr herrliche Musik vernehmen. Ein heller Schein streifte an der Wand hin, da wußten die Kinder, daß nun das Christkind auf glänzenden Wolken fortgeflogen zu andern glücklichen Kindern. In dem

Augenblick ging es mit silberhellem Ton: Klingling, klingling, die Türen sprangen auf, und solch ein Glanz strahlte aus dem großen Zimmer hinein, daß die Kinder mit lautem Ausruf: "Ach! — Ach!" wie erstarrt auf der Schwelle stehenblieben. Aber Papa und Mama traten in die Türe, faßten die Kinder bei der Hand und sprachen: "Kommt doch nur, kommt doch nur, ihr lieben Kinder, und seht, was euch der Heilige Christ beschert hat."

Die Gaben

Ich wende mich an dich selbst, sehr geneigter Leser oder Zuhörer Fritz -Theodor - Ernst - oder wie du sonst heißen magst, und bitte dich, daß du dir deinen letzten, mit schönen bunten Gaben reich geschmückten Weihnachtstisch recht lebhaft vor Augen bringen mögest, dann wirst du es dir wohl auch denken können, wie die Kinder mit glänzenden Augen ganz verstummt stehenblieben, wie erst nach einer Weile Marie mit einem tiefen Seufzer rief: "Ach, wie schön — ach, wie schön", und Fritz einige Luftsprünge versuchte, die ihm überaus wohl gerieten. Aber die Kinder mußten auch das ganze Jahr über besonders artig und fromm gewesen sein, denn nie war ihnen so viel Schönes, Herrliches einbeschert worden als dieses Mal. Der große Tannenbaum in der Mitte trug viele goldne und silberne Äpfel, und wie Knospen und Blüten keimten Zuckermandeln und bunte Bonbons, und was es sonst noch für schönes Naschwerk gibt, aus allen Ästen. Als das Schönste an dem Wunderbaum mußte aber wohl gerühmt werden, daß in seinen dunkeln Zweigen hundert kleine Lichter wie Sternlein funkelten und er selbst, in sich hinein- und herausleuchtend, die Kinder freundlich einlud, seine Blüten und Früchte zu pflücken. Um den Baum umher glänzte alles sehr bunt und herrlich - was es da alles für schöne Sachen gab -ja, wer das zu beschreiben vermöchte! Marie erblickte die zierlichsten Puppen, allerlei saubere kleine Gerätschaften, und was vor allem schön

anzusehen war, ein seidenes Kleidchen, mit bunten Bändern zierlich geschmückt, hing an einem Gestell so der kleinen Marie vor Augen, daß sie es von allen Seiten betrachten konnte, und das tat sie denn auch, indem sie ein Mal über das andere ausrief: "Ach, das schöne, ach, das liebe - liebe Kleidchen; und das werde ich - ganz gewiß —das werde ich wirklich anziehen dürfen!" —Fritz hatte indessen schon, drei' oder viermal um den Tisch herumgaloppierend und -trabend, den neuen Fuchs versucht, den er in der Tat am Tische angezäumt gefunden. Wieder absteigend, meinte er, es sei eine wilde Bestie, das täte aber nichts, er wolle ihn schon kriegen, und musterte die neue Schwadron Husaren, die sehr prächtig in Rot und Gold gekleidet waren, lauter silberne Waffen trugen und auf solchen weißglänzenden Pferden ritten, daß man beinahe hätte glauben sollen, auch diese seien von purem Silber. Eben wollten die Kinder, etwas ruhiger geworden, über die Bilderbücher her, die aufgeschlagen waren, daß man allerlei sehr schöne Blumen und bunte Menschen, ja auch allerliebste spielende Kinder, so natürlich gemalt, als lebten und sprächen sie wirklich, gleich anschauen konnte. — Ja! eben wollten die Kinder über diese wunderbaren Bücher her, als nochmals geklingelt wurde. Sic wußten, daß nun der Pate Droßelmeier einbescheren würde, und liefen nach dem an der Wand stehenden Tisch. Schnell wurde der Schirm, hinter dem er solange versteckt gewesen, weggenommen. Was erblickten da die Kinder! — Auf einem grünen, mit bunten Blumen geschmückten Rasenplatz stand ein sehr herrliches Schloß mit vielen Spiegelfenstern und goldnen Türmen. Ein Glockenspiel ließ sich hören, Türen und Fenster gingen auf, und man sah, wie sehr kleine, aber zierliche Herrn und Damen mit Federhüten und langen Schleppkleidern in den Sälen herumspazierten. In dem Mittelsaal, der ganz in Feuer zu stehen schien - so viel Lichterchen brannten an silbernen Kronleuchtern -, tanzten Kinder in kurzen Wämschen und Röckchen nach dem Glockenspiel. Ein Herr in einem smaragdenen Mantel sah oft durch ein Fenster, winkte heraus und verschwand wieder, so wie auch Pate Droßelmeier selbst, aber kaum viel höher als Papas Daumen, zuweilen unten an der Tür des Schlosses stand und wieder hineinging. Fritz hatte mit auf den Tisch gestemmten Armen das schöne Schloß und die tanzenden und spazierenden Figürchen angesehen, dann sprach er: "Pate Droßelmeier! Laß mich mal hineingehen in dein Schloß!" — Der Obergerichtsrat bedeutete ihn, daß das nun ganz und gar nicht anginge. Er hatte auch recht, denn es war töricht von Fritzen, daß er in ein Schloß gehen wollte, welches überhaupt mitsamt seinen goldnen Türmen nicht so hoch war als er selbst. Fritz sah das auch ein. Nach einer Weile. als immerfort auf dieselbe Weise die Herrn und Damen hin und her spazierten, die Kinder tanzten, der smaragdne Mann zu demselben Fenster heraussah, Pate Droßelmeier vor die Türe trat, da rief Fritz ungeduldig: "Pate Droßelmeier, nun komm mal zu der andern Tür da drüben heraus." — "Das geht nicht, liebes Fritzchen", erwiderte der Obergerichtsrat. ,.Nun, so laß mal", sprach Fritz weiter, "laß mal den grünen Mann, der so oft herausguckt, mit den andern herumspazieren." — "Das geht auch nicht", erwiderte der Obergerichtsrat aufs neue. "So sollen die Kinder herunterkommen", rief Fritz, "ich will sic näher besehen." —"Ei, das geht alles nicht", sprach der Obergerichtsrat verdrießlich, "wie die Mechanik nun einmal gemacht ist, muß sie bleiben." — "So-o?" fragte Fritz mit gedehntem Ton, "das geht alles nicht? Hör mal, Pate Droßelmeier, wenn deine kleinen geputzten Dinger in dem Schlosse nichts mehr können als immer dasselbe, da taugen sie nicht viel, und ich frage nicht sonderlich nach ihnen. — Nein, da lob ich mir meine Husaren, die müssen manövrieren vorwärts, rückwärts, wie ich's haben will, und sind in kein Haus gesperrt." Und damit sprang er fort an den Weihnachtstisch und ließ seine Eskadron auf den silbernen Pferden hin und her trottieren und schwenken und einhauen und feuern nach Herzenslust. Auch Marie hatte sich sachte fortgeschlichen, denn auch sie wurde des Herumgeens und Tanzens der Püppchen im Schlosse bald überdrüssig und mochte es, da sie sehr artig und gut war, nur nicht so merken lassen wie Bruder Fritz. Der Obergerichtsrat Droßelmeier sprach ziemlich verdrießlich zu den Eltern: "Für unverständige Kinder ist solch künstliches Werk nicht, ich will nur mein Schloß wieder einpacken"; doch die Mutter trat hinzu und ließ sich den innern Bau und das wunderbare, sehr künstliche Räderwerk zeigen, wodurch die kleinen Püppchen in Bewegung gesetzt wurden. Der Rat nahm alles auseinander und setzte es wieder zusammen. Dabei war er wieder ganz heiter geworden und schenkte den Kindern noch einige schöne braune Männer und Frauen mit goldnen Gesichtern, Händen und Beinen. Sie waren sämtlich aus Thorn und rochen so süß und angenehm wie Pfefferkuchen, worüber Fritz und Marie sich sehr erfreuten. Schwester Luise hatte, wie es die Mutter gewollt, das schöne Kleid angezogen, welches ihr einbeschert worden, und sah wunderhübsch aus, aber Marie meinte, als sie auch ihr Kleid anziehen sollte, sie möchte es lieber noch ein bißchen so ansehen. Man erlaubte ihr gern.

Der Schützling

Eigentlich mochte Marie sich deshalb gar nicht von dem Weihnachtstisch trennen, weil sie eben etwas noch nicht Bemerktes entdeckt hatte. Durch das Ausrücken von Fritzens Husaren, die dicht an dem Baum in Parade gehalten, war nämlich ein sehr vortreiflicher kleiner Mann sichtbar geworden, der still und bescheiden dastand, als erwarte er ruhig, wenn die Reihe an ihn kommen werde. Gegen seinen Wuchs wäre freilich vieles einzuwenden gewesen, denn abgesehen davon, daß der etwas lange, starke Oberleib nicht recht zu den kleinen dünnen Beinchen passen wollte, so schien auch der Kopf bei weitem zu groß. Vieles machte die propre Kleidung gut, welche auf einen Mann von Geschmack und Bildung schließen ließ. Er trug nämlich ein sehr schönes violettglänzendes

Husarenjäckchen mit vielen weißen Schnüren und Knöpfchen, ebensolche Beinkleider und die schönsten Stiefelchen, die jemals an die Füße eines Studenten, ja wohl gar eines Offiziers gekommen sind. Sie saßen an den zierlichen Beinchen so knapp angegossen, als wären sie darauf gemalt. Komisch war es zwar, daß er zu dieser Kleidung sich hinten einen schmalen unbeholfenen Mantel. der recht aussah wie von Holz, angehängt und ein Bergmannsmützchen aufgesetzt hatte, indessen dachte Marie daran, daß Pate Droßelmeier ja auch einen sehr schlechten Matin umhänge und eine fatale Mütze aufsetze, dabei aber doch ein gar lieber Pate sei. Auch stellte Marie die Betrachtung an, daß Pate Droßelmeier, trüge er sich auch übrigens so zierlich wie der Kleine, doch nicht einmal so hübsch als er aussehen werde. Indem Marie den netten Mann, den sie auf den ersten Blick liebgewonnen, immer mehr und mehr ansah, da wurde sie erst recht inne, welche Gutmütigkeit auf seinem Gesichte lag. Aus den hellgrünen, etwas zu großen hervorstehenden Augen sprach nichts als Freundschaft und Wohlwollen. Es stand dem Manne gut, daß sich um sein Kinn ein wohlfrisierter Bart von weißer Baumwolle legte, denn um so mehr konnte man das süße Lächeln des hochroten Mundes bemerken. "Ach!" rief Marie endlich aus, "ach, lieber Vater, wem gehört denn der allerliebste kleine Mann dort am Baum?" — "Der", antwortete der Vater, "der, liebes Kind, soll für euch alle tüchtig arbeiten, er soll euch fein die harten Nüsse aufbeißen, und er gehört Luisen ebensogut als dir und dem Fritz." Damit nahm ihn der Vater behutsam vom Tische, und indem er den hölzernen Mantel in die Höhe hob, sperrte das Männlein den Mund weit, weit auf und zeigte zwei Reihen sehr weißer spitzer Zähnchen. Marie schob auf des Vaters Geheiß eine Nuß hinein, und - knack - hatte sie der Mann zerbissen, daß die Schalen abfielen und Marie den süßen Kern in die Hand bekam. Nun mußte wohl jeder und auch Marie wissen, daß der zierliche kleine Mann aus dem Geschlecht der Nußknacker abstammte und die Profession seiner Vorfahren trieb. Sic jauchzte auf vor Freude, da sprach der Vater: "Da dir, liebe Marie, Freund Nußknacker so sehr gefällt, so sollst du ihn auch besonders hüten und schützen, unerachtet, wie ich gesagt, Luise und Fritz ihn mit ebenso vielem Recht brauchen können als du!" —Marie nahm ihn sogleich in den Arm und ließ ihn Nüsse aufknacken, doch suchte sic die kleinsten aus, damit das Männlein nicht so weit den Mund aufsperren durfte, welches ihm doch im Grunde nicht gut stand. Luise gesellte sich zu ihr, und auch für sie mußte Freund Nußknacker seine Dienste verrichten, welches er gern zu tun schien, da er immerfort sehr freundlich lächelte. Fritz war unterdessen vom vielen Exerzieren und Reiten müde geworden, und da er so lustig Nüsse knacken hörte, sprang er hin zu den Schwestern und lachte recht von Herzen über den kleinen drolligen Mann, der nun, da Fritz auch Nüsse essen wollte, von Hand zu Hand ging und gar nicht aufhören konnte mit Auf- und Zuschnappen. Fritz schob immer die größten und härtsten Nüsse hinein, aber mit einem Male ging es - krack - krack - und drei Zähnchen helen aus des Nußknackers Munde, und sein ganzes Unterkinn war lose und wacklicht. — "Ach, mein armer lieber Nußknacker!" schrie Marie laut und nahm ihn dem Fritz aus den Händen. "Das ist ein einfältiger dummer Bursche", sprach Fritz. "Will Nußknacker sein und hat kein ordentliches Gebiß — mag wohl auch sein Handwerk gar nicht verstehn. — Gib ihn nur her, Marie! Er soll mir Nüsse zerbeißen, verliert er auch noch die übrigen Zähne, ja das ganze Kinn obendrein, was ist an dem Taugenichts gelegen." —"Nein, nein", rief Marie weinend, "du bekommst ihn nicht, meinen lieben Nußknacker, sich nur her, wie er mich so wehmütig anschaut und mir sein wundes Mündchen zeigt! — Aber du bist ein hartherziger Mensch - du schlägst deine Pferde und läßt wohl gar einen Soldaten totschießen." — "Das muß so sein, das verstehst du nicht", rief Fritz; "aber der Nußknacker gehört ebensogut mir als dir, gib ihn nur her." — Marie fing an, heftig zu weinen, und wickelte den kranken Nußknacker schnell in ihr kleines Taschentuch ein. Die Eltern kamen mit dem Paten Droßelmeier herbei. Dieser nahm zu Mariens Leidwesen Fritzens Partie. Der Vater sagte aber: "Ich habe den Nußknacker ausdrücklich unter Mariens Schutz gestellt, und da, wie ich sehe, er dessen eben jetzt bedarf, so hat sie volle Macht über ihn, ohne daß jemand dreinzureden hat. Übrigens wundert es mich sehr von Fritzen, daß er von einem im Dienst Erkrankten noch fernere Dienste verlangt. Als guter Militär sollte er doch wohl wissen, daß man Verwundete niemals in Reihe und Glied stellt?" — Fritz war sehr beschämt und schlich, ohne sich weiter um Nüsse und Nußknacker zu bekümmern. fort an die andere Seite des Tisches, wo seine Husaren. nachdem sie gehörige Vorposten ausgestellt hatten, ins Nachtquartier gezogen waren. Marie suchte Nußknackers verlorne Zähnchen zusammen, um das kranke Kinn hatte sie ein hübsches weißes Band, das sie von ihrem Kleidchen abgelöst, gebunden und dann den armen Kleinen, der sehr blaß und erschrocken aussah, noch sorgfältiger als vorher in ihr Tuch eingewickelt. So hielt sic ihn wie ein kleines Kind wiegend in den Armen und besah die schönen Bilder des neuen Bilderhuchs, das heute unter den andern vielen Gaben lag. Sie wurde, wie es sonst gar nicht ihre Art war, recht böse, als Pate Droßelmeier so sehr lachte und immerfort fragte: wie sie denn mit solch einem grundhäßlichen kleinen Kerl so schöntun könne. — Jener sonderbare Vergleich mit Droßelmeier, den sie anstellte, als der Kleine ihr zuerst in die Augen fiel, kam ihr wieder in den Sinn, und sie sprach sehr ernst: "Wer weiß, lieber Pate, ob du denn, putztest du dich auch so heraus wie mein lieber Nußknacker und hättest du auch solche schöne blanke Stiefelchen an, wer weiß, ob du denn doch so hübsch aussehen würdest als er!" — Marie wußte gar nicht, warum denn die Eltern so laut auflachten und warum der Obergerichtsrat solch eine rote Nase bekam und gar nicht so hell mitlachte wie zuvor. Es mochte wohl seine besondere Ursache haben.

Wunderdinge

Bei Medizinalrats in der Wohnstube, wenn man zur Türe hineintritt, gleich links an der breiten Wand, steht ein hoher Glasschrank. in welchem die Kinder all die schönen Sachen. die ihnen jedes Jahr einbeschert worden, aufbewahren. Die Luise war noch ganz klein, als der Vater den Schrank von einem sehr geschickten Tischler machen ließ, der so himmelhelle Scheiben einsetzte und überhaupt das Ganze so geschickt einzurichten wußte, daß alles drinnen sich beinahe blanker und hübscher ausnahm, als wenn man es in Händen hatte. Im obersten Fache. für Marien und Fritzen unerreichbar, standen des Paten Droßclmeier Kunstwerke, gleich darunter war das Fach für die Bilderbücher, die beiden untersten Fächer durften Marie und Fritz anfüllen, wie sie wollten, jedoch geschah es immer, daß Marie das unterste Fach ihren Puppen zur Wohnung einräumte, Fritz dagegen in dem Fache drüber seine Truppen Kantonierungsquarticre beziehen ließ. So war es auch heute gekommen, denn indem Fritz seine Husaren oben aufgestellt, hatte Marie unten Mamsell Trutchen beiseite gelegt, die neue, schön geputzte Puppe in das sehr gut möblierte Zimmer hineingesetzt und sich auf Zuckerwerk bei ihr eingeladen. Sehr gut möbliert war das Zimmer, habe ich gesagt, und das ist auch wahr, denn ich weiß nicht, ob du, meine aufmerksame Zuhörerin Marie! ebenso wie die kleine Stahlbaum (es ist dir schon bekannt worden, daß sie auch Marie heißt), ja! — ich meine, ob du ebenso wie diese ein kleines schöngeblümtes Sofa, mehrere allerliebste Stühlchen, einen niedlichen Teetisch, vor allen Dingen aber ein sehr nettes blankes Bettchen besitzest, worin die schönsten Puppen ausruhen? Alles dieses stand in der Ecke des Schranks, dessen Wände hier sogar mit bunten Bilderchen tapeziert waren, und du kannst dir wohl denken, daß in diesem Zimmer die neue Puppe, welche, wie Marie noch denselben Abend erfuhr, Mamsell Klärchen hieß, sich sehr wohl befinden mußte.

Es war später Abend geworden, ja Mitternacht im Anzuge, und Pate Droßelmeier längst fortgegangen, als die Kinder noch gar nicht wegkommen konnten von dem Glasschrank. sosehr auch die Mutter mahnte, daß sie doch endlich nun zu Bette gehen möchten. "Es ist wahr", rief endlich Fritz, "die armen Kerls (seine Husaren meinend) wollen auch nun Ruhe haben, und solange ich da bin, wagt's keiner, ein bißchen zu nicken, das weiß ich schon!" Damit ging er ab; Marie aber bat gar sehr: "Nur noch ein Weilchen, ein einziges kleines Weilchen laß mich hier, liebe Mutter, hab ich ja doch manches zu besorgen, und ist das geschehen, so will ich ja gleich zu Bette gehen!" Marie war gar ein frommes vernünftiges Kind, und so konnte die gute Mutter wohl ohne Sorgen sie noch bei den Spielsachen allein lassen. Damit aber Marie nicht etwa gar zu sehr verlockt werde von der neuen Puppe und den schönen Spielsachen überhaupt, so aber die Lichter vergäße, die rings um den Wandschrank brennten, löschte die Mutter sie sämtlich aus, so daß nur die Lampe, die in der Mitte des Zimmers von der Decke herabhing, ein sanftes anmutiges Licht verbreitete. "Komm bald hinein, liebe Marie! sonst kannst du ja morgen nicht zu rechter Zeit aufstehen", rief die Mutter, indem sic sich in das Schlafzimmer entfernte. Sobald sich Marie allein befand, schritt sie schnell dazu, was ihr zu tun recht auf dem Herzen lag und was sie doch nicht, selbst wußte sie nicht warum, der Mutter zu entdecken vermochte. Noch immer hatte sie den kranken Nußknacker, eingewickelt in ihr Taschentuch, auf dem Arm getragen. Jetzt legte sie ihn behutsam auf den Tisch, wickelte leise, leise das Tuch ab und sah nach den Wunden. Nußknacker war sehr bleich, aber dabei lächelte er so sehr wehmütig freundlich, daß es Marien recht durch das Herz ging. "Ach, Nußknackerchen", sprach sie sehr leise, "sei nur nicht böse, daß Bruder Fritz dir so wehe getan hat, er hat es auch nicht so schlimm gemeint, er ist nur ein bißchen hartherzig geworden durch das wilde Soldatenwesen, aber sonst ein recht guter Junge, das kann ich

dich versichern. Nun will ich dich aber auch recht sorglich so lange pflegen, bis du wieder ganz gesund und fröhlich geworden; dir deine Zähnchen recht fest einsetzen, dir die Schultern einrenken, das soll Pate Droßelmeier, der sich auf solche Dinge versteht." — Aber nicht ausreden konnte Marie, denn indem sic den Namen Droßelmeier nannte, machte Freund Nußknacker ein ganz verdammt schiefes Maul, und aus seinen Augen fuhr es heraus wie grünfunkelnde Stacheln. In dem Augenblick aber, daß Marie sich recht entsetzen wollte, war es ja wieder des ehrlichen Nußknackers wehmütig lächelndes Gesicht, welches sie anblickte, und sie wußte nun wohl, daß der von der Zugluft berührte, schnell auflodernde Strahl der Lampe im Zimmer Nußknackers Gesicht so entstellt hatte. "Bin ich nicht ein töricht Mädchen, daß ich so leicht erschrecke, so daß ich sogar glaube, das Holzpüppchen da könne mir Gesichter schneiden! Aber lieb ist mir doch Nußknacker gar zu sehr, weil er so komisch ist und doch so gutmütig, und darum muß er gepflegt werden, wie sichs gehört!" Damit nahm Marie den Freund Nußknacker-in--den Arm, näherte--sich-dem Glasschrank. kauerte vor demselben und sprach also zur neuen Puppe: "Ich bitte dich recht sehr, Mamsell Klärchen, tritt dein Bettchen dem kranken wunden Nußknacker ah und behelfe dich, so gut wie es geht, mit dem Sofa. Bedenke, daß du sehr gesund und recht bei Kräften bist, denn sonst würdest du nicht solche dicke dunkelrote Backen haben, und daß sehr wenige der allerschönsten Puppen solche weiche Sofas besitzen."

Mamsell Klärchen sah in vollem glänzenden Weihnachtsputz sehr vornehm und verdrießlich aus und sagte nicht "Muck!" — "Was mache ich aber auch für Umstände". sprach Marie, nahm das Bette hervor, legte sehr leise und sanft Nußknackerchen hinein, wickelte noch ein gar schönes Bändchen, das sie sonst um den Leib getragen, um die wunden Schultern und bedeckte ihn bis unter die Nase. "Bei der unartigen Kläre darf er aber nicht bleiben", sprach sie weiter und hob das Bettchen samt dem darinne liegenden Nußknacker

heraus in das obere Fach, so daß es dicht neben dem schönen Dorf zu stehen kam, wo Fritzens Husaren kantonierten. Sie verschloß den Schrank und wollte ins Schlafzimmer, da - horcht auf, Kinder! — da fing es an, leise - leise zu wispern und zu flüstern und zu rascheln ringsherum, hinter dem Ofen, hinter den Stühlen, hinter den Schränken. — Die Wanduhr schnurrte dazwischen lauter und lauter, aber sie konnte nicht schlagen. Marie blickte hin, da hatte die große vergoldete Eule, die darauf saß, ihre Flügel herabgesenkt, so daß sie die ganze Uhr überdeckten, und den häßlichen Katzenkopf mit krummem Schnabel weit vorgestreckt. Und stärker schnurrte es mit vernehmlichen Worten: "Uhr, Uhre, Uhre, Uhren, müßt alle nur leise schnurren, leise schnurren. —Mausekönig hat ja wohl ein feines Ohr - purrpurr - pum pum, singt nur, singt ihm altes Liedlein vor - purr purr - pum pum, schlag an, Glöcklein, schlag an, bald ist es um ihn getan!" Und pum pum ging es ganz dumpf und heiser zwölfmal! — Marien fing an, sehr zu grauen, und entsetzt wär sie beinahe davongelaufen, als sie Pate Droßelmeier erblickte, der statt der Eule auf der Wanduhr saß und seine gelben Rockschöße von beiden Seiten wie Flügel herabgehängt hatte, aber sic ermannte sich und rief laut und weinerlich: "Pate Droßelmeier, Pate Droßelmeier, was willst du da oben? Komm herunter zu mir und erschrecke mich nicht so, du böser Pate Droßelmeier!" — Aber da ging ein tolles Kichern und Gepfeife los rundumher, und bald trottierte und lief es hinter den Wänden wie mit tausend kleinen Füßchen, und tausend kleine Lichterchen blickten aus den Ritzen der Dielen. Aber nicht Lichterchen waren es, nein! kleine funkelnde Augen, und Marie wurde gewahr, daß überall Mäuse hervorguckten und sich hervorarbeiteten. Bald ging es trott - trott -hopp hopp in der Stube umher - immer lichtete und dichtere Haufen Mäuse galoppierten hin und her und stellten sich endlich in Reihe und Glied, so wie Fritz seine Soldaten zu stellen pflegte, wenn es zur Schlacht gehen sollte. Das kam nun Marien sehr possierlich vor, und da sic nicht, wie manche andere Kinder. einen natürlichen Abscheu gegen Mäuse hatte, wollte ihr eben alles Grauen vergehen, als es mit einemmal so entsetzlich und so schneidend zu pfeifen begann, daß es ihr eiskalt über den Rücken lief! — Ach, was erblickte sie jetzt! — Nein, wahrhaftig, geehrter Leser Fritz, ich weiß, daß ebensogut wie dem weisen und mutigen Feldherrn Fritz Stahlbaum dir das Herz auf dem rechten Flecke sitzt, aber hättest du das gesehen, was Marien jetzt vor Augen kam, wahrhaftig, du wärst davongelaufen, ich glaube sogar, du wärst schnell ins Bette gesprungen und hättest die Decke viel weiter über die Ohren gezogen als gerade nötig. — Ach! — das konnte die arme Marie ja nicht einmal tun, denn hört nur, Kinder! — dicht, dicht vor ihren Füßen sprühte es, wie von unterirdischer Gewalt getrieben, Sand und Kalk und zerbröckelte Mauersteine hervor, und sieben Mäuseköpfe mit sieben hellfunkelnden Kronen erhoben sich, recht gräßlich zischend und pfeifend, aus dem Boden. Bald arbeitete sich auch der Mäusekörper, an dessen Hals die sieben Köpfe angewachsen waren; vollends--hervor, -und der großen, mit sieben- Diademen geschmückten Maus jauchzte in vollem Chorus, dreimal laut aufquiekend, das ganze Heer entgegen, das sich nun auf einmal in Bewegung setzte, und bott, bott - trott - trott ging es - ach, geradezu auf den Schrank - geradezu auf Marien los, die noch dicht an der Glastüre des Schrankes stand. Vor Angst und Grauen hatte Marien das Herz schon so gepocht, daß sie glaubte, es müsse nun gleich aus der Brust herausspringen, und dann müßte sie sterben; aber nun war es ihr, als stehe ihr das Blut in den Adern still. Halb ohnmächtig wankte sie zurück, da ging es klirr - klirr - prr, und in Scherben fiel die Glasscheibe des Schranks herab, die sie mit dem Ellbogen eingestoßen. Sie fühlte wohl in dem Augenblick einen recht stechenden Schmerz am linken Arm. aber es war ihr auch plötzlich viel leichter ums Herz, sie hörte kein Quieken und Pfeifen mehr, es war alles ganz still geworden, und obschon sie nicht hinblicken mochte, glaubte sic doch, die Mäuse wären, von dem Klirren der Scheibe erschreckt, wieder abgezogen in ihre Löcher. — Aber was war denn das wieder? — Dicht hinter Marien fing es an, im Schrank auf seltsame Weise zu rumoren, und ganz feine Stimmchen fingen an: "Aufgewacht - aufgewacht - wohn zur Schlacht - noch diese Nacht - aufgewacht - auf zur Schlacht." — Und dabei klingelte es mit harmonischen Glöcklein gar hübsch und anmutig! "Ach, das ist ja mein kleines Glockenspiel", rief Marie freudig und sprang schnell zur Seite. Da sah sie, wie es im Schrank ganz sonderbar leuchtete und herumwirtschaftete und hantierte. Es waren mehrere Puppen, die durcheinanderliefen und mit den kleinen Armen herumfochten. Mit einemmal erhob sich jetzt Nußknacker, warf die Decke weit von sich Lind sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem Bette, indem er laut rief: "Knack - knack - knack - dummes Mausepack - dummer toiler Schnack - Mausepack - knack - knack - Mausepack - krick und krack - wahrer Schnack." Und damit zog er sein kleines Schwert und schwang es in den Lüften und rief: "Ihr, meine lieben Vasallen, Freunde und Brüder, wollt ihr mir beistehen im harten Kampf?" —Sogleich schrien heftig drei Scaramuze, ein Pantalon, vier Schornsteinfeger, zwei Zitherspielmänner und ein Tambour: "Ja, Herr - wir hängen Euch an in standhafter Treue - mit Euch ziehen wir in Tod, Sieg und Kampf!" und stürzten sich nach dem begeisterten Nußknacker, der den gefährlichen Sprung wagte, vom obern Fach herab. Ja! jene hatten gut sich herabstürzen, denn nicht allein, daß sie reiche Kleider von Tuch und Seide trugen, so war inwendig im Leibe auch nicht viel anders als Baumwolle und Häcksel, daher plumpten sie auch herab wie Wollsäckchen. Aber der arme Nußknacker, der hätte gewiß Arm und Beine gebrochen. denn, denkt euch, es war beinahe zwei Fuß hoch vom Fache, wo er stand, bis zum untersten, und sein Körper war so spröde, als sei er geradezu aus Lindenholz geschnitzt. Ja, Nußknacker hätte gewiß Arm und Beine gebrochen, wäre, im Augenblick, als er sprang, nicht auch Mamsell Klärchen schnell vom Sofa aufgesprungen und hätte den Helden mit dem gezogenen Schwert in ihren weichen Armen aufgefangen. "Ach, du liebes gutes Klärchen!" schluchzte Marie, "wie habe ich dich verkannt, gewiß gabst du Freund Nußknackern dein Bettchen recht gerne her!" Doch Mamsell Klärchen sprach jetzt, indem sic den jungen Helden sanft an ihre seidene Brust drückte: "Wollet Euch, o Herr! krank und wund, wie Ihr seid, doch nicht in Kampf und Gefahr begeben, seht, wie Eure tapferen Vasallen kampffustig und des Sieges gewiß sich sammeln. Scaramuz, Pantalon, Schornsteinfeger, Zitherspielmann und Tambour sind schon unten, und die Devisenfiguren in meinem Fache rühren und regen sich merklich! Wollet, o Herr! in meinen Armen ausruhen oder von meinem Federhut herab Euern Sieg anschaun!" So sprach Klärchen, doch Nußknacker tat ganz ungebärdig und strampelte so sehr mit den Beinen, daß Klärchen ihn schnell herab auf den Boden setzen mußte. In dem Augenblick ließ er sich aber sehr artig auf ein Knie nieder und lispelte: "0 Dame! stets werd ich Eurer mir bewiesenen Gnade und Huld gedenken in Kampf und Streit!"Da bückte sich Klärchen so tief herab, daß sie ihn beim Ärmchen ergreifen konnte, hob ihn sanft auf, löste schnell ihren mit vielen Flittern gezierten Leibgürtel los und wollte ihn dem Kleinen umhängen, doch der wich zwei Schritte zurück, legte die Hand auf die Brust und sprach sehr feierlich: "Nicht so wollet, o Dame, Eure Gunst an mir verschwenden, denn -" — er stockte, seufzte tief auf, riß dann schnell das Bändchen, womit ihn Marie verbunden hatte, von den Schultern, drückte es an die Lippen, hing es wie eine Feldbinde um und sprang, das blankgezogene Schwertlein mutig schwenkend, schnell und behende wie ein Vögelchen über die Leiste des Schranks auf den Fußboden. — Ihr merkt wohl, höchst geneigte und sehr vortreffliche Zuhörer, daß Nußknacker schon früher, als er wirklich lebendig worden, alles Liebe und Gute, was ihm Marie erzeigte, recht deutlich fühlte und daß er nur deshalb, weil er Marien so gar gut worden, auch nicht einmal ein Band von Mamsell Klärchen annehmen und tragen wollte, unerachtet es sehr glänzte und sehr hübsch aussah. Der treue gute Nußknacker putzte sich lieber mit Mariens schlichtem Bändchen. — Aber wie wird es nun weiter werden? — Sowie Nußknacker herabspringt, geht auch das Quieken und Piepen wieder los. Ach! unter dem großen Tische halten ja die fatalen Rotten unzähliger Mäuse, und über alle ragt die abscheuliche Maus mit den sieben Köpfen hervor! —Wie wird das nun werden!

Die Schlacht

"Schlagt den Generalmarsch, getreuer Vasalle Tambour schrie Nußknacker sehr laut, und sogleich fing der Tambour an, auf die künstlichste Weise zu wirbeln, daß die Fenster des Glasschranks zitterten und dröhnten. Nun krackte und klapperte es drinnen, und Marie wurde gewahr, daß die Deckel sämtlicher Schachteln. worin Fritzens Armee einquartiert war, mit Gewalt auf- und die Soldaten heraus- und herab ins unterste Fach sprangen, dort sich aber in blanken Rotten sammelten. Nußknacker lief auf und nieder, begeisterte Worte zu den Truppen sprechend. "Kein Hund von Trompeter regt und rührt sich", schrie Nußknacker erbost, wandte sich aber dann schnell zum Pantalon, der, etwas blaß geworden, mit dem langen Kinn sehr wackelte, und sprach feierlich: "General, ich kenne Ihren Mut und Ihre Erfahrung, hier gilt's schnellen Überblick und Benutzung des Moments - ich vertraue Ihnen das Kommando sämtlicher Kavallerie und Artillerie an - ein Pferd brauchen Sie nicht, Sie haben sehr lange Beine und galoppieren damit leidlich. — Tun Sie jetzt, was ihres Berufs ist."Sogleich drückte Pantalon die dürren langen Fingerchen an den Mund und krähte so durchdringend, daß es klang, als würden hundert helle Trompetlein lustig geblasen. Da ging es im Schrank an ein Wiehern und Stampfen, und siehe, Fritzens Kürassiere und Dragoner, vor allen Dingen aber die neuen glänzenden

Husaren rückten aus und hielten bald unten auf dem Fußboden. Nun defilierte Regiment auf Regiment mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel bei Nußknacker vorüber und stellte sich in breiter Reihe quer über den Boden des Zimmers. Aber vor ihnen her fuhren rasselnd Fritzens Kanonen auf, von den Kanoniern umgeben, und bald ging es bum — bum. und Marie sah, wie die Zuckererbsen einschlugen in den dicken Haufen der Mäuse, die davon ganz weiß überpudert wurden und sich sehr schämten. Vorzüglich tat ihnen aber eine schwere Batterie viel Schaden, die auf Mamas Fußbank aufgefahren war und, pum -- pum - pum, immer hintereinander fort Pfeffernüsse unter die Mäuse schoß, wovon sie umfielen. Die Mäuse kamen aber doch immer näher und überrannten sogar einige Kanonen, aber da ging es prr - prr, prr, und vor Rauch und Staub konnte Marie kaum sehen, was nun geschah. Doch soviel war gewiß, daß jedes Korps sich mit der höchsten Erbitterung schlug, und der Sieg lange hin und her schwankte. Die Mäuse entwickelten immer mehr und mehr Massen, und ihre kleinen silbernen Pillen, die sie sehr geschickt zu schleudern wußten, schlugen schon bis in den Glasschrank hinein. Verzweiflungsvoll liefen Klärchen und Trutchen umher und rangen sich die Händchen wund. "Soll ich in meiner blühendsten Jugend sterben! — ich, die schönste der Puppen!" schrie Klärchen. "Hab ich darum mich so gut konserviert, um hier in meinen vier Wänden umzukommen?" rief Trutchen. Dann fielen sie sich um den Hals und heulten so sehr, daß man es trotz des tollen Lärms doch hören konnte. Denn von dem Spektakel, der nun losging, habt ihr kaum einen Begriff, werte Zuhörer. — Das ging - prr - prr -puff, pif -schnetterdeng - schnetterdeng - bum, hurum, bum - hurum - bum - durcheinander, und dabei quiekten und schrien Mauskönig und Mäuse, und dann hörte man wieder Nußknackers gewaltige Stimme, wie er nützliche Befehle austeilte, und sah ihn, wie er über die im Feuer stehenden Bataillone hinwegschritt! — Pantalon hatte einige sehr glänzende Kavallerieangriffe gemacht und sich mit Ruhm bedeckt, aber Fritzens Husaren wurden von der Mäuseartillerie mit häßlichen, übelriechenden Kugeln beworfen, die ganz fatale Flecke in ihren roten Wämsern machten, weshalb sie nicht recht vor wollten. Pantalon ließ sie links abschwenken, und in der Begeisterung des Kornmandierens machte er es ebenso und seine Kürassiere und Dragoner auch, das heißt, sie schwenkten alle links ab und gingen nach Hause. Dadurch geriet die auf der Fußbank postierte Batterie in Gefahr, und es dauerte auch gar nicht lange, so kam ein dicker Haufe sehr häßlicher Mäuse und rannte so stark an, daß die ganze Fußbank mitsamt den Kanonieren und Kanonen umfiel. Nußknacker schien sehr bestürzt und befahl, daß der rechte Flügel eine rückgängige Bewegung machen solle. Du weißt, o mein kriegserfahrner Zuhörer Fritz! daß eine solche Bewegung machen beinahe soviel heißt als davonlaufen, und betrauerst mit mir schon jetzt das Unglück, was über die Armee des kleinen, von Marie geliebten Nußknackers kommen sollte! — Wende jedoch dein Auge von diesem Unheil ab und beschaue den linken Flügel der nußknackerischen Armee, wo alles noch sehr gut steht und für Feldherrn und Armee viel zu hoffen ist. Während des hitzigsten Gefechts waren leise, leise Mäusekavalleriemassen unter der Kommode herausdebouchiert und hatten sich unter lautem gräßlichen Gequiek mit Wut auf den linken Flügel der nußknackerischen Armee geworfen, aber welchen Widerstand fanden sie da! —Langsam, wie es die Schwierigkeit des Terrains nur erlaubte, da die Leiste des Schranks zu passieren, war das Devisenkorps unter der Anführung zweier chinesischer Kaiser vorgerückt und hatte sich en quarré plain formiert. — Diese wackern, sehr bunten und herrlichen Truppen, die aus vielen Gärtnern, Tirolern, Tungusen, Friseurs, Harlekins, Cupidos, Löwen, Tigern, Meerkatzen und Affen bestanden, fochten mit Fassung, Mut und Ausdauer. Mit spartanischer Tapferkeit hätte dies Bataillon von Eliten dem Feinde den Sieg entrissen, wenn nicht ein verwegener feindlicher Rittmeister, tollkühn vordringend, einem der chinesischen Kaiser den Kopf abgebissen und dieser im Fallen zwei Tungusen und eine Meerkatze erschlagen hätte. Dadurch entstand eine Lücke, durch die der Feind eindrang, und bald war das ganze Bataillon zerbissen. Doch wenig Vorteil hatte der Feind von dieser Untat. Sowie ein Mäusekavallerist mordlustig einen der tapfern Gegner mittendurch zerbiß, bekam er einen kleinen gedruckten Zettel in den Hals, wovon er augenblicklich starb. — Half dies aber wohl auch der nußknackerischen Armee, die, einmal rückgängig geworden, immer rückgängiger wurde und immer mehr Leute verlor, so daß der unglückliche Nußknacker nur mit einem gar kleinen Häufchen dicht vor dem Glasschränke hielt? "Die Reserve soll heran! — Pantalon - Scaramuz, Tambour - wo seid ihr?" — So schrie Nußknacker, der noch auf neue Truppen hoffte, die sich aus dem Glasschrank entwickeln sollten. Es kamen auch wirklich einige braune Männer und Frauen aus Thorn mit goldnen Gesichtern, Hüten und Helmen heran, die fochten aber SO ungeschickt um sich herum, daß sie keinen der Feinde trafen und bald ihrem Feldherrn Nußknacker selbst die Mütze vom Kopfe heruntergefochten hätten. Die feindlichen Chasseurs bissen ihnen auch bald die Beine ab, so daß sie umstülpten und noch dazu einige von Nußknackers Waffenbrüdern erschlugen. Nun war Nußknacker, vom Feinde dicht umringt, in der höchsten Angst und Not. Er wollte über die Leiste des Schranks springen, aber die Beine waren zu kurz, Klärchen und Trutchen lagen in Ohnmacht, sie konnten ihm nicht helfen - Husaren - Dragoner sprangen lustig bei ihm vorbei und hinein, da schrie er auf in heller Verzweiflung: "Ein Pferd - ein Pferd - ein Königreich für ein Pferd!" — In dem Augenblick packten ihn zwei feindliche Tirailleurs bei dem hölzernen Mantel, und im Triumph aus sieben Kehlen aufquiekend, sprengte Mausekönig heran. Marie wußte sich nicht mehr zu fassen, .,o mein armer Nußknacker - mein armer Nußknacker!" so rief sie schluchzend, faßte, ohne sich deutlich ihres Tuns bewußt zu sein, nach ihrem linken Schuh und warf ihn mit Gewalt in den dicksten Haufen der Mäuse hinein auf ihren König. In dem Augenblick schien alles verstoben und verflogen, aber Marie empfand am linken Arm einen noch stechendern Schmerz als vorher und sank ohnmächtig zur Erde nieder.

Die Krankheit

Als Marie wie aus tiefem Todesschlaf erwachte, lag sic in ihrem Bettchen, und die Sonne schien hell und funkelnd durch die mit Eis belegten Fenster in das Zimmer hinein. Dicht neben ihr saß ein fremder Mann, den sie aber bald für den Chirurgus Wendelstern erkannte. Der sprach leise: "Nun ist sic aufgewacht Da kam die Mutter herbei und sah sie mit recht ängstlich forschenden Blicken an. "Ach, liebe Mutter", lispelte die kleine Marie. "sind denn nun die häßlichen Mäuse alle fort, und ist denn der gute Nußknacker gerettet?" —"Sprich nicht solch albernes Zeug, liebe Marie", erwiderte die Mutter. "was haben die Mäuse mit dem Nußknacker zu tun? Aber du, böses Kind, hast uns allen recht viel Angst und Sorge gemacht. Das kommt davon her, wenn die Kinder eigenwillig sind und den Eltern nicht folgen. Du spieltest gestern bis in die tiefe Nacht hinein mit deinen Puppen. Du wurdest schläfrig, und mag es sein, daß ein hervorspringendes Mäuschen, deren es doch sonst hier nicht gibt, dich erschreckt hat; genug, du stießest mit dem Arm eine Glasscheibe des Schranks ein und schnittest dich so sehr in den Arm, daß Herr Wendelstern, der dir eben die noch in den Wunden steckenden Glasscherbchen herausgenommen hat, meint, du hättest, zerschnitt das Glas eine Ader, einen steifen Arm behalten oder dich gar verbluten können. Gott sei gedankt, daß ich, um Mitternacht erwachend und dich noch so spät vermissend, aufstand und in die Wohnstube ging. Da lagst du dicht neben dem Glasschrank ohnmächtig auf der Erde und blutetest sehr. Bald wär ich vor Schreck auch ohnmächtig geworden. Da lagst du nun, und um dich her zerstreut

erblickte ich viele von Fritzens bleiernen Soldaten und andere Puppen, zerbrochene Devisen, Pfefferkuchmänner; Nußknacker lag aber auf deinem blutenden Arme und nicht weit von dir dein linker Schuh." — "Ach Mütterchen, Mütterchen", fiel Marie ein, "sehen Sie wohl, das waren ja noch die Spuren von der großen Schlacht zwischen den Puppen und Mäusen, und nur darüber bin ich so sehr erschrocken, als die Mäuse den armen Nußknacker, der die Puppenarmee kommandierte, gefangennehmen wollten. Da warf ich meinen Schuh unter die Mäuse. und dann weiß ich weiter nicht, was vorgegangen." Der Chirurgus Wendelstern winkte der Mutter mit den Augen, und diese sprach sehr sanft zu Marien: "Laß es nur gut sein, mein liebes Kind! — beruhige dich, die Mäuse sind alle fort, und Nußknackerchen steht gesund und lustig im Glasschrank." Nun trat der Medizinalrat ins Zimmer und sprach lange mit dem Chirurgus Wendelstern; dann fühlte er Mariens Puls, und sie hörte wohl, daß von einem Wundfieber die Rede war. Sic mußte im Bette bleiben und Arzenei nehmen, und so dauerte es einige Tage, wiewohl sic außer einigem Schmerz am Arm sich eben nicht krank und unbehaglich fühlte. Sie wußte, daß Nußknackerchen gesund aus der Schlacht sich gerettet hatte, und es kam ihr manchmal wie im Traume vor, daß er ganz vernehmlich, wiewohl mit sehr wehmütiger Stimme sprach: "Marie, teuerste Dame, Ihnen verdanke ich viel, doch noch mehr können Sie für mich tun!" Marie dachte vergebens darüber nach, was das wohl sein könnte, es fiel ihr durchaus nicht ein. — Spielen konnte Marie gar nicht recht wegen des wunden Arms. und wollte sie lesen oder in den Bilderbüchern blättern, so flimmerte es ihr seltsam vor den Augen, und sie mußte davon ablassen. So mußte ihr nun wohl die Zeit recht herzlich lang werden, und sie konnte kaum die Dämmerung erwarten, weil dann die Mutter sich an ihr Bett setzte und ihr sehr viel Schönes vorlas und. erzählte. Ehen hatte die Mutter die vorzügliche Geschichte vom Prinzen Fakardin vollendet, als die Türe aufging und der Pate Droßelmeier mit den Worten hineintrat: "Nun muß ich doch wirklich einmal selbst sehen, wie es mit der kranken und wunden Marie zusteht."Sowie Marie den Paten Droßclmeier in seinem gelben Röckchen erblickte, kam ihr das Bild jener Nacht, als Nußknacker die Schlacht wider die Mäuse verlor, gar lebendig vor Augen, und unwillkürlich rief sic laut dem Obergerichtsrat entgegen: "0 Pate Droßelmeier, du bist recht häßlich gewesen, ich habe dich wohl gesehen, wie du auf der Uhr saßest und sie mit deinen Flügeln bedecktest, daß sie nicht laut schlagen sollte, weil sonst die Mäuse verscheucht worden wären - ich habe es wohl gehört, wie du dem Mausekönig riefest! — warum kamst du dem Nußknacker. warum kamst du mir nicht zu Hülfe, du häßlicher Pate Droßelmeier, bist du denn nicht allein schuld, daß ich verwundet und krank im Bette liegen muß?" — Die Mutter fragte ganz erschrocken: "Was ist dir denn, liebe Marie?" Aber der Pate Droßelmeier schnitt sehr seltsame Gesichter und sprach mit schnarrender, eintöniger Stimme: "Perpendikel mußte schnurren - picken - wollte sich nicht schicken - Uhren - Uhren - Uhrenperpendikel müssen schnurren - leise schnurren - schlagen Glocken laut kling klang - hink und honk und honk und hank -Puppenmädel, sei nicht bang! —schlagen Glöcklein, ist geschlagen, Mausekönig fortzujagen, kommt die Eul im schnellen Flug - pak und pik und pik und puk - Glöcklein bim bim - Uhren - schnurr schnurr - Perpendikel müssen schnurren - picken wollte sich nicht schicken - schnarr und schnurr und pirr und purr!" — Marie sah den Paten Droßelmeier starr mit großen Augen an, weil er ganz anders und noch viel häßlicher aussah als sonst und mit dem rechten Arm hin und her schlug, als würd er gleich einer Drahtpuppe gezogen. Es hätte ihr ordentlich grauen können vor dem Paten, wenn die Mutter nicht zugegen gewesen wäre und wenn nicht endlich Fritz, der sich unterdessen hineingeschlichen, ihn mit lautem Gelächter unterbrochen hätte. "Ei, Pate Droßelmeier", rief Fritz, "du bist heute wieder auch gar zu possierlich, du gebärdest dich ja wie mein Hampelmann, den ich längst hinter den Ofen geworfen." Die Mutter blieb sehr ernsthaft und sprach: "Lieber Herr Obergerichtsrat, das ist ja ein recht seltsamer Spaß, was meinen Sie denn eigentlich?" — "Mein Himmel!" erwiderte Droßelmeier lachend. "kennen Sie denn nicht mehr mein hübsches Uhrmacherliedchen? Das pfleg ich immer zu singen bei solchen Patienten wie Marie." Damit setzte er sich schnell dicht an Mariens Bette und sprach: "Sei nur nicht böse, daß ich nicht gleich dem Mausekönig alle vierzehn Augen ausgehackt, aber es konnte nicht sein, ich will dir auch statt dessen eine rechte Freude machen." Der Obergerichtsrat langte mit diesen Worten in die Tasche, und was er nun leise, leise hervorzog, war - der Nußknacker, dem er sehr geschickt die verlornen Zähnchen fest eingesetzt und den lahmen Kinnbacken eingerenkt hatte. Marie jauchzte laut auf vor Freude, aber die Mutter sagte lächelnd: "Siehst du nun wohl, wie gut es Pate Droßelmeier mit deinem Nußknacker meint?" — ..Du mußt es aber doch eingestehen, Marie", unterbrach der Obergerichtsrat die Medizinairätin, "du mußt es aber doch eingestehen, daß Nußknacker nicht eben zum besten gewachsen und sein Gesicht nicht eben schön zu nennen ist. Wie sotane Häßlichkeit in seine Familie gekommen und vererbt worden ist, das will ich dir wohl erzählen, wenn du es anhören willst. Oder weißt du vielleicht schon die Geschichte von der Prinzessin Pirlipat, der Hexe Mauserinks und dem künstlichen Uhrmacher?" — "Hör mal", fiel hier Fritz unversehens ein. "hör mal. Pate Droßelmeier, die Zähne hast du dem Nußknacker richtig eingesetzt, und der Kinnbacken ist auch nicht mehr so wackelig, aber warum fehlt ihm das Schwert, warum hast du ihm kein Schwert umgehängt?" — "Ei", erwiderte der Obergerichtsrat ganz unwillig, "du mußt an allem mäkeln und tadeln, Junge! — Was geht mich Nußknackers Schwert an, ich habe ihn am Leibe kuriert, mag er sich nun selbst ein Schwert schaffen, wie er will." — "Das ist wahr", rief Fritz, "ist's ein tüchtiger Kerl, so wird er schon Waffen zu finden wissen!" — "Also Marie", fuhr der Obergerichtsrat fort, "sage mir, ob du die Geschichte weißt von der Prinzessin Pirlipat." — "Ach nein", erwiderte Marie, "erzähle, lieber Pate Droßelmeier, erzähle!" —"Ich hoffe", sprach die Medizinairätin, "ich hoffe, lieber Herr Obergerichtsrat, daß Ihre Geschichte nicht so graulich sein wird, wie gewöhnlich alles ist, was Sie erzählen?" — "Mitnichten, teuerste Frau Medizinairätin", erwiderte Droßelmeier, "im Gegenteil ist das gar spaßhaft, was ich vorzutragen die Ehre haben werde." —"Erzähle, o erzähle, lieber Pate", so riefen die Kinder, und der Obergerichtsrat fing also an:

Das Märchen von der harten Nuß

"Pirlipats Mutter war die Frau eines Königs, mithin eine Königin, und Pirlipat selbst in demselben Augenblick, als sie geboren wurde, eine geborne Prinzessin. Der König war außer sich vor Freude über das schöne Töchterchen, das in der Wiege lag, er jubelte laut auf, er tanzte und schwenkte sich auf einem Beine und schrie ein Mal über das andere: ,Heisa! — hat man was Schöneres jemals gesehen als mein Pirlipatchen?' — Aber alle Minister, Generale und Präsidenten und Stabsoffiziere sprangen, wie der Landesvater, auf einem Beine herum und schrien sehr: ,Nein, niemals!' Zu leugnen war es aber auch in der Tat gar nicht, daß wohl, solange die Welt steht, kein schöneres Kind geboren wurde als eben Prinzessin Pirlipat. Ihr Gesichtchen war wie von zarten lilienweißen und rosenroten Seidenflocken gewebt, die Äugelein lebendige funkelnde Azure, und es stand hübsch, daß die Löckchen sich in lauter glänzenden Goldfaden kräuselten. Dazu hatte Pirlipatchen zwei Reihen kleiner Perlenzähnchen auf die Welt gebracht, womit sie zwei Stunden nach der Geburt dem Reichskanzler in den Finger biß, als er die Lineamente näher untersuchen wollte, so daß er laut aufschrie: ,ojemine!' — Andere behaupten, er habe ,auweh!' geschrien, die Stimmen sind noch heutzutage darüber

sehr geteilt. — Kurz, Pirlipatchen biß wirklich dem Reichskanzler in den Finger, und das entzückte Land wußte nun, daß auch Geist, Gemüt und Verstand in Pirlipats kleinem engelschönen Körperchen wohne. — Wie gesagt, alles war vergnügt, nur die Königin war sehr ängstlich und unruhig, niemand wußte warum. Vorzüglich fiel es auf, daß sie Pirlipats Wiege so sorglich bewachen ließ. Außer dem, daß die Türen von Trabanten besetzt waren, mußten, die beiden Wärterinnen dicht an der Wiege abgerechnet, noch sechs andere Nacht für Nacht ringsumher in der Stube sitzen. Was aber ganz närrisch schien und was niemand begreifen konnte, jede dieser sechs Wärterinnen mußte einen Kater auf den Schoß nehmen und ihn die ganze Nacht streicheln, daß er immerfort zu spinnen genötigt wurde. Es ist unmöglich, daß ihr, lieben Kinder, erraten könnt, warum Pirlipats Mutter all diese Anstalten machte, ich weiß es aber und will es euch gleich sagen. — Es begab sich, daß einmal an dem Hofe von Pirlipats Vater viele vortreffliche Könige und sehr angenehme Prinzen versammelt waren, weshalb es denn sehr glänzend herging und viele Ritterspiele, Komödien und Hofbälle gegeben wurden. Der König, um recht zu zeigen, daß es ihm an Gold und Silber gar nicht mangle, wollte nun einmal einen recht tüchtigen Griff in den Kronschatz tun und was Ordentliches daraufgehen lassen. Er ordnete daher, zumal er von dem Oberhofküchenmeister insgeheim erfahren, daß der Hofastronom die Zeit des Einschlachtens angekündigt, einen großen Wurstschmaus an, warf sich in den Wagen und lud selbst sämtliche Könige und Prinzen - nur auf einen Löffel Suppe ein, um sich der Überraschung mit dem Köstlichen zu erfreuen. Nun sprach er sehr freundlich zur Frau Königin: ,Dir ist ja schon bekannt, Liebchen, wie ich die Würste gern habe!' — Die Königin wußte schon, was er damit sagen wollte, es hieß nämlich nichts anders, als sie selbst sollte sich, wie sie auch sonst schon getan, dem sehr nützlichen Geschäft des Wurstmachens unterziehen. Der Oberschatzmeister mußte sogleich den großen goldnen Wurstkessel und die silbernen Kasserollen zur Küche abliefern; es wurde ein großes Feuer von Sandelholz angemacht, die Königin band ihre damastene Küchenschürze um, und bald dampften aus dem Kessel die süßen Wohlgerüche der Wurstsuppe. Bis in den Staatsrat drang der anmutige Geruch; der König, von innerem Entzücken erfaßt, konnte sich nicht halten. ,Mit Erlaubnis, meine Herren!' rief er, sprang schnell nach der Küche, umarmte die Königin, rührte etwas mit dem goldnen Zepter in dem Kessel und kehrte dann beruhigt in den Staatsrat zurück. Eben nun war der wichtige Punkt gekommen, daß der Speck in Würfel geschnitten und auf silbernen Rosten geröstet werden sollte. Die Hofdamen traten ab, weil die Königin dies Geschäft aus treuer Anhänglichkeit und Ehrfurcht vor dem königlichen Gemahl allein unternehmen wollte. Allein sowie der Speck zu braten anfing, ließ sich ein ganz feines wisperndes Stimmchen vernehmen: ,Von dem Brätlein gib mir auch, Schwester! — will auch schmausen, bin ja auch Königin -gib mir von dem Brätlein!' — Die Königin wußte wohl, daß es Frau Mauserinks war, die also sprach. Frau Mauserinks wohnte schon seit vielen Jahren in des Königs Palast. Sie behauptete, mit der königlichen Familie verwandt und selbst Königin in dem Reiche Mausolien zu sein, deshalb hatte sie auch eine große Hofhaltung unter dem Herde. Die Königin war eine gute mildtätige Frau, wollte sie daher auch sonst Frau Mauserinks nicht gerade als Königin und als ihre Schwester anerkennen, so gönnte sie ihr doch von Herzen an dem festlichen Tage die Schmauserei und rief: ,Kommt nur hervor, Frau Mauserinks, Ihr möget immerhin von meinem Speck genießen.' Da kam auch Frau Mauserinks sehr schnell und lustig hervorgehüpft, sprang auf den Herd und ergriff mit den zierlichen kleinen Pfötchen ein Stückchen Speck nach dem andern, das ihr die Königin hinlangte. Aber nun kamen alle Gevattern und Muhmen der Frau Mauserinks hervorgesprungen und auch sogar ihre sieben Söhne, recht unartige Schlingel, die machten sich über den Speck her, und nicht wehren konnte ihnen die erschrockene Königin. Zum Glück kam die Oberhofmeisterin dazu und verjagte die zudringlichen Gäste, so daß noch etwas Speck übrigblieb, welcher nach Anweisung des herbeigerufenen Hofmathematikers sehr künstlich auf alle Würste verteilt wurde. — Pauken und Trompeten erschallten, alle anwesenden Potentaten und Prinzen zogen in glänzenden Feierkleidern, zum Teil auf weißen Zeltern, zum Teil in kristallnen Kutschen, zum Wurstschmause. Der König empfing sie mit herzlicher Freundlichkeit und Huld und setzte sich dann, als Landesherr mit Kron und Zepter angetan, an die Spitze des Tisches. Schon in der Station der Leberwürste sah man, wie der König immer mehr und mehr erblaßte, wie er die Augen gen Himmel hob - leise Seufzer entflohen seiner Brust - ein gewaltiger Schmerz schien in seinem Innern zu wühlen! Doch in der Station der Blutwürste sank er, laut schluchzend und ächzend, in den Lehnsessel zurück, er hielt beide Hände vors Gesicht, er jammerte und stöhnte. — Alles sprang auf von der Tafel, der Leibarzt bemühte sich vergebens, des unglücklichen Königs Puls zu erfassen, ein tiefer, namenloser Jammer schien ihn zu zerreißen. Endlich, endlich, nach vielem Zureden, nach Anwendung starker Mittel, als da sind gebrannte Federposen und dergleichen, schien der König etwas zu sich selbst zu kommen, er stammelte kaum hörbar die Worte: ,Zu wenig Speck.' Da warf sich die Königin trostlos ihm zu Füßen und schluchzte: ,0 mein armer unglücklicher königlicher Gemahl! — o welchen Schmerz mußten Sie dulden! — Aber sehen Sie hier die Schuldige zu Ihren Füßen - strafen, strafen Sie sie hart - ach - Frau Mauserinks mit ihren sieben Söhnen, Gevattern und Muhmen hat den Speck aufgefressen und -' — damit fiel die Königin rücklings über in Ohnmacht. Aber der König sprang voller Zorn auf und rief laut: ,Oberhofmeisterin, wie ging das zu?' Die Oberhofmeisterin erzählte, soviel sie wußte, und der König beschloß, Rache zu nehmen an der Frau Mauserinks und ihrer Familie, die ihm den Speck aus der Wurst weggefressen hatten. Der Geheime Staatsrat wurde berufen, man beschloß, der Frau Mauserinks den Prozeß zu machen und ihre sämtliche Güter einzuziehen; da aber der König meinte, daß sie unterdessen ihm doch noch immer den Speck wegfressen könnte, so wurde die ganze Sache dem Hofuhrmacher und Arkanisten übertragen. Dieser Mann, der ebenso hieß als ich, nämlich Christian Elias Droßelmeier, versprach, durch eine ganz besonders staatskluge Operation die Frau Mauserinks mit ihrer Familie auf ewige Zeiten aus dem Palast zu vertreiben. Er erfand auch wirklich kleine, sehr künstliche Maschinen, in die an einem Fädchen gebratener Speck getan wurde und die Droßelmeier rings um die Wohnung der Frau Speckfresserin aufstellte. Frau Mauserinks war viel zu weise, um nicht Droßelmeiers List einzusehen, aber alle ihre Warnungen, alle ihre Vorstellungen halfen nichts, von dem süßen Geruch des gebratenen Specks verlockt, gingen alle sieben Söhne und viele, viele Gevattern und Muhmen der Frau Mauserinks in Droßelmeiers Maschinen hinein und wurden, als sie eben den Speck wegnaschen wollten, durch ein plötzlich vorfallendes Gitter gefangen, dann aber in der Küche selbst schmachvoll hingerichtet. Frau Mauserinks verließ mit ihrem kleinen Häufchen den Ort des Schreckens. Gram, Verzweiflung, Rache erfüllte ihre Brust. Der Hof jubelte sehr, aber die Königin war besorgt, weil sie die Gemütsart der Frau Mauserinks kannte und wohl wußte, daß sie den Tod ihrer Söhne und Verwandten nicht ungerächt hingehen lassen würde. In der Tat erschien auch Frau Mauserinks, als die Königin eben für den königlichen Gemahl einen Lungenmus bereitete, den er sehr gern aß, und sprach: ,Meine Söhne - meine Gevattern und Muhmen sind erschlagen, gib wohl acht, Frau Königin, daß Mausekönigin dir nicht dein Prinzeßchen entzweibeißt - gib wohl acht.' Darauf verschwand sie wieder und ließ sich nicht mehr sehen, aber die Königin war so erschrocken, daß sie den Lungenmus ins Feuer fallen ließ, und zum zweitenmal verdarb Frau Mauserinks dem Könige eine Lieblingsspeise, worüber er sehr zornig war. — Nun ist's aber genug für heute abend, künftig das übrige."

Sosehr auch Marie, die bei der Geschichte ihre ganz eignen Gedanken hatte, den Pate Droßelmeier bat, doch nur ja weiterzuerzählen, so ließ er sich doch nicht erbitten, sondern sprang auf, sprechend: "Zuviel auf einmal ist ungesund, morgen das übrige." Eben als der Obergerichtsrat im Begriff stand, zur Tür hinauszuschreiten, fragte Fritz: "Aber sag mal, Pate Droßelmeier, ist's denn wirklich wahr, daß du die Mausefallen erfunden hast?" —"Wie kann man nur so albern fragen", rief die Mutter, aber der Obergerichtsrat lächelte sehr seltsam und sprach leise: "Bin ich denn nicht ein künstlicher Uhrmacher und sollt nicht einmal Mausefallen erfinden können?"



Fortsetzung des Märchens von der harten Nuß

"Nun wißt ihr wohl, Kinder", so fuhr der Obergerichtsrat Droßelmeier am nächsten Abende fort, "nun wißt ihr wohl, Kinder, warum die Königin das wunderschöne Prinzeßchen Pirlipat so sorglich bewachen ließ. Mußte sie nicht fürchten, daß Frau Mauserinks ihre Drohung erfüllen, wiederkommen und das Prinzeßchen totbeißen würde? Droßelmeiers Maschinen halfen gegen die kluge und gewitzigte Frau Mauserinks ganz und gar nichts, und nur der Astronom des Hofes, der zugleich Geheimer Oberzeichen- und Sterndeuter war, wollte wissen, daß die Familie des Katers Schnurr imstande sein werde, die Frau Mauserinks von der Wiege abzuhalten; demnach geschah es also, daß jede der Wärterinnen einen der Söhne jener Familie, die übrigens bei Hofe als Geheime Legationsräte angestellt waren, auf dem Schoße halten und durch schickliches Krauen ihm den beschwerlichen Staatsdienst zu versüßen suchen mußte. Es war einmal schon Mitternacht, als die eine der beiden Geheimen Oberwärterinnen, die dicht an der Wiege saßen, wie aus tiefem Schlafe auffuhr. — Alles rundumher lag vom Schlafe befan-gen

- kein Schnurren - tiefe Totenstille, in der man das Picken des Holzwurms vernahm! — doch wie ward der Geheimen Oberwärterin, als sie dicht vor sich eine große, sehr häßliche Maus erblickte, die auf den Hinterfüßen aufgerichtet stand und den fatalen Kopf auf das Gesicht der Prinzessin gelegt hatte. Mit einem Schrei des Entsetzens sprang sie auf, alles erwachte, aber in dem Augenblick rannte Frau Mauserinks (niemand anders war die große Maus an Pirlipats Wiege) schnell nach der Ecke des Zimmers. Die Legationsräte stürzten ihr nach, aber zu spät - durch eine Ritze in dem Fußboden des Zimmers war sie verschwunden. Pirlipatchen erwachte von dem Rumor und weinte sehr kläglich. ,Dank dem Himmel', riefen die Wärterinnen, ,sie lebt! Doch wie groß war ihr Schrecken, als sie hinblickten nach Pirlipatchen und wahrnahmen, was aus dem schönen zarten Kinde geworden. Statt des weiß und roten goldgelockten Engelsköpfchens saß ein unförmlicher dicker Kopf auf einem winzig kleinen zusammengekrümmten Leibe, die azurblauen Äugelein hatten sich verwandelt in grüne hervorstehende starrblickende Augen, und das Mündchen hatte sich verzogen von einem Ohr zum andern. Die Königin wollte vergehen in Wehklagen und Jammer, und des Königs Studierzimmer mußte mit wattierten Tapeten ausgeschlagen werden, weil er ein Mal über das andere mit dem Kopf gegen die Wand rannte und dabei mit sehr jämmerlicher Stimme rief: ,0 ich unglückseliger Monarch!' — Er konnte zwar nun einsehen, daß es besser gewesen wäre, die Würste ohne Speck zu essen und die Frau Mauserinks mit ihrer Sippschaft unter dem Herde in Ruhe zu lassen, daran dachte aber Pirlipats königlicher Vater nicht, sondern er schob einmal alle Schuld auf den Hofuhrmacher und Arkanisten Christian Elias Droßelmeier aus Nürnberg. Deshalb erließ er den weisen Befehl: Droßelmeier habe binnen vier Wochen die Prinzessin Pirlipat in den vorigen Zustand herzustellen oder wenigstens ein bestimmtes untrügliches Mittel anzugeben, wie dies zu bewerkstelligen sei, widrigenfalls er dem schmachvollen Tode unter dem Beil des Henkers verfallen sein solle. — Droßelmeier erschrak nicht wenig, indessen vertraute er bald seiner Kunst und seinem Glück und schritt sogleich zu der ersten Operation, die ihm nützlich schien. Er nahm Prinzeßchen Pirlipat sehr geschickt auseinander. schrob ihr Händchen und Füßchen ab und besah sogleich die innere Struktur, aber da fand er leider, daß die Prinzessin je größer, desto unförmlicher werden würde, und wußte sich nicht zu raten und zu helfen. Er setzte die Prinzessin behutsam wieder zusammen und versank an ihrer Wiege, die er nie verlassen durfte, in Schwermut. Schon war die vierte Woche angegangen -ja bereits Mittwoch, als der König mit zornfunkelnden Augen hineinblickte und, mit dem Zepter drohend, rief: ,Christian Elias Droßelmeier, kuriere die Prinzessin. oder du mußt sterben!' Droßelmeier fing an, bitterlich zu weinen, aber Prinzeßchen Pirlipat knackte vergnügt Nüsse. Zum erstenmal fiel dem Arkanisten Pirlipats ungewöhnlicher Appetit nach Nüssen und der Umstand auf, daß sie mit Zähnchen zur Welt gekommen. In der Tat hatte sie gleich nach der Verwandlung so lange geschrien, bis ihr zufällig eine Nuß vorkam, die sie sogleich aufknackte, den Kern aß und dann ruhig wurde. Seit der Zeit fanden die Wärterinnen nichts geraten, als ihr Nüsse zu bringen. ,0 heiliger Instinkt der Natur, ewig unerforschliche Sympathie aller Wesen', rief Christian Elias Droßelmeier aus, ,du zeigst mir die Pforte zum Geheimnis, ich will anklopfen, und sie wird sich öffnen!' Er bat sogleich um die Erlaubnis, mit dem Hofastronom sprechen zu können, und wurde mit starker Wache hingeführt. Beide Herren umarmten sich unter vielen Tränen, da sie zärtliche Freunde waren, zogen sich dann in ein geheimes Kabinett zurück und schlugen viele Bücher nach, die von dem Instinkt, von den Sympathien und Antipathien und andern geheimnisvollen Dingen handelten. Die Nacht brach herein, der Hofastronom sah nach den Sternen und stellte mit Hülfe des auch hierin sehr geschickten Droßelmeiers das Horoskop der Prinzessin Pirlipat. Das war eine große Mühe, denn die Linien verwirrten sich immer mehr und mehr, endlich aber -welche Freude, endlich lag es klar vor ihnen, daß die Prinzessin Pirlipat, um den Zauber, der sie verhäßlicht, zu lösen und um wieder so schön zu werden als vorher, nichts zu tun hätte, als den süßen Kern der Nuß Krakatuk zu genießen.

Die Nuß Krakatuk hatte eine solche harte Schale, daß eine achtundvierzigpfündige Kanone darüber wegfahren konnte, ohne sie zu zerbrechen. Diese harte Nuß mußte aber von einem Manne, der noch nie rasiert worden und der niemals Stiefeln getragen, vor der Prinzessin aufgebissen und ihr von ihm mit geschlossenen Augen der Kern dargereicht werden. Erst nachdem er sieben Schritte rückwärts gegangen, ohne zu stolpern, durfte der junge Mann wieder die Augen erschließen. Drei Tage und drei Nächte hatte Droßelmeier mitdem Astronomen ununterbrochen gearbeitet, und es saß gerade des Sonnabends der König bei dem Mittagstisch, als Droßelmeier, der Sonntag in aller Frühe geköpft werden sollte, voller Freude und Jubel hineinstürzte und das gefundene Mittel, der Prinzessin Pirlipat die verlorene Schönheit wiederzugeben, verkündete. Der König umarmte ihn mit heftigem Wohlwollen, versprach ihm einen diamantenen Degen, vier Orden und zwei neue Sonntagsröcke. ,Gleich nach Tische', setzte er freundlich hinzu. ,soll es ans Werk gehen, sorgen Sie, teurer Arkanist, daß der junge unrasierte Mann in Schuhen mit der Nuß Krakatuk gehörig beider' Hand sei, und lassen Sie ihn vorher keinen Wein trinken, damit er nicht stolpert, wenn er sieben Schritte rückwärts geht wie ein Krebs, nachher kann er erklecklich saufen!' Droßelmeier wurde über diese Rede des Königs sehr bestürzt, und nicht ohne Zittern und Zagen brachte er es stammelnd heraus, daß das Mittel zwar gefunden wäre, beides, die Nuß Krakatuk und der junge Mann zum Aufbeißen derselben, aber erst gesucht werden müßten, wobei es noch obenein zweifelhaft bliebe, ob Nuß und Nußknacker jemals gefunden werden dürften. Hocherzürnt schwang der König den

Zepter über das gekrönte Haupt und schrie mit einer Löwenstimme: ,So bleibt es bei dem Köpfen.' Ein Glück war es für den in Angst und Not versetzten Droßelmeier, daß dem Könige das Essen gerade den Tag sehr wohl geschmeckt hatte, er mithin in der guten Laune war, vernünftigen Vorstellungen Gehör zu geben, an denen es die großmütige und von Droßelmeiers Schicksal gerührte Königin nicht mangeln ließ. Droßelmeier faßte Mut und stellte zuletzt vor, daß er doch eigentlich die Aufgabe, das Mittel, wodurch die Prinzessin geheilt werden könne, zu nennen, gelöst und sein Leben gewonnen habe. Der König nannte das dumme Ausreden und einfältigen Schnickschnack, beschloß aber endlich, nachdem er ein Gläschen Magenwasser zu sich genommen, daß beide, der Uhrmacher und der Astronom, sich auf die Beine machen und nicht anders als mit der Nuß Krakatuk in der Tasche wiederkehren sollten. Der Mann zum Aufbeißen derselben sollte, wie es die Königin vermittelte, durch mehrmaliges Einrücken einer Aufforderung in einheimische und auswärtige Zeitungen und Intelligenzblätter herbeigeschafft werden." — Der Obergerichtsrat brach hier wieder ab und versprach, den andern Abend das übrige zu erzählen.

Beschluß des Märchens von der harten Nuß

Am andern Abende, sowie kaum die Lichter angesteckt worden, fand sich Pate Droßelmeier wirklich wieder ein und erzählte also weiter. "Droßelmeier und der Hofastronom waren schon funfzehn Jahre unterwegs, ohne der Nuß Krakatuk auf die Spur gekommen zu sein. Wo sie überall waren, welche sonderbare seltsame Dinge ihnen widerfuhren, davon könnt ich euch, ihr Kinder, vier Wochen lang erzählen, ich will es aber nicht tun, sondern nur gleich sagen, daß Droßelmeier in seiner tiefen Betrübnis zuletzt eine sehr große Sehnsucht nach seiner lieben Vaterstadt Nürnberg empfand. Ganz besonders überfiel ihn diese Sehnsucht, als er gerade einmal mit seinem Freunde mitten in einem großen

Walde in Asien ein Pfeifchen Knaster rauchte. .0 schöne - schöne Vaterstadt Nürnberg - schöne Stadt, wer dich nicht gesehen hat, mag er auch viel gereist sein nach London, Paris und Peterwardein, ist ihm das Herz doch nicht aufgegangen, muß er doch stets nach dir verlangen - nach dir, o Nürnberg, schöne Stadt, die schöne Häuser mit Fenstern hat.' — Als Droßelmeier so sehr wehmütig klagte, wurde der Astronom von tiefem Mitleiden ergriffen und fing so jämmerlich zu heulen an. daß man es weit und breit in Asien hören konnte. Doch faßte er sich wieder, wischte sich die Tränen aus den Augen und fragte: ,Aber wertgeschätzter Kollege, warum sitzen wir hier und heulen? warum gehen wir nicht nach Nürnberg, ist's denn nicht gänzlich egal, wo und wie wir die fatale Nuß Krakatuk suchen?' — ,Das ist auch wahr', erwiderte Droßelmeier getröstet. Beide standen alsbald auf, klopften die Pfeifen aus und gingen schnurgerade in einem Strich fort, aus dem Walde mitten in Asien nach Nürnberg. Kaum waren sie dort angekommen, so lief Droßelmeier schnell zu seinem Vetter, dem Puppendrechsler, Lackierer und Vergolder Christoph Zacharias Droßelmeier, den er in vielen, vielen Jahren nicht mehr gesehen. Dem erzählte nun der Uhrmacher die ganze Geschichte von der Prinzessin Pirlipat, der Frau Mauserinks und der Nuß Krakatuk, so daß der ein Mal über das andere die Hände zusammenschlug und voll Erstaunen ausrief: ,Ei, Vetter, Vetter, was sind das für wunderbare Dinge!' Droßelmeier erzählte weiter von den Abenteuern seiner weiten Reise, wie er zwei Jahre bei dem Dattelkönig zugebracht, wie er vom Mandelfürsten schnöde abgewiesen, wie er bei der naturforschenden Gesellschaft in Eichhornshausen vergebens angefragt, kurz, wie es ihm überall mißlungen sei, auch nur eine Spur von der Nuß Krakatuk zu erhalten. Während dieser Erzählung hatte Christoph Zacharias oftmals mit den Fingern geschnippt - sich auf einem Fuße herumgedreht - mit der Zunge geschnalzt - dann gerufen: ,1 Im, hrn - i - ei — o - das wäre der Teufel!' — Endlich warf er Mütze und Perücke in die Höhe, umhalste den Vetter mit Heftigkeit und rief: ,Vetter - Vetter! Ihr seid geborgen, geborgen seid Ihr, sag ich, denn alles müßte mich trügen, oder ich besitze selbst die Nuß Krakatuk.' Er holte alsbald eine Schachtel hervor, aus der er eine vergoldete Nuß von mittelmäßiger Größe hervorzog. ,Seht', sprach er, indem er die Nuß dem Vetter zeigte, ,seht, mit dieser Nuß hat es folgende Bewandtnis: Vor vielen Jahren kam einst zur Weihnachtszeit ein fremder Mann mit einem Sack voll Nüssen hieher, die er feilbot. Gerade vor meiner Puppenbude geriet er in Streit und setzte den Sack ab, um sich besser gegen den hiesigen Nußverkäufer, der nicht leiden wollte, daß der Fremde Nüsse verkaufe, und ihn deshalb angriff, zu wehren. In dem Augenblick fuhr ein schwerbeladener Lastwagen über den Sack, alle Nüsse wurden zerbrochen bis auf eine, die mir der fremde Mann, seltsam lächelnd, für einen blanken Zwanziger vom Jahre 1720 feilbot. Mir schien das wunderbar, ich fand gerade einen solchen Zwanziger in meiner Tasche. wie ihn der Mann haben wollte, kaufte die Nuß und vergoldete sie, selbst nicht recht wissend, warum ich die Nuß so teuer bezahlte und dann so werthielt.' Jeder Zweifel, daß des Vetters Nuß wirklich die gesuchte Nuß Krakatuk war, wurde augenblicklich gehoben, als der herbeigerufene Hofastronom das Gold sauber abschabte und in der Rinde der Nuß das Wort Krakatuk mit chinesischen Charakteren eingegraben fand. Die Freude der Reisenden war groß und der Vetter der glücklichste Mensch unter der Sonne, als Droßelmeier ihm versicherte, daß sein Glück gemacht sei, da er außer einer ansehnlichen Pension hinfüro alles Gold zum Vergolden umsonst erhalten werde. Beide, der Arkanist und der Astronom, hatten schon die Schlafmützen aufgesetzt und wollten zu Bette gehen, als letzterer, nämlich der Astronom, also anhob: ,Bester Herr Kollege, ein Glück kommt nie allein — glauben Sie, nicht nur die Nuß Krakatuk, sondern auch den jungen Mann, der sie aufbeißt und den Schönheitskern der Prinzessin darreicht, haben wir gefunden! — Ich meine niemanden anders als den Sohn Ihres Herrn Vetters! —Nein, nicht schlafen will ich', fuhr er begeistert fort, ,sondern noch in dieser Nacht des Jünglings Horoskop stellen!' — Damit riß er die Nachtmütze vom Kopf und fing gleich an zu observieren. — Des Vetters Sohn war in der Tat ein netter wohlgewachsener Junge, der noch nie rasiert worden und niemals Stiefel getragen. In früher Jugend war er zwar ein paar Weihnachten hindurch ein Hampelmann gewesen, das merkte man ihm aber nicht im mindesten an, so war er durch des Vaters Bemühungen ausgebildet worden. An den Weihnachtstagen trug er einen schönen roten Rock mit Gold, einen Degen, den Hut unter dem Arm und eine vorzügliche Frisur mit einem Haarbeutel. So stand er sehr glänzend in seines Vaters Bude und knackte aus angeborner Galanterie den jungen Mädchen die Nüsse auf, weshalb sie ihn auch Schön-Nußknackerchen nannten. — Den andern Morgen fiel der Astronom dem Arkanisten entzückt um den Hals und rief: ,Er ist es, wir haben ihn, er ist gefunden; nur zwei Dinge, liebster Kollege, dürfen wir nicht außer acht lassen. Fürs erste müssen Sie Ihrem vortrefflichen Neffen einen robusten hölzernen Zopf flechten, der mit dem untern Kinnbacken so in Verbindung steht, daß dieser dadurch stark angezogen werden kann; dann müssen wir aber, kommen wir nach der Residenz, auch sorgfältig verschweigen, daß wir den jungen Mann, der die Nuß Krakatuk aufbeißt, gleich mitgebracht haben; er muß sich vielmehr lange nach uns einfinden. Ich lese in dem Horoskop, daß der König, zerbeißen sich erst einige die Zähne ohne weitern Erfolg, dem, der die Nuß aufbeißt und der Prinzessin die verlorene Schönheit wiedergibt, Prinzessin und Nachfolge im Reich zum Lohn versprechen wird.' Der Vetter Puppendrechsler war gar höchlich damit zufrieden, daß sein Söhnchen die Prinzessin Pirlipat heiraten und Prinz und König werden sollte, und überließ ihn daher den Gesandten gänzlich. Der Zopf, den Droßelmeier dem jungen hoffnungsvollen Neffen ansetzte, geriet überaus wohl, sodaß er mit dem Aufbeißen der härtesten Pfirsichkerne die glänzendsten Versuche anstellte.

Da Droßelmeier und der Astronom das Auffinden der Nuß Krakatuk sogleich nach der Residenz berichtet, so waren dort auch auf der Stelle die nötigen Aufforderungen erlassen worden, und als die Reisenden mit dem Schönheitsmittel ankamen, hatten sich schon viele hübsche Leute, unter denen es sogar Prinzen gab, eingefunden, die, ihrem gesunden Gebiß vertrauend, die Entzauberung der Prinzessin versuchen wollten. Die Gesandten erschraken nicht wenig, als sie die Prinzessin wiedersahen. Der kleine Körper mit den winzigen Händchen und Füßchen konnte kaum den unförmlichen Kopf tragen. Die Häßlichkeit des Gesichts wurde noch durch einen weißen baumwollenen Bart vermehrt, der sich um Mund und Kinn gelegt hatte. Es kam alles so, wie es der Hofastronom im Horoskop gelesen. Ein Milchbart in Schuhen nach dem andern biß sich an der Nuß Krakatuk Zähne und Kinnbacken wund, ohne der Prinzessin im mindesten zu helfen, und wenn er dann von den dazu bestellten Zahnärzten halb ohnmächtig weggetragen wurde, seufzte er: ,Das war eine harte Nuß!' —Als nun der König in der Angst seines Herzens dem, der die Entzauberung vollenden werde, Tochter und Reich versprochen, meldete sich der artige sanfte Jüngling Droßelmeier und hat auch, den Versuch beginnen zu dürfen. Keiner als der junge Droßelmeier hatte so sehr der Prinzessin Pirlipat gefallen; sie legte die kleinen Händchen auf das Herz und seufzte recht innig: ,Ach, wenn es doch der wäre, der die Nuß Krakatuk wirklich aufbeißt und mein Mann wird.' Nachdem der junge Droßelmeier den König und die Königin, dann aber die Prinzessin Pirlipat sehr höflich gegrüßt, empfing er aus den Händen des Oberzeremonienmeisters die Nuß Krakatuk, nahm sie ohne weiteres zwischen die Zähne, zog stark den Zopf an, und krak - krak zerbröckelte die Schale in viele Stücke. Geschickt reinigte er den Kern von den noch daranhängenden Fasern und überreichte ihn mit einem untertänigen Kratzfuß

der Prinzessin, worauf er die Augen verschloß und rückwärts zu schreiten begann. Die Prinzessin verschluckte alsbald den Kern, und o Wunder! — verschwunden war die Mißgestalt, und statt ihrer stand ein engelschönes Frauenbild da. das Gesicht wie von lilienweißen und rosaroten Seidenflocken gewebt, die Augen wie glänzende Azure, die vollen Locken wie von Goldfaden gekräuselt. Trompeten und Pauken mischten sich in den lauten Jubel des Volks. Der König, sein ganzer Hof tanzte wie bei Pirlipats Geburt auf einem Beine, und die Königin mußte mit Eau de Cologne bedient werden, weil sie in Ohnmacht gefallen vor Freude und Entzücken. Der große Tumult brachte den jungen Droßelmeier, der noch seine sieben Schritte zu vollenden hatte, nicht wenig aus der Fassung, doch hielt er sich und streckte ebenden rechten Fuß aus zum siebenten Schritt, da erhob sich, häßlich piepend und quiekend, Frau Mauserinks aus dem Fußboden, so daß Droßelmeier, als er den Fuß niedersetzen wollte, auf sie trat und dermaßen stolperte, daß er beinahe gefallen wäre. —O Missgeschick! — urplötzlich war der Jüngling ebenso mißgestaltet, als es vorher Prinzessin Pirlipat gewesen. Der Körper war zusammengeschrumpft und konnte kaum den dicken ungestalteten Kopf mit großen hervorstechenden Augen und dem breiten, entsetzlich aufgähnenden Maule tragen. Statt des Zopfes hing ihm hinten ein schmaler hölzerner Mantel herab, mit dem er den untern Kinnbacken regierte. — Uhrmacher und Astronom waren außer sich vor Schreck und Entsetzen, sie sahen aber, wie Frau Mauserinks sich blutend auf dem Boden wälzte. Ihre Bosheit war nicht ungerächt geblieben, denn der junge Droßelmeier hatte sie mit dem spitzen Absatz seines Schuhes so derb in den Hals getroffen, daß sie sterben mußte. Aber indem Frau Mauserinks von der Todesnot erfaßt wurde, da piepte und quiekte sie ganz erbärmlich: ,0 Krakatuk, harte Nuß — an der ich nun sterben muß —hi, hi -pipi, fein Nußknackerlein, wirst auch bald des Todes sein - Söhnlein mit den sieben Kronen wird's dem Nußknacker lohnen, wird die Mutter rächen fein an dir, du klein Nußknackerlein — o Leben, so frisch und rot, von dir scheid ich, o Todesnot! — Quick -' — Mit diesem Schrei starb Frau Mauserinks und wurde von dem königlichen Ofenheizer fortgebracht. — Um den jungen Droßelmeier hatte sich niemand bekümmert, die Prinzessin erinnerte aber den König an sein Versprechen, und sogleich befahl er, daß man den jungen Helden herbeischaffe. Als nun aber der Unglückliche in seiner Mißgestalt hervortrat, da hielt die Prinzessin beide Hände vors Gesicht und schrie: ,Fort, fort mit dem abscheulichen Nußknacker!' Alsbald ergriff ihn auch der Hofmarschall bei den kleinen Schultern und warf ihn zur Türe heraus. Der König war voller Wut, daß man ihm habe einen Nußknacker als Eidam aufdringen wollen, schob alles auf das Ungeschick des Uhrmachers und des Astronomen und verwies beide auf ewige Zeiten aus der Residenz. Das hatte nun nicht in dem Horoskop gestanden, welches der Astronom in Nürnberg gestellt, er ließ sich aber nicht abhalten, aufs neue zu observieren, und da wollte er in den Sternen lesen, daß der junge Droßelmeier sich in seinem neuen Stande so gut nehmen werde, daß er trotz seiner Ungestalt Prinz und König werden würde. Seine Mißgestalt könne aber nur dann verschwinden, wenn der Sohn der Frau Mauserinks, den sie nach dem Tode ihrer sieben Söhne mit sieben Köpfen geboren und welcher Mausekönig geworden, von seiner Hand gefallen sei und eine Dame ihn trotz seiner Mißgestalt liebgewinnen werde. Man soll denn auch wirklich den jungen Droßelmeier in Nürnberg zur Weihnachtszeit in seines Vaters Bude, zwar als Nußknacker, aber doch als Prinzen gesehen haben! — Das ist, ihr Kinder! das Märchen von der harten Nuß, und ihr wißt nun, warum die Leute so oft sagen: ,Das war eine harte Nuß!' und wie es kommt, daß die Nußknacker so häßlich sind."

So schloß der Obergerichtsrat seine Erzählung. Marie meinte, daß die Prinzessin Pirlipat doch eigentlich ein garstiges undankbares Ding sei; Fritz versicherte dagegen, daß,

wenn Nußknacker nur sonst ein braver Kerl sein wolle, er mit dem Mausekönig nicht viel Federlesens machen und seine vorige hübsche Gestalt bald wiedererlangen werde.

Onkel und Neffe

Hat jemand von meinen hochverehrtesten Lesern oder Zuhörern jemals den Zufall erlebt, sich mit Glas zu schneiden, so wird er selbst wissen, wie wehe es tut und welch schlimmes Ding es überhaupt ist, da es so langsam heut. Hatte doch Marie beinahe eine ganze Woche im Bett zubringen müssen, weil es ihr immer ganz schwindlicht zumute wurde, sobald sie aufstand. Endlich aber wurde sie ganz gesund und konnte lustig, wie sonst, in der Stube umherspringen. Im Glasschrank sah es ganz hübsch aus, denn neu und blank standen da Bäume und Blumen und Häuser und schöne glänzende Puppen. Vor allen Dingen fand Marie ihren lieben Nußknacker wieder, der, in dem zweiten Fache stehend, mit ganz gesunden Zähnchen sie anlächelte. Als sie nun den Liebling so recht mit Herzenslust anblickte, da fiel es ihr mit einemmal sehr bänglich aufs Herz, daß alles, was Pate Droßelmeier erzählt habe, ja nur die Geschichte des Nußknakkers und seines Zwistes mit der Frau Mauserinks und ihrem Sohne gewesen. Nun wußte sie, daß ihr Nußknacker kein anderer sein könne als der junge Droßelmeier aus Nürnberg, des Pate Droßelmeiers angenehmer, aber leider von der Frau Mauserinks verhexter Neffe. Denn daß der künstliche Uhrmacher am Hofe. von Pirlipats Vater niemand anders gewesen als der Obergerichtsrat Droßelmeier selbst, daran hatte Marie schon bei, der Erzählung nicht einen Augenblick gezweifelt. "Aber warum half dir der Onkel denn nicht, warum half er dir nicht?" so klagte Marie, als sich es immer lebendiger und lebendiger in ihr gestaltete, daß es in jener Schlacht, die sie mit ansah, Nußknackers Reich und Krone galt. Waren denn nicht alle übrigen Puppen ihm untertan, und war es denn nicht gewiß, daß die Prophezeiung

des Hofastronomen eingetroffen und der junge Droßelmeier König des Puppenreichs geworden? Indem die kluge Marie das alles so recht im Sinn erwägte, glaubte sie auch, daß Nußknacker und seine Vasallen in dem Augenblick, daß sie ihnen Leben und Bewegung zutraute, auch wirklich leben und sich bewegen müßten. Dem war aber nicht so, alles im Schranke blieb vielmehr starr und regungslos, und Marie, weit entfernt, ihre innere Überzeugung aufzugeben, schob das nur auf die fortwirkende Verhexung der Frau Mauserinks und ihres siebenköpfigen Sohnes. "Doch", sprach sie laut zum Nußknacker, "wenn Sie auch nicht imstande sind, sich zu bewegen oder ein Wörtchen mit mir zu sprechen, lieber Herr Droßelmeier! so weiß ich doch, daß Sie mich verstehen und es wissen, wie gut ich es mit Ihnen meine; rechnen Sie auf meinen Beistand, wenn Sie dessen bedürfen. — Wenigstens will ich den Onkel bitten, daß er Ihnen mit seiner Geschicklichkeit beispringe, wo es nötig ist." Nußknacker blieb still und ruhig, aber Marien war es so, als atme ein leiser Seufzer durch den Glasschrank, wovon die Glasscheiben kaum hörbar, aber wunderlieblich ertönten, und es war, als sänge ein kleines Glockenstimmchen: "Maria klein - Schutzenglein mein - dein werd ich sein - Maria mein." Marie fühlte in den eiskalten Schauern, die sie überliefen, doch ein seltsames Wohlbehagen. Die Dämmerung war eingebrochen, der Medizinairat trat mit dem Paten Droßelmeier hinein, und nicht lange dauerte es, so hatte Luise den Teetisch geordnet, und die Familie saß ringsumher, allerlei Lustiges miteinander sprechend. Marie hatte ganz still ihr kleines Lehnstühlchen herbeigeholt und sich zu den Füßen des Paten Droßelmeier gesetzt. Als nun gerade einmal alle schwiegen, da sah Marie mit ihren großen blauen Augen dem Obergerichtsrat starr ins Gesicht und sprach: "Ich weiß jetzt, lieber Pate Droßelmeier, daß mein Nußknacker dein Neffe, der junge Droßelmeier aus Nürnberg, ist; Prinz oder vielmehr König ist er geworden, das ist richtig eingetroffen, wie es dein Begleiter, der Astronom, vorausgesagt hat; aber du weißt es ja, daß er mit dem Sohne der Frau Mauserinks, mit dem häßlichen Mausekönig, in offnem Kriege steht. Warum hilfst du ihm nicht?" Marie erzählte nun nochmals den ganzen Verlauf der Schlacht, wie sie es angesehen, und wurde oft durch das laute Gelächter der Mutter und Luisens unterbrochen. Nur Fritz und Droßelmeier blieben ernsthaft. "Aber wo kriegt das Mädchen all das tolle Zeug in den Kopf?" sagte der Medizinalrat. "Ei nun", erwiderte die Mutter, "hat sie doch eine lebhafte Phantasie -eigentlich sind es nur Träume, die das heftige Wundfieber erzeugte." — "Es ist alles nicht wahr", sprach Fritz, "solche Poltrons sind meine roten Husaren nicht, potz Bassa Manelka, wie würd ich sonst darunterfahren." Seltsam lächelnd nahm aber Pate Droßelmeier die kleine Marie auf den Schoß und sprach sanfter als je: "Ei, dir, liebe Marie, ist ja mehr gegeben als mir und uns allen; du bist, wie Pirlipat, eine geborne Prinzessin, denn du regierst in einem schönen blanken Reich. — Aber viel hast du zu leiden, wenn du dich des armen mißgestalteten Nußknackers annehmen willst, da ihn der Mausekönig auf allen Wegen und Stegen verfolgt. — Doch nicht ich -du, du allein kannst ihn retten, sei standhaft und treu." Weder Marie noch irgend jemand wußte, was Droßelmeier mit diesen Worten sagen wollte, vielmehr kam es dem Medizinalrat so sonderbar vor, daß er dem Obergerichtsrat an den Puls fühlte und sagte: "Sie haben, wertester Freund, starke Kongestionen nach dem Kopfe, ich will Ihnen etwas aufschreiben." Nur die Medizinalrätin schüttelte bedächtig den Kopf und sprach leise: "Ich ahne wohl, was der Obergerichtsrat meint, doch mit deutlichen Worten sagen kann ich's nicht."

Der Sieg

Nicht lange dauerte es, als Marie in der mondhellen Nacht durch ein seltsames Poltern geweckt wurde, das aus einer Ecke des Zimmers zu kommen schien. Es war, als würden

kleine Steine hin und her geworfen und gerollt, und recht widrig pfiff und quiekte es dazwischen. "Ach, die Mäuse, die Mäuse kommen wieder", rief Marie erschrocken und wollte die Mutter wecken, aber jeder Laut stockte, ja sie vermochte kein Glied zu regen, als sie sah, wie der Mausekönig sich durch ein Loch der Mauer hervorarbeitete und endlich mit funkelnden Augen und Kronen im Zimmer herum-, dann aber mit einem gewaltigen Satz auf den kleinen Tisch, der dicht neben Mariens Bette stand, heraufsprang. "Hi - hi - hi — mußt mir deine Zuckererbsen - deinen Marzipan geben, klein Ding - sonst zerbeiß ich deinen Nußknacker - deinen Nußknacker!" —So pfiff Mausekönig, knapperte und knirschte dabei sehr häßlich mit den Zähnen und sprang dann schnell wieder fort durch das Mauseloch. Marie war so geängstet von der graulichen Erscheinung, daß sie den andern Morgen ganz blaß aussah und, im Innersten aufgeregt, kaum ein Wort zu reden vermochte. Hundertmal wollte sie der Mutter oder der Luise oder wenigstens dem Fritz klagen, was ihr geschehen, aber sie dachte: Glaubt's mir denn einer, und werd ich nicht obendrein tüchtig ausgelacht? — Das war ihr denn aber wohl klar, daß sie, um den Nußknacker zu retten, Zuckererbsen und Marzipan hergeben müsse. Soviel sie davon besaß, legte sie daher den andern Abend hin vor der Leiste des Schranks. Am Morgen sagte die Medizinalrätin: "Ich weiß nicht, woher die Mäuse mit einemmal in unser Wohnzimmer kommen, sieh nur, arme Marie! sie haben dir all dein Zuckerwerk aufgefressen." Wirklich war es so. Den gefüllten Marzipan hatte der gefräßige Mausekönig nicht nach seinem Geschmack gefunden, aber mit scharfen Zähnen benagt, so daß er weggeworfen werden mußte. Marie machte sich gar nichts mehr aus dem Zuckerwerk, sondern war vielmehr im Innersten erfreut, da sie ihren Nußknacker gerettet glaubte. Doch wie ward ihr, als in der folgenden Nacht es dicht an ihren Ohren pfiff und quiekte. Ach, der Mausekönig war wieder da, und noch abscheulicher wie in der vorvorigen Nacht funkelten seine Augen, und noch widriger pfiff er zwischen den Zähnen. "Mußt mir deine Zucker-, deine Tragantpuppen geben, klein Ding, sonst zerbeiß ich deinen Nußknacker, deinen Nußknacker!", und damit sprang der grauliche Mausekönig wieder fort. — Marie war sehr betrübt, sie ging den andern Morgen an den Schrank und sah mit den wehmütigsten Blicken ihre Zucker- und Tragantpüppchen an. Aber ihr Schmerz war auch gerecht, denn nicht glauben magst du's, meine aufmerksame Zuhörerin Marie! was für ganz allerliebste Figürchen, aus Zucker oder Tragant geformt, die kleine Marie Stahlbaum besaß. Nächst dem, daß ein sehr hübscher Schäfer mit seiner Schäferin eine ganze Herde milchweißer Schäflein weidete und dabei sein muntres Hündchen herumsprang, so traten auch zwei Briefträger, mit Briefen in der Hand, einher, und vier sehr hübsche Paare, sauber gekleidete Jünglinge mit überaus herrlich geputzten Mädchen, schaukelten sich in einer russischen Schaukel. Hinter einigen Tänzern stand noch der Pachter Feldkümmel mit der Jungfrau von Orleans, aus denen sich Marie nicht viel machte, aber ganz im Winkelchen stand ein rotbäckiges Kindlein, Mariens Liebling, die Tränen stürzten der kleinen Marie aus den Augen. "Ach", rief sie, sich zu dem Nußknacker wendend, "lieber Herr Droßelmeier, was will ich nicht alles tun, um Sie zu retten; aber es ist doch sehr hart!" — Nußknacker sah indessen so weinerlich aus, daß Marie, da es überdem ihr war, als sähe sie Mausekönigs sieben Rachen geöffnet, den unglücklichen Jüngling zu verschlingen, alles aufzuopfern beschloß. Alle Zuckerpüppchen setzte sie daher abends, wie zuvor das Zuckerwerk, an die Leiste des Schranks. Sie küßte den Schäfer, die Schäferin, die Lämmerchen und holte auch zuletzt ihren Liebling, das kleine rotbäckige Kindlein von Tragant, aus dem Winkel, welches sie jedoch ganz hinterwärts stellte. Pachter Feldkümmel und die Jungfrau von Orleans mußten in die erste Reihe. "Nein, das ist zu arg", rief die Medizinalrätin am andern Morgen. "Es muß durchaus eine große garstige Maus in dem Glasschrank hausen, denn alle schöne Zuckerpüppchen der armen Marie sind zernagt und zerbissen." Marie konnte sich zwar der Tränen nicht enthalten, sie lächelte aber doch bald wieder, denn sie dachte: Was tut's, ist doch Nußknacker gerettet. Der Medizinairat sagte am Abend, als die Mutter dem Obergerichtsrat von dem Unfug erzählte, den eine Maus im Glasschrank der Kinder treibe: "Es ist doch aber abscheulich, daß wir die fatale Maus nicht vertilgen können, die im Glasschrank so ihr Wesen treibt und der armen Marie alles Zuckerwerk wegfrißt." — "Ei", fiel Fritz ganz lustig ein, "der Bäcker unten hat einen ganz vortrefflichen grauen Legationsrat, den will ich heraufholen. Er wird dem Dinge bald ein Ende machen und der Maus den Kopf abbeißen, ist sie auch die Frau Mauserinks selbst oder ihr Sohn, der Mausekönig." — "Und", fuhr die Medizinairätin lachend fort, "auf Stühle und Tische herumspringen und Gläser und Tassen herabwerfen und tausend andern Schaden anrichten." — "Ach nein doch", erwiderte Fritz, "Bäckers Legationsrat ist ein geschickter Mann, ich möchte nur so zierlich auf dem spitzen Dach gehen können wie er." —"Nur keinen Kater zur Nachtzeit", bat Luise, die keine Katzen leiden konnte. "Eigentlich", sprach der Medizinalrat, "eigentlich hat Fritz recht, indessen können wir ja auch eine Falle aufstellen; haben wir denn keine?" — "Die kann uns Pate Droßelmeier am besten machen, der hat sie ja erfunden", rief Fritz. Alle lachten, und auf die Versicherung der Medizinairätin, daß keine Falle im Hause sei, verkündete der Obergerichtsrat, daß er mehrere dergleichen besitze, und ließ wirklich zur Stunde eine ganz vortreffliche Mausfalle von Hause herbeiholen. Dem Fritz und der Marie ging nun des Paten Märchen von der harten Nuß ganz lebendig auf. Als die Köchin den Speck röstete, zitterte und bebte Marie und sprach, ganz erfüllt von dem Märchen und den Wunderdingen darin, zur wohlbekannten Dore: "Ach, Frau Königin, hüten Sie sich doch nur vor der Frau Mauserinks und ihrer Familie." Fritz hatte aber seinen Säbel gezogen und sprach: "Ja, die sollten nur kommen, denen wollt ich eins auswischen." Es blieb aber alles unter und auf dem Herde ruhig. Als nun der Obergerichtsrat den Speck an ein feines Fädchen band und leise, leise die Falle an den Glasschrank setzte, da rief Fritz: "Nimm dich in acht, Pate Uhrmacher, daß dir Mausekönig keinen Possen spielt." —Ach, wie ging es der armen Marie in der folgenden Nacht! Eiskalt tupfte es auf ihrem Arm hin und her, und rauh und ekelhaft legte es sich an ihre Wange und piepte und quiekte ihr ins Ohr. — Der abscheuliche Mauskönig saß auf ihrer Schulter, und blutrot geiferte er aus den sieben geöffneten Rachen, und mit den Zähnen knatternd und knirschend, zischte er der vor Grauen und Schreck erstarrten Marie ins Ohr: "Zisch aus - zisch aus, geh nicht ins Haus -geh nicht zum Schmaus -werd nicht gefangen - zisch aus - gib heraus, gib heraus deine Bilderbücher all, dein Kleidchen dazu, sonst hast keine Ruh - magst's nur wissen, Nußknackerlein wirst sonst missen, der wird zerbissen -hi, hi -pi, pi -quick, quick!" — Nun war Marie voll Jammer und Betrübnis -sie sah ganz blaß und verstört aus, als die Mutter am andern Morgen sagte: "Die böse Maus hat sich noch nicht gefangen", so daß die Mutter in dem Glauben, daß Marie um ihr Zuckerwerk traure und sich überdem vor der Maus fürchte, hinzufügte: "Aber sei nur ruhig, liebes Kind, die böse Maus wollen wir schon vertreiben. Helfen die Fallen nichts, so soll Fritz seinen grauen Legationsrat herbeibringen." Kaum befand sich Marie im Wohnzimmer allein, als sie vor den Glasschrank trat und schluchzend also zum Nußknacker sprach: "Ach, mein lieber guter Herr Droßelmeier, was kann ich armes unglückliches Mädchen für Sie tun? —Gäb ich nun auch alle meine Bilderbücher, ja selbst mein schönes neues Kleidchen, das mir der Heilige Christ einbeschert hat, dem abscheulichen Mausekönig zum Zerbeißen her, wird er denn nicht doch noch immer mehr verlangen, so daß ich zuletzt nichts mehr haben werde und er gar mich selbst statt Ihrer zerbeißen wollen wird? — O ich armes Kind, was soll ich denn nun tun - was soll ich denn nun tun?" — Als die kleine Marie so jammerte und klagte, bemerkte sie, daß dem Nußknacker von jener Nacht her ein großer Blutfleck am Halse sitzengeblieben war. Seit der Zeit, daß Marie wußte, wie ihr Nußknacker eigentlich der junge Droßelmeier, des Obergerichtsrats Neffe, sei, trug sie ihn nicht mehr auf dem Arm und herzte und küßte ihn nicht mehr, ja, sie mochte ihn aus einer gewissen Scheu gar nicht einmal viel anrühren; jetzt nahm sie ihn aber sehr behutsam aus dem Fache und fing an, den Blutfleck am Halse mit ihrem Schnupftuch abzureiben. Aber wie ward ihr, als sie plötzlich fühlte, daß Nußknackerlein in ihrer Hand erwarmte und sich zu regen begann. Schnell setzte sie ihn wieder ins Fach, da wackelte das Mündchen hin und her, und mühsam lispelte Nußknackerlein: "Ach, werteste Demoiselle Stahlbaum - vortreffliche Freundin. was verdanke ich Ihnen alles. — Nein, kein Bilderbuch, kein Christkleidchen sollen Sie für mich opfern - schaffen Sie nur ein Schwert — ein Schwert, für das übrige will ich sorgen, mag er -" — Hier ging dem Nußknacker die Sprache aus, und seine erst zum Ausdruck der innigsten Wehmut beseelten Augen wurden wieder starr und leblos. Marie empfand gar kein Grauen, vielmehr hüpfte sie vor Freuden, da sie nun ein Mittel wußte, den Nußknacker ohne weitere schmerzhafte Aufopferungen zu retten. Aber wo nun ein Schwert für den Kleinen hernehmen? — Marie beschloß, Fritzen zu Rate zu ziehen, und erzählte ihm abends, als sie, da die Eltern ausgegangen, einsam in der Wohnstube am Glasschrank saßen, alles, was ihr mit dem Nußknacker und dem Mausekönig widerfahren und worauf es nun ankomme, den Nußknacker zu retten. Über nichts wurde Fritz nachdenklicher als darüber. daß sich, nach Mariens Bericht, seine Husaren in der Schlacht so schlecht genommen haben sollten. Er frug noch einmal sehr ernst, ob es sich wirklich so verhalte, und nachdem es Marie auf ihr Wort versichert, so ging Fritz schnell nach dem Glasschrank, hielt seinen Husaren eine pathetische Rede und schnitt dann, zur Strafe ihrer Selbstsucht und Feigheit, einem nach dem andern das Feldzeichen von der Mütze und untersagte ihnen auch, binnen einem Jahr den Gardehusarenmarsch zu blasen. Nachdem er sein Strafamt vollendet, wandte er sich wieder zu Marien, sprechend: "Was den Säbel betrifft, so kann ich dem Nußknacker helfen, da ich einen alten Obristen von den Kürassiers gestern mit Pension in Ruhestand versetzt habe, der folglich seinen schönen scharfen Säbel nicht mehr braucht." Besagter Obrister verzehrte die ihm von Fritzen angewiesene Pension in der hintersten Ecke des dritten Faches. Dort wurde er hervorgeholt, ihm der in der Tat schmucke silberne Säbel abgenommen und dem Nußknacker umgehängt.

Vor bangem Grauen konnte Marie in der folgenden Nacht nicht einschlafen, es war ihr um Mitternacht so, als höre sie im Wohnzimmer ein seltsames Rumoren, Klirren und Rauschen. — Mit einemmal ging es: "Quick!" — "Der Mausekönig! der Mausekönig!"rief Marie und sprang voll Entsetzen aus dem Bette. Alles blieb still; aber bald klopfte es leise, leise an die Türe, und ein feines Stimmchen ließ sich vernehmen: "Allerbeste Demoiselle Stahlbaum, machen Sie nur getrost auf - gute fröhliche Botschaft Marie erkannte die Stimme des jungen Droßelmeier, warf ihr Röckchen über und öffnete flugs die Türe. Nußknackerlein stand draußen, das blutige Schwert in der rechten, ein Wachslichtchen in der linken Hand. Sowie er Marien erblickte, ließ er sich auf ein Knie nieder und sprach also: "Ihr, o Dame! seid es allein, die mich mit Rittermut stählte und meinem Arme Kraft gab, den Übermütigen zu bekämpfen, der es wagte, Euch zu höhnen. Überwunden liegt der verräterische Mausekönig und wälzt sich in seinem Blute! —Wollet, o Dame, die Zeichen des Sieges aus der Hand Eures Euch bis in den Tod ergebenen Ritters anzunehmen nicht verschmähen Damit streifte Nußknackerchen die sieben goldenen Kronen des Mausekönigs, die er auf den linken Arm heraufgestreift hatte, sehr geschickt herunter und überreichte sie Marien, welche sie voller Freude annahm. Nußknacker stand auf

und fuhr also fort: "Ach, meine allerbeste Demoiselle Stahlbaum, was könnte ich in diesem Augenblicke, da ich meinen Feind überwunden, Sie für herrliche Dinge schauen lassen, wenn Sie die Gewogenheit hätten, mir nun ein paar Schrittchen zu folgen! —Oh, tun Sie es - tun Sie es, beste Demoiselle!"

Das Puppenreich

Ich glaube, keins von euch, ihr Kinder, hätte auch nur einen Augenblick angestanden, dem ehrlichen gutmütigen Nußknacker, der nie Böses im Sinn haben konnte, zu folgen. Marie tat dies um so mehr, da sie wohl wußte, wie sehr sie auf Nußknackers Dankbarkeit Anspruch machen könne, und überzeugt war, daß er Wort halten und viel Herrliches ihr zeigen werde. Sie sprach daher: "Ich gehe mit Ihnen, Herr Droßelmeier, doch muß es nicht weit sein und nicht lange dauern, da ich ja noch gar nicht ausgeschlafen habe." —"Ich wähle deshalb", erwiderte Nußknacker, "den nächsten, wiewohl etwas beschwerlichen Weg." Er schritt voran, Marie ihm nach, bis er vor dem alten mächtigen Kleiderschrank auf dem Hausflur stehenblieb. Marie wurde zu ihrem Erstaunen gewahr, daß die Türen dieses sonst wohlverschlossenen Schranks offenstanden, so daß sie deutlich des Vaters Reisefuchspelz erblickte, der ganz vorne hing. Nußknacker kletterte sehr geschickt an den Leisten und Verzierungen herauf, daß er die große Troddel, die, an einer dicken Schnur befestigt, auf dem Rückteile jenes Pelzes hing, erfassen konnte. Sowie Nußknacker diese Troddel stark anzog, ließ sich schnell eine sehr zierliche Treppe von Zedernholz durch den Pelzärmel herab. "Steigen Sie nur gefälligst aufwärts, teuerste Demoiselle", rief Nußknacker. Marie tat es, aber kaum war sie durch den Ärmel gestiegen, kaum sah sie zum Kragen heraus, als ein blendendes Licht ihr entgegenstrahlte und sie mit einemmal auf einer herrlich duftenden Wiese stand, von der Millionen Funken wie blinkende Edelsteine emporstrahlten. "Wir befinden uns auf der Kandiswiese",

sprach Nußknacker, "wollen aber alsbald jenes Tor passieren." Nun wurde Marie, indem sie aufblickte. erst das schöne Tor gewahr, welches sich nur wenige Schritte vorwärts auf der Wiese erhob. Es schien ganz von weiß, braun und rosinfarben gesprenkeltem Marmor erbaut zu sein, aber als Marie näher kam, sah sie wohl, daß die ganze Masse aus zusammengebackenen Zuckermandeln und Rosinen bestand, weshalb denn auch, wie Nußknacker versicherte, das Tor, durch welches sie nun durchgingen, das Mandeln-und-Rosinentor hieß. Gemeine Leute hießen es sehr unziemlich die Studentenfutterpforte. Auf einer herausgebauten Galerie dieses Tores, augenscheinlich aus Gerstenzucker, machten sechs in rote Wämserchen gekleidete Äffchen die allerschönste Janitscharenmusik, die man hören konnte, so daß Marie kaum bemerkte, wie sie immer weiter, weiter auf bunten Marmorfliesen, die aber nichts anders waren als schön gearbeitete Morschellen, fortschritt. Bald umwehten sie die süßesten Gerüche, die aus einem wunderbaren Wäldchen strömten, das sich von beiden Seiten auftat. In dem dunkeln Laube glänzte und funkelte es so hell hervor, daß man deutlich sehen konnte, wie goldene und silberne Früchte an buntgefärbten Stengeln herabhingen und Stamm und Äste sich mit Bändern und Blumensträußen geschmückt hatten, gleich fröhlichen Brautleuten und lustigen Hochzeitsgästen. Und wenn die Orangendüfte sich wie wallende Zephire rührten, da sauste es in den Zweigen und Blättern, und das Rauschgold knitterte und knatterte, daß es klang wie jubelnde Musik, nach der die funkelnden Lichterchen hüpfen und tanzen müßten. "Ach, wie schön ist es hier", rief Marie ganz selig und entzückt. "Wir sind im Weihnachtswalde, beste Demoiselle", sprach Nußknackerlein. "Ach", fuhr Marie fort, "dürft ich hier nur etwas verweilen, oh, es ist ja hier gar zu schön." Nußknacker klatschte in die kleinen Händchen, und sogleich kamen einige kleine Schäfer und Schäferinnen, Jäger und Jägerinnen herbei, die so zart und weiß waren, daß man hätte glauben sollen, sie wären von purem Zucker, und die Marie, unerachtet sie im Walde umherspazierten, noch nicht bemerkt hatte. Sie brachten einen allerliebsten. ganz goldenen Lehnsessel herbei, legten ein weißes Kissen von Réglisse darauf und luden Marien sehr höflich ein, sich darauf niederzulassen. Kaum hatte sie es getan, als Schäfer und Schäferinnen ein sehr artiges Ballett tanzten, wozu die Jäger ganz manierlich bliesen, dann verschwanden sie aber alle in dem Gebüsche. "Verzeihen Sie", sprach Nußknacker, "verzeihen Sie. werteste Demoiselle Stahlbaum, daß der Tanz so miserabel ausfiel, aber die Leute waren alle von unserm Drahtballett. die können nichts anders machen als immer und ewig dasselbe; und daß die Jäger so schläfrig und flau dazu bliesen, das hat auch seine Ursachen. Der Zuckerkorb hängt zwar über ihrer Nase in den Weihnachtsbäumen. aber etwas hoch! — Doch wollen wir nicht was weniges weiterspazieren?" — "Ach, es war doch alles recht hübsch, und mir hat es sehr wohl gefallen!" so sprach Marie, indem sie aufstand und dem voranschreitenden Nußknacker folgte. Sie gingen entlang eines süß rauschenden, flüsternden -Baches, -dem-nun eben-all die herrlichen Wohlgerüche zu duften schienen, die den ganzen Wald erfüllten. "Es ist der Orangenbach", sprach Nußknacker auf Befragen, "doch, seinen schönen Duft ausgenommen, gleicht er nicht an Größe und Schönheit dem Limonadenstrom, der sich gleich ihm in den Mandelmilchsee ergießt." In der Tat vernahm Marie bald ein stärkeres Plätschern und Rauschen und erblickte den breiten Limonadenstrom, der sich in stolzen isabellfarbenen Wellen zwischen gleich grün glühenden Karfunkeln leuchtendem Gesträuch fortkräuselte. Eine ausnehmend frische, Brust und Herz stärkende Kühlung wogte aus dem herrlichen Wasser. Nicht weit davon schleppte sich mühsam ein dunkelgelbes Wasser fort, das aber ungemein süße Düfte verbreitete und an dessen Ufer allerlei sehr hübsche Kinderchen saßen, welche kleine dicke Fische angelten und sie alsbald verzehrten. Näher gekommen, bemerkte Marie, daß diese Fische aussahen wie Lampertsnüsse. In einiger Entfernung lag ein sehr nettes Dörfchen an diesem Strome, Häuser, Kirche, Pfarrhaus, Scheuern, alles war dunkelbraun, jedoch mit goldenen Dächern geschmückt, auch waren viele Mauern so bunt gemalt, als seien Zitronat und Mandelkerne daraufgeklebt. "Das ist Pfefferkuchheim", sagte Nußknacker, "welches am Honigstrome liegt, es wohnen ganz hübsche Leute darin, aber sie sind meistens verdrießlich, weil sie sehr an Zahnschmerzen leiden, wir wollen daher nicht erst hineingehen." In dem Augenblick bemerkte Marie ein Städtchen, das aus lauter bunten durchsichtigen Häusern bestand und sehr hübsch anzusehen war. Nußknacker ging geradezu darauf los, und nun hörte Marie ein tolles lustiges Getöse und sah, wie tausend niedliche kleine Leutchen viele hochbepackte Wagen, die auf dem Markte hielten, untersuchten und abzupacken im Begriff standen. Was sie aber hervorbrachten, war anzusehen wie buntes gefärbtes Papier und wie Schokoladentafeln. "Wir sind in Bonbonshausen", sagte Nußknacker, "eben ist eine Sendung aus dem Papierlande und vom Schokoladenkönige angekommen. Die armen Bonbonshäuser wurden neulich von der Armee des Mückenadmirals hart bedroht, deshalb überziehen sie ihre Häuser mit den Gaben des Papierlandes und führen Schanzen auf von den tüchtigen Werkstücken, die ihnen der Schokoladenkönig sandte. Aber, beste Demoiselle Stahlbaum, nicht alle kleinen Städte und Dörfer dieses Landes wollen wir besuchen - zur Hauptstadt - zur Hauptstadt!" Rasch eilte Nußknacker vorwärts und Marie voller Neugierde ihm nach. Nicht lange dauerte es, so stieg ein herrlicher Rosenduft auf, und alles war wie von einem sanften hinhauchenden Rosenschimmer umflossen. Marie bemerkte, daß dies der Widerschein eines rosenrot glänzenden Wassers war, das in kleinen rosasilbernen Weilchen vor ihnen her wie in wunderlieblichen Tönen und Melodien plätscherte und rauschte. Auf diesem anmutigen Gewässer, das sich immer mehr und mehr wie ein großer See ausbreitete, schwammen sehr herrliche silberweiße Schwäne mit goldnen Halsbändern und sangen miteinander um die Wette die hübschesten Lieder, wozu diamantne Fischlein aus den Rosenfluten auf- und niedertauchten wie im lustigen Tanze. "Ach", rief Marie ganz begeistert aus, "ach, das ist der See, wie ihn Pate Droßelmeier mir einst machen wollte, wirklich, und ich selbst bin das Mädchen, das mit den lieben Schwänchen kosen wird."Nußknackerlein lächelte so spöttisch, wie es Marie noch niemals an ihm bemerkt hatte, und sprach dann: "So etwas kann denn doch wohl der Onkel niemals zustande bringen; Sie selbst viel eher, liebe Demoiselle Stahlbaum, doch lassen Sie uns darüber nicht grübeln, sondern vielmehr über den Rosensee hinüber nach der Hauptstadt schiffen."

Die Hauptstadt

Nußknackerlein klatschte abermals in die kleinen Händchen, da fing der Rosensee an, stärker zu rauschen, die Wellen plätscherten höher auf, und Marie nahm wahr, wie aus der Ferne ein aus lauter bunten, sonnenhell funkelnden Edelsteinen geformter Muschelwagen, von zwei goldschuppigen Delphinen gezogen, sich nahte. Zwölf kleine allerliebste Mohren mit Mützchen und Schürzchen, aus glänzenden Kolibrifedern gewebt, sprangen ans Ufer und trugen erst Marien, dann Nußknackern, sanft über die Wellen gleitend, in den Wagen, der sich alsbald durch den See fortbewegte. Ei, wie war das so schön, als Marie im Muschelwagen, von Rosenduft umhaucht, von Rosenwellen umflossen, dahinfuhr. Die beiden goldschuppigen Delphine erhoben ihre Nüstern und spritzten kristallene Strahlen hoch in die Höhe, und wie die in flimmernden und funkelnden Bogen niederfielen, da war es, als sängen zwei holde feine Silberstimmchen: "Wer schwimmt auf rosigem See? — die Fee! Mücklein! bim, bim, Fischlein, sim, sim - Schwäne! schwa, schwa, Goldvogel! trarah, Wellenströme - rührt euch, klinget, singet, wehet, spähet -Feelein, Feelein, kommt gezogen; Rosenwogen, wühlet, kühlet, spület -spült hinan - hinan

— Aber die zwölf kleinen Mohren, die hinten auf den Muschelwagen aufgesprungen waren, schienen das Gesinge der Wasserstrahlen ordentlich übelzunehmen, denn sie schüttelten ihre Sonnenschirme so sehr, daß die Dattelblätter, aus denen sie geformt waren, durcheinander knitterten und knatterten, und dabei stampften sie mit den. Füßen einen ganz seltsamen Takt und sangen: "Klapp und klipp und klipp und klapp, auf und ab - Mohrenreigen darf nicht schweigen; rührt euch, Fische -rührt euch, Schwäne, dröhne, Muschelwagen, dröhne, klapp und klipp und klipp und klapp und auf und ab!" — "Mohren sind gar lustige Leute", sprach Nußknacker etwas betreten, "aber sie werden mir den ganzen See rebellisch machen." In der Tat ging auch bald ein sinnverwirrendes Getöse wunderbarer Stimmen los, die in See und Luft zu schwimmen schienen, doch Marie achtete dessen nicht, sondern sah in die duftenden Rosenwellen, aus deren jeder ihr ein holdes anmutiges Mädchenantlitz entgegenlächelte. "Ach", rief sie freudig, indem sie die kleinen Händchen zusammenschlug, "ach, schauen Sie nur, lieber Herr Droßelmeier! Da unten ist die Prinzessin Pirlipat, die lächelt mich an so wunderhold. —Ach, schauen Sie doch nur, lieber Herr Droßelmeier!" — Nußknacker seufzte aber fast kläglich und sagte: "0 beste Demoiselle Stahlbaum, das ist nicht die Prinzessin Pirlipat, das sind Sie und immer nur Sie selbst, immer nur Ihr eignes holdes Antlitz, das so lieb aus jeder Rosenwelle lächelt." Da fuhr Marie schnell mit dem Kopf zurück, schloß die Augen fest zu und schämte sich sehr. In demselben Augenblick wurde sie auch von den zwölf Mohren aus dem Muschelwagen gehoben und an das Land getragen. Sie befand sich in einem kleinen Gebüsch, das beinahe noch schöner war als der Weihnachtswald, so glänzte und funkelte alles darin, vorzüglich waren aber die seltsamen Früchte zu bewundern, die an allen Bäumen hingen und nicht allein seltsam gefärbt waren, sondern auch ganz wunderbar dufteten. "Wir sind im Konfitürenhain", sprach Nußknacker, "aber dort ist die Hauptstadt." Was erblickte Marie nun! Wie werd ich es denn anfangen, euch, ihr Kinder, die Schönheit und Herrlichkeit der Stadt zu beschreiben, die sich jetzt breit über einen reichen Blumenanger hin vor Mariens Augen auftat. Nicht allein daß Mauern und Türme in den herrlichsten Farben prangten, so war auch wohl, was die Form der Gebäude anlangt, gar nichts Ähnliches auf Erden zu finden. Denn statt der Dächer hatten die Häuser zierlich geflochtene Kronen aufgesetzt und die Türme sich mit dem zierlichsten buntesten Laubwerk gekränzt, das man nur sehen kann. Als sie durch das Tor. welches so aussah, als sei es von lauter Makronen und überzuckerten Früchten erbaut, gingen, präsentierten silberne Soldaten das Gewehr, und ein Männlein in einem brokatnen Schlafrock warf sich dem Nußknacker an den Hals mit den Worten: "Willkommen, bester Prinz, willkommen in Konfektburg!" Marie wunderte sich nicht wenig, als sie merkte, daß der junge Droßelmeier von einem sehr vornehmen Mann als Prinz anerkannt wurde. Nun hörte sie aber soviel feine Stimmchen durcheinandertoben, solch ein Gejuchze und Gelächter-, solch ein Spielen und Singen, daß sie an nichts anders denken konnte, sondern nur gleich Nuß— knackerchen fragte, was denn das zu bedeuten habe. "0 beste Demoiselle Stahlbaum", erwiderte Nußknacker, "das ist nichts Besonderes, Konfektburg ist eine volkreiche lustige Stadt, da geht's alle Tage so her, kommen Sie aber nur gefälligst weiter." Kaum waren sie einige Schritte gegangen, als sie auf den großen Marktplatz kamen, der den herrlichsten Anblick gewährte. Alle Häuser ringsumher waren von durchbrochener Zuckerarbeit, Galerie über Galerie getürmt, inder Mitte stand ein hoher überzuckerter Baumkuchen als Obelisk, und um ihn her sprützten vier sehr künstliche Fontänen Orsade, Limonade und andere herrliche süße Getränke in die Lüfle; und in dem Becken sammelte sich lauter Creme, den man gleich hätte auslöffeln mögen. Aber hübscher als alles das waren die allerliebsten kleinen Leutchen, die sich zu Tausenden Kopf an Kopf durcheinanderdrängten und juchzten und lachten und scherzten und sangen, kurz, jenes lustige Getöse erhoben, das Marie schon in der Ferne gehört hatte. Da gab es schöngekleidete Herren und Damen, Armenier und Griechen, Juden und Tiroler, Offiziere und Soldaten und Prediger und Schäfer und Hanswurste, kurz, alle nur mögliche Leute, wie sie in der Welt zu finden sind. An der einen Ecke wurde größer der Tumult, das Volk strömte auseinander, denn eben ließ sich der Großmogul auf einem Palankin vorübertragen, begleitet von dreiundneunzig Großen des Reichs und siebenhundert Sklaven. Es begab sich aber, daß an der andern Ecke die Fischerzunft, an fünfhundert Köpfe stark, ihren Festzug hielt, und übel war es auch, daß der türkische Großherr gerade den Einfall hatte, mit dreitausend Janitscharen über den Markt spazierenzureiten, wozu noch der große Zug aus dem "Unterbrochenen Opferfeste"kam, der mit klingendem Spiel und dem Gesange: "Auf, danket der mächtigen Sonne"gerade auf den Baumkuchen zuwallte. Das war ein Drängen und Stoßen und Treiben und Gequieke! —Bald gab es auch viel Jammergeschrei, denn ein Fischer hatte im Gedränge einem Brahmin den Kopf abgestoßen, und der Großmogul wäre beinahe von einem Hanswurst überrannt worden. Toller und toiler wurde der Lärm, und man fing bereits an, sich zu stoßen und zu prügeln, als der Mann im brokatnen Schlafrock, der am Tor den Nußknacker als Prinz begrüßt hatte, auf den Baumkuchen kletterte und, nachdem eine sehr hell klingende Glocke dreimal angezogen worden, dreimal laut rief: "Konditor! Konditor! —Konditor!" —Sogleich legte sich der Tumult, ein jeder suchte sich zu behelfen, wie er konnte, und nachdem die verwickelten Züge sich entwickelt hatten, der besudelte Großmogul abgebürstet und dem Brahmin der Kopf wieder aufgesetzt worden, ging das vorige lustige Getöse aufs neue los. "Was bedeutet das mit dem Konditor, guter Herr Droßelmeier?"fragte Marie. "Ach, beste Demoiselle Stahlbaum", erwiderte Nußknacker, "Konditor wird hier eine unbekannte, aber sehr grauliche Macht genannt, von der man glaubt, daß sie aus dem Menschen machen könne, was sie wolle; es ist das Verhängnis, welches über dies kleine lustige Volk regiert, und sie fürchten dieses so sehr, daß durch die bloße Nennung des Namens der größte Tumult gestillt werden kann, wie es eben der Herr Bürgermeister bewiesen hat. Ein jeder denkt dann nicht mehr an Irdisches, an Rippenstöße und Kopfbeulen, sondern geht in sich und spricht: ,Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?" — Eines lauten Rufs der Bewunderung, ja des höchsten Erstaunens konnte sich Marie nicht enthalten, als sie jetzt mit einemmal vor einem in rosenrotem Schimmer hell leuchtenden Schlosse mit hundert luftigen Türmen stand. Nur hin und wieder waren reiche Bouquets von Veilchen, Narzissen, Tulpen, Levkojen auf die Mauern gestreut, deren dunkelbrennende Farben nur die blendende, ins Rosa spielende Weiße des Grundes erhöhten. Die große Kuppel des Mittelgebäudes sowie die pyramidenförmigen Dächer der Türme waren mit tausend golden und silbern funkelnden Sternlein besäet. "Nun sind wir vor dem Marzipanschloß", sprach Nußknacker; Marie war ganz verloren in dem Anblick des Zauberpalastes, doch entging es ihr nicht, daß das Dach eines großen Turmes gänzlich fehlte, welches kleine Männerchen, die auf einem von Zimtstangen erbauten Gerüste standen, wiederherstellen zu wollen schienen. Noch ehe sie den Nußknacker darum befragte, fuhr dieser fort: "Vor kurzer Zeit drohte diesem schönen Schloß arge Verwüstung, wo nicht gänzlicher Untergang. Der Riese Leckermaul kam des Weges gegangen, biß schnell das Dach jenes Turmes herunter und nagte schon ander großen Kuppel, die Konfektbürger brachten ihm aber ein ganzes Stadtviertel sowie einen ansehnlichen Teil des Konfitürenhains als Tribut, womit er sich abspeisen ließ und weiterging." In dem Augenblick ließ sich eine sehr angenehme sanfte Musik hören, die Tore des Schlosses öffneten sich, und es traten zwölf kleine Pagen heraus mit angezündeten Gewürznelkstengeln, die sie wie Fackeln in den kleinen Händchen trugen. Ihre Köpfe bestanden aus einer Perle, die Leiber aus Rubinen und Smaragden, und dazu gingen sie auf sehr schön aus purem Gold gearbeiteten Füßchen einher. Ihnen folgten vier Damen, beinahe so groß als Mariens Klärchen, aber so über die Maßen herrlich und glänzend geputzt, daß Marie nicht einen Augenblick in ihnen die gebornen Prinzessinnen verkannte. Sie umarmten den Nußknacker auf das zärtlichste und riefen dabei wehmütig freudig: "0 mein Prinz! — mein bester Prinz! — o mein Bruder!" Nußknacker schien sehr gerührt, er wischte sich die sehr häufigen Tränen aus den Augen, ergriff dann Marien bei der Hand und sprach pathetisch: "Dies ist die Demoiselle Marie Stahlbaum, die Tochter eines sehr achtungswerten Medizinalrates und die Retterin meines Lebens! Warf sie nicht den Pantoffel zur rechten Zeit, verschaffte sie mir nicht den Säbel des pensionierten Obristen, so läg ich, zerbissen von dem fluchwürdigen Mausekönig, im Grabe. — Oh! dieser Demoiselle Stahlbaum! gleicht ihr wohl Pirlipat, obschon sie eine geborne Prinzessin ist, an Schönheit, Güte und Tugend? — Nein, sag ich, nein!" Alle Damen riefen: "Nein!" und fielen der Marie um den Hals und riefen schluchzend: "Oh, Sie edle Retterin des geliebten prinzlichen Bruders - vortreffliche Demoiselle Stahlbaum!" — Nun geleiteten die Damen Marien und den Nußknacker in das Innere des Schlosses, und zwar in einen Saal, dessen Wände aus lauter farbig funkelnden Kristallen bestanden. Was aber vor allem übrigen der Marie so wohlgefiel, waren die allerliebsten kleinen Stühle, Tische, Kommoden, Sekretärs und so weiter, die ringsherum standen und die alle von Zedern- oder Brasilienholz mit daraufgestreuten goldnen Blumen verfertigt waren. Die Prinzessinnen nötigten Marien und den Nußknacker zum Sitzen und sagten, daß sie sogleich selbst ein Mahl bereiten wollten. Nun holten sie eine Menge kleiner Töpfchen und Schüsselchen von dem feinsten japanischen Porzellan, Löffel, Messer und Gabeln, Reibeisen, Kasserollen und andere Küchenbedürfnisse von Gold und Silber herbei. Dann brachten sie die schönsten Früchte und Zuckerwerk, wie es Marie noch niemals gesehen hatte, und fingen an, auf das zierlichste mit den kleinen schneeweißen Händchen die Früchte auszupressen, das Gewürz zu stoßen, die Zuckermandeln zu reiben, kurz, so zu wirtschaften, daß Marie wohl einsehen konnte, wie gut sich die Prinzessinnen auf das Küchenwesen verstanden und was das für ein köstliches Mahl geben würde. Im lebhaften Gefühl, sich auf dergleichen Dinge ebenfalls recht gut zu verstehen, wünschte sie heimlich, bei dem Geschäft der Prinzessinnen selbst tätig sein zu können. Die schönste von Nußknackers Schwestern, als ob sie Mariens geheimen Wunsch erraten hätte, reichte ihr einen kleinen goldnen Mörser mit den Worten hin: "0 süße Freundin, teure Retterin meines Bruders, stoße eine Wenigkeit von diesem Zuckerkandel!" Als Marie nun so wohlgemut in den Mörser stieß, daß er gar anmutig und lieblich wie ein hübsches Liedlein ertönte, fing Nußknacker an, sehr weitläufig zu erzählen, wie es bei der grausenvollen Schlacht zwischen seinem und des Mausekönigs Heer ergangen, wie er der Feigheit seiner Truppen halber geschlagen worden, wie dann der abscheuliche Mausekönig ihn durchaus zerbeißen wollen und Marie deshalb mehrere seiner Untertanen, die in ihre Dienste gegangen, aufopfern müssen und so weiter. Marien war es bei dieser Erzählung, als klängen seine Worte, ja selbst ihre Mörserstöße immer ferner und unvernehmlicher, bald sah sie silberne Flöre wie dünne Nebelwolken aufsteigen, in denen die Prinzessinnen - die Pagen, der Nußknacker, ja sie selbst schwammen - ein seltsames Singen und Schwirren und Summen ließ sich vernehmen, das wie in die Weite hin verrauschte; nun hob sich Marie wie auf steigenden Wellen immer höher und höher - höher und höher -höher und höher -

Beschluß

Prr - puff ging es! — Marie fiel herab aus unermeßlicher Höhe. — Das war ein Ruck! — Aber gleich schlug sie auch die Augen auf, da lag sie in ihrem Bettchen, es war heller Tag, und die Mutter stand vor ihr, sprechend: "Aber wie kann man auch so lange schlafen, längst ist das Frühstück da!" Du merkst es wohl, versammeltes, höchstgeehrtes Publikum, daß Marie, ganz betäubt von all den Wunderdingen, die sie gesehen, endlich im Saal des Marzipanschlosses eingeschlafen war und daß die Mohren oder die Pagen oder gar die Prinzessinnen selbst sie zu Hause getragen und ins Bett gelegt hatten. "0 Mutter, liebe Mutter, wo hat mich der junge Herr Droßelmeier diese Nacht überall hingeführt, was habe ich alles Schönes gesehen!" Nun erzählte sie alles beinahe so genau, wie ich es soeben erzählt habe, und die Mutter sah sie ganz verwundert an. Als Marie geendet, sagte die Mutter: "Du hast einen langen, sehr schönen Traum gehabt, liebe Marie, aber schlag dir das alles nur aus dem Sinn." Marie bestand hartnäckig darauf, daß sie nicht geträumt, sondern alles wirklich gesehen habe, da führte die Mutter sie an den Glasschrank, nahm den Nußknacker, der, wie gewöhnlich, im dritten Fache stand, heraus und sprach: "Wie kannst du, du albernes Mädchen, nur glauben, daß diese Nürnberger Holzpuppe Leben und Bewegung haben kann." — "Aber, liebe Mutter", fiel Marie ein, "ich weiß es ja wohl, daß der kleine Nußknacker der junge Herr Droßelmeier aus Nürnberg, Pate Droßelmeiers Neffe, ist." Da brachen beide, der Medizinalrat und die Medizinairätin, in ein schallendes Gelächter aus. "Ach", fuhr Marie beinahe weinend fort, "nun lachst du gar meinen Nußknacker aus, lieber Vater! und er hat doch von dir sehr gut gesprochen, denn als wir im Marzipanschloß ankamen und er mich seinen Schwestern, den Prinzessinnen, vorstellte, sagte er, du seist ein sehr achtungswerter Medizinalrat!" — Noch stärker wurde das Gelächter, in das auch Luise, ja sogar Fritz

einstimmte. Da lief Marie ins andere Zimmer, holte schnell aus ihrem kleinen Kästchen die sieben Kronen des Mausekönigs herbei und überreichte sie der Mutter mit den Worten: "Da. sieh nur, liebe Mutter, das sind die sieben Kronen des Mausekönigs, die mir in voriger Nacht der junge Herr Droßelmeier zum Zeichen seines Sieges überreichte." Voll Erstaunen betrachtete die Medizinalrätin die kleinen Krönchen, die von einem ganz unbekannten, aber sehr funkelnden Metall so sauber gearbeitet waren, als hätten Menschenhände das unmöglich vollbringen können. Auch der Medizinalrat konnte sich nicht satt sehen an den Krönchen, und beide, Vater und Mutter, drangen sehr ernst in Marien, zu gestehen, wo sie die Krönchen herhabe. Sie konnte ja aber nur bei dem, was sie gesagt, stehenbleiben, und als sie nun der Vater hart anließ und sie sogar eine kleine Lügnerin schalt, da fing sie an, heftig zu weinen und klagte: "Ach, ich armes Kind, ich armes Kind! was soll ich denn nun sagen!" In dem Augenblick ging die Tür auf. Der Obergerichtsrat trat hinein und rief: "Was ist da - was ist da? mein Patchen Marie weint und schluchzt? — Was ist da - was ist da?" Der Medizinalrat unterrichtete ihn von allem, was geschehen, indem er ihm die Krönchen zeigte. Kaum hatte der Obergerichtsrat aber diese angesehen, als er lachte und rief: "Toller Schnack, toller Schnack, das sind ja die Krönchen, die ich vor Jahren an meiner Uhrkette trug und die ich der kleinen Marie an ihrem Geburtstage, als sie zwei Jahre alt worden, schenkte. Wißt ihr's denn nicht mehr?" Weder der Medizinalrat noch die Medizinairätin konnten sich dessen erinnern, als aber Marie wahrnahm, daß die Gesichter der Eltern wieder freundlich geworden, da sprang sie los auf Pate Droßelmeier und rief: "Ach, du weißt ja alles, Pate Droßelmeier, sag es doch nur selbst, daß mein Nußknacker dein Neffe, der junge Herr Droßelmeier aus Nürnberg, ist und daß er mir die Krönchen geschenkt hat." — Der Obergerichtsrat machte aber ein sehr finsteres Gesicht und murmelte: "Dummer einfältiger Schnack."Darauf nahm der Medizinalrat die kleine Marie vor sich und sprach sehr ernsthaft: "Hör mal, Marie, laß nun einmal die Einbildungen und Possen, und wenn du noch einmal sprichst, daß der einfältige mißgestaltete Nußknacker der Neffe des Herrn Obergerichtsrats sei, so werf ich nicht allein den Nußknacker, sondern auch alle deine übrigen Puppen, Mamsell Klärchen nicht ausgenommen, durchs Fenster." — Nun durfte freilich die arme Marie gar nicht mehr davon sprechen, wovon denn doch ihr ganzes Gemüt erfüllt war, denn ihr möget es euch wohl denken, daß man solch Herrliches und Schönes, wie es Marien widerfahren, gar nicht vergessen kann. Selbst - sehr geehrter Leser oder Zuhörer Fritz - selbst dein Kamerad Fritz Stahlbaum drehte der Schwester sogleich den Rücken, wenn sie ihm von dem Wunderreiche, in dem sie so glücklich war, erzählen wollte. Er soll sogar manchmal zwischen den Zähnen gemurmelt haben: "Einfältige Gans !", doch das kann ich seiner sonst erprobten guten Gemütsart halber nicht glauben, soviel ist aber gewiß, daß, da er nun an nichts mehr, was ihm Marie erzählte, glaubte, er seinen Husaren bei öffentlicher Parade das ihnen geschehene Unrecht förmlich abbat, ihnen statt der verlornen Feldzeichen viel höhere, schönere Büsche von Gänsekielen anheftete und ihnen auch wieder erlaubte, den Gardehusarenmarsch zu blasen. Nun! — wir wissen am besten, wie es mit dem Mut der Husaren aussah, als sie von den häßlichen Kugeln Flecke auf die roten Wämser kriegten!

Sprechen durfte nun Marie nicht mehr von ihrem Abenteuer, aber die Bilder jenes wunderbaren Feenreichs umgaukelten sie in süßwogendem Rauschen und in holden lieblichen Klängen; sie sah alles noch einmal, sowie sie nur ihren Sinn fest darauf richtete, und so kam es, daß sie, statt zu spielen wie sonst, starr und still, tief in sich gekehrt dasitzen konnte, weshalb sie von allen eine kleine Träumerin gescholten wurde. Es begab sich, daß der Obergerichtsrat einmal eine Uhr in dem Hause des Medizinalrats reparierte, Marie saß am Glasschrank und schaute, in ihre Träume vertieft,

den Nußknacker an, da fuhr es ihr wie unwillkürlich heraus: "Ach, lieber Herr Droßelmeier, wenn Sie doch nur wirklich lebten, ich würd's nicht so machen wie Prinzessin Pirlipat und Sie verschmähen, weil Sie um meinetwillen aufgehört haben, ein hübscher junger Mann zu sein In dem Augenblick schrie der Obergerichtsrat: "Hei, hei - toller Schnack." — Aber in dem Augenblick geschah auch ein solcher Knall und Ruck, daß Marie ohnmächtig vom Stuhle sank. Als sie wieder erwachte, war die Mutter um sie beschäftigt und sprach: "Aber wie kannst du nur vom Stuhle fallen, ein so großes Mädchen! — Hier ist der Neffe des Herrn Obergerichtsrats aus Nürnberg angekommen - sei hübsch artig!" — Sie blickte auf, der Obergerichtsrat hatte wieder seine Glasperücke aufgesetzt, seinen gelben Rock angezogen und lächelte sehr zufrieden, aber an seiner Hand hielt er einen zwar kleinen, aber sehr wohlgewachsenen jungen Mann. Wie Milch und Blut war sein Gesichtchen, er trug einen herrlichen roten Rock mit Gold, weißseidene Strümpfe und Schuhe, hatte im Jabot ein allerliebstes Blumenbouquet, war sehr zierlich frisiert und gepudert, und-hinten über den Rücken hing ihm ein ganz vortreiflicher Zopf herab. Der kleine Degen an seiner Seite schien von lauter Juwelen, so blitzte er, und das Hütlein unterm Arm von Seidenflocken gewebt. Welche angenehme Sitten der junge Mann besaß, bewies er gleich dadurch, daß er Marien eine Menge herrlicher Spielsachen, vorzüglich aber den schönsten Marzipan und dieselben Figuren, welche der Mausekönig zerbissen, dem Fritz aber einen wunderschönen Säbel mitgebracht hatte. Bei Tische knackte der Artige für die ganze Gesellschaft Nüsse auf, die härtesten widerstanden ihm nicht, mit der rechten Hand steckte er sie in den Mund, mit der linken zog er den Zopf an - krak - zerfiel die Nuß in Stücke! — Marie war glutrot geworden, als sie den jungen artigen Mann erblickte, und noch röter wurde sie, als nach Tische der junge Droßelmeier sie einlud, mit ihm in das Wohnzimmer an den Glasschrank zu gehen. "Spielt nur hübsch miteinander, ihr Kinder, ich habe nun, da alle meine Uhren richtig gehen, nichts dagegen", rief der Obergerichtsrat. Kaum war aber der junge Droßelmeier mit Marien allein, als er sich auf ein Knie niederließ und also sprach: "0 meine allervortrefflichste Demoiselle Stahlbaum, sehn Sie hier zu Ihren Füßen den beglückten Droßelmeier, dem Sie an dieser Stelle das Leben retteten! — Sie sprachen es gütigst aus, daß Sie mich nicht, wie die garstige Prinzessin Pirlipat verschmähen wollten, wenn ich Ihretwillen häßlich geworden! — sogleich hörte ich auf, ein schnöder Nußknacker zu sein, und erhielt meine vorige, nicht unangenehme Gestalt wieder. O vortreffliche Demoiselle, beglücken Sie mich mit Ihrer werten Hand, teilen Sie mit mir Reich und Krone, herrschen Sie mit mir auf Marzipanschloß, denn dort bin ich jetzt König!" Marie hob den Jüngling auf und sprach leise: "Lieber Herr Droßelmeier! Sie sind ein sanftmütiger guter Mensch, und da Sie dazu noch ein anmutiges Land mit sehr hübschen lustigen Leuten regieren, so nehme ich Sie zum Bräutigam an!" — Hierauf wurde Marie sogleich Dreßelmeiers Braut. Nach Jahresfrist hat er sie, wie man sagt, auf einem goldnen, von silbernen Pferden gezogenen Wagen abgeholt. Auf der Hochzeit tanzten zweiundzwanzigtausend der glänzendsten, mit Perlen und Diamanten geschmückten Figuren, und Marie soll noch zur Stunde Königin eines Landes sein, in dem man überall funkelnde Weihnachtswälder, durchsichtige Marzipanschlösser, kurz, die allerherrlichsten, wunderbarsten Dinge erblicken kann, wenn man nur darnach Augen hat.

Das war das Märchen vom Nußknacker und Mausekönig.



"Sage mir", sprach Theodor, "sage mir, lieber Lothar, wie du nur deinen ,Nußknacker und Mausekönig' ein Kindermärchen nennen magst, da es ganz unmöglich ist, daß Kinder die feinen Fäden, die sich durch das Ganze ziehen und in seinen scheinbar völlig heterogenen Teilen zusammenhalten, erkennen können. Sie werden sich höchstens am einzelnen halten und sich hin und wieder daran ergötzen."

"Und ist dies nicht genug?" erwiderte Lothar. "Es ist", fuhr er fort, "überhaupt meines Bedünkens ein großer Irrtum, wenn man glaubt, daß lebhafte phantasiereiche Kinder, von denen hier nur die Rede sein kann, sich mit inhaltsleeren Faseleien, wie sie oft unter dem Namen Märchen vorkommen, begnügen. Ei - sie verlangen wohl was Besseres, und es ist zum Erstaunen, wie richtig, wie lebendig sie manches im Geiste auffassen, das manchem grundgescheuten Papa gänzlich entgeht. Erfahrt es und habt Respekt! — Ich las mein Märchen schon Leuten vor, die ich allein für meine kompetenten Kunstrichter anerkennen kann, nämlich den Kindern meiner Schwester. Fritz, ein großer Militär, war entzückt über die Armee seines Namensvetters, die Schlacht riß ihn ganz hin - er machte mir das Prr und Puff und Schnetterdeng und Bum-Burum mit gehender Stimme nach, rutschte unruhig auf dem Stuhle hin und her, ja! — blickte nach seinem Säbel hin, als wolle er dem armen Nußknacker zu Hülfe eilen, da dessen Gefahr immer höher und höher stieg. Weder die neueren Kriegsberichte noch den Shakespeare hat aber Neffe Fritz zur Zeit gelesen, wie ich euch versichern kann; was es mit den militärischen Evolutionen jener entsetzlichsten aller Schlachten sowie was es mit dem: ,Ein Pferd - ein Pferd - ein Königreich für ein Pferd -' für eine Bewandtnis hat, ist ihm daher gewiß ganz und gar entgangen. Ebenso begriff meine liebe Eugenie von Haus aus in ihrem zarten Gemüt Mariens süße Zuneigung zum kleinen Nußknacker, wurde bis zu Tränen gerührt, als Marie Zuckerwerk -Bilderbücher, ja ihr Weihnachtskleidchen opfert, nur um ihren Liebling zu retten, zweifelte nicht einen Augenblick an die schöne, herrlich funkelnde Kandiswiese, auf die Marie aus dem Kragen des verhängnisvollen Fuchspelzes in ihres Vaters Kleiderschrank hinaussteigt. Das Puppenreich machte die Kinder überglücklich."

"Dieser Teil deines Märchens", nahm Ottmar das Wort,

"ist, behält man die Kinder als Leser oder Zuhörer im Auge, auch unbedenklich der gelungenste. Die Einschaltung des Märchens von der harten Nuß, unerachtet wieder darin die Bindungsmittel des Ganzen liegen, halte ich deshalb für fehlerhaft, weil die Sache wenigstens scheinbar sich dadurch verwirrt und die Fäden sich auch zu sehr dehnen und ausbreiten. Du hast uns nun zwar für inkompetente Richter erklärt und dadurch Schweigen geboten, verhehlen kann ich's dir aber nicht, daß, solltest du dein Werk ins große Publikum schicken, viele sehr vernünftige Leute, vorzüglich solche, die niemals Kinder gewesen, welches sich bei manchen ereignet, mit Achselzucken und Kopfschütteln zu erkennen geben werden, daß alles tolles, buntscheckiges, aberwitziges Zeug sei, oder wenigstens, daß dir ein tüchtiges Fieber zu Hülfe gekommen sein müsse, da ein gesunder Mensch solch Unding nicht schaffen könne." — "Da würd ich", rief Lothar lachend, "da würd ich mein Haupt beugen vor dem vornehmen Kopfschüttler, meine Hand auf die Brust legen und wehmütig versichern, daß es dem armen Autor gar wenig helfe, wenn ihm wie im wirren Traum allerlei Phantastisches aufgehe, sondern daß dergleichen, ohne daß es der ordnende richtende Verstand wohl erwäge, durcharbeite und den Faden zierlich und fest daraus erst spinne, ganz und gar nicht zu brauchen. Zu keinem Werk, würd ich ferner sagen, gehöre mehr ein klares ruhiges Gemüt als zu einem solchen, das, wie in regelloser spielender Willkür von allen Seiten ins Blaue hinausblitzend, doch einen festen Kern in sich tragen sollt und müsse."

"Wer", sprach Cyprian, "wer vermag dir darin zu widersprechen. Doch bleibt es ein gewagtes Unternehmen, das durchaus Phantastische ins gewöhnliche Leben hineinzuspielen und ernsthaften Leuten, Obergerichtsräten, Archivarien und Studenten tolle Zauberkappen überzuwerfen, daß sie wie fabelhafte Spukgeister am hellen lichten Tage durch die lebhaftesten Straßen der bekanntesten Städte schleichen und man irre werden kann an jedem ehrlichen Nachbar. Wahr

ist es, daß sich daraus ein gewisser ironisierender Ton von selbst bildet, der den trägen Geist stachelt oder ihn vielmehr ganz unvermerkt mit gutmütiger Miene wie ein böser Schalk hineinverlockt in das fremde Gebiet."

"Dieser ironische Ton", sprach Theodor, "möchte die gefährlichste Klippe sein, da an ihr sehr leicht die Anmut der Erfindung und Darstellung, welche wir von jedem Märchen verlangen, scheitern, rettungslos zugrunde gehen kann."

"Ist es denn möglich", nahm Lothar das Wort, "die Bedingnisse solcher Dichtungen festzustellen? — Tieck, der herrliche tiefe Meister, der Schöpfer der anmutigsten Märchen, die es geben mag, hat darüber den Personen, die im ,Phantasus' auftreten, auch nur einzelne geistreiche und belehrende Bemerkungen in den Mund gelegt. Nach diesen soll Bedingnis des Märchens ein still fortschreitender Ton der Erzählung, eine gewisse Unschuld der Darstellung sein, die wie sanft phantasierende Musik ohne Lärm und Geräusch die Seele fesselt. Das Werk der Phantasie soll keinen bittern Nachgeschmack zurücklassen, aber doch ein Nachgenießen, ein Nachtönen. —Doch reicht dies wohl aus, den einzig richtigen Ton dieser Dichtungsart anzugeben? — An meinen ,Nußknacker' will ich nun gar nicht mehr denken, da ich selbst eingestehe, daß ein gewisser unverzeihlicher Übermut darin herrscht und ich zu sehr an die erwachsenen Leute und ihre Taten gedacht; aber bemerken muß ich, daß das Märchen unsers entfernten Freundes, ,Der goldene Topf' benannt, auf das du, Cyprian, vorhin anspieltest, vielleicht etwas mehr von dem, was der Meister verlangt, in sich trägt und ebendeshalb viel Gnade gefunden hat vor den Stühlen der Kunstrichter. —Übrigens habe ich den kleinen Kunstrichtern in meiner Schwester Kinderstube versprechen müssen, ihnen zum künftigen Weihnachten ein neues Märchen einzubescheren, und ich gelobe euch, weniger in phantastischem Übermut zu luxurieren, frömmer, kindlicher zu sein. — Für heute seid zufrieden, daß ich euch aus der entsetzlichen schauervollen Pinge zu Falun ans Tageslicht gefördert habe

und daß ihr so fröhlich und guter Dinge geworden seid, wie es den Serapionsbrüdern ziemt, vorzüglich im Augenblick des Scheidens. Denn eben hör ich die Mitternachtsstunde schlagen."

"Serapion", rief Theodor, indem er aufstand und das vollgeschenkte Glas hoch erhob, "Serapion möge uns fernerhin beistehen und uns erkräftigen, das wacker zu erzählen, was wir mit dem Auge unsers Geistes erschaut!"

"Mit dieser Anrufung unseres Heiligen scheiden wir auch heute als würdige Serapionsbrüder!"

So sprach Cyprian, und alle ließen noch einmal die Gläser erklingen, sich der Innigkeit und Gemütlichkeit, die ihren schönen Bund immer fester und fester verknüpfte, recht aus dem tiefsten Herzen heraus erfreuend.



Ende des ersten Bandes

Zweiter Band


Dritter Abschnitt

"Es hat", sprach Lothar, als die Serapionsbrüder aufs neue versammelt waren, "es hat gar keinen Zweifel, daß unserm Cyprian, gerade wie an dem Tage des heiligen Serapion, der uns zum neuen Bunde zusammenführte, auch heute was Besonderes in Sinn und Gedanken liegt. Er sieht blaß aus und verstört, er vernimmt nur mit halbem Ohr unser Gespräch, er scheint, während er doch nun gewiß mit lebendigem gesunden Leibe hier unter uns sitzt, geistig sich ganz woanders zu befinden."

"So mag er", nahm Ottmar das Wort, "denn nun gleich mit dem Wahnsinnigen heranrücken, dessen Namenstag er vielleicht heute feiert."

"Und", setzte Theodor hinzu. "in exzentrischen Funken sein Innres entladen, wie er nur Lust hat. Dann, ich weiß es, wird er wieder fein menschlich gesinnt und kehrt zurück in unsern Kreis, in dem er es sich doch nun einmal gefallen lassen muß."

"Ihr tut mir unrecht", sprach Cyprian, "statt daß mich irgendein wahnsinniges Prinzip verstören sollte, trage ich eine Nachricht mit mir, die euch alle erfreuen wird. —Wißt, daß unser Freund Sylvester heute, von seinem ländlichen Aufenthalt rückkehrend, hier eingetroffen ist."

Die Freunde jauchzten laut auf, denn allen war der stille gemütliche Sylvester, dessen innere Poesie in schönen milden

Strahlen gar herrlich herausfunkelte, recht von Herzen lieb und wert.

"Kein würdigerer Serapionsbrüder ist zu finden", sprach Theodor, "als unser Sylvester. Er ist still und in sich gekehrt, es kostet Mühe, ihn zum hellen Gespräch zu entzünden, das ist wahr, aber nie ist wohl ein Dichter empfänglicher gewesen für ein Werk des andern als eben er. Ohne daß er selbst viel Worte machen sollte, liest man auf seinem Gesicht in deutlichen sprechenden Zügen den Eindruck, den die Worte des Freundes auf ihn gemacht, und indem seine innige Gemütlichkeit ausströmt in seinen Blicken, in seinem ganzen Wesen, fühle ich mich selbst in seiner Nähe gemütlicher, froher. freier!"

"In der Tat", begann Ottmar, "ist Sylvester deshalb ein seltener Mensch zu nennen. Es scheint, als wenn unsere neuesten Dichter recht geflissentlich über jene Anspruchslosigkeit hinwegstürmten, die doch eben das Eigentümlichste der wahren Dichternatur sein möchte, und selbst die Bessergesinnten sollen sich hüten, nicht, indem sie nur ihr Recht behaupten wollen, das Schwert zu zücken, welches jene gar nicht aus der Hand legen. Sylvester geht umher waffenlos wie ein unschuldiges Kind. — Oft haben wir ihm vorgeworfen, er sei zu lässig, er schaffe vermöge seiner reichen Natur viel zuwenig. Aber muß denn immer und immer geschrieben werden? Setzt sich Sylvester hin und faßt das innere Gebilde in Worten, so treibt ihn gewiß ein unwiderstehlicher Drang dazu an. Er schreibt gewiß nichts auf, das er nicht wahrhaft im Innern empfunden, geschaut, und schon deshalb muß er unter uns sein als wahrer Serapionsbrüder."

"Ich hasse", sprach Lothar, "die mystische und angenehme Zahl Sieben ausgenommen, alle ungerade Zahlen und meine, daß fünf Serapionsbrüder unmöglich gedeihen können, sechs dagegen sehr anmutig um diesen runden Tisch sitzen werden. Sylvester ist heute angekommen, und nächstens wirft der unruhige, unstete Vinzenz hier wirklich Anker. Wir kennen ihn alle, wir wissen, daß er, die innere Gutmütigkeit

abgerechnet, die er mit Sylvester teilt, sonst den schneidendsten Kontrast gegen diesen bildet. Ist Sylvester still und in sich gekehrt, so sprudelt Vinzenz über in witziger, schalkischer Keckheit. Er hat das unversiegbare Talent, alles, das Gewöhnlichste und Außerordentlichste, in den bizarresten Bildern darzustellen, und kommt noch hinzu, daß er alles mit hellem, beinahe schneidendem Ton und einem höchst drolligen Pathos vorträgt, so gleicht sein Gespräch oft einer Galerie der buntesten Bilder einer magischen Laterne, die in stetem rastlosen Wechsel den Sinn fortreißen. ohne irgendeine ruhige Anschauung zuzulassen."

"Du hast", nahm Theodor das Wort, "unsern Vinzenz sehr treffend geschildert. Zu vergessen ist aber nicht die Sonderbarkeit, daß er bei seinen herrlichen lichtvollen Kenntnissen, bei seinem steten, in Brillantfeuer auflodernden Humor an allem Mystischen mit ganzer Seele hängt und es auch reichlich in seine Wissenschaft hineinträgt. Euch ist doch bekannt, daß er sich nun der Arzneikunde ganz hingegeben?"

"Allerdings", erwiderte Ottmar, "und dabei ist er der eifrigste Verfechter des Magnetismus, den es gibt, und gar nicht leugnen mag ich, daß das Scharfsinnigste und Tiefste, was über diese dunkle Materie zu sagen, ich aus seinem Munde vernahm."

"Ho, ho!" rief Lothar lachend, "bist du, lieber Ottmar, denn bei allen Magnetiseurs seit Mesmers Zeit in die Schule gegangen, daß du so entscheidend das Scharfsinnigste und Tiefste zu erkennen vermagst, was darüber gesagt werden kann? — Doch gewiß ist es, daß eben unser Vinzenz, kommt es einmal darauf an, Träume und Ahnungen in ein System hineinzubannen, vermöge seines hellen Blicks besser in die Tiefe zu schauen vermag als tausend andre. Und dabei behandelt er die Sache mit einer jovialen Heiterkeit, die mir gar wohl gefällt. — Mich plagte vor einiger Zeit, als Vinzenz auf seinen Streifereien sich gerade mit mir art einem Orte befand, ein unerträglicher nervöser Kopfschmerz. Alle Mittel

blieben fruchtlos. Vinzenz trat hinein, ich klagte ihm mein Leid. ,Was', rief er mit seiner hellen Stimme, ,was? — du leidest an Kopfschmerz? Nichts mehr als das? — Leichte Sache! Die Kopfschmerzen banne ich dir weg in zehn Minuten, wohin du willst, in die Stuhllehne, ins Tintenfaß, in den Spucknapf - durchs Fenster hinaus.' — Und damit begann er seine magnetischen Striche! — Es half zwar ganz und gar nichts, ich mußte aber herzlich lachen, und Vinzenz rief vergnügt: ,Siehst du wohl, Freund, wie ich deines Kopfschmerzes Herr worden im Augenblick?' — Ich mußte leider klagen, daß der Kopfschmerz ebenso arg sei als vorher, Vinzenz versicherte aber, der jetzige Schmerz sei nur ein trügerisches Echo, das mich täusche. Das böse Echo dauerte aber noch mehrere Tage. Ich bekenne euch bei dieser Gelegenheit, meine würdigen Serapionsbrüder, daß ich an die Heilkraft des sogenannten Magnetismus ganz und gar nicht glaube. Die scharfsinnigen Untersuchungen darüber kommen mir vor wie die Abhandlungen der englischen Akademiker, denen der König aufgegeben, zu erforschen, woher es rühre, daß ein Eimer mit Wasser, in den man--einen zehnpfündigen Fisch getan, nicht mehr wiege als der andere, bloß mit Wasser gefüllte. Mehrere hatten das Problem glücklich gelöst, und schon wollten sie mit ihrer Weisheit vor den König treten, als einer klugerweise anriet, die Sache selbst erst zu versuchen. Da behauptete denn der Fisch sein Recht, er fiel ins Gewicht, wie er sollte, und siehe, das Ding selbst, worüber die Weisen mittelst scharfsinnigen Nachdenkens die herrlichsten Resultate herausgebracht, existierte gar nicht."

"Ei, ei", sprach Ottmar, "ungläubiger, unpoetischer Schismatiker! wie kam es, da du gar nicht an den Magnetismus glaubst, wie kam es denn, daß du vor einiger Zeit - doch das muß ich euch, Cyprian und Theodor, ganz umständlich erzählen, damit alle Schmach des schnöden Unglaubens, den Lothar eben geäußert, zurückfalle auf sein eignes Haupt. — Ihr werdet vernommen haben, daß unser Lothar vor einiger Zeit an einer Kränklichkeit litt, die hauptsächlich ihren Sitz

in den Nerven hatte, ihn unbeschreiblich angriff und ihm. seinen ganzen Humor verdarb und ihm alle Lebenslust wegzehrte. — Ganz Teilnahme, ganz Mitleid, trete ich eines Tages in sein Zimmer. Da sitzt Lothar im Lehnstuhl, Nachtmütze über die Ohren gezogen, blaße übernächtig, Augen zugedrückt, und vor ihm, den Gott eben nicht mit besonderer Größe gesegnet, sitzt ein Mann von gleicher kleiner Statur und haucht ihn an und fährt ihm mit den Fingerspitzen über den gekrümmten Rücken und legt ihm die Hand auf die Herzgrube und frägt mit leiser lispelnder Stimme: ,Wie ist Ihnen nun, bester Lothar?' Und Lothar öffnet die Äugelein und lächelt gar weinerlich und seufzt: ,Besser - viel besser, liebster Doktor!' — Kurz. Lothar, der an die Heilkraft des Magnetismus nicht glaubt, der alles für leeres Hirngespinst erklärt - Lothar, der alle Magnetiseurs verhöhnt, der in ihrem Treiben nur leidige Mystifikationen erblickt - Lothar ließ sich magnetisieren."

Cyprian und Theodor lachten herzlich über das etwas groteske Bild, das ihnen Ottmar vor Augen gebracht. "0 schweige", sprach Lothar, "o schweige doch von solchen Dingen, Ottmar! — der Mensch ist vermöge seines eigentümlichsten Organismus leider so schwach, das physische Prinzip wirkt so schädlich ein auf das psychische, daß jeder abnorme Zustand, jede Krankheit in ihm eine Angst erzeugt, die, ein momentaner Wahnsinn, ihn zu den abenteuerlichsten Unternehmungen antreibt. Sehr gescheite Männer nahmen, als die Heilmittel der Ärzte nicht nach ihrem Sinn anschlagen wollten, zu alten Weibern ihre Zuflucht und brauchten mit aller Religion sympathetische Mittel und was weiß ich sonst noch! — Daß ich mich damals, in heftigen Nervenzufällen, zum Magnetismus hinneigte, beweiset meine Schwäche, sonst nichts weiter."

"Erlaube", nahm Cyprian das Wort, "erlaube, lieber Lothar, daß ich die Zweifel, die du heute gegen den Magnetismus zu hegen behebst, nur für das Erzeugnis einer augenblicklichen Stimmung halte. Was ist der Magnetismus, als

Heilmittel gedacht, anders als die potenziierte Kraft des psychischen Prinzips, die nun vermag, das physische ganz zu beherrschen, es ganz zu erkennen, jeden, auch den leisesten abnormen Zustand darin wahrzunehmen und eben durch die volle Erkenntnis dieses. Zustandes ihn zu lösen. Unmöglich kannst du die Macht unseres psychischen Prinzips wegleugnen, unmöglich dein Ohr verschließen wollen den wunderbaren Anklängen, die in uns hinein-, aus uns heraustönen, der geheimnisvollen Sphärenmusik, die das große unwandelbare Lebensprinzip der Natur selbst ist."

"Du sprichst", erwiderte Lothar, "nach deiner gewöhnlichen Weise, du gefällst dich in mystischer Schwärmerei. Ich gebe dir zu, daß die Lehre vom Magnetismus, die ganz in das Gebiet des Geisterhaften hineinstreift, den unendlichsten Reiz hat für jeden poetisch Gesinnten. Ich selbst kann gar nicht leugnen, daß mich die dunkle Materie bis in die tiefste Seele hinein angeregt hat und noch anregt, doch höre mein eigentliches Glaubensbekenntnis in kurzen Worten. — Wer mag frevelig und vermessen eindringen wollen in das tiefste Geheimnis der Natur, wer mag erkennen, ja nur deutlich ahnen wollen das Wesen jenes geheimnisvollen Bandes, das Geist und Körper verknüpft und auf diese Weise unser Sein bedingt. Auf diese Erkenntnis ist aber doch der Magnetismus ganz eigentlich basiert, und solange dieselbe unmöglich, gleicht die aus einzelnen Wahrnehmungen, die oft nur Illusionen sind, hergeleitete Lehre davon dem unsichern Herumtappen des Blindgebornen. Es ist gewiß, daß es erhöhte Zustände gibt, in denen der Geist, den Körper beherrschend, seine Tätigkeit hemmend, mächtig wirkt und in dieser Wirkung die seltsamsten Phänomene erzeugt. Ahnungen, dunkle Vorgefühle gestalten sich deutlich, und wir erschauen das mit aller Kraft unseres vollen Fassungsvermögens, was tief in unserer Seele regungslos schlummerte; der Traum, gewiß die wunderbarste Erscheinung im menschlichen Organism, dessen höchste Potenz meines Bedünkens eben der sogenannte Somnambulismus sein dürfte, gehört

ganz hieher. Aber gewiß ist es auch, daß solch ein Zustand irgendeine Abnormität in dem Verhältnis des psychischen und physischen Prinzips voraussetzt. Die lebhaftesten stärksten Träume kommen, wenn irgendein krankhaftes Gefühl den Körper angreift. Der Geist nutzt die Ohnmacht seines Mitherrschers und macht ihn, den Thron allein einnehmend, zum dienenden Vasallen. So soll ja auch der Magnetismus nur durch irgendeinen krankhaften Zustand des Körpers indiziert werden. Mag es ferner sein, daß die Natur oft einen psychischen Dualismus verstattet und daß der geistige Verkehr in doppelter Wechselwirkung die merkwürdigsten Erscheinungen hervorbringt, aber nur die Natur, meine ich, soll ebenjenen Dualismus verstatten, und jeder Versuch, ihn ohne jenes Gebot der Königin nach Willkür hervorzurufen, dünkt mir, wo nicht frevelig, doch gewiß ein gefährliches Wagestück. Ich gehe weiter. Ich will, ich kann nicht leugnen, die Erfahrung ist mir entgegen, daß das willkürliche Hervorrufen jenes potenziierten Seelenzustandes, ist er durch irgendeine Abnormität im Organism indiziert, möglich ist, daß ferner das fremde psychische Prinzip, auf höchst mysteriöse Weise in irgendein Fluidum, oder wie man es sonst nennen mag - in das vom Magnetiseur ausgehende Agens überhaupt verkörpert und ausströmend (bei der magnetischen Manipulation), die geistige Potenz des Magnetisierten erfassen und jenen Zustand erzeugen kann, der von der Regel alles menschlichen Seins und Lebens abweicht und selbst in seiner hochgerühmten Verzückung alles Entsetzen des fremdartigen Geisterreichs in sich trägt. Ich kann, sage ich, das alles nicht leugnen, aber immer und ewig wird mir dies Verfahren als eine blindlings geübte heillose Gewalt erscheinen, deren Wirkung, allen Theorien zum Trotz, nicht zu berechnen bleibt. Irgendwo heißt es, der Magnetismus sei ein schneidendes gefährliches Instrument in der Hand eines Kindes, ich bin mit diesem Ausspruch einverstanden. — Soll der Mensch sich unterfangen, auf das geistige Prinzip des andern nach Willkür wirken zu wollen, so scheint mir die Lehre der Barbarinischen Schule der Spiritualisten, die ohne alle Manipulation nur Willen und Glauben in Anspruch nahm, bei weitem die reinste und unschuldigste. Das Fixieren des festen Willens ist eine bescheidene Frage an die Natur, ob sie den geistigen Dualismus verstatten wolle oder nicht, und sie allein entscheidet. Ebenso möchte das eigne Magnetisieren am Bacquet ohne alle Einmischung des Magnetiseurs wenigstens insofern minder gefährlich genannt werden, als dann keine vielleicht feindlich wirkende Kraft eines fremden geistigen Prinzips denkbar. — Aber! — leichtsinnig, ja wohl in arger Selbsttäuschung befangen und nur unwillkürlich in Ostentation geratend, handhaben jetzt so viele jene dunkelste aller dunklen Wissenschaften, darf man überhaupt den Magnetismus eine Wissenschaft nennen. Ein fremder Arzt äußerte, wie Bartels in seiner ,Physiologie und Physik des Magnetismus' erzählt, seine Verwunderung, daß die deutschen Ärzte die magnetisierten Individuen so willkürlich behandelten und so dreist an ihnen experimentierten, als wenn sie einen physikalischen Apparat vor sich hätten. Leider ist dem so, und deshalb will ich - mag ich - wenigstens an die Heilkraft des Magnetismus lieber gar nicht glauben, als dem Gedanken Raum geben, daß das unheimliche Spiel mit einer fremden Gewalt vielleicht einmal selbst mein eignes Leben rettungslos verstören könnte."

"Aus allem", nahm Theodor das Wort, "aus allem, was du nicht ohne Tiefe und Wahrheit über den Magnetismus gesprochen, folgt nun eben nichts anderes, als daß du uns vorhin das Geschichtlein von dem zehnpfündigen Fisch wider deine Überzeugung aufgetischt hast, daß du an die Kräfte des Magnetismus wirklich glaubst, daß du aber wenigstens dir aus purem Grauen fest vorgenommen, keinem Magnetiseur in der Welt irgendeine Manipulation auf den Ganglien deines Rückens oder sonst zu gestatten. Übrigens stimme ich, was die Furcht vor fremden psychischen Prinzipien betrifft, mit dir überein, und es sei mir erlaubt, deinem Glaubensbekenntnis als Note und erklärendes Beispiel die

Erzählung hinzuzufügen, auf welche Weise ich in den Magnetismus hineingeriet. — Ein Universitätsfreund, der Arzeneikunde beflissen, war der erste, der mich mit der geheimnisvollen Lehre von dem Magnetismus bekannt machte. Wie ihr mich in meinem ganzen Wesen kennt, möget ihr euch wohl vorstellen, daß ich von allem, was ich darüber vernahm, in dem tiefsten Gemüt ergriffen wurde. Ich las alles, was ich darüber nur erhaschen konnte, zuletzt auch Kluges bekannten ,Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel'. Dies Buch machte zuerst einige Zweifel in mir rege, da es ohne sonderliche wissenschaftliche Erörterung des Gegenstandes sich nur mehrenteils auf Beispiele bezieht und dabei ohne Kritik das Bewährte mit dem völlig Märchenhaften, ja mit dem, was sich rein als Märchen dargetan hat, durcheinanderwirft. Mein Freund widerlegte alle Einreden, die ich ihm entgegenstellte. und bewies mir zuletzt, daß das bloß theoretische Studium in mir gar nicht den Glauben erwecken könne, der unerläßlich sei, sondern daß sich dieser erst finden werde, wenn ich selbst magnetischen Operationen beigewohnt. Dazu fehlte es damals auf der Universität aber an aller Gelegenheit; hätte sich auch ein hoffnungsvoller Magnetiseur finden lassen, so gab es doch durchaus keine Personen, die einige Inklinationen zum Somnambulismus, zur Clairvoyance zeigten.

Ich kam nach der Residenz. Dort stand der Magnetismus eben im höchsten Flor. Alle Welt sprach von nichts anderm als von den wunderbaren magnetischen Krisen einer vornehmen gebildeten geistreichen Dame, die nach einigen nicht eben bedeutenden Nervenzufällen beinahe von selbst erst somnambul und dann die merkwürdigste Clairvoyante geworden, die es, nach dem Ausspruch aller des Magnetismus eifrigst Beflissenen, jemals gegeben und künftig geben könne. Es gelang mir, die Bekanntschaft des Arztes zu machen, der sie behandelte, und dieser, in mir einen wißbegierigen Schüler erkennend, versprach, mich hinzuführen zu der Dame, wenn siechen in der Krisis befangen. Es geschah

so. ,Kommen Sie', sprach der Arzt eines Tages, ,um sechs Uhr nachmittags zu mir, kommen Sie, soeben fiel, ich weiß es, meine Kranke in den magnetischen Schlaf.' — In der gespanntesten Erwartung trat ich hinein in das elegante, ja üppig verzierte Gemach. Die Fenster waren mit rosaseidnen Gardinen dicht verzogen, sodaß die durchfallenden Strahlen der Abendsonne alles in rötlichem Schimmer magisch beleuchteten. Die Somnambule lag, in ein sehr reizendes Negligé gekleidet, ausgestreckt auf dem Sofa mit dicht geschlossenen Augen, leise atmend wie im tiefsten Schlaf.

Um sie her im weiten Kreise waren einige Andächtige versammelt, ein paar Fräulein, die die Augen verdrehten, tief seufzten, die gar zu gern selbst auf der Stelle somnambul geworden wären, zur Erbauung des jungen Offiziers und eines andern jungen wohlgebildeten Mannes, die beide auf diesen wichtigen Moment sehnsuchtsvoll zu hoffen schienen, ein paar ältliche Damen, die mit vorgebogenem Haupt, die Hände gefaltet, jeden Atemzug der somnambulen Freundin belauschten.

Man erwartete den eigentlichen höchsten Zustand des Hellsehens. Der Magnetiseur, der sich nicht erst mit seiner Somnambule in Rapport setzen durfte, da dieser Rapport, wie er versicherte, beständig fortdauere, nahte sich ihr und begann mit ihr zu sprechen. Sie nannte ihm die Augenblicke, in denen er heute vorzüglich lebhaft an sie gedacht, und erwähnte manches andern Umstandes, der sich heute mit ihm begeben. Endlich bat sie ihn, den Ring, den er in einem roten Maroquinfutteral bei sich in der Tasche trage und den er sonst nie bei sich gehabt, abzulegen, da das Gold, vorzüglich aber der Diamant feindlich auf sie wirke. Mit allen Zeichen des tiefsten Erstaunens trat der Magnetiseur zurück und zog das beschriebene Futteral mit dem Ringe hervor, den er erst heute nachmittag von dem Juwelier erhalten, dessen Existenz der Somnambule also nur lediglich durch den magnetischen Rapport kund worden. Dies Wunder mit dem Ringe wirkte auf die beiden Fräuleins so stark, daß mit

einem tiefen Seufzer jede nach einem Lehnstuhl flüchtete und mittelst einiger wohlgeführten Striche des Magnetiseurs in magnetischen Schlaf verfiel. Das verhängnisvolle Futteral abgelegt, machte nun der Magnetiseur vorzüglich mir zu Gefallen mit seiner Somnambule einige Kunststücke. Sie nieste, wenn er Tabak nahm, sie las einen Brief, den er ihr auf die Herzgrube legte, und so fort. Endlich versuchte er mich durch seine Einwirkung in Rapport zu setzen mit der Somnambule. Es gelang vortrefflich. Sie beschrieb mich von Kopf bis zu Fuß und versicherte, daß sie es vorher gewußt, wie der Magnetiseur den Freund, dessen deutliche Ahnung sie schon lange in sich getragen, heute mitbringen werde. Sie schien mit meiner Gegenwart sehr zufrieden zu sein. Plötzlich hörte sie auf zu sprechen und richtete sich in die Höhe mit halbem Leibe, ich glaubte ein Zittern der Augenlider, ein leises Zucken des Mundes wahrzunehmen. Der Magnetiseur berichtete den wißbegierigen Anwesenden, daß die somnambule Dame in den fünften Grad, in den Zustand der von der äußern Sinnenwelt unabhängigen Selbstanschauung übergehe. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit der beiden jungen Männer abgelenkt von den entschlafenen Fräuleins, eben in dem Augenblick, als sie begannen interessant zu werden. Die eine hatte schon wirklich versichert, daß die Frisur des jungen Offiziers, mit dem sie sich in Rapport gesetzt, sehr angenehm leuchte, die andere aber behauptet, daß die Generalin, die den untern Stock des Hauses bewohnte, eben schönen Karawanentee trinke, dessen Aroma sie durch die Stubendecke verspüre, prophezeite auch hellsehend, daß sie in einer Viertelstunde aus dem magnetischen Schlaf erwachen und ebenfalls Tee trinken, ja sogar etwas Torte dazu genießen werde. — Die somnambule Dame fing abermals an zu reden, aber mit ganz verändertem, seltsam und, wie ich gestehen muß, über die Maßen wohlklingendem Organ. Sie sprach indessen in solch mystischen Worten und sonderbaren Redensarten, daß ich gar keinen Sinn herausfinden konnte, der Magnetiseur versicherte indessen, sie sage die herrlichsten, tiefsten, lehrreichsten Dinge über ihren Magen. Das mußte ich nun freilich glauben. Von dem Magen abgekommen, wie wiederum der Magnetiseur erklärte, nahm sie noch einen höhern Schwung. Zuweilen war es mir, als kämen ganze Sätze vor, die ich irgendwo gelesen. Etwa in Novalis' ,Fragmenten' oder in Schellings ,Weltseele'. Dann sank sie erstarrt zurück in die Kissen. Der Magnetiseur hielt ihr Erwachen nicht mehr fern und bat uns, das Zimmer zu verlassen, da es vielleicht feindlich auf sie wirken könne, erwacht, sich von mehreren Personen umgeben zu sehen. So wurden wir nach Hause geschickt. Die beiden Fräulein, auf die weiter niemand geachtet, hatten für gut gefunden, schon früher zu erwachen und sich sachte davonzuschleichen. — Ihr könnt gar nicht glauben, wie gar besonders die ganze Szene auf mich wirkte. Abgesehen von den beiden albernen Mädchen, die aus der uninteressanten Stellung als untätige Zuschauerinnen gern hinaus wollten, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die somnambule Dame auf dem Sofa eine vorbereitete. wohldurchdachte, wacker eingeübte Rolle mit vieler Kunst darstelle.

Den Magnetiseur kannte ich als den offensten, redlichsten Mann, der eine Komödie der Art aus der tiefsten Seele verabscheuen mußte, zu genau, um auch nur dem leisesten Argwohn Raum zu geben, daß er seinerseits, auch wohl leidiger Bekehrungssucht halber, eine Täuschung der Art unterstützen solle. War eine solche Täuschung wirklich vorhanden, so mußte sie lediglich das Werk der Dame sein, deren Kunst die Wissenschaft, die Einsicht, die Beobachtungsgabe des Arztes, der vielleicht zu sehr vonder neuen Lehre eingenommen, überbot. Nicht fragen durfte ich mich selbst, welchen Zweck eine solche Selbstqual, denn diese bleibt doch jener fingierte gewaltsame Zustand, welchen Zweck sie haben könne. Gab es denn nicht von den vom Teufel besessenen Ursulinerinnen, von jenen miauenden Nonnen, von den in gräßlichen Verrenkungen sich windenden Verzückten bis auf jenes Weib im Würzburger Hospital, die sich, den wütendsten

Schmerz nicht achtend, Glasscherben, Nadeln in die Aderlaßwunde bohrte, damit der Arzt über die fremdartigen Dinge in ihrem Körper erstaunen sollte, ja bis auf die berüchtigte Manson in der neuesten Zeit, gab es denn nicht jederzeit eine Menge Weiber, die Gesundheit, Leben, Ehre, Freiheit daransetzten, nur damit die Welt sie für außerordentliche Wesen halte, von dem Wunder ihrer Erscheinung spreche? — Doch zurück zu meiner somnambulen Dame! — Ich wagte es, dem Arzt wenigstens ganz leise meine Zweifel anzudeuten. Er versicherte aber lächelnd, diese Zweifel wären nur die letzten ohnmächtigen Streiche des Besiegten. Die Dame habe mehrmals geäußert, daß meine Gegenwart wohltätig auf sie wirke, er habe daher gegründete Ursache, meine fortgesetzten Besuche zu wünschen, die mich ganz überzeugen würden. — In der Tat fing ich an, da ich die Dame mehrmals besucht, mich mehr zum Glauben hinzuneigen, und dieser Glaube stieg beinahe bis zur Überzeugung, als sie im somnambulen Zustande, nachdem ich durch den Magnetiseur mich mit ihr in Rapport gesetzt, mir auf unbegreifliche Weise Dinge aus meinem eignen Leben erzählte und vorzüglich einer Nervenkrankheit gedachte, in die ich verfiel, als mir der Tod eine geliebte Schwester entrissen. — Sehr mißfiel, es mir aber, daß sich die Zahl der Besucher immer mehrte und daß der Magnetiseur die Dame zur weissagenden Sibylle emporzuheben sich mühte, da er sie über Gesundheit und Leben fremder Personen, die er mit ihr in Rapport gesetzt, Orakelsprüche tun ließ. — Eines Tages fand ich unter den Anwesenden einen alten berühmten Arzt, der allgemein als der ärgste Zweifler, als der schlimmste Gegner der magnetischen Kur bekannt war. Die Dame hatte, ehe er gekommen, im magnetischen Schlaf vorausgesagt, daß dieser Zustand diesmal länger dauern als sonst und daß sie erst nach zwei vollen Stunden erwachen werde. Bald darauf geriet sie in den höchsten Grad des Hellsehens und begann ihre mystischen Reden. Der Magnetiseur versicherte, daß in diesem höchsten Grad der wahren Verzückung die Somnambule, ein rein geistiges Wesen, den Körper ganz abgestreift habe und für jeden physischen Schmerz unempfindlich sei. Der alte Arzt meinte, zum Besten der Wissenschaft, zur Überzeugung aller Ungläubigen sei es jetzt an der Zeit, eine durchgreifende Probe zu machen. Er schlage vor, die Dame mit einem glühenden Eisen an der Fußsohle zu brennen und abzuwarten, ob sie gefühllos bleiben würde. Der Versuch schiene grausam, wäre. es aber nicht, da sogleich lindernde, heilende Mittel angewandt werden könnten, und er habe deshalb ein kleines Eisen und die nötigen Heilmittel zur Stelle gebracht. Er zog beides aus der Tasche. Der Magnetiseur versicherte, daß die Dame den Schmerz beim Erwachen gar nicht achten werde, den sie zum Besten der hohen Wissenschaft erleide, und rief nach einer Kohlpfanne. Man brachte das Gefäß herbei, der Arzt steckte sein kleines Eisen in die Glut. In dem Augenblick zuckte die Dame wie in heftigem Krampf, seufzte tief auf, erwachte, klagte über Übelbefinden! — Der alte Arzt warf ihr einen durchbohrenden Blick zu, kühlte ohne Umstände sein Eisen ab in magnetisiertem Wasser, das gerade auf dem Tische stand, steckte es in die Tasche, nahm Hut und Stock und schritt von dannen. Mir fielen die Schuppen von den Augen, ich eilte fort, unwillig, erbost über die unwürdige Mystifikation, die die feine Dame ihrem wohlwollenden Magnetiseur, uns allen bereitet.

Daß weder der Magnetiseur noch diejenigen Andächtigen, denen die Besuche bei der Dame als eine Art mystischen Gottesdienstes galten, durch das Verfahren des alten Arztes auch nur im mindesten aufgeklärt wurden, versteht sich ebensosehr von selbst, als daß ich meinerseits nun den ganzen Magnetismus als eine chimärische Geisterseherei verwarf und gar nichts mehr davon hören wollte.

Meine Bestimmung führte mich nach B. — Auch dort wurde viel vom Magnetismus gesprochen, irgendeines praktischen Versuchs aber nicht erwähnt. Man behauptete, daß ein würdiger berühmter Arzt, hoch in den Jahren wie jener

Arzt in der Residenz, der grausamerweise antisomnambulistische Eisen in der Tasche führte, Direktor des dortigen, herrlich eingerichteten Krankenhauses, sich entschieden gegen die magnetische Kur erklärt und den ihm untergeordneten Ärzten geradehin untersagt habe, sie anzuwenden.

Um so mehr mußt ich mich verwundern, als ich nach einiger Zeit vernahm, daß jener Arzt selbst, jedoch ganz insgeheim, den Magnetismus im Krankenhause anwende.

Ich suchte, als ich näher mit dem würdigen Mann bekannt worden, ihn auf den Magnetismus zu bringen. Er wich mir aus. Endlich, als ich nicht nachließ, von der dunklen Wissenschaft zu sprechen, und mich als ein Sachkundiger bewies, fragte er, wie es mit der Ausübung der magnetischen Kur in der Residenz stehe. Ich nahm gar keinen Anstand, ihm die wunderbare Geschichte von der somnambulen Dame. die plötzlich aus himmlischer Verzückung zurückkehrte auf irdischen: Boden, als sie was weniges gebrannt werden sollte, offen und klar zu erzählen. ,Das ist es eben, das ist es eben', rief er, indem Blitze in seinen Augen leuchteten, und brach schnell das Gespräch ab. Endlich, nachdem ich mehr sein wohlwollendes Vertrauen gewonnen, sprach er sich über den Magnetismus in der Art aus, daß er sich von der Existenz dieser geheimnisvollen Naturkraft und von ihrer wohltätigen Wirkung in gewissen Fällen durch die reinsten Erfahrungen überzeugt, daß er aber das Erwecken jener Naturkraft für das gefährlichste Experiment halte, das es geben und das nur Ärzten, die in der vollkommensten Ruhe des Geistes, über allen leidenschaftlichen Enthusiasmus erhaben, anvertraut werden könne. In keiner Sache sei Selbsttäuschung möglicher, ja leichter, und er halte jeden Versuch schon dann nicht für rein, wenn der Person, die zur magnetischen Kur geeignet, vorher viel von den Wundern des Magnetismus vorgeredet worden und sie Verstand und Bildung genug habe, zu begreifen, worauf es ankomme. Der Reiz, in einer höhern Geisterwelt zu existieren, sei für poetische oder von Haus aus exaltierte Gemüter zu verlockend,

um mit der heißen Sehnsucht nach diesem Zustande nicht unwillkürlich allerlei Einbildungen Raum zu geben. Sehr lustig sei die geträumte Herrschaft des Magnetiseurs über das fremde psychische Prinzip, wenn er sich ganz hingebe den Phantasien überspannter Personen, statt ihnen als Zaum und Zügel den krassesten Prosaismus über den Hals zu werfen. Übrigens stelle er gar nicht in Abrede, daß er sich in seinem Krankenhause selbst der magnetischen Kuren bediene. Er glaube aber, daß bei der Art, wie er sie aus reiner Überzeugung anwenden lasse, durch besonders dazu erwählte Ärzte unter seiner strengsten Aufsicht, wohl nie ein Mißbrauch möglich, sondern dagegen nur wohltätige Einwirkung auf die Kranken und Bereicherung der Kenntnis dieses geheimnisvollsten aller Heilmittel zu erwarten sei. Aller Regel entgegen wolle er, wenn ich festes Stillschweigen verspräche, um den Andrang aller Neugierigen zu verhüten, mich einer magnetischen Kur beiwohnen lassen, sollte sich ein Fall der Art ereignen.

Der Zufall führte mir bald eine der merkwürdigsten Somnambulen unter die Augen. Die Sache verhielt sich in folgender Art.

Der Arzt des Kreises fand in einem Dorfe ungefähr zwanzig Stunden von B. bei einem armen Bauer ein Mädchen von sechszehn Jahren, über deren Zustand sich die Eltern unter bitteren Tränen beklagten. Nicht gesund, sprachen sie, nicht krank sei ihr Kind zu nennen. Sie fühle keinen Schmerz, kein Übelbefinden, sie äße und tränke, sie schliefe oft ganze Tage lang, und dabei magre sie ab und würde von Tage zu Tage immer matter und kraftloser, so daß an Arbeit seit langer Zeit gar nicht zu denken. Der Arzt überzeugte sich, daß ein tiefes Nervenübel der Grund des Zustandes war, in dem sich das arme Kind befand, und daß die magnetische Kur recht eigentlich indiziert sei. Er erklärte den Eltern, daß die Heilung des Mädchens hier auf dem Dorfe ganz unmöglich, daß sie aber in B. von Grund aus geheilt werden solle, wenn sie sich entschlössen, das Kind dorthin in das

Krankenhaus zu schaffen, wo sie auf das beste gepflegt werden und Medizin erhalten solle, ohne daß sie einen Kreuzer dafür bezahlen dürften. Die Eltern taten nach schwerem Kampf, wie ihnen geheißen. Noch ehe die magnetische Kur begonnen, begab ich mich mit meinem ärztlichen Freunde in das Krankenhaus, um die Kranke zu sehn. Ich fand das Mädchen in einem hohen lichten Zimmer. das mit allen Bequemlichkeiten auf das sorgsamste versehen. Sie war für ihren Stand von sehr zartem Gliederbau. und ihr feines Gesicht wäre beinahe schön zu nennen gewesen, hätten es nicht die erloschenen Augen, die Totenbleiche, die farblosen Lippen entstellt. Wohl mochte es sein, daß ihr Übel nachteilig auf ihr Geistesvermögen gewirkt, sie schien von dem beschränktesten Verstande, faßte nur mühsam die an sie gerichteten Fragen und beantwortete sie in dem breiten unverständlichen, abscheulichen Jargon, den die Bauern in der dortigen Gegend sprechen. Zu ihrem Magnetiseur hatte der Direktor einen jungen kräftigen Eleven der Arzeneikunde gewählt, dem die Offenheit und Gutmütigkeit aus allen Zügen leuchtete und von dem er sich überzeugt hatte, daß das Mädchen ihn leiden mochte. Die magnetische Kur begann. Von neugierigen Besuchen, von Kunststücken und dergleichen war nicht die Rede. Niemand war zugegen außer dem Magnetiseur als der Direktor, der mit der gespanntesten Aufmerksamkeit, mit sorglicher Beachtung der kleinsten Umstände die Kur leitete, und ich. Anfänglich schien das Kind wenig empfänglich, doch bald stieg sie schnell von Grad zu Grad, bis sie nach drei Wochen in den Zustand des wirklichen Hellsehens geriet. Erlaßt es mir, all der wunderbaren Erscheinungen zu erwähnen, die sich nun in jeder Krise darboten, es sei genug, euch zu versichern, daß ich hier, wo keine Täuschung möglich, mich im innersten Gemüt von der wirklichen Existenz jenes Zustandes überzeugte, den die Lehrer des Magnetismus als den höchsten Grad des Hellsehens beschreiben. In diesem Zustande ist, wie Kluge sagt, die Verbindung mit dem Magnetiseur so innig, daß der Clairvoyant es nicht bloß augenblicklich weiß, wenn die Gedanken des Magnetiseurs zerstreut und nicht auf des Clairvoyants Zustand gerichtet sind, sondern daß er auch in der Seele des Magnetiseurs dessen Vorstellungen auf das deutlichste zu erkennen vermag. Dagegen tritt der Clairvoyant nun gänzlich unter die Herrschaft des Willens seines Magnetiseurs, durch dessen psychisches Prinzip er nur zu denken, zu sprechen, zu handeln vermag. Ganz in diesem Fall befand sich das somnambule Bauermädchen. — Ich mag euch nicht mit all dem ermüden, was sich in dieser Hinsicht mit der Kranken und ihrem Magnetiseur begab, nur ein und für mich das schneidendste Beispiel! — Das Kind sprach in jenem Zustande den reinen, gebildeten Dialekt ihres Magnetiseurs und drückte sich in den Antworten, die sie ihm mehrenteils anmutig lächelnd gab, gewählt, gebildet, kurz, ganz so aus, wie der Magnetiseur zu sprechen pflegte. Und dabei blühten ihre Wangen, ihre Lippen auf in glühendem Purpur, und die Züge ihres Antlitzes erschienen veredelt!

Ich mußte erstaunen, aber diese gänzliche Willenlosigkeit der Somnambule, dies gänzliche Aufgeben des eignen Ichs, diese trostlose Abhängigkeit von einem fremden geistigen Prinzip, ja diese durch das fremde Prinzip allein bedingte Existenz erfüllte mich mit Grausen und Entsetzen. Ja, ich konnte mich des tiefsten herzzerschneidendsten Mitleids mit der Armen nicht erwehren, und dies Gefühl dauerte fort, als ich den wohltätigsten Einfluß der magnetischen Kur bemerken mußte, als die Kleine, in der vollsten kräftigsten Gesundheit aufgeblüht, dem Magnetiseur und dem Direktor, ja auch mir dankte für alles Gute, das sie genossen, und dabei ihren Jargon sprach, breiter, unverständlicher als jemals. Der Direktor schien mein Gefühl zu bemerken und es mit miras teilen. Verständigt haben wir uns darüber niemals, und das wohl aus guten Gründen! — Nie hab ich seitdem mich entschließen können, magnetischen Kuren beizuwohnen, was hätte ich weiter für Erfahrungen gemacht nach jenem Beispiel, das bei der vollkommnen Reinheit des Versuchs

mich über die wunderbare Kraft des Magnetismus ganz ins klare setzte, zugleich aber an einen Abgrund stellte, in den ich mit tiefem Schauer hinabblickte. — So bin ich denn nun ganz Lothars Meinung worden."

"Und", nahm Ottmar das Wort, "und füge ich noch hinzu, daß auch ich curer Meinung ganz beipflichte, so sind wir ja alle. rücksichts des wunderbaren Geheimnisses, von dem die Rede, unter einen Hut gebracht. Irgendein tüchtiger Arzt, Verfechter des Magnetismus, wird uns zwar sehr leicht ganz und gar widerlegen, ja uns tüchtig ausschelten, daß wir, ununterrichtete Laien, es wagen, ein dunkles Gefühl der klaren Überzeugung entgegenzustellen, ich glaube indessen, daß wir schwer zu bekehren sein werden. — Doch wollen wir auch nicht vergessen, daß wir dem Magnetismus schon deshalb nicht ganz abhold sein können, weil er uns in unsern serapiontischen Versuchen sehr oft als tüchtiger Hebel dienen kann, unbekannte geheimnisvolle Kräfte in Bewegung zu setzen. Selbst du, lieber Lothar, hast dich dieses Hebels schon oft bedient, und, verzeih mir, sogar in dem erbaulichen Märchen vom Nußknacker und Mausekönig ist die Marie zuweilen nichts anders als eine kleine Somnambule. — Aber wohin gerieten wir, von unserm Vinzenz sprechend!"

"Der Übergang war natürlich", sprach Lothar, "der Weg bahnte sich von selbst. Tritt Vinzenz in unsere Brüderschaft ein, so wird gewiß noch viel von geheimnisvollen Dingen verhandelt werden, auf die er recht eigentlich ganz versessen ist. — Doch Cyprian hat schon seit mehreren Minuten nicht auf unser Gespräch gemerkt, vielmehr ein Manuskript aus der 'rasche gezogen und darin geblättert. — Es ist in der Ordnung, daß wir ihm jetzt Raum geben, sein Herz zu erleichtern."

"In der Tat", sprach Cyprian, "war mir euer Gespräch über den Magnetismus langweilig und lästig, und ist's euch recht, so lese ich euch eine serapiontische Erzählung vor, zu der mich Wagenseils Nürnberger Chronik entzündet. Vergeßt nicht, daß ich keine antiquarische kritische Abhandlung

jenes berühmten Kriegs von der Wartburg habe schreiben wollen, sondern nach meiner Weise jene Sache zur Erzählung, wie mir gerade alles hell in der Seele aufging, nutzte." Cyprian las:

Der Kampf der Sänger

Zur Zeit, wenn Frühling und Winter am Scheiden stehn, in der Nacht des Äquinoktiums, saß einer im einsamen Gemach und hatte Johann Christoph Wagenseils Buch "Von der Meistersinger holdseliger Kunst" vor sich aufgeschlagen. Der Sturm räumte draußen tosend und brausend die Felder ab, schlug die dicken Regentropfen gegen die klirrenden Fenster und pfiff und heulte des Winters tolles Ade durch die Rauchfänge des Hauses, während die Strahlen des Vollmondes an den Wänden spielten und gaukelten wie bleiche Gespenster. Das achtete aber jener nicht, sondern schlug das Buch zu und schaute tiefsinnend, ganz befangen von dem Zauberbilde längst vergangener Zeit, das sich ihm dargestellt, in die Flammen, die im Kamin knisterten und sprühten. Da war es, als hinge ein unsichtbares Wesen einen Schleier nach dem andern über sein Haupt, so daß alles um ihn her in immer dichterem und dichterem Nebel verschwamm. Das wilde Brausen des Sturms, das Knistern des Feuers wurde zu lindern harmonischen Säuseln und Flüstern, und eine innere Stimme sprach: "Das ist der Traum, dessen Flügel so lieblich auf und nieder rauschen, wenn er wie ein frommes Kind sich an die Brust des Menschen legt und mit einem süßen Kuß das innere Auge weckt, daß es vermag, die anmutigsten Bilder eines höheren Lebens voll Glanz und Herrlichkeit zu erschauen." — Ein blendendes Licht zuckte empor wie Blitzstrahl, der Verschleierte schlug die Augen auf, aber kein Schleier, keine Nebelwolke verhüllten mehr seinen Blick. Er lag auf blumigen Matten in der dämmernden Nacht eines schönen dichten Waldes. Die Quellen murmelten, die Büsche rauschten wie in heimlichem Liebesgeplauder,

und dazwischen klagte eine Nachtigall ihr süßes Weh. Der Morgenwind erhob sich und bahnte, das Gewölk vor sich her aufrollend. dem hellen lieblichen Sonnenschein den Weg, der bald auf allen grünen Blättern flimmerte und die schlafenden Vögelein weckte, die in fröhlichem Trillerieren von Zweig zu Zweig flatterten und hüpften. Da erschallte von ferne her lustiges Hörnergetön, das Wild rüttelte sich raschelnd auf aus dem Schlafe. Rehe, Hirsche guckten aus dem Gebüsch den, der auf den Matten lag, neugierig an mit klugen Augen und sprangen scheu zurück in das Dickicht. Die Hörner schwiegen, aber nun erhoben sich Harfenklänge und Stimmen, so herrlich zusammentönend wie Musik des Himmels. Immer näher und näher kam der liebliche Gesang, Jäger, die Jagdspieße in den Händen, die blanken Jagdhörner um die Schultern gehängt, ritten hervor aus der Tiefe des Waldes. Ihnen folgte auf einem schönen goldgelben Roß ein stattlicher Herr im Fürstenmantel, nach alter deutscher Art gekleidet, ihm zur Seite ritt auf einem Zelter eine Dame von blendender Schönheit und köstlich geschmückt. Aber nun kamen auf sechs schönen Rossen von verschiedner Farbe sechs Männer, deren Trachten, deren bedeutungsvolle Gesichter auf eine längst verflossene Zeit hinwiesen. Die hatten den Pferden die Zügel über den Hals gelegt und spielten auf Lauten und Harfen und sangen mit wunderbar helltönenden Stimmen, während ihre Rosse gebändigt, gelenkt durch den Zauber der süßen Musik, den Waldweg entlang auf anmutige Weise in kurzen Sprüngen nachtanzten dem fürstlichen Paar. Und wenn mitunter der Gesang einige Sekunden innehielt, stießen die Jäger in die Hörner, und der Rosse Gewieher ertönte wie ein fröhliches Jauchzen in übermütiger Lust. Reichgekleidete Pagen und Diener beschlossen den festlichen Zug, der im tiefen Dickicht des Waldes verschwand.

Der über den seltsamen, wundervollen Anblick in tiefes Staunen Versunkene raffte sich auf von den Matten und rief begeistert: "Oh, Herr des Himmels, ist denn die alte prächtige

Zeit erstanden aus ihrem Grabe? wer waren denn die herrlichen Menschen!" Da sprach eine tiefe Stimme hinter ihm: "Ei, lieber Herr, solltet Ihr nicht die erkennen, die Ihr fest in Sinn und Gedanken traget?" Er schaute um sich und gewahrte einen ernsten stattlichen Mann mit einer großen schwarzen Lockenperücke auf dem Haupt und ganz schwarz nach der Art gekleidet, wie man sich ums Jahr eintausend' sechshundertundachtzig tragen mochte. Er erkannte alsbald den alten gelehrten Professor Johann Christoph Wagenseil, der also weitersprach: "Ihr hättet ja wohl gleich wissen können, daß der stattliche Herr im Fürstenmantel niemand anders war als der wackere Landgraf Hermann von Thüringen. Neben ihm ritt der Stern des Hofes, die edle Gräfin Mathilde, blutjunge Witwe des in hohen Jahren verstorbenen Grafen Kuno von Falkenstein. Die sechs Männer, welche nachritten, singend und die Lauten und Harfen rührend, sind die sechs hohen Meister des Gesanges, welche der edle Landgraf, der holdseligen Singerkunst mit Leib und Seele zugetan, an seinem Hofe versammelt hat. Jetzt geht das lustige Jagen auf, aber dann versammeln sich die Meister auf einem schönen Wiesenplan in der Mitte des Waldes und beginnen ein Wettsingen. Da wollen wir jetzt hinschreiten, damit wir schon dort sind, wenn die Jagd beendigt ist." — Sie schritten fort, während der Wald, die fernen Klüfte von den Hörnern, dem Hundegebell, dem Hussa der Jäger widerhallten. Es geschah so, wie der Professor Wagenseil es gewollt: kaum waren sie auf dem in goldnem Grün leuchtenden Wiesenplan angekommen, als der Landgraf, die Gräfin, die sechs Meister aus der Ferne sich langsam nahten. "Ich will", begann Wagenseil, "ich will Euch nun, lieber Herr! jeden der Meister besonders zeigen und mit Namen nennen. Seht Ihr wohl jenen Mann, der so fröhlich um sich schaut, der sein hellbraunes Pferd, den Zügel angezogen, so lustig hertänzeln läßt? —seht, wie der Landgraf ihm zunickt — er schlägt eine helle Lache auf. Das ist der muntre Walther von der Vogelweid. Der mit den breiten Schultern, mit dem starken krausen Bart, mit den ritterlichen Waffen, auf dem Tiger im gewichtigen Schritt daherreitend, das ist Reinhard von Zwekhstein. —Ei, ei -der dort auf seinem kleinen Schecken, der reitet ja statt hieher waldeinwärts! Er blickt tiefsinnig vor sich her, er lächelt, als stiegen schöne Gebilde vor ihm auf aus der Erde. Das ist der stattliche Professor Heinrich Schreiber. Der ist wohl ganz abwesenden Geistes und gedenkt nicht des Wiesenplans, nicht des Wettsingens, denn seht nur, lieber Herr, wiegt in den engen Waldweg hineinschiebt, daß ihm die Zweige um den Kopf schlagen. — Da sprengt Johannes Bitterolff an ihn heran. Ihr seht doch den stattlichen Herrn auf dem Falben mit dem kurzen rötlichen Bart? Er ruft den Professor an. Der erwacht aus dem Traume. Sie kehren beide zurück. —Was ist das für ein tolles Gebraus dorten in dem dichten Gebüsch? — Ei, fahren denn Windsbräute so niedrig durch den Wald? Hei! — Das ist ja ein wilder Reiter, der sein Pferd so spornt, daß es schäumend in die Lüfte steigt. Seht nur den schönen bleichen Jüngling, wie seine Augen flammen, wie alle Muskeln des Gesichts zucken vor Schmerz, als quäle ihn ein unsichtbares Wesen, das hinter ihm aufgestiegen. — Es ist Heinrich von Ofterdingen. Was mag denn über den gekommen sein? Erst ritt er ja so ruhig daher, mit gar herrlichen Tönen einstimmend in den Gesang der anderen Meister! — O seht doch, seht den prächtigen Reiter auf dem schneeweißen arabischen Pferde. Seht, wie er sich hinabschwingt, wie er, die Zügel um den Arm geschlungen, mit gar ritterlicher Courtoisie der Gräfin Mathilde die Hand reicht und sie hinabschweben läßt von dem Zelter. Wie anmutig steht er da, die holde Frau anstrahlend mit seinen hellen blauen Augen. Es ist Wolfframb von Eschinbach! — Aber nun nehmen sie alle Platz, nun beginnt wohl das Wettsingen!"

Jeder Meister, einer nachdem andern, sang nun ein herrliches Lied. Leicht war es zu erkennen, daß jeder sich mühte, den zu übertreffen, der vor ihm gesungen. Schien das aber nun auch keinem recht gelingen zu wollen, konnte man gar

nicht entscheiden, wer von den Meistern am herrlichsten gesungen, so neigte die Dame Mathilde sich doch zu Wolfframb von Eschinbach hin mit dem Kranz. den sie für den Sieger in den Händen trug. Da sprang Heinrich von Ofterdingen auf von seinem Sitze; wildes Feuer sprühte aus seinen dunklen Augen; sowie er rasch vorschritt bis in die Mitte des Wiesenplans, riß ihm ein Windstoß das Barett vom Kopfe, das freie Haar spießte sich empor auf der totenbleichen Stirn. "Haltet ein", schrie er auf, "haftet ein! Noch ist der Preis nicht gewonnen: mein Lied, mein Lied muß erst gesungen sein, und dann mag der Landgraf entscheiden, wem der Kranz gebührt." Darauf kam, man wußte nicht, auf welche Weise, eine Laute von wunderlichem Bau, beinahe anzusehen wie ein erstarrtes unheimliches Tier, in seine Hand. Die fing er an zu rühren so gewaltig, daß der ferne Wald davon erdröhnte. Dann sang er drein mit starker Stimme. Das Lied lobte und pries den fremden König, der mächtiger sei als alle andere Fürsten und dem alle Meister demütiglich huldigen müßten, wollten sie nicht in Schande und Schmach geraten. Einige seltsam gehende Laute klangen recht verhöhnend dazwischen. Zornig blickte der Landgraf den wilden Sänger an. Da erhoben sich die anderen Meister und sangen zusammen. Ofterdingens Lied wollte darüber verklingen, stärker und stärker griff er aber in die Saiten, bis sie wie mit einem laut aufheulenden Angstgeschrei zersprangen. Statt der Laute, die Ofterdingen im Arm getragen, stand nun plötzlich eine finstre entsetzliche Gestalt vor ihm und hielt ihn, der zu Boden sinken wollte, umfaßt und hob ihn hoch empor in die Lüfle. Der Gesang der Meister versauste im Widerhall, schwarze Nebel legten sich über Wald und Wiesenplan und hüllten alles ein in finstre Nacht. Da stieg ein in milchweißem Licht herrlich funkelnder Stern empor aus der Tiefe und wandelte daher auf der Himmelsbahn, und ihm nach zogen die Meister auf glänzenden Wolken, singend und ihr Saitenspiel rührend. Ein flimmerndes Leuchten zitterte durch die Flur, die Stimmen des Waldes erwachten aus dumpfer Betäubung und erhoben sich und tönten lieblich hinein in die Gesänge der Meister.

Du gewahrst es, vielgeliebter Leser! daß der, welchem dieses alles träumte, ebenderjenige ist, der im Begriff steht, dich unter die Meister zu führen, mit denen er durch den Professor Johann Christoph Wagenseil bekannt wurde.

Es begibt sich wohl, daß, sehen wir fremde Gestalten in der dämmernden Ferne daherschreiten, uns das Herz bebt vor Neugier, wer die wohl sein, was sie wohl treiben mögen. Und immer näher und näher kommen sie. Wir erkennen Farbe der Kleidung, Gesicht, wir hören ihr Gespräch, wiewohl die Worte verhallen in den weiten Lüften. Aber nun tauchen sie unter in die blauen Nebel eines tiefen Tals. Dann können wir es kaum erwarten, daß sie nur wieder aufsteigen, daß sie bei uns sich einfinden, damit wir sie erfassen, mit ihnen reden können. Denn gar zu gern möchten wir doch wissen, wie die ganz in der Nähe geformt und gestaltet sind, welche in der Ferne sich so verwunderlich ausnahmen.

Möchte der erzählte Traum in dir, geliebter Leser, ähnliche Empfindungen erregen. Möchtest du es dem Erzähler freundlich vergönnen, daß er dich nun gleich an den Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen nach der schönen Wartburg bringe.


Die Meistersänger auf der Wartburg

Es mochte wohl ums Jahr eintausendzweihundertundacht sein, als der edle Landgraf von Thüringen, eifriger Freund, rüstiger Beschützer der holdseligen Sängerkunst, sechs hohe Meister des Gesanges an seinem Hofe versammelt hatte. Es befanden sich alida Wolfframb von Eschinbach, Walther von der Vogelweid, Reinhard von Zwekhstein, Heinrich Schreiber, Johannes Bitterolff, alle ritterlichen Ordens, und Heinrich von Ofterdingen, Bürger zu Eisenach. Wie Priester einer Kirche lebten die Meister in frommer

Liebe und Eintracht beisammen, und all ihr Streben ging nur dahin, den Gesang, die schönste Gabe des Himmels, womit der Herr den Menschen gesegnet, recht in hohen Ehren zu halten. Jeder hatte nun freilich seine eigne Weise, aber wie jeder Ton eines Akkords anders klingt und doch alle Töne im lieblichsten Wohllaut zusammenklingen, so geschah es auch, daß die verschiedensten Weisen der Meister harmonisch miteinander tönten und Strahlen schienen eines Liebessterns. Daher kam es, daß keiner seine eigne Weise für die beste hielt, vielmehr jede andre hoch ehrte und wohl meinte, daß seine Weise ja gar nicht so lieblich klingen könne ohne die andern, wie denn der Ton dann erst sich recht freudig erhebt und aufschwingt, wenn der ihm verwandte erwacht und ihn hebend begrüßt.

Waren Waithers von der Vogelweid, des Landherrn, Lieder gar vornehm und zierlich und dabei voll kecker Lust, so sang Reinhard von Zwekhstein dagegen derb und ritterlich mit gewichtigen Worten. Bewies sich Heinrich Schreiber gelehrt und tiefsinnig, so war Johannes Bitterolff voller Glanz und reich an kunstvollen Gleichnissen und Wendungen. Heinrich von Ofterdingens Lieder gingen durch die innerste Seele, er wußte, selbst ganz aufgelöst in schmerzlichem Sehnen, in jedes Brust die tiefste Wehmut zu entzünden. Aber oft schnitten grelle häßliche Töne dazwischen, die mochten wohl aus dem wunden zerrissenen Gemüt kommen, in dem sich böser Hohn angesiedelt, bohrend und zehrend wie ein giftiges Insekt. Niemand wußte, wie Heinrich von solchem Unwesen befallen. Wolfframb von Eschinbach war in der Schweiz geboren. Seine Lieder voller süßer Anmut und Klarheit glichen dem reinen blauen Himmel seiner Heimat, seine Weisen klangen wie liebliches Glocken- und Schalmeiengetön. Aber dazwischen brausten auch wilde Wasserfälle, dröhnten Donner durch die Bergklüfte. Wunderbar wallte, wenn er sang, jeder mit ihm wie auf den glänzenden Wogen eines schönen Stroms, bald sanft dahergleitend, bald kämpfend mit den sturmbewegten Wellen, bald, die Gefahr überwunden,

fröhlich hinsteuernd nach dem sichern Port. Seiner Jugend unerachtet mochte Wolfframb von Eschinbach wohl für den erfahrensten von allen andern Meistern gelten, die am Hofe versammelt. Von Kindesbeinen an war er der Sängerkunst ganz und gar ergeben und zog, sowie er zum Jüngling gereift, ihr nach durch viele Lande, bis er den großen Meister traf, Friedebrand geheißen. Dieser unterwies ihn getreulich in der Kunst und teilte ihm viele Meistergedichte in Schriften mit, die Licht in sein inneres Gemüt hineinströmten, daß er das, was ihm sonst verworren und gestaltlos geschienen, nun deutlich zu erkennen vermochte. Vorzüglich aber zu Siegebrunnen in Schottland brachte ihm Meister Friedebrand etliche Bücher. aus denen er die Geschichten nahm, die er in deutsche Lieder faßte, sonderlich von Gahmuret und dessen Sohn Parzival, von Markgraf Wilhelm von Narben und dem starken Rennewart. welches Gedicht hernach ein anderer Meistersänger, Ulrich von Türkheimb, auf vornehmer Leute Bitten, die Eschinbachs Lieder wohl nicht recht verstehen mochten, in gemeine deutsche Reime brachte und zum dicken Buche ausdehnte. So mußt es wohl kommen, daß Wolfframb wegen seiner herrlichen Kunst weit und breit berühmt wurde und vieler Fürsten und großer Herren Gunst erhielt. Er besuchte viele Höfe und bekam allenthalben stattliche Verehrungen seiner Meisterschaft, bis ihn endlich der hocherleuchtete Landgraf Hermann von Thüringen, der sein großes Lob an allen Enden verkünden hörte, an seinen Hof berief. Nicht allein Wolfframbs große Kunst, sondern auch seine Milde und Demut gewannen ihm in kurzer Zeit des Landgrafs volle Gunst und Liebe, und wohl mocht es sein, daß Heinrich von Ofterdingen, der sonst in dem hellsten Sonnenlicht der fürstlichen Gnade gestanden, ein wenig in den Schatten zurücktreten mußte. Demunerachtet hing keiner von den Meistern dem Wolfframb so mit rechter inniger Liebe an als eben Heinrich von Ofterdingen. Wolfframb erwiderte dies aus dem tiefsten Grunde seines Gemüts, und so standen beide da, recht in Liebe verschlungen, während die andern Meister sie umgaben wie ein schöner lichter Kranz.

Heinrich von Ofterdingens Geheimnis

Ofterdingens unruhiges zerrissenes Wesen nahm mit jedem Tage mehr überhand. Düstrer und unsteter wurde sein Blick, blässer und blässer sein Antlitz. Statt daß die andern Meister, hatten sie die erhabensten Materien der Heiligen Schrift besungen, ihre freudigen Stimmen erhoben zum Lobe der Damen und ihres wackern Herrn, klagten Oflerdingens Lieder nur die unermeßliche Qual des irdischen Seins und glichen oft dem jammernden Wehlaut des auf den Tod Wunden, der vergebens hofft auf Erlösung im Tode. Alle glaubten, er sei in trostloser Liebe; aber eitel blieb alles Mühen, ihm das Geheimnis zu entlocken. Der Landgraf selbst, dem Jünglinge mit Herz und Seele zugetan, unternahm es, ihn in einer einsamen Stunde um die Ursache seines tiefen Leids zu befragen. Er gab ihm sein fürstliches Wort, daß er alle seine Macht aufbieten wolle, -irgendein bedrohliches Übel zu entfernen oder durch die Beförderung irgendeines jetzt ihm hoffnungslos scheinenden Wunsches sein schmerzliches Leiden zu wandeln in fröhliches Hoffen, allein sowenig wie die andern vermochte er den Jüngling, ihm das Innerste seiner Brust aufzutun. "Ach, mein hoher Herr". rief Ofterdingen, indem ihm die heißen Tränen aus den Augen stürzten, "ach, mein hoher Herr, weiß ich's denn selbst, welches höllische Ungeheuer mich mit glühenden Krallen gepackt hat und mich emporhält zwischen Himmel und Erde, so daß ich dieser nicht mehr angehöre und vergebens dürste nach den Freuden über mir? Die heidnischen Dichter erzählen von den Schatten Verstorbener, die nicht dem Elysium angehören, nicht dem Orkus. An den Ufern des Acheron schwanken sie umher, und die finstern Lüfte, in denen nie ein Hoffnungsstern leuchtet, tönen wider von ihren Angstseufzern, von den entsetzlichen Wehlauten ihrer namenlosen

Qual. Ihr Jammern, ihr Flehen ist umsonst, unerbittlich stößt sie der alte Fährmann zurück, wenn sie hinein wollen in den verhängnisvollen Kahn. Der Zustand dieser fürchterlichen Verdammnis ist der meinige."

Bald nachher, als Heinrich von Offerdingen auf diese Weise mit dem Landgrafen gesprochen, verließ er, von wirklicher Krankheit befallen, die Wartburg und begab sich nach Eisenach. Die Meister klagten, daß solch schöne Blume aus ihrem Kranze so vor der Zeit, wie angehaucht von giftigen Dünsten, dahinwelken müsse. Wolfframb von Eschinbach gab indessen keinesweges alle Hoffnung auf, sondern meinte sogar, daß eben jetzt, da Oflerdingens Gemütskrankheit sich gewendet in körperliches Leiden, Genesung nahe sein könne. Begäbe es sich denn nicht off, daß die ahnende Seele im Vorgefühl körperlichen Schmerzes erkranke, und so sei es denn auch wohl mit Ofterdingen geschehen, den er nun getreulich trösten und pflegen wolle.

Wolfframb ging auch alsbald nach Eisenach. Als er eintrat zu Ofterdingen, lag dieser ausgestreckt auf dem Ruhebette, zum Tode matt, mit halbgeschlossenen Augen. Die Laute hing an der Wand ganz verstaubt, mit zum Teil zerrissenen Saiten. Sowie er den Freund gewahrte, richtete er sich ein wenig empor und streckte schmerzlich lächelnd ihm die Hand entgegen. Als nun Wolfframb sich zu ihm gesetzt, die herzigen Grüße von dem Landgraf und den Meistern gebracht und sonst noch viel freundliche Worte gesprochen, fing Heinrich mit matter kranker Stimme also an: "Es ist mir viel Absonderliches begegnet. Wohl mag ich mich bei euch wie ein Wahnsinniger gebärdet haben, wohl mochtet ihr alle glauben, daß irgendein in meiner Brust verschlossenes Geheimnis mich so verderblich hin und her zerre. Ach! mir selbst war ja mein trostloser Zustand ein Geheimnis. Ein wütender Schmerz zerriß meine Brust, aber unerforschlich blieb mir seine Ursache. All mein Treiben schien mir elend und nichtswürdig, die Lieder, die ich sonst gar hoch gehalten, klangen mir falsch, schwach, des schlechtesten

Schülers unwert. Und doch brannte ich, von eitlem Wahn betört, dich - alle übrigen Meister zu übertreffen. Ein unbekanntes Glück. des Himmels höchste Wonne stand hoch über mir wie ein golden funkelnder Stern - zu dem mußt ich mich hinaufschwingen oder trostlos untergehen. Ich schaute hinauf, ich streckte die Arme sehnsuchtsvoll empor, und dann wehte es mich schaurig an mit eiskalten Flügeln und sprach: ,Was will all dein Sehnen, all dein Hoffen? Ist dein Auge nicht verblindet, deine Kraft nicht gebrochen, daß du nicht vermagst den Strahl deiner Hoffnung zu ertragen, dein Himmelsglück zu erfassen?' — Nun - nun ist mein Geheimnis mir selbst erschlossen. Es gibt mir den Tod, aber im Tode die Seligkeit des höchsten Himmels. — Krank und siech lag ich hier im Bette. Es mochte zur Nachtzeit sein, da ließ der Wahnsinn des Fiebers, der mich tosend und brausend hin und her geworfen, von mir ab. Ich fühlte mich ruhig, eine sanfte wohltuende Wärme glitt durch mein Inneres. Es war mir, als schwämme ich im weiten Himmelsraum daher auf dunklen Wolken. Da fuhr ein funkelnder Blitz durch die--Finsternis, und ich schrie schrie laut auf: ,Mathilde!' — Ich war erwacht, der Traum verrauscht. Das Herz bebte mir vor seltsamer süßer Angst, vor unbeschreiblicher Wonne. Ich wußte, daß ich laut gerufen: ,Mathilde!' Ich erschrak darüber, denn ich glaubte, daß Flur und Wald, daß alle Berge, alle Klüfte den süßen Namen widertönen, daß tausend Stimmen es ihr selbst sagen würden, wie unaussprechlich bis zum Tode ich sie liebe; daß sie - sie der funkelnde Stern sei, der, in mein Innerstes strahlend, allen zehrenden Schmerz trostloser Sehnsucht geweckt, ja daß nun die Liebesflammen hoch emporgelodert und daß meine Seele dürste - schmachte nach ihrer Schönheit und Holdseligkeit! — Du hast nun, Wolfframb, mein Geheimnis und magst es tief in deiner Brust begraben. Du gewahrst, daß ich ruhig bin und heiter, und traust mir wohl, wenn ich dich versichere, daß ich lieber untergehen als in törichtem Treiben mich euch allen verächtlich machen werde. Dir - dir, der Mathilden liebt, dem sie mit gleicher Liebe hingeneigt, mußt ich ja eben alles sagen, alles vertrauen. Sowie ich genesen, ziehe ich, die Todeswunde in der blutenden Brust. fort in fremde Lande. Hörst du dann, daß ich geendet, so magst du Mathilden es sagen, daß ich -"

Der Jüngling vermochte nicht weiterzusprechen, er sank wieder in die Kissen und kehrte das Gesicht hin nach der Wand. Sein starkes Schluchzen verriet den Kampf in seinem Innern. Wolfframb von Eschinbach war nicht wenig bestürzt über das, was ihm Heinrich eben entdeckt hatte. Den Blick zur Erde gesenkt, saß er da und sann und sann, wie nun der Freund zu retten von dem Wahnsinn törichter Leidenschaft, die ihn ins Verderben stürzen mußte.

Er versuchte allerlei tröstende Worte zu sprechen, ja sogar den kranken Jüngling zu vermögen, daß er nach der Wartburg zurückkehre und, Hoffnung in der Brust, keck hineintrete in den hellen Sonnenglanz, den die edle Dame Mathilde um sich verbreite. Er meinte sogar, daß er selbst sich Mathildens Gunst auf keine andere Weise erfreue als durch seine Lieder und daß ja ebensogut Ofterdingen sich in schönen Liedern aufschwingen und so um Mathildens Gunst werben könne. Der arme Heinrich schaute ihn aber an mit trübem Blick und sprach: "Niemals werdet ihr mich wohl auf der Wartburg wiedersehen. Soll ich mich denn in die Flammen stürzen? — Sterb ich denn nicht fern von ihr den schöneren süßeren Tod der Sehnsucht?" — Wolfframb schied, und Ofterdingen blieb in Eisenach.


Was sich weiter mit Heinrich von Oflerdingen begeben

Es geschieht wohl, daß der Liebesschmerz in unserer Brust, die er zu zerreißen drohte, heimisch wird, so daß wir ihn gar hegen und pflegen. Und die schneidenden Jammerlaute, sonst uns von unnennbarer Qual erpreßt, werden zu melodischen Klagen süßen Wehs, die tönen wie ein fernes Echo zurück in unser Inneres und legen sich lindernd und

heilend an die blutende Wunde. So geschah es auch mit Heinrich von Offerdingen. Er blieb in heißer sehnsüchtiger Liebe, aber er schaute nicht mehr in den schwarzen hoffnungslosen Abgrund, sondern er hob den Blick empor zu den schimmernden Frühlingswolken. Dann war es ihm, als blicke ihn die Geliebte aus ferner Höhe an mit ihren holdseligen Augen und entzünde in seiner Brust die herrlichsten Lieder, die er jemals gesungen. Er nahm die Laute herab von der Wand, bespannte sie mit neuen Saiten und trat hinaus in den schönen Frühling, der eben aufgegangen. Da zog es ihn denn nun freilich mit Gewalt hin nach der Gegend der Wartburg. Und wenn er dann in der Ferne die funkelnden Zinnen des Schlosses erblickte und daran dachte, daß er Mathilden niemals wiedersehen, daß sein Lieben nur ein trostloses Sehnen bleiben solle, daß Wolfframb von Eschinbach die Herrliche gewonnen durch die Macht des Gesanges, da gingen all die schönen Hoffnungsgebilde unter in düstere Nacht, und alle Todesqualen der Eifersucht und Verzweiflung durchschnitten sein Inneres. Dann floh er, wie von bösen Geistern getrieben, zurück in sein einsames Zimmer, da vermochte er Lieder zu singen, die ihm süße Träume und in ihnen die Geliebte selbst zuführten.

Lange Zeit hindurch war es ihm gelungen, die Nähe der Wartburg zu vermeiden. Eines Tages geriet er aber doch, selbst wußte er nicht wie, in den Wald, der vor der Wartburg lag und aus dem heraustretend man das Schloß dicht vor Augen hatte. Er war zudem Platz im Walde gekommen, wo zwischen dichtem Gesträuch und allerlei häßlichem stachlichten Gestrüpp sich seltsam geformtes, mit bunten Moosen bewachsenes Gestein erhob. Mühsam kletterte er bis zur Mitte herauf, so daß er durch die Schlucht die Spitzen der Wartburg in der Ferne hervorragen sah. Da setzte er sich hin und verlor sich, alle Qual böser Gedanken bekämpfend, in süßen Hoffnungsträumen.

Längst war die Sonne untergegangen; aus den düstern Nebeln, die sich über die Berge gelagert, stieg in glühendem

Rot die Mondesscheibe empor. Durch die hohen Bäume sauste der Nachtwind, und von seinem eisigen Atem angehaucht. rüttelte und schüttelte sich das Gebüsch wie in Fieberschauern. Die Nachtvögel schwangen sich kreischend auf aus dem Gestein und begannen ihren irren Flug. Stärker rauschten die Waldbäche, rieselten die fernen Quellen. Aber wie nun der Mond lichter durch den Wald funkelte, wogten die Töne eines fernen Gesanges daher. Heinrich fuhr empor. Er gedachte, wie nun die Meister auf der Wartburg ihre frommen Nachtlieder angestimmt. Er sah, wie Mathilde im Davonscheiden noch den geliebten Wolfframb anblickte. Alle Liebe und Seligkeit lag in diesem Blick, der den Zauber der süßesten Träume wecken mußte in der Seele des Geliebten. — Heinrich, dem das Herz Zerspringen wollte vor Sehnsucht und Verlangen, ergriff die Laute und begann ein Lied, wie er vielleicht noch niemals eins gesungen. Der Nachtwind ruhte, Baum und Gebüsch schwiegen, durch die tiefe Stille des düstern Waldes leuchteten Heinrichs Töne, wie mit den Mondesstrahlen verschlungen. Als nun sein Lied in bangen Liebesseufzern dahinsterben wollte, schlug dicht hinter ihm plötzlich ein gellendes schneidendes Gelächter auf. Entsetzt drehte er sich rasch um und erblickte eine große finstere Gestalt, die, ehe er sich noch besinnen konnte, mit recht häßlichem höhnenden Ton also begann: "Ei, habe ich doch hier schon eine ganze Weile herumgesucht, um den zu finden, der noch in tiefer Nacht solche herrliche Lieder singt. Also seid Ihr es, Heinrich von Ofterdingen? — Nun wohl hätte ich das wissen können, denn Ihr seid doch nun einmal der allerschlechteste von all den sogenannten Meistern dort auf der Wartburg, und das tolle Lied ohne Gedanken, ohne Klang, konnte wohl nur aus Euerm Munde kommen." Halb noch in Entsetzen, halb in aufglühendem Zorn rief Heinrich: "Wer seid Ihr denn, daß Ihr mich kennt und glaubt, mich hier mit schnöden Worten necken zu können?" Dabei legte Ofterdingen die Hand an sein Schwert. Aber der Schwarze schlug nochmals ein gellendes Gelächter auf, und dabei fiel ein Strahl in sein leichenblasses Antlitz, daß Ofterdingen die wildfunkelnden Augen, die eingefallnen Wangen, den spitzigen rötlichen Bart, den zum grinsenden Lachen verzogenen Mund, die schwarze reiche Kleidung, das schwarzbefiederte Barett des Fremden recht deutlich gewahren konnte. "Ei", sprach der Fremde, "ei, lieber junger Gesch, Ihr werdet doch keine Mordwaffen gegen mich gebrauchen wollen, weil ich Eure Lieder tadle? — Freilich möget ihr Sänger das nicht wohl leiden und verlanget wohl gar, daß man alles hoch preisen soll, was von euch berühmten Leuten kommt, sei es nun auch von Grund aus schlecht. Aber eben daran, daß ich das nicht achte, sondern Euch geradezu heraussage, daß Ihr statt ein Meister höchstens ein mittelmäßiger Schüler der edlen Kunst des Gesanges zu nennen seid, ja eben daran solltet Ihr erkennen, daß ich Euer wahrer Freund bin und es gut mit Euch meine." — "Wie könnt Ihr", sprach Ofterdingen, von unheimlichen Schauern erfaßt, "wie könnt Ihr mein Freund sein und es gut mit mir meinen, da ich mich gar nicht erinnere, Euch jemals gesehen zu haben?" — Ohne auf diese Frage zu antworten, fuhr der Fremde fort: "Es ist hier ein wunderlich schöner Platz, die Nacht gar behaglich, ich werde mich im traulichen Mondesschimmer zu Euch setzen, und wir können, da Ihr doch jetzt nicht nach Eisenach zurückkehren werdet, noch ein wenig miteinander plaudern. Horcht auf meine Worte, sie können Euch lehrreich sein."Damit ließ sich der Fremde auf den großen bemoosten Stein dicht neben Ofterdingen nieder. Dieser kämpfte mit den seltsamsten Gefühlen. Furchtlos, wie er sonst wohl sein mochte, konnte er sich doch in der öden Einsamkeit der Nacht an diesem schaurigen Orte des tiefen Grauens nicht erwehren, das des Mannes Stimme und sein ganzes Wesen erweckte. Es war ihm, als müsse er ihn den jähen Abhang hinab in den Waldstrom stürzen, der unten brauste. Dann fühlte er sich aber wieder gelähmt an allen Gliedern. — Der Fremde rückte indessen dicht an Ofterdingen heran und sprach leise, beinahe ihm ins Ohr flüsternd: "Ich komme von der Wartburg- ich habe dort oben die gar schlechte schülermäßige Singerei der sogenannten Meister gehört; aber die Dame Mathilde ist von solch holdem und anmutigen Wesen wie vielleicht keine mehr auf Erden." — "Mathilde!" rief Ofterdingen mit dem Ton des schneidendsten Wehs. "Hoho!" —lachte der Fremde, "hoho, junger Gesell, liegt es Euch daran? Doch laßt uns jetzt von ernsthaften oder vielmehr von hohen Dingen reden: ich meine von der edlen Kunst des Gesanges. Mag es sein, daß ihr alle dort oben es recht gut meint mit euern Liedern. daß euch das alles so recht schlicht und natürlich herauskommt, aber von der eigentlichen tiefern Kunst des Sängers habt ihr wohl gar keinen Begriff. Ich will Euch nur einiges davon andeuten, dann werdet Ihr wohl selbst einsehen, wie Ihr auf dem Wege, den Ihr wandelt, niemals zu dem Ziel gelangen könnet, das Ihr Euch vorgesteckt habt." Der Schwarze begann nun in ganz absonderlichen Reden, die beinahe anzuhören wie fremde seltsame Lieder, die wahre Kunst des Gesanges zu preisen. Indem der Fremde sprach, ging Bild auf Bild in Heinrichs Seele auf und verschwand, wie vom Sturm verhaucht; es war, als erschlösse sich ihm eine ganz neue Welt voll üppiger Gestalten. Jedes Wort des Fremden entzündete Blitze, die schnell aufloderten und ebenso schnell wieder erloschen. Nun stand der Vollmond hoch über dem Walde. Beide, der Fremde und Heinrich, saßen in vollstem Licht, und dieser bemerkte nun wohl, daß des Fremden Antlitz gar nicht so abscheulich war, als es ihm erst vorgekommen. Funkelte auch aus seinen Augen ein ungewöhnliches Feuer, so spielte doch (wie Heinrich bemerken wollte) um den Mund ein liebliches Lächeln, und die große Habichtsnase, die hohe Stirne dienten nur dazu, dem ganzen Gesicht den vollsten Ausdruck tüchtiger Kraft zu geben. "Ich weiß nicht", sprach Ofterdingen, als der Fremde innehielt, "ich weiß nicht, welch ein wunderliches Gefühl Eure Reden in mir erwecken. Es ist mir, als erwache erst jetzt in mir die Ahnung des Gesanges, als wäre das alles, was ich bisher dafür gehalten, ganz schlecht und gemein, und nun erst werde mir die wahre Kunst aufgehen. Ihr seid gewiß selbst ein hoher Meister des Gesanges und werdet mich wohl als Euern fleißigen, wißbegierigen Schüler annehmen, warum ich Euch gar herzlich bitte." Der Fremde schlug wieder seine häßliche Lache auf, erhob sich vom Sitze und stand so riesengroß, mit wildverzerrtem Antlitz vor Heinrich von Ofterdingen, daß diesem jenes Grauen wieder ankam, das er empfunden, als der Fremde auf ihn zutrat. Dieser sprach mit starker' Stimme, die weit durch die Klüfte hallte: "Ihr meint, ich sei ein hoher Meister des Gesanges? — Nun, zuzeiten mag ich's wohl sein, aber mit Lehrstunden kann ich mich ganz und gar nicht abgeben. Mit gutem Rat diene ich gern solchen wißbegierigen Leuten, wie Ihr einer zu sein scheint. Habt Ihr wohl von dem in aller Wissenschaft tief erfahrnen Meister des Gesanges, Klingsohr geheißen, reden hören? Die Leute sagen, er sei ein großer Negromant und habe sogar Umgang mit jemanden, der nicht überall gern gesehen. Laßt Euch das aber nicht irren, denn was die Leute nicht verstehen und handhaben können, das soll gleich was Übermenschliches sein, was dem Himmel angehört oder der Hölle. Nun! — Meister Klingsohr wird Euch den Weg zeigen, der Euch zum Ziele führt. Er hauset in Siebenbürgen, zieht hin zu ihm. Da werdet Ihr erfahren, wie die Wissenschaft und Kunst dem hohen Meister alles, was es Ergötzliches gibt auf Erden, gespendet hat in hohem Maße: Ehre - Reichtum - Gunst der Frauen. — Ja, junger Gesell! Wäre Klingsohr hier, was gält es, er brächte selbst den zärtlichen Wolfframb von Eschinbach, den seufzenden Schweizerhirten, um die schöne Gräfin Mathilde!" —"Warum nennt Ihr den Namen?" — fuhr Heinrich von Ofterdingen zornig auf, "verlaßt mich, Eure Gegenwart erregt mir Schauer!" — "Hoho", lachte der Fremde, "werdet nur nicht böse, kleiner Freund! — An den Schauern, die Euch schütteln, ist die kühle Nacht schuld und Euer dünnes Wams. aber nicht ich. War es Euch denn nicht wohl zumute, als ich erwärmend an Eurer Seite saß? — Was Schauer. was Erstarren! mit Glut und Blut kann ich Euch dienen: Gräfin Mathilde! — ja, ich meinte nur, daß die Gunst der Frauen erlangt wird durch den Gesang, wie ihn Meister Klingsohr zu üben vermag. Ich habe zuvor Eure Lieder verachtet, um Euch selbst auf Eure Stümperei aufmerksam zu machen. Aber daran, daß Ihr gleich das Wahre ahntet, als ich von der eigentlichen Kunst zu Euch sprach, habt Ihr mir Eure guten Anlagen hinlänglich bewiesen. Vielleicht seid Ihr bestimmt, in Meister Klingsohrs Fußtapfen zu treten, und dann würdet Ihr Euch wohl mit gutem Glück um Mathildens Gunst bewerben können. Macht Euch auf! — zieht nach Siebenbürgen. — Aber wartet, ich will Euch, könnt Ihr nicht gleich nach Siebenbürgen ziehen, zum fleißigen Studium ein kleines Buch verehren, das Meister Klingsohr verfaßt hat und das nicht allein die Regeln des wahren Gesanges, sondern auch einige treffliche Lieder des Meisters enthält."

Damit hatte der Fremde ein kleines Buch hervorgeholt, dessen blutroter Deckel hell im Mondenschein flimmerte. Das überreichte er Heinrich von Ofterdingen. Sowie dieser es faßte, trat der Fremde zurück und verschwand im Dickicht.

Heinrich versank in Schlaf. Als er erwachte, war die Sonne sehr hoch aufgestiegen. Lag das rote Buch nicht auf seinem Schoße, er hätte die ganze Begebenheit mit dem Fremden für einen lebhaften Traum gehalten.


Von der Gräfin Mathilde. Ereignisse auf der Wartburg

Gewiß, vielgeliebter Leser! befandest du dich einmal in einem Kreise, der, von holden Frauen, sinnvollen Männern gebildet, ein schöner, von den verschiedensten in Duft und Farbenglanz miteinander wetteifernden Blumen geflochtener Kranz zu nennen. Aber wie der süße Wohllaut der Musik, über alle hinhauchend, in jedes Brust die Freude weckt und das Entzücken, so war es auch die Holdseligkeit

einer hochherrlichen Frau, die über alle hinstrahlte und die anmutige Harmonie schuf, in der sich alles bewegte. In dem Glanz ihrer Schönheit wandelnd, in die Musik ihrer Rede einstimmend, erschienen die andern Frauen schöner, liebenswürdiger als sonst, und die Männer fühlten ihre Brust erweitert und vermochten mehr als jemals die Begeisterung, die sonst scheu sich im Innern verschloß, auszuströmen in Worten oder Tönen, wie es denn eben die Ordnung der Gesellschaft zuließ. Sosehr die Königin sich mit frommem kindlichen Wesen mühen mochte, ihre Huld jedem zuzuteilen in gleichem Maße, doch gewahrte man, wie ihr Himmelsblick länger ruhte auf jenem Jüngling, der schweigend ihr gegenüberstand und dessen vor süßer Rührung in Tränen glänzende Augen die Seligkeit der Liebe verkündeten, die ihm aufgegangen. Mancher mochte wohl den Glücklichen beneiden, aber keiner konnte ihn darum hassen, ja vielmehr jeder, der sonst mit ihm in Freundschaft verbunden, liebte ihn nun noch inniger um seiner Liebe willen.

So geschah es, daß an dem Hofe Landgraf Hermanns von Thüringen in dem-schönen -Kranz der Frauen und Dichter die Gräfin Mathilde. Witwe des in hohem Alter verstorbenen Grafen Kuno von Falkenstein, die schönste Blume war. welche mit Duft und Glanz alle überstrahlte.

Wolfframb von Eschinbach, von ihrer hohen Anmut und Schönheit tief gerührt, sowie er sie erblickte, kam bald in heiße Liebe. Die andern Meister, wohl auch von der Holdseligkeit der Gräfin begeistert, priesen ihre Schönheit und Milde in vielen anmutigen Liedern. Reinhard von Zwekhstein nannte sie die Dame seiner Gedanken, für die er stehen wolle im Lustturnier und im ernsten Kampf; Walther von der Vogelweid ließ alle kecke Lust ritterlicher Liebe auf flammen, während Heinrich Schreiber und Johannes Bitterolff sich mühten, in den wunderbarsten kunstvollsten Gleichnissen und Wendungen die Dame Mathilde zu erheben. Doch Wolfframbs Lieder kamen aus der Tiefe des liebenden Herzens und trafen, gleich funkelnden scharfgespitzten

Pfeilen hervorblitzend, Mathildens Brust. Die anderen Meister gewahrten das wohl, aber es war ihnen, als umstrahle Wolfframbs Liebesglück sie alle wie ein lieblicher Sonnenschimmer und gäbe auch ihren Liedern besondere Stärke und Anmut.

Der erste finstre Schatten, der in Wolfframbs glanzvolles Leben fiel, war Ofterdingens unglückliches Geheimnis. Wenn er gedachte, wie die andern Meister ihn liebten, unerachtet gleich ihm auch ihnen Mathildens Schönheit hell aufgegangen, wie nur in Oflerdingens Gemüt sich mit der Liebe zugleich feindseliger Groll eingenistet und ihn fortgebannt in die öde freudenlose Einsamkeit, da konnte er sich des bittern Schmerzes nicht erwehren. Oft war es ihm, als sei Ofterdingen nur von einem verderblichen Wahnsinn befangen, der austoben werde, dann aber fühlte er wieder recht lebhaft, daß er selbst es ja auch nicht würde haben ertragen können, wenn er sich hoffnungslos um Mathildens Gunst beworben. "Und", sprach er zu sich selbst, "und welche Macht hat denn meinem Anspruch größeres Recht gegeben? Gebührt mir denn irgendein Vorzug vor Ofterdingen? — Bin ich besser, verständiger, liebenswürdiger als er? Wo liegt der Abstand zwischen uns beiden? — Also nur die Macht eines feindlichen Verhängnisses, das mich so gut als ihn hätte treffen können, drückt ihn zu Boden, und ich, der treue Freund, gehe unbekümmert vorüber, ohne ihm die Hand zu reichen." — Solche Betrachtungen führten ihn endlich zu dem Entschluß, nach Eisenach zu gehen und alles nur mögliche anzuwenden, Ofterdingen zur Rückkehr nach der Wartburg zu bewegen. Als er indessen nach Eisenach kam, war Heinrich von Ofterdingen verschwunden, niemand wußte, wohin er gegangen. Traurig kehrte Wolfframb von Eschinbach zurück nach der Wartburg und verkündete dem Landgrafen und den Meistern Ofterdingens Verlust. Nun erst zeigte sich recht, wie sehr sie ihn alle geliebt, trotz seines zerrissenen, oft bis zur höhnenden Bitterkeit mürrischen Wesens. Man betrauerte ihn wie einen Toten, und lange Zeit hindurch lag

diese Trauer wie ein düstrer Schleier auf allen Gesängen der Meister und nahm ihnen allen Glanz und Klang, bis endlich das Bild des Verlornen immer mehr und mehr entwich in weite Ferne.

Der Frühling war gekommen und mit ihm alle Lust und Heiterkeit des neu erkräftigten Lebens. Auf einem anmutigen, von schönen Bäumen eingeschlossenen Platz im Garten des Schlosses waren die Meister versammelt, um das junge Laub, die hervorsprießenden Blüten und Blumen mit freudigen Liedern zu begrüßen. Der Landgraf, Gräfin Mathilde, die andern Damen hatten sich ringsumher auf Sitzen niedergelassen, eben wollte Wolfframb von Eschinbach ein Lied beginnen, als ein junger Mann, die Laute in der Hand, hinter den Bäumen hervortrat. Mit freudigem Erschrecken erkannten alle in ihm den verloren geglaubten Heinrich von Ofterdingen. Die Meister gingen auf ihn zu mit freundlichen herzlichen Grüßen. Ohne das aber sonderlich zu beachten, nahte er sich dem Landgrafen, vor dem, und dann vor der Gräfin Mathilde, er sich ehrfurchtsvoll neigte. Er sei, sprach er dann, von der bösen Krankheit, die ihn befallen, nun gänzlich genesen und bitte, wolle man ihn vielleicht aus besonderen Gründen nicht mehr in die Zahl der Meister aufnehmen, ihm doch zu erlauben, daß er so gut wie die andern seine Lieder absinge. Der Landgraf meinte dagegen, sei er auch eine Zeitlang abwesend gewesen, so sei er doch deshalb keinesweges aus der Reihe der Meister geschieden, und er wisse nicht, wodurch er sich dem schönen Kreise, der hier versammelt, entfremdet glaube. Damit umarmte ihn der Landgraf und wies ihm selbst den Platz zwischen Walther von der Vogelweid und Wolfframb von Eschinbach an, wie er ihn sonst gehabt. Man merkte bald, daß Ofterdingens Wesen sich ganz und gar verändert. Statt daß er sonst, den Kopf gebeugt, den Blick zu Boden gesenkt, daherschlich, trat er jetzt, das Haupt emporgerichtet, starken Schrittes einher. So blaß als zuvor war das Antlitz, aber der Blick. sonst irr umherschweifend, fest und durchbohrend. Statt der tiefen Schwermut

lag jetzt ein düstrer stolzer Ernst auf der Stirn, und ein seltsames Muskelspiel um Mund und Wange sprach bisweilen recht unheimlichen Hohn aus. Er wüidigte die Meister keines Wortes, sondern setzte sich schweigend auf seinen Platz. Während die andern sangen, sah er in die Wolken, schob sich auf dem Sitz hin und her, zählte an den Fingern, gähnte, kurz, bezeigte auf alle nur mögliche Weise Unmut und Langeweile. Wolfframb von Eschinbach sang ein Lied zum Lobe des Landgrafen und kam dann auf die Rückkehr des verloren geglaubten Freundes, die er so recht aus dem tiefsten Gemüt schilderte, daß sich alle innig gerührt fühlten. Heinrich von Ofterdingen runzelte aber die Stirn und nahm, sich von Wolfframb abwendend, die Laute, auf ihr einige wunderbare Akkorde anschlagend. Er stellte sich in die Mitte des Kreises und begann ein Lied, dessen Weise so ganz anders als alles, was die andern gesungen, so unerhört war, daß alle in die größte Verwunderung, ja zuletzt in das höchste Erstaunen gerieten. Es war, als schlüge er mit seinen gewaltigen Tönen an die dunklen Pforten eines fremden verhängnisvollen Reichs und beschwöre die Geheimnisse der unbekannten dort hausenden Macht herauf. Dann rief er die Gestirne an. und indem seine Lautentöne leiser lispelten, glaubte man der Sphären klingenden Reigen zu vernehmen. Nun rauschten die Akkorde stärker, und glühende Düfte wehten daher, und Bilder üppigen Liebesglücks flammten in dem aufgegangenen Eden aller Lust. Jeder fühlte sein Inneres erbeben in seltsamen Schauern. Als Ofterdingen geendet, war alles in tiefem Schweigen verstummt, aber dann brach der jubelnde Beifall stürmisch hervor. Die Dame Mathilde erhob sich schnell von ihrem Sitz, trat auf Ofterdingen zu und drückte ihm den Kranz auf die Stirne, den sie als Preis des Gesanges in der Hand getragen.

Eine flammende Röte fuhr über Oflerdingens Antlitz, er ließ sich nieder auf die Knie und drückte die Hände der schönen Frau mit Inbrunst an seine Brust. Als er aufstand,

traf sein funkelnder stechender Blick den treuen Wolfframb von Eschinbach, der sich ihm nahen wollte, aber, wie von einer bösen Macht feindlich berührt, zurückwich. Nur ein einziger stimmte nicht ein in den begeisterten Beifall der übrigen, und das war der Landgraf, welcher, als Ofterdingen sang, sehr ernst und nachdenklich geworden und kaum vermochte, etwas zum Lobe seines wunderbaren Liedes zu sagen. Ofterdingen schien sichtlich darüber erzürnt. Es begab sich, daß am späten Abend, als schon die tiefe Dämmerung eingebrochen, Wolfframb von Eschinbach den geliebten Freund, den er überall vergebens gesucht, in einem Lustgange des Schloßgartens traf. Er eilte auf ihn zu, er drückte ihn an seine Brust und sprach: "So bist du denn, mein herzlieber Bruder, der erste Meister des Gesanges worden, den es wohl auf Erden geben mag. Wie hast du es denn angefangen, das zu erfassen, was wir alle, was du selbst wohl nicht ahntest? — Welcher Geist stand dir zu Gebot, der dir die wunderbaren Weisen einer andern Welt lehrte? — O du herrlicher hoher Meister, laß dich noch einmal umarmen." — "Es ist", sprach Heinrich von Ofterdingen, indem er Wolfframbs Umarmung auswich, "es ist gut, daß du es erkennest, wie hoch ich mich über euch sogenannte Meister emporgeschwungen habe, oder vielmehr, wie ich allein dort gelandet und heimisch worden, wohin ihr vergebens strebt auf irren Wegen. Du wirst es mir dann nicht verargen, wenn ich euch alle mit curer schnöden Singerei recht albern und langweilig finde." — "So verachtest du uns", erwiderte Wolfframb, "die du sonst hoch in Ehren hieltest, nunmehro ganz und gar und magst nichts mehr mit uns insgemein haben? — Alle Freundschaft, alle Liebe ist aus deiner Seele gewichen, weil du ein höherer Meister bist, als wir es sind! — Auch mich -mich hältst du deiner Liebe nicht mehr wert, weil ich vielleicht mich nicht so hoch hinaufzuschwingen vermag in meinen Liedern als du? —Ach, Heinrich, wenn ich dir sagen sollte, wie es mir bei deinem Gesange ums Herz war." — "Magst mir", sprach Heinrich von Ofterdingen, indem er höhnisch lachte, "magst mir das ja nicht verschweigen, es kann für mich lehrreich sein." — "Heinrich!"begann Wolfframb mit sehr ernstem und festen Ton, "Heinrich! es ist wahr, dein Lied hatte eine ganz wunderbare unerhörte Weise, und die Gedanken stiegen hoch empor, bis über die Wolken, aber mein Inneres sprach, solch ein Gesang könne nicht herausströmen aus dem rein menschlichen Gemüt, sondern müsse das Erzeugnis fremder Kräfte sein, so wie der Negromant die heimische Erde düngt mit allerlei magischen Mitteln, daß sie die fremde Pflanze des fernsten Landes hervorzutreiben vermag. — Heinrich, du bist gewiß ein großer Meister des Gesanges geworden und hast es mit gar hohen Dingen zu tun, aber! — verstehst du noch den süßen Gruß des Abendwindes, wenn du durch des Waldes tiefe Schatten wandelst? Geht dir noch das Herz auf in frohem Mut bei dem Rauschen der Bäume, dem Brausen des Waldstroms? Blicken dich noch die Blumen an mit frommen Kindesaugen? Willst du noch vergehen in Liebesschmerz bei den Klagen der Nachtigall? Wirft dich dann noch ein unendliches Sehnen an die Brust, die sich dir hebend aufgetan? —Ach, Heinrich, es war manches in deinem Liede, wobei mich ein unheimliches Grauen erfaßte. Ich mußte an jenes entsetzliche Bild von den am Ufer des Acheron herumschwankenden Schatten denken, das du einmal dem Landgrafen aufstelltest, als er dich um die Ursache deiner Schwermut befragte. Ich mußte glauben, aller Liebe habest du entsagt, und was du dafür gewonnen, wäre nur der trostlose Schatz des verirrten Wanderers in der Wüste. — Es ist mir - ich muß es dir geradezu heraussagen -, es ist mir, als wenn du deine Meisterschaft mit aller Freude des Lebens, die nur dem frommen kindlichen Sinn zuteil wird, erkauft hättest. Eine düstre Ahnung befängt mich. Ich denke daran, was dich von der Wartburg forttrieb und wie du hier wieder erschienen bist. Es kann dir nun manches gelingen - vielleicht geht der schöne Hoffnungsstern, zu dem ich bis jetzt emporblickte, auf ewig für mich unter - doch Heinrich! — hier! — fasse meine Hand, nie kann irgendein Groll gegen dich in meiner Seele Raum finden! — Alles Glücks unerachtet, das dich überströmt, findest du dich vielleicht einmal plötzlich an dem Rande eines tiefen bodenlosen Abgrundes, und die Wirbel des Schwindels erfassen dich, und du willst rettungslos hinabstürzen, dann stehe ich festen Mutes hinter dir und halte dich fest mit starken Armen."

Heinrich von Ofterdingen hatte alles, was Wolfframb von Eschinbach sprach, in tiefem Schweigen angehört. Jetzt verhüllte er sein Gesicht im Mantel und sprang schnell hinein in das Dickicht der Bäume. Wolfframb hörte, wie er leise schluchzend und seufzend sich entfernte.


Der Krieg von Wartburg

Sosehr die andern Meister anfangs die Lieder des stolzen Heinrichs von Ofterdingen bewundert und hoch erhoben hatten, so geschah es doch, daß sie bald von falschen Weisen, von dem eitlen Prunk, ja von der Ruchlosigkeit der Lieder zu sprechen begannen, die Heinrich vorbringe. Nur die Dame Mathilde hatte sich mit ganzer Seele zu dem Sänger gewendet, der ihre Schönheit und Anmut auf eine Weise pries, die alle Meister, Wolfframb von Eschinbach, der sich kein Urteil erlaubte, ausgenommen, für heidnisch und abscheulich erklärten. Nicht lange währte es, anwar die Dame Mathilde in ihrem Wesen ganz und gar verändert. Mit höhnendem Stolz sah sie herab auf die andern Meister, und selbst dem armen Wolfframb von Eschinbach hatte sie ihre Gunst entzogen. Es kam so weit, daß Heinrich von Ofterdingen die Gräfin Mathilde unterrichten mußte inder Kunst des Gesanges, und sie selbst begann Lieder zu dichten, die geradeso klingen sollten wie die, welche Ofterdingen sang. Seit dieser Zeit war es aber, als schwände von der berückten Frau alle Anmut und Holdseligkeit. Alles vernachlässigend, was zur Zierde holder Frauen dient, sich alles weiblichen Wesens entschlagend, wurde sie zum unheimlichen Zwitterwesen,

von den Frauen gehaßt, von den Männern verlacht. Der Landgraf, befürchtend, daß der Wahnsinn der Gräfin wie eine böse Krankheit die andern Damen des Hofes ergreifen könne, erließ einen scharfen Befehl, daß keine Dame bei Strafe der Verbannung sich an das Dichten machen solle, wofür ihm die Männer, denen Mathildens Schicksal Schrecken eingejagt, herzlich dankten. Die Gräfin Mathilde verließ die Wartburg und bezog ein Schloß unfern Eisenach, wohin ihr Heinrich von Ofterdingen gefolgt wäre, hätte der Landgraf ihm nicht befohlen, noch den Kampf auszufechten, den ihm die Meister geboten. "Ihr habt", sprach Landgraf Hermann zu dem übermütigen Sänger, "Ihr habt durch Eure seltsame unheimliche Weise den schönen Kreis, den ich hier versammelt, gar häßlich gestört. Mich konntet Ihr niemals betören, denn von dem ersten Augenblick an habe ich es erkannt, daß Eure Lieder nicht aus der Tiefe eines wackern Sängergemüts kommen, sondern nur die Frucht der Lehren irgendeines falschen Meisters sind. Was hilft aller Prunk, aller Schimmer, aller Glanz, wenn er nur dazu dienen soll. einen toten Leichnam zu umhüllen? Ihr sprecht von hohen Dingen, von den Geheimnissen der Natur, aber nicht, wie sie, süße Ahnungen des höhern Lebens, in der Brust des Menschen aufgehen, sondern wie sie der kecke Astrolog begreifen und messen will mit Zirkel und Maßstab. Schämt Euch, Heinrich von Ofterdingen, daß Ihr so geworden seid, daß Euer wackrer Geist sich gebeugt hat unter die Zucht eines unwürdigen Meisters."

"Ich weiß nicht", erwiderte Heinrich von Ofterdingen, "ich weiß nicht, mein hoher Herr, inwiefern ich Euern Zorn. Eure Vorwürfe verdiene. Vielleicht ändert Ihr indessen Eure Meinung, wenn Ihr erfahrt, welcher Meister mir dasjenige Reich des Gesanges, welches dessen eigentlichste Heimat ist, erschlossen. In tiefer Schwermut hatte ich Euern Hof verlassen, und wohl mocht es sein, daß der Schmerz, der mich vernichten wollte, nur das gewaltsame Treiben war der schönen Blüte, die, in meinem Innern verschlossen, nach

dem befruchtenden Atem der höheren Natur schmachtete. Auf seltsame Weise kam mir ein Büchlein in die Hände. in welchem der höchste Meister des Gesanges auf Erden mit der tiefsten Gelehrsamkeit die Regeln der Kunst entwickelt und selbst einige Lieder hinzugefügt hatte. Je mehr ich nun in diesem Büchlein las, desto klarer wurde es mir, daß es wohl gar dürftig ausfalle, wenn der Sänger nur vermöge, das in Worte zu fassen, was er nun gerade im Herzen zu empfinden glaubt. Doch dies nicht genug - ich fühlte nach und nach mich wie verknüpft mit unbekannten Mächten, die oft statt meiner aus mir heraus sangen, und doch war und blieb ich der Sänger. Meine Sehnsucht, den Meister selbst zu schauen und aus seinem eigenen Munde die tiefe Weisheit, den richtenden Verstand ausströmen zu hören, wurde zum unwiderstehlichen Triebe. Ich machte mich auf und wanderte nach Siebenbürgen. Ja! — vernehmt es, mein hoher Herr! Meister Klingsohr selbst ist es, den ich aufsuchte und dem ich den kühnen überirdischen Schwung meiner Lieder verdanke. Nun werdet Ihr wohl von meinen Bestrebungen günstiger urteilen."

"Der Herzog von Österreich", sprach der Landgraf, "hat mir gar viel zu dem Lobe Eures Meisters gesagt und geschrieben. Meister Klingsohr ist ein in tiefen geheimen Wissenschaften erfahrener Mann. Er berechnet den Lauf der Gestirne und erkennt die wunderbaren Verschlingungen ihres Ganges mit unserer Lebensbahn. Ihm sind die Geheimnisse der Metalle, der Pflanzen, des Gesteins offenbar, und dabei ist er erfahren in den Händeln der Welt und steht dem Herzog von Österreich zur Seite mit Rat und Tat. Wie das alles aber nun mit dem reinen Gemüt des wahren Sängers bestehen mag, weiß ich nicht und glaube auch wohl, daß ebendeshalb Meister Klingsohrs Lieder, so künstlich und wohl ausgedacht, so schön geformt sie auch sein mögen, mein Gemüt ganz und gar nicht rühren können. — Nun, Heinrich von Ofterdingen, meine Meister, beinahe erzürnt über dein stolzes hochfahrendes Wesen, wollen mit dir um

den Preis singen einige Tage hindurch, das mag denn nun geschehen."

Der Kampf der Meister begann. Sei es aber nun, daß Heinrichs durch falsche Lehren irre gewordener Geist sich gar nicht mehr zu fassen vermochte in dem reinen Strahl des wahrhaftigen Gemüts oder daß besondere Begeisterung die Kraft der andern Meister verdoppelte: genug! —jeder, wider Ofterdingen singend, jeder ihn besiegend, erhielt den Preis, um den dieser sich vergebens mühte. Ofterdingen ergrimmte über diese Schmach und begann nun Lieder, die, mit verhöhnenden Anspielungen auf den Landgrafen Hermann, den Herzog von Österreich, Leopold den Siebenten, bis über die Sterne erhoben und ihn die hellfunkelnde Sonne nannten, welche allein aller Kunst aufgegangen. Kam nun noch hinzu, daß er ebenso die Frauen am Hofe mit schnöden Worten angriff und die Schönheit und Holdseligkeit der Dame Mathilde allein auf heidnische ruchlose Art zu preisen fortfuhr, so konnt es nicht fehlen, daß alle Meister, selbst den sanften Wolfframb von Eschinbach nicht ausgenommen, in gerechten Zorn gerieten und in den heftigsten schonungslosesten Liedern seine Meisterschaft zu Boden traten. Heinrich Schreiber und Johannes Bitterolff bewiesen, den falschen Prunk von Ofterdingens Liedern abstreifend, die Elendigkeit der magern Gestalt, die sich dahinter verborgen, aber Walther von der Vogelweid und Reinhard von Zwekhstein gingen weiter. Die sagten, Ofterdingens schnödes Beginnen verdiene schwere Rache, und die wollten sie an ihm nehmen, mit dem Schwerte in der Hand.

So sah nun Heinrich von Ofterdingen seine Meisterschaft in den Staub getreten und selbst sein Leben bedroht. Voller Wut und Verzweiflung rief er den edelgesinnten Landgrafen Hermann an, sein Leben zu schützen, ja noch mehr, die Entscheidung des Streites über die Meisterschaft des Gesanges dem berühmtesten Sänger der Zeit, dem Meister Klingsohr, zu überlassen. "Es ist", sprach der Landgraf, "es ist nunmehr mit Euch und den Meistern so weit

gekommen, daß es noch um anderes gilt als um die Meisterschaft des Gesanges. Ihr habt in Euern wahnsinnigen Liedern mich, Ihr habt die holden Frauen an meinem Hofe schwer beleidigt. Euer Kampf betrifft also nicht mehr die Meisterschaft allein, sondern auch meine Ehre, die Ehre der Damen. Doch soll alles im Wettsingen ausgemacht werden, und ich gestatte es, daß Euer Meister Klingsohr selbst entscheide. Einer von meinen Meistern, das Los soll ihn nennen, stellt sich Euch gegenüber, und die Materie, worüber zu singen, möget ihr beide dann selbst wählen. —Aber der Henker soll mit entblößtem Schwerte hinter euch stehen, und wer verliert, werde augenblicklich hingerichtet. — Gebet - schaffet, daß Meister Klingsohr binnen Jahresfrist nach der Wartburg komme und den Kampf auf Tod und Leben entscheide." — Heinrich von Ofterdingen machte sich davon, und so war zur Zeit die Ruhe auf der Wartburg wiederhergestellt.

Die Lieder, welche die Meister wider Heinrich von Ofterdingen gesungen, waren damals der Krieg von Wartburg geheißen.


Meister Klingsohr kommt nach Eisenach

Beinahe ein Jahr war verflossen, als die Nachricht. nach der Wartburg kam, daß Meister Klingsohr wirklich in Eisenach angelangt und bei dem Bürger, Helgrefe geheißen, vor dem St.-Georgen-Tore eingezogen sei. Die Meister freuten sich nicht wenig, daß nun wirklich der böse Streit mit Heinrich von Ofterdingen geschlichtet werden solle, keiner war aber so voller Ungeduld, den weltberühmten Mann von Angesicht zu Angesicht zu schauen, als Wolfframb von Eschinbach. "Mag es sein", sprach er zu sich selbst, "mag es sein, daß, wie die Leute sagen, Klingsohr bösen Künsten ergeben ist, daß unheimliche Mächte ihm zu Gebote stehen, ja ihm wohl gar geholfen zur Meisterschaft in allem Wissen; aber wächst nicht der edelste Wein auf der verglühten Lava? Was geht es den dürstenden Wandrer an, daß die Trauben, an denen er sich erlabt, aus der Glut der Hölle selbst emporgekeimt

sind? So will ich mich an des Meisters tiefer Wissenschaft und Lehre erfreuen, ohne weiter zu forschen und ohne mehr davon zu bewahren, als was ein reines frommes Gemüt in sich zu tragen vermag."

Wolfframb machte sich alsbald auf nach Eisenach. Als er vor das Haus des Bürgers Helgrefe kam, fand er einen Haufen Leute versammelt, die alle sehnsüchtig nach dem Erker hinaufblickten. Er erkannte unter ihnen viele junge Leute als Schüler des Gesanges, die hörten nicht auf, dieses, jenes von dem berühmten Meister vorzubringen. Der eine hatte die Worte aufgeschrieben, die Klingsohr gesprochen, als er zu Helgrefe eingetreten, der andere wußte genau, was der Meister zu Mittag gespeiset, der dritte behauptete, daß ihn der Meister wirklich angeblickt und gelächelt, weil er ihn als Sänger erkannt am Barett, das er genauso trage wie Klingsohr, der vierte fing sogar ein Lied an, von dem er behauptete, es sei nach Klingsohrs Weise gedichtet. Genug, es war ein unruhiges Treiben hin und her. Wolfframb von Eschinbach drang endlich mit Mühe durch und trat ins Haus. Helgrefe hieß ihn freundlich willkommen und lief herauf, um ihn seinem Begehren gemäß bei dem Meister melden zu lassen. Da hieß es aber, der Meister sei im Studieren begriffen und könne jetzt mit niemanden sprechen. In zwei Stunden solle man wiederum anfragen. Wolfframb mußte sich diesen Aufschub gefallen lassen. Nachdem er nach zwei Stunden wiedergekommen und noch eine Stunde gewartet, durfte Helgrefe ihn hinaufführen. Ein seltsam in bunter Seide gekleideter Diener öffnete die Türe des Gemachs, und Wolfframb trat hinein. Da gewahrte er einen großen stattlichen Mann, in einen langen Talar von dunkelrotem Samt mit weiten Ärmeln, und mit Zobel reich besetzt, gekleidet, der mit langsamen gravitätischen Schritten die Stube entlang hin und her wandelte. Sein Gesicht war beinahe anzusehen, wie die heidnischen Bildner ihren Gott Jupiter darzustellen pflegten, solch ein gebieterischer Ernst lag auf der Stirne, solch drohende Flammen blitzten aus den großen Augen.

Um Kinn und Wangen legte sich ein wohlgekräuselter schwarzer Bart, und das Haupt bedeckte ein fremd geformtes Barett oder ein sonderbar verschlungenes Tuch, man konnte das nicht unterscheiden. Der Meister hatte die Arme vor der Brust übereinandergeschlagen und sprach mit hellklingender Stimme im Aufundabschreiten Worte, die Wolfframb gar nicht verstand. Sich im Zimmer umschauend, das mit Büchern und allerlei wunderlichen Gerätschaften angefüllt war, erblickte Wolfframb in einer Ecke ein kleines. kaum drei Fuß hohes altes blasses Männlein, das auf einem hohen Stuhl vor einem Pulte saß und mit einer silbernen Feder auf einem großen Pergamentblatt emsig alles aufzuschreiben schien, was Meister Klingsohr sprach. Es hatte eine feine Weile gedauert, da fielen endlich des Meisters starre Blicke auf Wolfframb von Eschinbach, und mit dem Sprechen innehaltend, blieb er in der Mitte des Zimmers stehen. Wolfframb begrüßte den Meister nun mit anmutigen Versen im Schwarzen Ton. Er sagte, wie er gekommen sei, um sich zu erbauen an Klingsohrs hoher Meisterkunst, und hat, er solle nun ihm antworten im gleichen Ton und so seine Kunst hören lassen. Da maß ihn der Meister mit zornigen Blicken von Kopf bis zu Fuß und sprach dann: "Ei, wer seid Ihr denn, junger Gesell! daß Ihr es wagt, hier so mit Euren albernen Versen hereinzubrechen und mich sogar herauszufordern, als sollt es ein Wettsingen gelten? Ha! Ihr seid ja wohl Wolfframb von Eschinbach, der allerungeschickteste, ungelehrteste Laie von allen, die sich dort oben auf der Wartburg Meister des Gesanges nennen? — Nein, mein lieber Knabe, Ihr müßt wohl noch etwas wachsen, ehe Ihr Euch mit mir zumessen Verlangen tragen könnt." Einen solchen Empfang hatte Wolfframb von Eschinbach gar nicht erwartet. Das Blut wallte ihm auf vor Klingsohrs schnöden Worten, er fühlte lebhafter als jemals die ihm inwohnende Kraft, die ihm die Macht des Himmels verliehen. Ernst und fest blickte er dem stolzen Meister ins Auge und sprach dann: "Ihr tut garnicht gut, Meister Klingsohr, daß Ihr in solchen bittern, harten Ton fallet, statt mir liebreich und freundlich, wie ich Euch begrüßte, zu antworten. Ich weiß es, daß Ihr mir in aller Wissenschaft und wohl auch in der Kunst des Gesanges weit überlegen seid, aber das berechtigt Euch nicht zu der eitlen Prahlerei, die Ihr als Eurer unwürdig verachten müßtet. Ich sage es Euch frei heraus, Meister Klingsohr! daß ich nunmehr das glaube, was die Welt von Euch behauptet. Die Macht der Hölle sollt Ihr bezwingen, Umgang mit bösen Geistern sollt Ihr haben, mittelst der unheimlichen Wissenschaften, die Ihr getrieben. Daher soll Eure Meisterschaft kommen, weil Ihr aus der Tiefe die schwarzen Geister ins helle Leben heraufbeschworen, vor denen sich der menschliche Geist entsetzt. Und so ist es nur dieses Entsetzen, was Euch den Sieg verschafft, und nicht die tiefe Rührung der Liebe, welche aus dem reinen Gemüt des Sängers strömt in das verwandte Herz, das, in süßen Banden gefangen, ihm untertan wird. Daher seid Ihr so stolz, wie kein Sänger es sein kann, der reinen Herzens geblieben." —"Hoho", erwiderte Meister Klingsohr, "hoho, junger Gesell, versteigt Euch nicht so hoch! —Was meinen Umgang mit unheimlichen Mächten betrifft, davon schweigt, das versteht Ihr nicht. Daß ich daher meine Meisterschaft des Gesanges dem zu verdanken haben soll, das ist das abgeschmackte Gewäsch einfältiger Kinder. Aber sagt mir doch, woher Euch die Kunst des Gesanges gekommen? Glaubt Ihr, daß ich nicht wußte, wie zu Siegebrunnen in Schottland Meister Friedebrand Euch einige Bücher borgte, die Ihr undankbar nicht zurückgabt, sondern an Euch behieltet, alle Eure Lieder daraus schöpfend? Heil — hat mir der Teufel geholfen. so half Euch Euer undankbares Herz." Wolfframb erschrak beinahe vor diesem häßlichen Vorwurf. Er legte die Hand auf die Brust und sprach: "So wahr mir Gott helfe! — Der Geist der Lüge ist mächtig in Euch, Meister Klingsohr - wie hätte ich denn meinen hohen Meister Friedebrand so schändlich betrügen sollen um seine herrliche Schriften. Wißt, Meister Klingsohr, daß ich diese Schriften nur so lange, wie Friedebrand es wollte, in Händen hielt, daß er sie dann von mir wiedernahm. Habt Ihr denn nie Euch aus den Schriften anderer Meister belehrt?" —"Mag", fuhr Meister Klingsohr fort, ohne auf Wolfframbs Rede sonderlich zu achten, "mag dem sein, wie ihm wolle, woher möget Ihr denn nun Eure Kunst haben? Was berechtigt Euch, sich mir gleichzustellen? Wißt Ihr nicht, wie ich zu Rom, zu Paris, zu Krakau den Studien fleißig obgelegen, wie ich selbst nach den fernsten Morgenländern gereiset und die Geheimnisse der weisen Araber erforscht, wie ich dann auf allen Singschulen das Beste getan und wider alle, die in den Streit mit mir gegangen, den Preis errungen, wie ich ein Meister der Sieben Freien Künste worden? — Aber Ihr, der Ihr, entfernt von aller Wissenschaft und Kunst, in dem öden Schweizerlande gehauset, der Ihr ein in aller Schrift unerfahrner Laie geblieben, wie solltet Ihr denn zur Kunst des wahren Gesanges kommen?" Wolfframbs Zorn hatte sich indessen ganz gelegt, welches wohl daher rühren mochte, daß bei Klingsohrs prahlerischen Reden die köstliche Gabe des Gesanges in -Innern heller und freudiger hervorleuchtete, wie die Sonnenstrahlen schöner funkeln, wenn sie siegend durch die düstern Wolken brechen, die der wilde Sturm herangejagt. Ein mildes anmutiges Lächeln hatte sich über sein ganzes Antlitz gelegt, und er sprach mit ruhigem, gefaßten Ton zu dem zornigen Meister Klingsohr: "Ei, mein lieber Meister, wohl könnt ich Euch entgegnen, daß, hab ich gleich nicht zu Rom und Paris studiert, suchte ich gleich nicht die weisen Araber auf in ihrer eignen Heimat, ich doch nächst meinem hohen Meister Friedebrand, dem ich nachzog bis ins tiefe Schottland, noch viele gar kunstreiche Sänger vernahm, deren Unterricht mir vielen Nutzen brachte, daß ich an vielen Höfen unserer hohen deutschen Fürsten gleich Euch den Preis des Gesanges gewann. Ich meine aber, daß wohl aller Unterricht, alles Vernehmen der höchsten Meister mir gar nichts geholfen haben würde, wenn die ewige Macht des Himmels nicht den Funken in mein Innres gelegt hätte, der in den schönen Strahlen des Gesanges aufgeglommen, wenn ich nicht mit liebendem Gemüt alles Falsche und Böse von mir ferngehalten und noch hielte, wenn ich nicht mich mühte in reiner Begeisterung, nur das zu singen, was meine Brust mit freudiger, süßer Wehmut ganz und gar erfüllt."

Selbst wußte Wolfframb von Eschinbach nicht, wie es geschah, daß er ein herrliches Lied im Güldnen Ton begann, das er erst vor kurzem gedichtet.

Meister Klingsohr ging voller Wut auf und ab; dann blieb er vor Wolfframb stehen und blickte ihn an. als wolle er ihn durchbohren mit seinen starren, glühenden Augen. Als Wolfframb geendet, legte Klingsohr beide Hände auf Wolfframbs Schultern und sprach sanft und gelassen: "Nun, Wolfframb, weil Ihr es denn nicht anders wollt, so laßt uns um die Wette singen in allerlei künstlichen Tönen und Weisen. Doch laßt uns anderswohin gehen, das Gemach taugt zu dergleichen nicht, und Ihr sollt überdem einen Becher edlen Weins mit mir genießen."

In dem Augenblick stürzte das kleine Männlein, das erst geschrieben, hinab von dem Stuhle und gab bei dem harten Fall auf den Boden einen feinen ächzenden Laut von sich. Klingsohr drehte sich rasch um und stieß mit dem Fuße den Kleinen in den unter dem Pulte befindlichen Schrank, den er verschloß. Wolfframb hörte das Männlein leise weinen und schluchzen. Nun schlug Klingsohr die Bücher zu, welche ringsumher offen herumlagen, und jedesmal, wenn ein Deckel niederklappte, ging ein seltsamer schauerlicher Ton, wie ein tiefer Todesseufzer, durch die Zimmer. Wunderliche Wurzeln nahm nun Klingsohr in die Hand, die in dem Augenblick anzusehen waren wie fremde unheimliche Kreaturen und mit den Faden und Ästen zappelten wie mit Armen und Beinen, ja oft zuckte ein kleines verzerrtes Menschengesichtlein hervor, das auf häßliche Weise grinste und lachte. Und dabei wurd es in den Schränken ringsumher unruhig, und ein großer Vogel schwirrte in irrem Fluge umher mit goldgleißendem Fittich. Die tiefe Abenddämmerung

war eingebrochen, Wolfframb fühlte sich von tiefem Grauen erfaßt. Da nahm Klingsohr aus einer Kapsel einen Stein hervor, der sogleich im ganzen Gemach den hellsten Sonnenglanz verbreitete. Alles wurde still, und Wolfframb sah und hörte nichts mehr von dem, was ihm erst Entsetzen erregt.

Zwei Diener, so seltsamlich in bunter Seide gekleidet wie der, welcher erst die Türe des Gemachs geöffnet, traten hinein mit prächtigen Kleidern, die sie dem Meister Klingsohr anlegten.

Beide, Meister Klingsohr und Wolfframb von Eschinbach, gingen nun zusammen nachdem Ratskeller.

Sie hatten auf Versöhnung und Freundschaft getrunken und sangen nun widereinander in den verschiedensten künstlichsten Weisen. Kein Meister war zugegen, der hätte entscheiden können, wer den andern besieget, aber jeder würde den Klingsohr für überwunden gehalten haben, denn sosehr er sich in großer Kunst, in mächtigem Verstande mühte, niemals konnte er nur im mindesten die Stärke und Anmut der einfachen Lieder erreichen, welche Wolfframb von Eschinbach vorbrachte.

Wolfframb hatte eben ein gar herrliches Lied geendet, als Meister Klingsohr, zurückgelehnt in den Polsterstuhl, den Blick niedergeschlagen, mit gedämpfter düstrer Stimme sprach: "Ihr habt mich vorhin übermütig und prahlerisch genannt, Meister Wolfframb, aber sehr würdet Ihr irren, wenn Ihr etwa glaubtet, daß mein Blick, verblendet durch einfältige Eitelkeit, nicht sollte die wahre Kunst des Gesanges erkennen können, ich möge sie nun antreffen in der Wildnis oder in dem Meistersaal. Keiner ist hier, der zwischen uns richten könnte, aber ich sage Euch, Ihr habt mich überwunden, Meister Wolfframb, und daß ich Euch das sage, daran möget Ihr auch die Wahrhaftigkeit meiner Kunst erkennen." —"Ei, mein lieber Meister Klingsohr", erwiderte Wolfframb von Eschinbach, "wohl mocht es sein, daß eine besondere Freudigkeit, die in meiner Brust aufgegangen, meine Lieder

mir heute besser gelingen ließ als sonst, aber ferne sei es von mir, daß ich mich deshalb über Euch stellen sollte. Vielleicht war heute Euer Inneres verschlossen. Pflegt es denn nicht zu geschehen, daß manchmal eine drückende Last auf einem ruht wie ein düstrer Nebel auf heller Wiese, vor dem die Blumen nicht vermögen ihre glänzenden Häupter zu erheben. Aber erklärt Ihr Euch heute auch für überwunden, so habe ich doch in Euern schönen Liedern gar Herrliches vernommen, und es kann sein, daß morgen Ihr den Sieg erringet."

Meister Klingsohr sprach: "Wozu hilft Euch Eure fromme Bescheidenheit!", sprang dann schnell vom Stuhle auf, stellte sich, den Rücken Wolfframb zugekehrt, unter das hohe Fenster und schaute schweigend in die bleichen Mondesstrahlen, die aus der Höhe hinabfielen.

Das hatte wohl einige Minuten gedauert, da drehte er sich um, ging auf Wolfframb los und sprach, indem ihm die Augen vor Zorn funkelten, mit starker Stimme: "Ihr habt recht, Wolfframb von Eschinbach, über finstre Mächte gebietet meine Wissenschaft, unser inneres Wesen muß uns entzweien. Mich habt Ihr überwunden, aber in der Nacht, die dieser folgt, will ich Euch einen schicken, der Nasias geheißen. Mit dem beginnt ein Wettsingen, und seht Euch vor, daß der Euch nicht überwinde."

Damit stürmte Meister Klingsohr fort zur Türe des Ratskellers hinaus.


Nasias kommt in der Nacht zu Wolfframb von Eschinbach

Wolfframb wohnte in Eisenach dem Brothause gegenüber bei einem Bürger, Gottschalk geheißen. Das war ein freundlicher frommer Mann, der seinen Gast hoch in Ehren hielt. Es mochte wohl sein, daß, unerachtet Klingsohr und Eschinbach auf dem Ratskeller sich einsam und unbelauscht geglaubt, doch manche, vielleicht von jenen jungen Schülern des Gesanges, die dem berühmten Meister auf Schritt und

Tritt folgten und jedes Wort, das von seinen Lippen kam, zu erhaschen suchten, Mittel gefunden hatten, das Wettsingen der Meister zu erhorchen. Durch ganz Eisenach war das Gerücht gedrungen, wie Wolfframb von Eschinbach den großen Meister Klingsohr im Gesange besieget, und so hatte auch Gottschalk es erfahren. Voller Freude lief er herauf zu seinem Gast und fragte, wie das nur habe geschehen können, daß sich der stolze Meister auf dem Ratskeller in ein Wettsingen eingelassen. Wolfframb erzählte getreulich, wie sich alles begeben, und verschwieg nicht, wie Meister Klingsohr gedroht, ihm in der Nacht einen auf den Hals zu schicken, der Nasias geheißen und mit dem er um die Wette singen solle. Da erblaßte Gottschalk vor Schreck, schlug die Hände zusammen und rief mit wehmütiger Stimme: "Ach du Gott im Himmel, wißt Ihr's denn nicht, lieber Herr, daß es Meister Klingsohr mit bösen Geistern zu tun hat, die ihm untertan sind und seinen Willen tun müssen. Helgrefe, bei dem Meister Klingsohr Wohnung genommen, hat seinen Nachbarsleuten die wunderlichsten Dinge von seinem Treiben erzählt. Zur Nachtzeit soll es oft sein, als wäre eine große Gesellschaft versammelt, obschon man niemand ins Haus gehen sehen, und dann beginne ein seltsames Singen und tolles Wirtschaften, und blendendes Licht strahle durch die Fenster! Ach, vielleicht ist dieser Nasias, mit dem er Euch bedroht, der böse Feind selbst, der Euch ins Verderben stürzen wird! — Zieht fort, lieber Herr. wartet den bedrohlichen Besuch nicht ab; ja, ich beschwöre Euch: zieht fort." —"Ei", erwiderte Wolfframb von Eschinbach, "ei, lieber Hauswirt Gottschalk, wie sollt ich denn scheu dem mir gebotenen Wettsingen ausweichen, das wäre ja gar nicht Meistersängers Art. Mag nun Nasias ein böser Geist sein oder nicht, ich erwarte ihn ruhig. Vielleicht übertönt er mich mit allerlei acherontischen Liedern, aber vergebens wird er versuchen, meinen frommen Sinn zu betören und meiner unsterblichen Seele zu schaden." —"Ich weiß es schon", sprach Gottschalk, "ich weiß es schon, Ihr seid ein gar mutiger Herr, der eben den Teufel selbst nicht fürchtet. Wollt Ihr denn nun durchaus hierbleiben, so erlaubt wenigstens, daß künftige Nacht mein Knecht Jonas bei Euch bleibe. Das ist ein tüchtiger frommer Mensch mit breiten Schultern, dem das Singen durchaus nicht schadet. Solltet Ihr nun etwa vor dem Teufelsgeplärre schwach und ohnmächtig werden und Nasias Euch was anhaben wollen, so soll Jonas ein Geschrei erheben, und wir rücken dann an mit Weihwasser und geweihten Kerzen. Auch soll der Teufel den Geruch von Bisam nicht vertragen können, den in einem Säckchen ein Kapuziner auf der Brust getragen. Den will ich ebenfalls in Bereitschaft halten und, sobald Jonas geschrien, dermaßen räuchern, daß dem Meister Nasias im Singen der Atem vergehn soll."Wolfframb von Eschinbach lächelte über seines Hauswirts gutmütige Besorglichkeit und meinte, er sei nun einmal auf alles gefaßt und wolle es schon mit dem Nasias aufnehmen. Jonas, der fromme Mensch mit breiten Schultern und gewappnet gegen alles Singen, möge aber immerhin bei ihm bleiben. Die verhängnisvolle Nacht war hereingebrochen. Noch blieb alles still. Da schwirrten und dröhnten die Gewichte der Kirchuhr, es schlug zwölfe. Ein Windstoß brauste durch das Haus, häßliche Stimmen heulten durcheinander, und ein wildes krächzendes Angstgeschrei, wie von verscheuchten Nachtvögeln, fuhr auf. Wolfframb von Eschinbach hatte allerlei schönen frommen Dichtergedanken Raum gegeben und des bösen Besuchs beinahe vergessen. Jetzt rannen doch Eisschauer durch sein Innres, er faßte sich aber mit Macht zusammen und trat in die Mitte des Gemachs. Mit einem gewaltigen Schlage, von dem das ganze Haus erdröhnte, sprang die Türe auf, und eine große, von rotem Feuerglanze umflossene Gestalt stand vor ihm und schaute ihn an mit glühenden, tückischen Augen. Die Gestalt war von solch greulichem Ansehen, daß wohl manchem andern aller Mut entflohen, ja daß er, von wildem Entsetzen erfaßt, zu Boden gesunken, doch Wolfframb hielt sich aufrecht und fragte mit ernstem, nachdrücklichen Ton: "Was habt Ihr des Orts zu tun oder zu suchen?" Da rief die Gestalt mit widrig gellender Stimme: "Ich bin Nasias und gekommen, mit Euch zu gehen in den Kampf der Sängerkunst." Nasias schlug den großen Mantel auseinander, und Wolfframb gewahrte, daß er unter den Armen eine Menge Bücher trug, die er nun auf den Tisch fallen ließ, der ihm zur Seite stand. Nasias fing auch alsbald ein wunderliches Lied an von den sieben Planeten und von der himmlischen Sphärenmusik, wie sie in dem "Traum des Scipio" beschrieben, und wechselte mit den künstlichsten seltsamsten Weisen. Wolfframb hatte sich in seinen großen Polsterstuhl gesetzt und hörte ruhig mit niedergeschlagenen Blicken alles an, was Nasias vorbrachte. Als der nun sein Lied endlich geschlossen, begann Eschinbach eine schöne fromme Weise von geistlichen Dingen. Da sprang Nasias hin und her und wollte dazwischenplärren und mit den schweren Büchern, die er mitgebracht, nach dem Sänger werfen, aber je heller und mächtiger Wolfframbs Lied wurde, desto mehr verblaßte Nasias' Feuerglanz, desto mehr schrumpfte seine Gestalt zusammen, so daß er zuletzt, ein Spanne lang, mit seinem roten Mäntelchen und der dicken Halskrause an den Schränken auf und ab kletterte, widrig quäkend und miauend. Wolfframb, nachdem er geendet, wollte ihn ergreifen, da schoß er aber plötzlich auf, so hoch wie er zuvor gewesen, und hauchte zischende Feuerflammen um sich her. "Hei, hei", rief Nasias dann mit hohler entsetzlicher Stimme, "hei, hei! spaße nicht mit mir, Geselle! — Ein guter Theologe magst du sein und dich wohl verstehen auf die Spitzfündigkeiten und Lehren eures dicken Buchs, aber darum bist du noch kein Sänger, der sich messen kann mit mir und meinem Meister. Laßt uns ein schönes Liebeslied singen, und du magst dich dann vorsehen mit deiner Meisterschaft." Nasias begann nun ein Lied von der schönen Helena und von den überschwenglichen Freuden des Venusberges. In der Tat klang das Lied gar verlockend, und es war, als wenn die Flammen, die Nasias um sich sprühte, zu lüsterne Begierde und Liebeslust atmenden Düften würden, in denen die süßen Töne auf und nieder wogten wie gaukelnde Liebesgötter. So wie die vorigen Lieder hörte Wolfframb auch dieses ruhig mit niedergesenktem Blicke an. Aber bald war es ihm, als wandle er in den düstern Gängen eines lieblichen Gartens und die holden Töne einer herrlichen Musik schlüpften über die Blumenbeete hin und brächen wie flimmerndes Morgenrot durch das dunkle Laub, und das Lied des Bösen versinke in Nacht vor ihnen, wie der scheue Nachtvogel sich krächzend hinabstürzt in die tiefe Schlucht vor dem siegenden Tage. Und als die Töne heller und heller strahlten, bebte ihm die Brust vor süßer Ahnung und unaussprechlicher Sehnsucht. Da trat sie, sein einziges Leben, in vollem Glanz aller Schönheit und Holdseligkeit. hervor aus dem dichten Gebüsch, und in tausend Liebesseufzern die herrlichste Frau grüßend, rauschten die Blätter und plätscherten die blanken Springbrunnen. Wie auf den Fittichen eines schönen Schwans schwebte sie daher auf den Flügeln des Gesanges, und sowie ihr Himmelsblick ihn traf, war alle Seligkeit der reinsten, frömmsten Liebe entzündet in seinem Innern. Vergebe rang er nach Worten, nach Tönen. Sowie sie verschwunden, warf er sich voll des seligsten Entzückens hin auf den bunten Rasen. Er rief ihren Namen in die Lüfle hinein, er umschlang in heißer Sehnsucht die hohen Lilien, er küßte die Rosen auf den glühenden Mund, und alle Blumen verstanden sein Glück, und der Morgenwind, die Quellen, die Büsche sprachen mit ihm von der unnennbaren Lust frommer Liebe! — So gedachte Wolfframb, während daß Nasias fortfuhr mit seinen eitlen Liebesliedern, jenes Augenblicks, als er die Dame Mathilde zum erstenmal erblickte in dem Garten auf der Wartburg, sie selbst stand vor ihm in der Holdseligkeit und Anmut wie damals, sie blickte ihn an wie damals, so fromm und hebend. Wolfframb hatte nichts vernommen von dem Gesange des Bösen; als dieser aber nun schwieg, begann Wolfframb ein Lied, das in den herrlichsten, gewaltigsten Tönen die Himmelssehligkeit der reinen Liebe des frommen Sängers pries.

Unruhiger und unruhiger wurde der Böse, bis er endlich auf garstige Weise zu meckern und herumzuspringen und im Gemach allerlei Unfug zu treiben begann. Da stand Wolfframb auf von seinem Polsterstuhl und befahl dem Bösen in Christus und der Heiligen Namen, sich davonzupacken. Nasias, heftige Flammen um sich sprühend, raffte seine Bücher zusammen und rief mit höhnischem Gelächter: "Schnib, schnab, was bist du mehr denn ein grober Lai, darum gib nur Klingsohr die Meisterschaft!" — Wie der Sturm brauste er fort, und ein erstickender Schwefeldampf erfüllte das Gemach.

Wolfframb öffnete die Fenster, die frische Morgenluft strömte hinein und vertilgte die Spur des Bösen. Jonas fuhr auf aus dem tiefen Schlafe, in den er versunken, und wunderte sich nicht wenig, als er vernahm, daß schon alles vorüber. Er rief seinen Herrn herbei. Wolfframb erzählte, wie sich alles begeben, und hatte Gottschalk den edlen Wolfframb schon zuvor hoch verehrt, so erschien er ihm jetzt wie ein Heiliger, dessen fromme Weihe die verderblichen Mächte der Hölle besiege. Als nun Gottschalk indem Gemach zufällig den Blick in die Höhe richtete, da wurde er zu seiner Bestürzung gewahr, daß hoch über der Türe in feuriger Schrift die Worte standen: "Schnib, schnab, was bist du mehr denn ein grober Lai, darum gib nur Klingsohr die Meisterschaft!"

So hatte der Böse im Verschwinden die letzten Worte, die er gesprochen, hingeschrieben wie eine Herausforderung auf ewige Zeiten. "Keine ruhige Stunde", rief Gottschalk, "keine ruhige Stunde kann ich hier verleben, in meinem eignen Hause, solange die abscheuliche Teufelsschrift, meinen lieben Herrn Wolfframb von Eschinbach verhöhnend, dort an der Wand fortbrennt." Er lief auch stracks zu Maurern, die die Schrift übertünchen sollten. Das war aber ein eitles Mühen. Eines Fingers dick strichen sieden Kalk über, und doch kam die Schrift wieder zum Vorschein, ja, als sie endlich den Mörtel wegschlugen, brannte die Schrift doch wiederum

hervor aus den roten Ziegelsteinen. Gottschalk jammerte sehr und bat Herrn Wolfframb, er möge doch durch ein tüchtiges Lied den Nasias zwingen, daß er selbst die abscheulichen Worte weglösche. Wolfframb sprach lächelnd, daß das vielleicht nicht in seiner Macht stehen möge, Gottschalk solle indessen nur ruhig sein, da die Schrift, wenn er Eisenach verlasse, vielleicht von selbst verschwinden werde.

Es war hoher Mittag, als Wolfframb von Eschinbach frohen Mutes und voll lebendiger Heiterkeit, wie einer, der den herrlichsten Hoffnungsschimmern entgegenziehet, Eisenach verließ. Unfern der Stadt kamen ihm in glänzenden Kleidern, auf schön geschmückten Rossen, begleitet von vieler Dienerschaft, der Graf Meinhard zu Mühlberg und der Schenk Walther von Vargel entgegen. Wolfframb von Eschinbach begrüßte sie und erfuhr, daß der Landgraf Hermann sie nach Eisenach sende, um den berühmten Meister Klingsohr feierlich abzuholen und zu geleiten nach der Wartburg. Klingsohr hatte zur Nachtzeit sich auf einen hohen Erker in Helgrefens Hause begeben und mit großer Mühe und Sorgfalt die Sterne beobachtet. Als er nun seine astrologischen Linien zog, bemerkten ein paar Schüler der Astrologie, die sich zu ihm gefunden, an seinem seltsamen Blick, an seinem ganzen Wesen, daß irgendein wichtiges Geheimnis, welches er in den Sternen gelesen, in seiner Seele liege. Sie trugen keine Scheu, ihn darum zu befragen. Da stand Klingsohr auf von seinem Sitze und sprach mit feierlicher Stimme: "Wisset, daß in dieser Nacht dem Könige von Ungarn, Andreas dem Zweiten, ein Töchterlein geboren wurde. Die wird aber Elisabeth heißen und ob ihrer Frömmigkeit und Tugend heiliggesprochen werden in künftiger Zeit von dem Papst Gregor dem Neunten. Und die heilige Elisabeth ist erkoren zum Weibe Ludwigs, des Sohnes eures Herrn Landgrafen Hermann!"

Diese Prophezeiung wurde sogleich dem Landgrafen hinterbracht, der darüber tief bis in das Herz hinein erfreut war.

Er änderte auch seine Gesinnung gegen den berühmten Meister, dessen geheimnisvolle Wissenschaft ihm einen solchen schönen Hoffnungsstern aufgehen lassen, und beschloß, ihn mit allem Prunk, als sei er ein Fürst und hoher Herr, nach der Wartburg geleiten zu lassen.

Wolfframb meinte, daß nun wohl gar darüber die Entscheidung des Sängerkampfes auf Tod und Leben unterbleiben werde, zumal Heinrich von Ofterdingen sich noch gar nicht gemeldet. Die Ritter versicherten dagegen, daß der Landgraf schon Nachricht erhalten, wie Heinrich von Ofterdingen angekommen. Der innere Burghof werde zum Kampfplatz eingerichtet, und der Scharfrichter Stempel aus Eisenach sei auch schon nach der Wartburg beschieden.


Meister Klingsohr verläßt die Wartburg Entscheidung des Dichterkampfs

In einem schönen hohen Gemach auf der Wartburg saßen Landgraf Hermann und Meister Klingsohr im traulichen Gespräch Klingsohr versicherte-nochmals, daß er die Konstellation der vorigen Nacht, in die Elisabeths Geburt getreten, ganz und gar erschaut, und schloß mit dem Rat, daß Landgraf Hermann sofort eine Gesandtschaft an den König von Ungarn abschicken und für seinen eilfjährigen Sohn Ludwig um die neugeborne Prinzessin werben lassen solle. Dem Landgrafen gefiel dieser Rat sehr wohl, und als er nun des Meisters Wissenschaft rühmte, begann dieser von den Geheimnissen der Natur, von dem Mikrokosmus und Makrokosmus so gelehrt und herrlich zu sprechen, daß der Landgraf, selbst nicht ganz unerfahren in dergleichen Dingen, erfüllt wurde von der tiefsten Bewunderung. "Ei", sprach der Landgraf, "ei, Meister Klingsohr, ich möchte beständig Eures lehrreichen Umgangs genießen. Verlaßt das unwirtbare Siebenbürgen und zieht an meinen Hof, an dem, wie Ihr es einräumen werdet, Wissenschaft und Kunst höher geachtet werden als irgendwo. Die Meister des Gesanges

werden Euch aufnehmen wie ihren Herrn, denn wohl möget Ihr in dieser Kunst ebenso reich begabt sein als in der Astrologie und andern tiefen Wissenschaften. Also bleibt immer hier und gedenkt nicht zurückzukehren nach Siebenbürgen." — "Erlaubt", erwiderte Meister Klingsohr, "erlaubt, mein hoher Fürst, daß ich noch in dieser Stunde zurückkehren darf nach Eisenach und dann weiter nach Siebenbürgen. Nicht so unwirtbar ist das Land, als Ihr es glauben möget, und dann meinen Studien so recht gelegen. Bedenkt auch weiter, daß ich unmöglich meinem Könige, Andreas dem Zweiten, zu nahe treten darf, von dem ich ob meiner Bergwerkskunde, die ihm schon manchen an den edelsten Metallen reichen Schacht aufgetan, einen Jahrgehalt von dreitausend Mark Silber genieße und also lebe in der sorgenlosen Ruhe, die allein Kunst und Wissenschaft gedeihen läßt. Hier würde es nun, sollt ich auch wohl jenen Jahrgehalt entbehren können, nichts als Zank und Streit geben mit Euern Meistern. Meine Kunst beruht auf andern Grundfesten als die ihrige und will sich nun auch dann ganz anders gestalten von innen und außen. Mag es doch sein, daß ihr frommer Sinn und ihr reiches Gemüt (wie sie es nennen) ihnen genug ist zum Dichten ihrer Lieder und daß sie sich wie furchtsame Kinder nicht hinauswagen wollen in ein fremdes Gebiet, ich will sie darum gar nicht eben verachten, aber mich in ihre Reihe zu stellen, das bleibt unmöglich." — "So werdet Ihr", sprach der Landgraf, "doch noch dem Streit, der sich zwischen Euerm Schüler Heinrich von Ofterdingen und den andern Meistern entsponnen, als Schiedsrichter beiwohnen?" — "Mitnichten", erwiderte Klingsohr, "wie könnt ich denn das, und wenn ich es auch könnte, so würde ich es doch nie wollen. Ihr selbst, mein hoher Fürst, entscheidet den Streit, indem Ihr nur die Stimme des Volks bestätigt, die gewißlich laut werden wird. Nennt aber Heinrich von Ofterdingen nicht meinen Schüler. Es schien, als wenn er Mut und Kraft hätte, aber nur an der bittern Schale nagte er, ohne die Süßigkeit des Kerns zu schmecken! — Nun! — bestimmt getrost den Tag des Kampfes, ich werde dafür sorgen, daß Heinrich von Ofterdingen sich pünktlich gestelle."

Die dringendsten Bitten des Landgrafen vermochten nichts über den störrischen Meister. Er blieb bei seinen Entschlüssen und verließ, vom Landgrafen reichlich beschenkt, die Wartburg.

Der verhängnisvolle Tag, an dem der Kampf der Sänger beginnen und enden sollte, war gekommen. In dem Burghofe hatte man Schranken gebauet, beinahe als sollte es ein Turnier geben. Mitten im Kreise befanden sich zwei schwarz behängte Sitze für die kämpfenden Sänger, hinter denselben war ein hohes Schafott errichtet. Der Landgraf hatte zwei edle, des Gesanges kundige Herren vom Hofe, ebendieselben, die den Meister Klingsohr nach der Wartburg geleiteten, den Grafen Meinhard zu Mühlberg und den Schenken Walther von Vargel, zu Schiedsrichtern erwählt. Für diese und den Landgrafen war den Kämpfenden gegenüber ein hohes reichbehängtes Gerüst errichtet, dem sich die Sitze der Damen und der übrigen Zuschauer anschlossen. Nur den Meistern war, den kämpfenden Sängern und dem Schafott zur Seite, eine besondere, schwarz behängte Bank bestimmt.

Tausende von Zuschauern hatten die Plätze gefüllt, aus allen Fenstern der Wartburg, ja von den Dächern guckte die neugierige Menge herab. Unter dem dumpfen Schall gedämpfter Pauken und Trompeten kam der Landgraf, von den Schiedsrichtern begleitet, aus dem Tor der Burg und bestieg das Gerüst. Die Meister in feierlichem Zuge, Walther von der Vogelweid an der Spitze, nahmen die für sie bestimmte Bank ein. Auf dem Schafott stand mit zween Knechten der Scharfrichter aus Eisenach, Stempel, ein riesenhafter Kerl von wildem trotzigen Ansehen, in einen weiten blutroten Mantel gewickelt, aus dessen Falten der funkelnde Griff eines ungeheuren Schwerts hervorblickte. Vor dem Schafott nahm Pater Leonhard Platz, des Landgrafen Beichtiger, gesendet, um dem Besiegten beizustehen in der Todesstunde.

Ein ahnungsbanges Schweigen, in dem jeder Seufzer hörbar, ruhte auf der versammelten Menge. Man erwartete mit innerm Entsetzen das Unerhörte, das sich nun begeben sollte. Da trat, mit dem Zeichen seiner Würde angetan, des Landgrafen Marschall, Herr Franz von Waldstromer, hinein in den Kreis und verlas nochmals die Ursache des Streits und das unwiderrufliche Gebot des Landgrafen Hermann, nach welchem der im Gesange Besiegte hingerichtet werden solle mit dem Schwert. Pater Leonhard erhob das Kruzifix, und alle Meister, vor ihrer Bank mit entblößten Häuptern kniend, schworen, sich willig und freudig zu unterwerfen dem Gebot des Landgrafen Hermann. Sodann schwang der Scharfrichter Stempel das breite blitzfunkelnde Schwert dreimal durch die Lüfle und rief mit dröhnender Stimme: er wolle den, der ihm in die Hand gegeben, richten nach bestem Wissen und Gewissen. Nun erschallten die Trompeten, Herr Franz von Waldstromer trat in die Mitte des Kreises und rief dreimal stark und nachdrücklich: "Heinrich von Ofterdingen - Heinrich von Ofterdingen - Heinrich von Ofterdingen!"

Und als habe Heinrich unbemerkt dicht an den Schranken auf das Verhallen des letzten Rufs gewartet, so stand er plötzlich bei dem Marschall in der Mitte des Kreises. Er verneigte sich vor dem Landgrafen und sprach mit festem Ton, er sei gekommen, nach dem Willen des Landgrafen in den Kampf zu gehen mit dem Meister, der sich gegenüberstellen werde, und wolle sich unterwerfen dem Urteil der erwählten Schiedsrichter. Darauf trat der Marschall vor die Meister hin mit einem silbernen Gefäß, aus dem jeder ein Los ziehen mußte. Sowie Wolfframb von Eschinbach sein Los entwickelte, fand er das Zeichen des Meisters, der zum Kampf bestimmt sein sollte. Todesschrecken wollte ihn übermannen, als er gedachte, wie er nun gegen den Freund kämpfen sollte, doch bald war es ihm, als sei es ja eben die gnadenreiche Macht des Himmels, die ihn zum Kämpfer erwählt. Besiegt würde er ja gerne sterben, als Sieger aber auch eher selbst in den Tod gehen, als zugeben, daß Heinrich

von Ofterdingen unter der Hand des Henkers sterben solle. Freudig mit heitrem Antlitz begab er sich auf den Platz. Als er nun dem Freunde gegenübersaß und ihm ins Antlitz schaute, befiel ihn ein seltsames Grauen. Er sah des Freundes Züge, aber aus dem leichenblassen Gesicht funkelten unheimlich glühende Augen ihn an, er mußte an Nasias denken.

Heinrich von Ofterdingen begann seine Lieder, und Wolfframb wollte sich beinah entsetzen. als er dasselbe vernahm, was Nasias in jener verhängnisvollen Nacht gesungen. Er faßte sich jedoch mit Gewalt zusammen und antwortete seinem Gegner mit einem hochherrlichen Liede, daß der Jubel von tausend Zungen in die Lüfle emportönte und das Volk ihm schon den Sieg zuerkennen wollte. Auf den Befehl des Landgrafen mußte jedoch Heinrich von Oflerdingen weitersingen. Heinrich begann nun Lieder, die in den wunderlichsten Weisen solche Lust des Lebens atmeten, daß, wie von dem glutvollen Blütenhauch der Gewächse des fernen Indiens berührt, alle in süße Betäubung versanken. Selbst Wolfframb von Eschinbach fühlte sich entrückt in ein fremdes Gebiet, er konnte sich nicht auf seine Lieder, nicht mehr auf sich selbst besinnen. In dem Augenblick entstand am Eingange des Kreises ein Geräusch, die Zuschauer wichen auseinander. Wolfframb durchbebte ein elektrischer Schlag, er erwachte aus dem träumerischen Hinbrüten, er blickte hin, und o Himmel! eben schritt die Dame Mathilde in aller Holdseligkeit und Anmut, wie zu jener Zeit, als er sie zum erstenmal im Garten auf der Wartburg sah, in den Kreis. Sie warf den seelenvollsten Blick der innigsten Liebe auf ihn. Da schwang sich die Lust des Himmels, das glühendste Entzücken jubelnd empor in demselben Liede, womit er in jener Nacht den Bösen bezwungen. Das Volk erkannte ihm mit stürmischem Getöse den Sieg zu. Der Landgraf erhob sich mit den Schiedsrichtern. Trompeten ertönten, der Marschall nahm den Kranz aus den Händen des Landgrafen, um ihn dem Sänger zu bringen. Stempel rüstete sich, sein Amt

zu verrichten, aber die Schergen, die den Besiegten fassen wollten, griffen in eine schwarze Rauchwolke, die sich brausend und zischend erhob und schnell in den Lüften verdampfte. Heinrich von Ofterdingen war verschwunden auf unbegreifliche Weise. Verwirrt, Entsetzen auf den bleichen Gesichtern, lief alles durcheinander; man sprach von Teufelsgestalten, von bösem Spuk. Der Landgraf versammelte aber die Meister um sich und redete also zu ihnen: "Ich verstehe wohl jetzt, was Meister Klingsohr eigentlich gemeint hat, wenn er so seltsam und wunderlich über den Kampf der Sänger sprach und durchaus nicht selbst entscheiden wollte, und mag es ihm wohl Dank wissen, daß sich alles so fügte. Ist es nun Heinrich von Ofterdingen selbst gewesen, der sich in den Kampf stellte, oder einer, den Klingsohr sandte statt des Schülers, das gilt gleich. Der Kampf ist entschieden, euch zugunsten, ihr meine wackern Meister, und laßt uns nun in Ruhe und Einigkeit die herrliche Kunst des Gesanges ehren und nach Kräften fördern!"

Einige Diener des Landgrafen, die die Burgwacht gehabt, sagten aus, wie zur selben Stunde, als Wolfframb von Eschinbach den vermeintlichen Heinrich von Ofterdingen besiegt hatte, eine Gestalt, beinahe anzusehen wie Meister Klingsohr, auf einem schwarzen schnaubenden Rosse durch die Burgpforten davongesprengt sei.


Beschluß

Die Gräfin Mathilde hatte sich indessen nach dem Garten der Wartburg begeben, und Wolfframb von Eschinbach war ihr dahin nachgefolgt.

Als er sie nun fand, wie sie unter schönen blühenden Bäumen auf einer blumigen Rasenbank saß, die Hände auf dem Schoß gefaltet, das schöne Haupt in Schwermut niedergesenkt zur Erde, da warf er sich der holden Frau zu Füßen, keines Wortes mächtig. Mathilde umfing voll sehnsüchtigen Verlangens den Geliebten. Beide vergossen heiße Tränen

vor süßer Wehmut, vor Liebesschmerz. "Ach, Wolfframb", sprach Mathilde endlich, "ach, Wolfframb, welch ein böser Traum hat mich berückt, wie habe ich mich, ein unbedachtsames verblendetes Kind, hingegeben dem Bösen, der mir nachstellte? Wie habe ich mich gegen dich vergangen! Wirst du mir denn verzeihen können!"

Wolfframb schloß Mathilden in seine Arme und drückte zum erstenmal brennende Küsse auf den süßen Rosenmund der holdseligsten Frau. Er versicherte, wie sie fortwährend in seinem Herzen gelebt, wie er der bösen Macht zum Trotz ihr treu geblieben, wie nur sie allein, die Dame seiner Gedanken, ihn zu dem Liede begeistert, vor dem der Böse gewichen. "Oh", sprach Mathilde, "o mein Geliebter, laß es dir nur sagen, auf welche wunderbare Weise du mich errettet hast aus den bösen Schlingen, die mir gelegt. In einer Nacht, nur kurze Zeit ist darüber verstrichen, umfingen mich seltsame, grauenvolle Bilder. Selbst wußt ich nicht, war es Lust oder Qual, was meine Brust so gewaltsam zusammenpreßte, daß ich kaum zu atmen vermochte. Von unwiderstehlichem Drange getrieben, fing ich an, ein Lied aufzuschreiben, ganz nach der Art meines unheimlichen Meisters, aber da betäubte ein wunderliches, halb wohllautendes, halb widrigklingendes Getön meine Sinne, und es war, als habe ich statt des Liedes die schauerliche Formel aufgeschrieben, deren Bann die finstre Macht gehorchen müsse. Eine wilde entsetzliche Gestalt stieg auf, umfaßte mich mit glühenden Armen und wollte mich hinabreißen in den schwarzen Abgrund. Doch plötzlich leuchtete ein Lied durch die Finsternis, dessen Töne funkelten wie milder Sternenschimmer. Die finstre Gestalt hatte ohnmächtig von mir ablassen müssen, jetzt streckte sie aufs neue grimmig die glühenden Arme nach mir aus, aber nicht mich, nur das Lied, das ich gedichtet, konnte sie erfassen, und damit stürzte sie sich kreischend in den Abgrund. Dein Lied war es, das Lied, das du heute sangst, das Lied, vor dem der Böse weichen mußte, war es, was mich rettete. Nun bin ich ganz dein, meine Lieder sind nur

die treue Liebe zu dir, deren überschwengliche Seligkeit keine Worte zu verkünden vermögen!" — Aufs neue sanken sich die Liebenden in die Arme und konnten nicht aufhören, von der überstandnen Qual, von dem süßen Augenblick des Wiederfindens zu reden.

Mathilde hatte aber in derselben Nacht, in welcher Wolfframb den Nasias völlig überwand, im Traum das Lied deutlich gehört und verstanden, welches Wolfframb damals in der höchsten Begeisterung der innigsten frömmsten Liebe sang und dann auf der Wartburg, im Kampf seinen Gegner besiegend, wiederholte.

Wolfframb von Eschinbach saß zur späten Abendzeit einsam, auf neue Lieder sinnend, in seinem Gemach. Da trat sein Hauswirt Gottschalk zu ihm hinein und rief freudig: "0 mein edler, würdiger Herr, wie habt Ihr mit Eurer hohen Kunst doch den Bösen besiegt. Verlöscht von selbst sind die häßlichen Worte in Eurem Gemach. Tausend Dank sei Euch gezollt. — Aber hier trage ich etwas für Euch bei mir, das in meinem Hause abgegeben worden zur weiteren Förderung." Damit überreichte Gottschalk ihm einen zusammengefalteten, mit Wachs wohlversiegelten Brief.

Wolfframb von Eschinbach schlug den Brief auseinander. Er war von Heinrich von Ofterdingen und lautete also:

"Ich begrüße Dich, mein herzlicher Wolfframb! wie einer, der von der bösen Krankheit genesen ist, die ihm den schmerzlichsten Tod drohte. Es ist mir viel Seltsames begegnet, doch - laß mich schweigen über die Unbill einer Zeit, die hinter mir liegt wie ein dunkles, undurchdringliches Geheimnis. Du wirst noch der Worte gedenken, die Du sprachst, als ich mich voll törichten Übermuts der innern Kraft rühmte, die mich über Dich, über alle Meister erhöbe. Du sagtest damals, vielleicht würde ich mich plötzlich an dem Rande eines tiefen bodenlosen Abgrunds befinden, preisgegeben den Wirbeln des Schwindels und dem Absturz nahe; dann würdest Du festen Mutes hinter mir stehen und mich festhalten mit starken Armen. Wolfframb! es ist geschehen,

was Deine ahnende Seele damals weissagte. An dem Rande des Abgrundes stand ich, und Du hieltst mich fest, als schon verderbliche Schwindel mich betäubten. Dein schöner Sieg ist es, der, indem er Deinen Gegner vernichtete, mich dem frohen Leben wiedergab. Ja, mein Wolfframb! vor Deinem Liede sanken die mächtigen Schleier, die mich umhüllten, und ich schaute wieder zum heitern Himmel empor. Muß ich Dich denn deshalb nicht doppelt lieben? — Du hast den Klingsohr als hohen Meister erkannt. Er ist es; aber wehe dem, der nicht begabt mit der eigentümlichen Kraft, die ihm eigen, es wagt, ihm gleich entgegenzustreben dem finstern Reich, das er sich erschlossen. — Ich habe dem Meister entsagt, nicht mehr schwanke ich trostlos umher an den Ufern des Höllenflusses, ich bin wiedergegeben der süßen Heimat. — Mathilde! — Nein, es war wohl nicht die herrliche Frau. es war ein unheimlicher Spuk, der mich erfüllte mit trügerischen Bildern eitler irdischer Lust! — Vergiß, was ich im Wahnsinn tat. Grüße die Meister und sage ihnen, wie es jetzt mit mir steht. Lebe wohl, mein innig geliebter Wolfframb. Vielleicht wirst Du bald von mir hören!"

Einige Zeit war verstrichen, da kam die Nachricht nach der Wartburg, daß Heinrich von Ofterdingen sich am Hofe des Herzogs von Österreich, Leopolds des Siebenten, befinde und viele herrliche Lieder singe. Bald darauf erhielt der Landgraf Hermann eine saubere Abschrift derselben nebst den dabeigesetzten Singweisen. Alle Meister freuten sich herzinniglich, da sie überzeugt wurden, daß Heinrich von Ofterdingen allem Falschen entsagt und trotz aller Versuchung des Bösen doch sein reines frommes Sängergemüt bewahrt hatte.

So war es Wolfframbs von Eschinbach hohe, dem reinsten Gemüt entströmende Kunst des Gesanges, die im glorreichen Siege über den Feind die Geliebte rettete und den Freund vom böslichen Verderben.

Die Freunde urteilten über Cyprians Erzählung auf verschiedene Weise. Theodor verwarf sie ganz und gar. Er behauptete, Cyprian habe ihm das schöne Bild von dem im tiefsten Gemüt begeisterten Heinrich von Ofterdingen, wie Der herrliche Jüngling erscheine, so wie er ihn dargestellt, es ihm aus dem Novalis aufgegangen, durchaus verdorben. unstet, wild, im Innersten zerrissen, ja beinahe ruchlos. Vorzüglich aber tadelte Theodor, daß die Sänger vor lauter Anstalten zum Gesange gar nicht zum Singen kämen. Ottmar pflichtete ihm zwar bei, meinte indessen, daß wenigstens die Vision im Vorbericht serapiontisch zu nennen. Cyprian möge sich nur hüten, irgendeine alte Chronik aufzuschlagen, da solche Leserei ihn, wie Figura zeige, sehr leicht in ein fremdes Gebiet verlocke, in dem er, ein nicht heimischer Fremdling und mit keinem sonderlichen Ortsinn begabt, in allen nur möglichen Irrwegen umherschwanke, ohne jemals den richtigen Steg und Weg finden zu können.

Cyprian schnitt ein verdrießliches Gesicht, sprang heftig auf, trat vor den Kamin und war im Begriff, sein zusammengerolltes Manuskript in das lodernde Feuer zu werfen.

Da erhob sich Lothar, schritt rasch auf den verstimmten Freund los, drehte ihn bei den Schultern herum, laut auflachend, und sprach dann, einen feierlichen Ton annehmend: "Widerstehe, o mein Cyprianus! tapfer dem bösen Dichterhochmutsteufel, der dich eben zupft und dir allerlei häßliche Dinge in die Ohren raunt. Ich will dich anreden mit der Beschwörungsformel des wackern Junkers Tobias von Rülp. ,Komm, komm! Tuck, tuck! — Mann! es streitet gegen alle Ehrbarkeit, mit dem Teufel Knicker zu spielen. Fort mit dem garstigen Schornsteinfeger!' — Ha! Dein Gesicht heitert sich auf - du lächelst? — Siehst du nun wohl, wie ich Macht habe über den Bösen? —Aber nun will ich heilenden Balsam träufeln auf die Wunden, die dir der Freunde scharfe Reden geschlagen. Nennt Ottmar den Vorbericht serapiontisch, so möchte ich dasselbe von der Erscheinung Klingsohrs und des feurigen Teufels Nasias behaupten. Auch dünkt mir der

wimmernde automatische Sekretär kein zu verwerfender Schnörkel. Tadelt Theodor die Art, wie du den Heinrich von Ofterdingen dargestellt, so fandest du wenigstens zu deinem Bilde die Vorzeichnung im Wagenseil. Meinte er aber, daß die Sänger vor lauter Anstalten zum Gesange nicht zum Singen kommen, so weiß ich in der Tat nicht recht, was er damit sagen will. Er weiß es vielleicht selbst nicht. Ich will nämlich nicht hoffen, daß er von dir verlangt, du hättest einige Verslein als die von den Sängern gesungenen Lieder einschieben sollen. Eben daß du das nicht tatest, sondern es der Phantasie des Lesers überließest, sich die Gesänge selbst zu dichten, gereicht dir zum großen Lob. —Verslein in einer Erzählung wollen mir nämlich deshalb nicht behagen, weil sie in der Regel matt und lahm dazwischenhinken und das Ganze nur fremdartig unterbrechen. Der Dichter, die Schwäche des Stoffs an irgendeiner Stelle lebhaft fühlend, greift in der Angst nach den metrischen Krücken. Hilft er sich aber damit auch wirklich weiter, so ist solch ein Schreiten im gleichförmig wackelnden Klippklapp doch niemals der starke frische Schritt des Gesunden. Es ist aber wohl überhaupt eine eigne Mystifikation unserer Neueren, daß sie ihr Heil lediglich in dem äußern metrischen Bau suchen, nicht bedenkend, daß nur der wahrhaft poetische Stoff dem metrischen Fittich den Schwung gibt. Der somnambule Rausch, den wohlklingende Verse ohne weitern sonderlichen Inhalt zu bewirken imstande sind, gleicht dem, in den man wohl verfallen mag bei dem Klappern einer Mühle oder sonst! — Es schläft sich herrlich dabei! — Dies alles im Vorbeigehen gesagt für unsern musikalischen Freund Theodor, den oft der Wohlklang leerer Verse besticht und den oft selbst ein sonettischer Wahnsinn befällt, in dem er ganz verwunderliche automatische Ungeheuerchen schafft. — Nun zurück zu dir, o mein Cyprianus! — Brüste dich nicht mit deinem ,Kampf der Sänger', denn auch mir will das Ding nicht recht gefallen, aber gerade den Feuertod verdient es nicht! — Folge den Gesetzen des Landes, die die Mißgeburt verschonen, welche einen menschlichen Kopf hat. Und nun meine ich sogar, daß dein Kind nicht allein keine Mißgeburt zu nennen, sondern noch dazu nächst dem menschlichen Kopf auch nicht übel geformt ist, nur etwas schwächlich in den Gliederchen!"

Cyprian schob das Manuskript in die Tasche und sprach dann lächelnd: "Aber Freunde! kennt ihr denn nicht meine Art und Weise? Wißt ihr denn nicht, daß, wenn ich mich über etwanigen Tadel meiner Schöpfungen was weniges erbose, dies nur darum geschieht, weil ich ihre Schwäche und die Richtigkeit des Tadels recht lebhaft im Inneren fühle! — Doch aber nun kein Wort mehr von meiner Erzählung."

Die Freunde kamen im Gespräch bald auf den mystischen Vinzenz und seinen Wunderglauben zurück. Cyprian meinte, dieser Glauben müsse in jedem wahrhaft poetischen Gemüt wohnen, und ebendeshalb habe auch Jean Paul über den Magnetismus solche hochherrliche Worte ausgesprochen, daß eine ganze Welt voll hämischer Zweifel dagegen nicht aufkomme. Nur in der Poesie liege die tiefere Erkenntnis alles Seins. Die poetischen Gemüter wären die Lieblinge der Natur, und töricht sei es, zu glauben, daß sie zürnen solle, wenn diese Lieblinge darnach trachteten, das Geheimnis zu erraten, das sie mit ihren Schleiern bedecke, aber nur wie eine gute Mutter, die das köstliche Geschenk den Kindern verhüllt, damit sie sich desto mehr freuen sollen, wenn, ist ihnen die Enthüllung gelungen, die herrliche Gabe hervorfunkelt. "Doch nun", fuhr Cyprian fort, "vorzüglich dir, Ottmar, zu Gefallen, ganz praktisch gesprochen: Wem, der die Geschichte des Menschengeschlechts mit tieferm Blick durchspäht, kann es entgehen, daß, sowie eine Krankheit gleich einem verheerenden Ungeheuer hervortritt, die Natur selbst auch die Waffen herbeischafft, es zu bekämpfen, zu besiegen. Und kaum ist dies besiegt, als ein anderes Untier neues Verderben bereitet, und auch wieder neue Waffen werden erfunden, und so bewährt sich der ewige Kampf, der den Lebensprozeß, den Organismus der ganzen Welt bedingt.

— Wie, wenn in dieser alles vergeistigenden Zeit, in dieser Zeit, da die innige Verwandtschaft, der geheimnisvolle Verkehr des physischen und psychischen Prinzips klarer, bedeutender hervortritt, da jede Krankheit des Körpers sich ausspricht im psychischen Organismus, wie, wenn da der Magnetismus die im Geist geschaffene Waffe wäre, die uns die Natur selbst darreicht, das im Geist wohnende Übel zu bekämpfen?"

"Halt, halt", rief Ottmar, "wo geraten wir hin! — Schon viel zuviel schwatzten wir zuvor von einer Materie; die für uns doch ein fremdes Gebiet bleibt, in dem wir nur einige durch Farbe und Aroma verlockende Früchtlein pflücken zum poetischen Verbrauch oder woraus wir höchstens ein hübsches Bäumchen verpflanzen dürfen in unsern kleinen poetischen Garten. Wie freute ich mich, daß Cyprians Erzählung das ermüdende Gespräch unterbrach, und nun laufen wir Gefahr. tiefer hineinzufallen als vorher. — Von was anderm! — Doch still! — erst geb ich euch einen kleinen Pezzo von unseres Freundes mystischen Bemühungen, der euch munden wird. — Die Sache ist kürzlich diese. — Vor geraumer Zeit war ich in einen kleinen Abendzirkel geladen, den unser Freund mit einigen Bekannten gebildet. Geschäfte hielten mich auf, es war sehr spät geworden, als ich hinging. Desto mehr wunderte ich mich, daß, als ich vor die Stubentüre trat, drinnen auch nicht das kleinste Geräusch, nicht der leiseste Laut zu vernehmen war. Sollte denn noch niemand sich eingefunden haben? So dacht ich und drückte leise die Türe auf. Da sitzt mein Freund mir gegenüber mit den andern um einen kleinen Tisch herum. Und alle, steif und starr wie Bildsäulen, schauen totenbleich, im tiefsten Schweigen herauf in die Höhe. —Die Lichter stehen auf einem entfernten Tisch. Man bemerkt mich gar nicht. Voll Erstaunen trete ich näher. Da gewahre ich einen goldnen funkelnden Ring, der sich in den Lüften hin und her schwingt und dann sich im Kreise zu bewegen beginnt. Da murmelt dieser - jener: ,Wunderbar -inder Tat -unerklärlich -seltsam etc.'

Nun kann ich mich nicht länger halten, ich rufe laut: ,Aber um des Himmels willen, was habt ihr vor!'

Da fahren sie alle in die Höhe. aber Freund Vinzenz ruft mit seiner gehenden Stimme: ,Abtrünniger! — obskurer Nikodemus, der wie ein Nachtwandler hineinschleicht und die herrlichsten Experimente unterbricht! —Wisse, daß sich eben eine Erfahrung, die Ungläubige ohne weiteres in die Kategorie der fabelhaften Wunder stellten, auf das herrlichste bewährt hat. Es kam darauf an, bloß durch den fest fixierten Willen die Pendulschwingungen eines Ringes zu bestimmen. — Ich unternahm es. meinen Willen zu fixieren, und dachte fest die kreisförmige Schwingung. Lange, lange blieb der an einem seidnen Faden an der Decke befestigte Ring ruhig, doch endlich bewegte er sich in scharfer Diagonale nach mir her und begann eben den Kreis, als du uns unterbrachst.' — ,Wie', sprach ich, ,wie wär es aber, lieber Vinzenz, wenn nicht dein fester Wille. sondern der Luftzug, der hineinströmte, als ich die Türe öffnete, den halsstarrig still hängenden Ring zur Schwingung vermocht?' — ,0 Prosaiker. Prosaiker'. rief Vinzenz; aber alle lachten!"

"Ei", sprach Theodor, "die Pendulschwingungen des Ringes haben mich einmal halb wahnsinnig gemacht. Soviel ist nämlich gewiß, und jeder kann es versuchen, daß die Schwingungen eines goldnen einfachen Ringes, den man an einem feinen Faden über die flache Hand hält, sich ganz entschieden nach dem innern Willen bestimmen. Nicht beschreiben kann ich aber, wie tief, wie spukhaft diese Erfahrung auf mich wirkte. Unermüdlich ließ ich den Ring nach meinem Willen in den verschiedensten Richtungen sich schwingen. Zuletzt ging ich ganz phantastischerweise so weit, daß ich mir ein förmliches Orakel schuf. Ich dachte nämlich im Innern: Wird dies oder jenes geschehen, so soll der Ring die Diagonale vom kleinen Finger zum Daumen beschreiben, geschieht es nicht, aber die Fläche der Hand quer durchschneiden und so weiter."

"Allerliebst", rief Lothar, "du statuiertest also in deinem

eignen Innern ein höheres geistiges Prinzip, das, auf mystische Weise von dir beschworen, sich dir kundtun sollte. Da hast du den wahren spiritum familiärem, den Sokratischen Genius. — Nun gibt es nur noch einen ganz kleinen Schritt bis zu den wirklichen Gespenster- und Spukgeschichten, die sehr bequem in der Einwirkung eines fremden psychischen Prinzips ihren Grund finden können."

"Und", nahm Cyprian das Wort, "und diesen Schritt tue ich wirklich, indem ich euch auf der Stelle den wackersten Spuk auftische, den es jemals gegeben. — Die Geschichte hat das Eigentümliche, daß sie von glaubhaften Personen verbürgt ist und daß ich ihr allein die aufgeregte oder, wenn ihr wollt, verstörte Stimmung zuschreiben muß, die Lothar vorhin an mir bemerken wollte."

Cyprian stand auf und ging, wie er zu tun pflegte, wenn irgend etwas so sein ganzes inneres Gemüt erfüllte, daß er die Worte ordnen mußte, um es auszusprechen, im Zimmer einigemal auf und ab.

Die Freunde lächelten sich schweigend an. Man las in ihren Blicken: Was werden wir nur wieder Abenteuerliches hören!

Cyprian setzte sich und begann:


[Eine Spukgeschichte]

"Ihr wißt, daß ich mich vor einiger Zeit, und zwar kurz vor dem letzten Feldzuge, auf dem Gute des Obristen von P. befand. Der Obriste war ein muntrer jovialer Mann, so wie seine Gemahlin die Ruhe, die Unbefangenheit selbst.

Der Sohn befand sich, als ich dorten war, bei der Armee, so daß die Familie außer dem Ehepaar nur noch aus zwei Töchtern und einer alten Französin bestand, die eine Art von Gouvernante vorzustellen sich mühte, unerachtet die Mädchen schon über die Zeit des Gouvernierens hinaus schienen. Die älteste war ein munteres Ding, bis zur Ausgelassenheit lebendig, nicht ohne Geist, aber so wie sie nicht fünf Schritte gehen konnte, ohne wenigstens drei Entrechats

zu machen, so sprang sie auch im Gespräch, in all ihrem Tun rastlos von einem Dinge zum andern. Ich hab es erlebt, daß sie in weniger als zehn Minuten stickte - las - zeichnete - sang - tanzte - daß sie in einem Moment weinte um den armen Cousin, der in der Schlacht geblieben, und, die bittern Tränen noch in den Augen, in ein hell aufquiekendes Gelächter ausbrach, als die Französin unversehens ihre Tabaksdose über den kleinen Mops ausschüttete, der sofort entsetzlich zu niesen begann, worauf die Alte lamentierte: ,Ah che fatalità! — ah carino - poverino!' — Sie pflegte nämlich mit besagtem Mops nur in italienischer Zunge zu reden, da er aus Padua gebürtig - und dabei war das Fräulein die lieblichste Blondine, die es geben mag, und in allen ihren seltsamen Capriccios voll Anmut und Liebenswürdigkeit, so daß sie überall einen unwiderstehlichen Zauber übte, ohne es zu wollen.

Das seltsamste Widerspiel bildete die jüngere Schwester, Adelgunde geheißen. Vergebens ringe ich nach Worten, euch den ganz eignen wunderbaren Eindruck zu beschreiben, den das Mädchen auf mich machte, als ich sie zum ersten Male sah. Denkt euch die schönste Gestalt, das wunderherrlichste Antlitz. Aber eine Totenblässe liegt auf Lipp und Wangen, und die Gestalt bewegt sich leise, langsam, gemessenen Schrittes, und wenn dann ein halblautes Wort von den kaum geöffneten Lippen ertönt und im weiten Saal verklingt, fühlt man sich von gespenstischen Schauern durchbebt. — Ich überwand wohl bald diese Schauer und mußte, als ich das tief in sich gekehrte Mädchen zum Sprechen vermocht, mir selbst gestehen, daß das Seltsame, ja Spukhafte dieser Erscheinung nur im Äußern liege, keinesweges sich aber aus dem Innern heraus offenbare. In dem wenigen, was das Mädchen sprach, zeigte sich ein zarter weiblicher Sinn, ein heller Verstand, ein freundliches Gemüt. Keine Spur irgendeiner Überspannung war zu finden, wiewohl das schmerzliche Lächeln, der tränenschwere Blick wenigstens irgendeinen physischen Krankheitszustand, der auch auf das Gemüt des zarten Kindes feindlich einwirken

mußte, vermuten ließ. Sehr sonderbar fiel es mir auf, daß die Familie, keinen, selbst die alte Französin nicht, ausgeschlossen, beängstet schien, sowie man mit dem Mädchen sprach, und versuchte, das Gespräch zu unterbrechen, sich darin manchmal auf gar erzwungene Weise einmischend. Das seltsamste war aber, daß, sowie es abends acht Uhr geworden. das Fräulein erst von der Französin, dann von Mutter, Schwester, Vater gemahnt wurde, sich in ihr Zimmer zu begeben, wie man kleine Kinder zu Bette treibt, damit sie nicht übermüden, sondern fein ausschlafen. Die Französin begleitete sie, und so kam es, daß beide niemals das Abendessen, welches um neun Uhr angerichtet wurde, abwarten durften. — Die Obristin, meine Verwunderung wohl bemerkend, warf einmal, um jeder Frage vorzubeugen, leichthin, daß Adelgunde viel kränkle, daß sie vorzüglich abends um neun Uhr von Fieberanfällen heimgesucht werde und daß daher der Arzt geraten, sie zu dieser Zeit der unbedingtesten Ruhe zu überlassen. — Ich fühlte, daß es noch eine ganz andere Bewandtnis damit haben müsse, ohne irgend Deutliches ahnen zu können; Erst heute erfuhr ich den wahren entsetzlichen Zusammenhang der Sache und das Ereignis, das den kleinen glücklichen Familienkreis auf furchtbare Weise verstört hat.

Adelgunde war sonst das blühendste munterste Kind, das man nur sehen konnte. Ihr vierzehnter Geburtstag wurde gefeiert, eine Menge Gespielinnen waren dazu eingeladen. — Die sitzen in dem schönen Boskett des Schloßgartens im Kreise umher und scherzen und lachen und kümmern sich nicht darum, daß immer finstrer und finstrer der Abend heraufzieht, da die lauen Juliuslüfte erquickend wehen und erst jetzt ihre Lust recht aufgeht. In der magischen Dämmerung beginnen sie allerlei seltsame Tänze, indem sie Elfen und andere flinke Spukgeister vorstellen wollen. ,Hört', ruft Adelgunde, als es im Boskett ganz finster geworden, ,hört, Kinder, nun will ich euch einmal als die Weiße Frau erscheinen, von der unser alte verstorbene Gärtner so oft erzählt hat. Aber da müßt ihr mit mir kommen bis ans Ende des

Gartens, dorthin, wo das alte Gemäuer steht.' — Und damit wickelt sie sich in ihren weißen Shawl und schwebt leichtfüßig fort durch den Laubgang, und die Mädchen laufen ihr nach in vollem Schäkern und Lachen. Aber kaum ist Adelgunde an das alte, halb eingefallene Gewölbe gekommen, als sie erstarrt - gelähmt an allen Gliedern stehenbleibt. Die Schloßuhr schlägt neun. ,Seht ihr nichts', ruft Adelgunde mit dem dumpfen hohlen Ton des tiefsten Entsetzens, ,seht ihr nichts -die Gestalt -die dicht vor mir steht -Jesus! — sie streckt die Hand nach mir aus - seht ihr denn nichts?' —Die Kinder sehen nicht das mindeste, aber alle erfaßt Angst und Grauen. Sie rennen fort, bis auf eine, die, die beherzteste, sich ermutigt, auf Adelgunden zuspringt, sie in die Arme fassen will. Aber in dem Augenblick sinkt Adelgunde totähnlich zu Boden. Auf des Mädchens gellendes Angstgeschrei eilt alles aus dem Schlosse herzu. Man bringt Adelgunde hinein. Sie erwacht endlich aus der Ohnmacht und erzählt, an allen Gliedern zitternd, daß, kaum sei sie vor das Gewölbe getreten, dicht vor ihr eine luftige Gestalt, wie in Nebel gehüllt, gestanden und die Hand nach ihr ausgestreckt habe. — Was war natürlicher, als daß man die ganze Erscheinung den wunderbaren Täuschungen des dämmernden Abendlichts zuschrieb. Adelgunde erholte sich in derselben Nacht so ganz und gar von ihrem Schreck, daß man durchaus keine böse Folgen befürchtete, sondern die ganze Sache für völlig abgetan hielt. — Wie ganz anders begab sich alles! — Kaum schlägt es den Abend darauf neun Uhr, als Adelgunde mitten in der Gesellschaft, die sie umgibt, entsetzt aufspringt und ruft: ,Da ist es -da ist es - seht ihr denn nichts! —dicht vor mir steht es!' —Genug, seit jenem unglückseligen Abende behauptete Adelgunde, sowie es abends neune schlug, daß die Gestalt dicht vor ihr stehe und einige Sekunden weile, ohne daß irgendein Mensch außer ihr auch nur das mindeste wahrnehmen konnte oder in irgendeiner psychischen Empfindung die Nähe eines unbekannten geistigen Prinzips gespürt haben sollte. Nun wurde die arme Adelgunde für wahnsinnig gehalten, und die Familie schämte sich in seltsamer Verkehrtheit dieses Zustandes der Tochter, der Schwester. Daher jene sonderbare Art, sie zu behandeln, deren ich erst erwähnte. Es fehlte nicht an Ärzten und an Mitteln, die das arme Kind von der fixen Idee, wie man die von ihr behauptete Erscheinung zu nennen beliebte, befreien sollten, aber alles blieb vergebens, und sie bat unter vielen Tränen, man möge sie doch nur in Ruhe lassen, da die Gestalt, die in ihren ungewissen unkenntlichen Zügen an und vor sich selbst gar nichts Schreckliches habe, ihr kein Entsetzen mehr errege, wiewohl es jedesmal nach der Erscheinung ihr zumute sei, als wäre ihr Innerstes mit allen Gedanken hinausgewendet und schwebe körperlos außer ihr selbst umher, wovon sie krank und matt werde. — Endlich machte der Obrist die Bekanntschaft eines berühmten Arztes, der in dem Ruf stand, Wahnsinnige auf eine überaus pfiffige Weise zuheilen. Als der Obrist diesem entdeckt hatte, wie es sich mit der armen Adelgunde begebe, lachte er laut auf und meinte, nichts sei leichter, als diesen Wahnsinn zu heilen, der bloß in der überreizten Einbildungskraft seinen Grund finde. Die Idee der Erscheinung des Gespenstes sei mit dem Ausschlagen der neunten Abendstunde so fest verknüpft, daß die innere Kraft des Geistes sie nicht mehr trennen könne, und es käme daher nur darauf an, diese Trennung von außen her zu bewirken. Dies könne aber nun wieder sehr leicht dadurch geschehen, daß man das Fräulein in der Zeit täusche und die neunte Stunde vorübergehen lasse, ohne daß sie es wisse. Wäre dann das Gespenst nicht erschienen, so würde sie selbst ihren Wahn einsehen, und physische Erkräftigungsmittel würden dann die Kur glücklich vollenden. — Der unselige Rat wurde ausgeführt! — In einer Nacht stellte man sämtliche Uhren im Schlosse, ja selbst die Dorfuhr, deren dumpfe Schläge herabsummten, um eine Stunde zurück, so daß Adelgunde, sowie sie am frühen Morgen erwachte, in der Zeit um eine Stunde irren mußte. Der Abend kam heran. Die kleine Familie war wie gewöhnlich in einem heiter verzierten Eckzimmer versammelt, kein Fremder zugegen. Die Obristin mühte sich, allerlei Lustiges zu erzählen, der Obrist fing an, wie es seine Art war, wenn er vorzüglich bei Laune, die alte Französin ein wenig aufzuziehen, worin ihm Auguste (das ältere Fräulein) beistand. Man lachte, man war fröhlicher als je. —Da schlägt die Wanduhr achte (es war also die neunte Stunde), und leichenblaß sinkt Adelgunde in den Lehnsessel zurück - das Nähzeug entfällt ihren Händen! Dann erhebt sie sich, alle Schauer des Entsetzens im Antlitz. starrt hin in des Zimmers öden Raum, murmelt dumpf und hohl: —,Was! —eine Stunde früher? — ha, seht ihr's? — seht ihr's? — da steht es dicht vor mir - dicht vor mir!' — Alle fahren auf, vom Schrecken erfaßt, aber als niemand auch nur das mindeste gewahrt, ruft der Obrist: ,Adelgunde! — fasse dich! — es ist nichts, es ist ein Hirngespinst, ein Spiel deiner Einbildungskraft, was dich täuscht, wir sehen nichts, gar nichts und müßten wir, ließe sich wirklich dicht vor dir eine Gestalt erschauen, müßten wir sie nicht ebensogut wahrnehmen als du? — Fasse dich — fasse dich, Adelgunde!' —,0 Gott - o Gott', seufzt Adelgunde, ,will man mich denn wahnsinnig machen! —Seht, da streckt es den weißen Arm lang aus nach mir - es winkt.' — Und wie willenlos, unverwandten starren Blickes, greift nun Adelgunde hinter sich, faßt einen kleinen Teller, der zufällig auf dem Tische steht, reicht ihn vor sich hin in die Luft, läßt ihn los - und der Teller, wie von unsichtbarer Hand getragen, schwebt langsam im Kreise der Anwesenden umher und läßt sich dann leise auf den Tisch nieder! — Die Obristin, Auguste lagen in tiefer Ohnmacht, der ein hitziges Nervenfieber folgte. Der Obrist nahm sich mit aller Kraft zusammen, aber man merkte wohl an seinem verstörten Wesen die tiefe feindliche Wirkung jenes unerklärlichen Phänomens.

Die alte Französin hatte, auf die Knie gesunken, das Gesicht zur Erde gebeugt, still gebetet, sie blieb so wie Adelgunde frei von allen bösen Folgen. In kurzer Zeit war die

Obristin hingerafft. Auguste überstand die Krankheit, aber wünschenswerter war gewiß ihr Tod als ihr jetziger Zustand. — Sie, die volle herrliche Jugendlust selbst, wie ich sie erst beschrieben, ist von einem Wahnsinn befallen, der mir wenigstens grauenvoller, entsetzlicher vorkommt als irgendeiner, den jemals eine fixe Idee erzeugte. Sie bildet sich nämlich ein, sie sei jenes unsichtbare körperlose Gespenst Adelgundens, flieht daher alle Menschen oder hütet sich wenigstens, sobald ein anderer zugegen, zu reden, sich zu bewegen. Kaum wagt sie es zu atmen, denn fest glaubt sie, daß, verrate sie ihre Gegenwart auf diese, jene Weise, jeder vor Entsetzen des Todes sein müsse. Man öffnet ihr die Türe, man setzt ihr Speisen hin, dann schlüpft sie verstohlen hinein und heraus - ißt ebenso heimlich und so weiter. Kann ein Zustand qualvoller sein?

Der Obrist, ganz Gram und Verzweiflung, folgte den Fahnen zum neuen Feldzuge. Er blieb in der siegreichen Schlacht bei W. — Merkwürdig, höchst merkwürdig ist es, daß Adelgunde seit jenem verhängnisvollen Abend von dem Phantom befreit ist. Sie pflegt getreulich die kranke Schwester, und ihr steht die alte Französin bei. So wie Sylvester mir heute sagte, ist der Oheim der armen Kinder hier, um mit unserm wackern R—über die Kurmethode, die man allenfalls bei Augusten versuchen könne, zu Rate zu gehen. —Gebe der Himmel, daß die unwahrscheinliche Rettung möglich."



Cyprian schwieg, und auch die Freunde blieben still, indem sie gedankenvoll vor sich hinschauten. Endlich brach Lothar los: "Das ist ja eine ganz verdammte Spukgeschichte! — Aber ich kann's nicht leugnen, mir bebt die Brust, unerachtet mir das ganze Ding mit dem schwebenden Teller kindisch und abgeschmackt bedünken will." —"Nicht so rasch", nahm Ottmar das Wort, "nicht so rasch, lieber Lothar! — Du weißt, was ich von Spukgeschichten halte, du weißt, daß ich mich gegen alle Visionärs damit brüste, daß die Geisterwelt, unerachtet ich sie oft mit verwogener Keckheit in die Schranken rief, noch niemals sich bemühte, mich für meinen Frevel zu züchtigen, aber Cyprians Erzählung gibt einen ganz andern Punkt zu bedenken als den der bloßen chimärischen Spukerei. — Mag es mit Adelgundens Phantom, mages mit dem schwebenden Teller dann nun eine Bewandtnis gehabt haben, welche es wolle, genug, die Tatsache bleibt stehen: daß sich an jenem Abende in dem Kreise der Familie des Obristen von P. etwas zutrug, worüber drei Personen zu gleicher Zeit in einen solchen verstörten Gemütszustand gerieten, der bei einer den Tod, bei der andern Wahnsinn herbeiführte, wollen wir nicht auch, wenigstens mittelbar, den Tod des Obristen jenem Ereignis zuschreiben. Denn eben fällt mir ein, von Offizieren gehört zu haben, der Obrist sei beim Angriff plötzlich, wie von Furien getrieben, ins feindliche Feuer hineingesprengt. Nun ist aber auch die Geschichte mit dem Teller so ohne alle Staffierung gewöhnlicher Spukgeschichten, selbst die Stunde allem spukischen Herkommen entgegen und das Ganze so ungesucht, so einfach, daß gerade in der Wahrscheinlichkeit, die das Unwahrscheinlichste dadurch erhält, für mich das Grauenhafte liegt. Doch nehmen wir an, daß Adelgundens Einbildung Vater, Mutter, Schwester mit fortriß, daß der Teller nur innerhalb ihres Gehirns im Kreise umherschwebte, wäre diese Einbildung, in einem Moment wie ein elektrischer Schlag drei Personen zum Tode treffend, nicht eben der entsetzlichste Spuk, den es geben könnte?"

"Allerdings", sprach Theodor, "und ich teile mit dir, Ottmar, das lebhafte Gefühl, daß gerade in der Einfachheit der Geschichte ihre tiefsten Schauer liegen. — Ich kann mir es denken, daß ich den plötzlichen Schreck irgendeiner grauenhaften Erscheinung wohl ertragen könnte, das unheimliche, den äußern Sinn in Anspruch nehmende Treiben eines unsichtbaren Wesens würde mich dagegen unfehlbar wahnsinnig machen. Es ist das Gefühl der gänzlichen hülflosesten Ohnmacht, das den Geist zermalmen müßte. Ich erinnere

mich, daß ich dem tiefsten Grausen kaum widerstehen konnte, daß ich wie ein einfältiges verschüchtertes Kind nicht allein in meinem Zimmer schlafen mochte, als ich einst von einem alten Musiker las, den ein entsetzlicher Spuk mehrere Zeit hindurch verfolgte und ihn auch beinahe zum hellen Wahnsinn trieb. Nachts spielte nämlich ein unsichtbares Wesen auf seinem Flügel die wunderbarsten Kompositionen mit der Kraft und Fertigkeit des vollendeten Meisters. Er hörte jeden Ton, er sah, wie die Tasten niedergedrückt wurden, wie die Saiten zitterten, aber nicht den leisesten Schimmer einer Gestalt."

"Nein", rief Lothar, "nein, es ist nicht auszuhalten, wie das Tolle wieder unter uns lustig fortwuchert! — Ich hab es euch gestanden, daß mir der verdammte Teller das Innerste aufgeregt hat. Ottmar hat recht; hält man sich nur an das Resultat irgendeines Ereignisses, das sich wirklich begeben, so ist dies Resultat der gräßlichste Spuk, den es geben kann. Ich verzeihe deshalb unserm Cyprian die verstörte Stimmung, die er beim Eintreten merken ließ, die aber jetzt schon ziemlich nachgelassen. Doch jetzt kein Wort mehr von allem gespenstischen Unwesen. — Schon längst bemerke ich, daß Ottmarn ein Manuskript aus der Busentasche hervorkuckt, auf Erlösung hoffend. Mager es denn erlösen?"

"Nein, nein", sprach Theodor, "der Strom, der in krausen Wellen daherbrauste, muß sanft abgeleitet werden, und dazu ist ein Fragment sehr tauglich, das ich vor langer Zeit, besonders dazu angeregt, aufschrieb. Es kommt viel Mystisches darin vor, an psychischen Wundern und seltsamen Hypothesen ist auch gar kein Mangel, und doch lenkt es hübsch ein ins gewöhnliche Leben." Theodor las:


Die Automate

Der redende Türke machte allgemeines Aufsehen, ja er brachte die ganze Stadt in Bewegung, denn jung und alt,

vornehm und gering strömte vom Morgen bis in die Nacht hinzu, um die Orakelsprüche zu vernehmen, die von den starren Lippen der wunderlichen lebendigtoten Figur den Neugierigen zugeflüstert wurden. Wirklich war auch die ganze Einrichtung des Automats von der Art, daß jeder das Kunstwerk von allen ähnlichen Tändeleien, wie sie wohl öfters auf Messen und Jahrmärkten gezeigt werden, gar sehr unterscheiden und sich davon angezogen fühlen mußte. In der Mitte eines nicht eben großen, nur mit dem notwendigsten Gerät versehenen Zimmers saß die lebensgroße, wohlgestaltete Figur in reicher geschmackvoller türkischer Kleidung auf einem niedrigen, wie ein Dreifuß geformten Sessel, den der Künstler auf Verlangen wegrückte, um jede Vermutung der Verbindung mit dem Fußboden zu widerlegen, die linke Hand zwanglos auf das Knie, die rechte dagegen auf einen kleinen freistehenden Tisch gelegt. Die ganze Figur war, wie gesagt, in richtigen Verhältnissen wohlgestaltet, allein vorzüglich war der Kopf gelungen; eine wahrhaft orientalisch geistreiche Physiognomie gab dem Ganzen ein Leben, wie man es selten bei Wachsbildern, wenn sie selbst den charaktervollen Gesichtern geistreicher Menschen nachgeformt sind, findet. Ein leichtes Geländer umschloß das Kunstwerk und wehrte den Anwesenden das nahe Hinzutreten, denn nur der, welcher sich von der Struktur des Ganzen, soweit es der Künstler sehen lassen konnte, ohne sein Geheimnis zu verraten, überzeugen wollte, oder der eben Fragende durfte in das Innere und dicht an die Figur treten. Hatte man, wie es gewöhnlich war, dem Türken die Frage ins rechte Ohr geflüstert, so drehte er erst die Augen, dann aber den ganzen Kopf nach dem Fragenden hin, und man glaubte an dem Hauch zu fühlen, der aus dem Munde strömte, daß die leise Antwort wirklich aus dem Innern der Figur kam. Jedesmal wenn einige Antworten gegeben worden, setzte der Künstler einen Schlüssel in die linke Seite der Figur ein und zog mit vielem Geräusch ein Uhrwerk auf. Hier öffnete er auch auf Verlangen eine Klappe, und man erblickte im Innern der Figur ein künstliches Getriebe von vielen Rädern, die nun wohl auf das Sprechen des Automaten durchaus keinen Einfluß hatten, indessen doch augenscheinlich so viel Platz einnahmen, daß sich in dem übrigen Teil der Figur unmöglich ein Mensch, war er auch kleiner als der berühmte Zwerg Augusts, der aus der Pastete kroch, verbergen konnte. Nächst der Bewegung des Kopfs, die jedesmal vor der Antwort geschah, pflegte der Türke auch zuweilen den rechten Arm zu erheben und entweder mit dem Finger zu drohen oder mit der ganzen Hand gleichsam die Frage abzuweisen. Geschah dieses, so konnte nur das wiederholte Andringen des Fragers eine mehrenteils zweideutige oder verdrießliche Antwort bewirken, und eben auf diese Bewegungen des Kopfs und Armes mochte sich wohl jenes Räderwerk beziehen, unerachtet auch hier die Rückwirkung eines denkenden Wesens unerläßlich schien. Man erschöpfte sich in Vermutungen über das Medium der wunderbaren Mitteilung, man untersuchte Wände, Nebenzimmer, Gerät, alles vergebens. Die Figur, der Künstler waren von den Argusaugen der geschicktesten Mechaniker umgeben, aber je mehr er sich auf diese Art bewacht merkte, desto unbefangener war sein Betragen. Er sprach und scherzte in den entlegensten Ecken des Zimmers mit den Zuschauern und ließ seine Figur wie ein ganz für sich bestehendes Wesen, das irgendeiner Verbindung mit ihm nicht bedürfe, ihre Bewegungen machen und Antworten erteilen; ja, er konnte sich eines gewissen ironischen Lächelns nicht enthalten, wenn der Dreifuß und der Tisch auf allen Seiten herumgedreht und durchgeklopft, ja in die herabgenommene und weiter ans Licht gebrachte Figur mit Brillen und Vergrößerungsgläsern hineingeschaut wurde und dann die Mechaniker versicherten, der Teufel möge aus dem wunderlichen Räderbau klug werden. Alles blieb vergebens, und die Hypothese, daß der Hauch, der aus dem Munde der Figur ströme, leicht durch verborgene Ventile hervorgebracht werden könne und der Künstler selbst als ein trefflicher Bauchredner die Antworten erteile, wurde gleich dadurch vernichtet, daß der Künstler in demselben Augenblick, als der Türke eben eine Antwort erteilte, mit einem der Zuschauer laut und vernehmlich sprach. Unerachtet der geschmackvollen Einrichtung und des höchst Rätselhaften, Wunderbaren, was in dem ganzen Kunstwerke lag, hätte das Interesse des Publikums daran doch wohl bald nachgelassen, wäre es dem Künstler nicht möglich gewesen, auf eine andere Weise die Zuschauer immer aufs neue an sich zu ziehen. Dieses lag nun in den Antworten selbst, welche der Türke erteilte und die jedesmal mit tiefem Blick in die Individualität des Fragenden bald trocken, bald ziemlich grob spaßhaft und dann wieder voll Geist und Scharfsinn und wunderbarerweise bis zum Schmerzhaften treffend waren. Oft überraschte ein mystischer Blick in die Zukunft, der aber nur von dem Standpunkt möglich war, wie ihn sich der Fragende selbst tief im Gemüt gestellt hatte. Hierzu kam, daß der Türke oft, deutsch gefragt, doch in einer fremden Sprache antwortete, die aber eben dem Fragenden ganz geläufig war, und man fand alsdann, daß es kaum möglich war, die Antwort so rund, so in wenigen Worten viel umfassend, anders zu geben als eben in der gewählten Sprache. Kurz, jeden Tag wußte man von neuen geistreichen, treffenden Antworten des weisen Türken zu erzählen, und ob die geheimnisvolle Verbindung des lebenden menschlichen Wesens mit der Figur oder nicht vielmehr eben dies Eingehen in die Individualität der Fragenden und überhaupt der seltene Geist der Antworten wunderbarer sei, das wurde in der Abendgesellschaft eifrigst besprochen, in welcher sich gerade die beiden akademischen Freunde Ludwig und Ferdinand befanden. Beide mußten zu ihrer Schande eingestehen, den Türken noch nicht besucht zu haben, ungeachtet es gewissermaßen zum guten Ton gehörte, hinzugehen und die mirakulösen Antworten, die man auf verfängliche Fragen erhalten, überall aufzutischen. "Mir sind", sagte Ludwig, "alle solche Figuren, die dem Menschen nicht sowohl nachgebildet sind, als das Menschliche nachäffen, diese wahren Standbilder eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens, im höchsten Grade zuwider. Schon in früher Jugend lief ich weinend davon, als man mich in ein Wachsfigurenkabinett führte, und noch kann ich kein solches Kabinett betreten, ohne von einem unheimlichen grauenhaften Gefühl ergriffen zu werden. Mit Macbeths Worten möchte ich rufen: ,Was starrst du mich an mit Augen ohne Sehkraft?', wenn ich die stieren, toten, gläsernen Blicke all der Potentaten, berühmten Helden und Mörder und Spitzbuben auf mich gerichtet sehe, und ich bin überzeugt, daß die mehrsten Menschen dies unheimliche Gefühl. wenn auch nicht in dem hohen Grade, wie es in mir waltet, mit mir teilen, denn man wird finden, daß im Wachsfigurenkabinett auch die größte Menge Menschen nur ganz leise flüstert, man hört selten ein lautes Wort; aus Ehrfurcht gegen die hohen Häupter geschieht dies nicht, sondern es ist nur der Druck des Unheimlichen, Grauenhaften, der den Zuschauern jenes Pianissimo abnötigt. Vollends sind mir die durch die Mechanik nachgeahmten menschlichen Bewegungen toter -Figuren sehr fatal, und ich bin überzeugt, daß euer wunderbarer geistreicher Türke mit seinem Augenverdrehen, Kopfwenden und Armerheben mich wie ein negromantisches Ungetüm vorzüglich in schlaflosen Nächten verfolgen würde. Ich mag deshalb nicht hingehen und will mir lieber alles Witzige und Scharfsinnige, was er diesem oder jenem gesagt, erzählen lassen."

"Du weißt", nahm Ferdinand das Wort, "daß alles, was du von dem tollen Nachäffen des Menschlichen, von den lebendigtoten Wachsfiguren gesagt hast, mir recht aus der Seele gesprochen ist. Allein bei den mechanischen Automaten kommt es wirklich sehr auf die Art und Weise an, wie der Künstler das Werk ergriffen hat. Einer der vollkommensten Automate, die ich je sah, ist der Enslersche Voltigeur, allein so wie seine kraftvollen Bewegungen wahrhaft imponierten, ebenso hatte sein plötzliches Sitzenbleiben auf dem Seil, sein freundliches Nicken mit dem Kopfe etwas höchst

Skurriles. Gewiß hat niemanden jenes grauenhafte Gefühl ergriffen, das solche Figuren, vorzüglich bei sehr reizbaren Personen, nur zu leicht hervorbringen. Was nun unsern Türken betrifft, so hat es meines Bedünkens mit ihm eine andere Bewandtnis. Seine, nach der Beschreibung aller, die ihn sahen, höchst ansehnliche, ehrwürdige Figur ist etwas ganz Untergeordnetes, und sein Augenverdrehen und Kopfwenden gewiß nur da, um unsere Aufmerksamkeit ganz auf ihn, wo gerade der Schlüssel des Geheimnisses nicht zu finden ist, hinzulenken. Daß der Hauch aus dem Munde des Türken strömt, ist möglich oder vielleicht gewiß, da die Erfahrung es beweist; hieraus folgt aber noch nicht, daß jener Hauch wirklich von den gesprochenen Worten erregt wird. Es ist gar kein Zweifel, daß ein menschliches Wesen vermöge uns verborgener und unbekannter akustischer und optischer Vorrichtungen mit dem Fragenden in solcher Verbindung steht, daß es ihn sieht, ihn hört und ihm wieder Antworten zuflüstern kann. Daß noch niemand, selbst unter unsern geschickten Mechanikern, auch nur im mindesten auf die Spur gekommen, wie jene Verbindung wohl hergestellt sein kann, zeigt, daß des Künstlers Mittel sehr sinnreich erfunden sein müssen, und so verdient von dieser Seite sein Kunstwerk allerdings die größte Aufmerksamkeit. Was mir aber viel wunderbarer scheint und mich in der Tat recht anzieht, das ist die geistige Macht des unbekannten menschlichen Wesens, vermöge dessen es in die Tiefe des Gemüts des Fragenden zu dringen scheint - es herrscht oft eine Kraft des Scharfsinns und zugleich ein grausenhaftes Helldunkel in den Antworten, wodurch sie zu Orakelsprüchen im strengsten Sinn des Worts werden. Ich habe von mehrern Freunden in dieser Hinsicht Dinge gehört, die mich in das größte Erstaunen setzten, und ich kann nicht länger dem Drange widerstehen, den wundervollen Sehergeist des Unbekannten selbst auf die Probe zu stellen, weshalb ich mich entschlossen, morgen vormittags hinzugehen, und dich hiermit, lieber Ludwig! feierlichst eingeladen haben will, alle Scheu vor lebendigen Puppen abzulegen und mich zu begleiten."

Sosehr sich Ludwig sträubte, mußte er doch, um nicht für einen Sonderling gehalten zu werden, nachgeben, als mehrere auf ihn einstürmten, ja sich nicht von der belustigenden Partie auszuschließen und im Verein mit ihnen morgen dem mirakulösen Türken recht auf den Zahn zu fühlen. Ludwig und Ferdinand gingen wirklich mit mehreren muntern Jünglingen, die sich deshalb verabredet, hin. Der Türke, dem man orientalische Grandezza gar nicht absprechen konnte und dessen Kopf, wie gesagt, so äußerst wohlgelungen. war, kam Ludwigen doch im Augenblick des Eintretens höchst possierlich vor, und als nun vollends der Künstler den Schlüssel in die Seite einsetzte und die Räder zu schnurren anfingen, wurde ihm das ganze Ding so abgeschmackt und verbraucht, daß er unwillkürlich ausrief: "Ach, meine Herren! hören Sie doch, wir haben höchstens Braten im Magen, aber die türkische Exzellenz da einen ganzen Bratenwender dazu Alle lachten, und der Künstler, dem der Scherz nicht zu gefallen schien, ließ sogleich vom--weitern-Aufziehen des Räderwerks ab. Scies nun, daß die joviale Stimmung der Gesellschaft dem weisen Türken mißfiel oder daß er den Morgen gerade nicht bei Laune war, genug, alle Antworten, die zum Teil durch recht witzige, geistreiche Fragen veranlaßt wurden, blieben nichtsbedeutend und schal, Ludwig hatte vorzüglich das Unglück, beinahe niemals von dem Orakel richtig verstanden zu werden und ganz schiefe Antworten zu erhalten; schon wollte man unbefriedigt das Automat und den sichtlich verstimmten Künstler verlassen, als Ferdinand sprach: "Nicht wahr, meine Herren, Sie sind alle mit dem weisen Türken nicht sonderlich zufrieden, aber vielleicht lag es an uns selbst, an unsern Fragen, die dem Manne nicht gefielen - eben daß er jetzt den Kopf dreht und die Hand aufhebt" (die Figur tat dies wirklich), "scheint meine Vermutung als wahr zu bestätigen! — ich weiß nicht, wie mir jetzt es in den Sinn kommt, noch eine Frage zu tun, deren

Beantwortung, ist sie treffend, die Ehre des Automats mit einem Male retten kann." Ferdinand trat zu der Figur hin und flüsterte ihr einige Worte leise ins Ohr; der Türke erhob den Arm, er wollte nicht antworten, Ferdinand ließ nicht ab, da wandte der Türke den Kopf zu ihm hin.

Ludwig bemerkte, daß Ferdinand plötzlich erblaßte, nach einigen Sekunden aber aufs neue fragte und gleich die Antwort erhielt. Mit erzwungenem Lächeln sagte Ferdinand zur Gesellschaft: "Meine Herren, ich kann versichern, daß wenigstens für mich der Türke seine Ehre gerettet hat; damit aber das Orakel ein recht geheimnisvolles Orakel bleibe, so erlassen Sie es mir wohl zu sagen, was ich gefragt und was er geantwortet."

Sosehr Ferdinand seine innere Bewegung verbergen wollte, so äußerte sie sich doch nur zu deutlich in dem Bemühen, froh und unbefangen zu scheinen, und hätte der Türke die wunderbarsten treffendsten Antworten erteilt, so würde die Gesellschaft nicht von dem sonderbaren, beinahe grauenhaften Gefühl ergriffen worden sein, das eben jetzt Ferdinands sichtliche Spannung hervorbrachte. Die vorige Heiterkeit war verschwunden, statt des sonst fortströmenden Gesprächs fielen nur einzelne abgebrochene Worte, und man trennte sich in gänzlicher Verstimmung.

Kaum war Ferdinand mit Ludwig allein, so fing er an: "Freund! dir mag ich es nicht verhehlen, daß der Türke in mein Innerstes gegriffen, ja daß er mein Innerstes verletzt hat, so daß ich den Schmerz wohl nicht verwinden werde, bis mir die Erfüllung des gräßlichen Orakelspruchs den Tod bringt."

Ludwig blickte den Freund voll Verwunderung und Erstaunen an, aber Ferdinand fuhr fort: "Ich sehe nun wohl, daß dem unsichtbaren Wesen, das sich uns durch den Türken auf eine geheimnisvolle Weise mitteilt, Kräfte zu Gebote stehen, die mit magischer Gewalt unsre geheimsten Gedanken beherrschen, und vielleicht erblickt die fremde Macht klar und deutlich den Keim des Zukünftigen, der in

uns selbst im mystischen Zusammenhange mit der Außenwelt genährt wird, und weiß so alles, was in fernen Tagen auf uns einbrechen wird, so wie es Menschen gibt mit der unglücklichen Sehergabe, den Tod zur bestimmten Stunde vorauszusagen."

"Du mußt Merkwürdiges gefragt haben", erwiderte Ludwig, "vielleicht legst du aber selbst in die zweideutige Antwort des Orakels das Bedeutende, und was das Spiel des launenhaften Zufalls in seltsamer Zusammenstellung gerade Eingreifendes, Treffendes hervorbrachte, schreibst du der mystischen Kraft des gewiß ganz unbefangenen Menschen zu, der sich durch den Türken vernehmen läßt."

"Du widersprichst", nahm Ferdinand das Wort, "in dem Augenblick dem, was wir sonst einstimmig zu behaupten pflegen, wenn von dem sogenannten Zufall die Rede ist. Damit du alles wissen, damit du es recht fühlen mögest, wie ich heute in meinem Innersten aufgeregt und erschüttert bin, muß ich dir etwas aus meinem frühern Leben vertrauen. wovon ich bis jetzt schwieg. Es sind schon mehrere Jahre her, als ich von den in Ostpreußen gelegenen Gütern meines Vaters nach B. zurückkehrte. In K. traf ich mit einigen jungen Kurländern zusammen, die ebenfalls nach B. wollten, wir reisten zusammen in drei mit Postpferden bespannten Wagen, und du kannst denken, daß bei uns, die wir in den Jahren des ersten, kräftigen Aufbrausens mit wohlgefülltem Beutel so in die Welt hineinreisen konnten, die Lebenslust beinahe bis zur wilden Ausgelassenheit übersprudelte. Die tollsten Einfälle wurden im Jubel ausgeführt, und ich erinnere mich noch, daß wir in M., wo wir gerade am Mittage ankamen, den Dormeusenvorrat der Posthalterin plünderten und, ihrer Protestationen unerachtet, mit dem Raube gar ziemlich geschmückt, Tabak rauchend, vor dem Hause unter großem Zulauf des Volks auf und ab spazierten, bis wir wieder unter dem lustigen Hörnerschall der Postillione abfuhren. In der herrlichsten jovialsten Gemütsstimmung kamen wir nach D., wo wir der schönen Gegenden wegen

einige Tage verweilen wollten. Jeden Tag gab es lustige Partien; einst waren wir bis zum späten Abend auf dem Karlsberge und in der benachbarten Gegend herumgestreift, und als wir in den Gasthof zurückkehrten, erwartete uns schon der köstliche Punsch, den wir vorher bestellt und den wir uns, von der Seeluft durchhaucht, wacker schmecken ließen. so daß, ohne eigentlich berauscht zu sein, mir doch alle Pulse in den Adern hämmerten und schlugen und das Blut wie ein Feuerstrom durch die Nerven glühte. Ich warf mich, als ich endlich in mein Zimmer zurückkehren durfte, auf das Bett, aber trotz der Ermüdung war mein Schlaf doch nur mehr ein träumerisches Hinbrüten, in dem ich alles vernahm, was um mich vorging. Es war mir, als würde in dem Nebenzimmer leise gesprochen, und endlich unterschied ich deutlich eine männliche Stimme, welche sagte: ,Nun, so schlafe denn wohl und halte dich fertig zur bestimmten Stunde.' Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen, und nun trat eine tiefe Stille ein, die aber bald durch einige leise Akkorde eines Fortepianos unterbrochen wurde. Du weißt, Ludwig! welch ein Zauber in den Tönen der Musik liegt, wenn sie durch die stille Nacht hallen. So war es auch jetzt, als spräche in jenen Akkorden eine holde Geisterstimme zu mir; ich gab mich dem wohltätigen Eindruck ganz hin und glaubte, es würde nun wohl etwas Zusammenhängendes, irgendeine Fantasie oder sonst ein musikalisches Stück folgen, aber wie wurde mir, als die herrliche göttliche Stimme eines Weibes in einer herzergreifenden Melodie die Worte sang:
 Mio ben ricordati
s'avvien ch'io mora,
quanto quest' anima
fedel t'amò.
Lo se pur amano
le fredde ceneri
nel urna ancora
t'adorerò!'

Wie soll ich es denn anfangen, dir das nie gekannte, nie geahnete Gefühl nur anzudeuten, welches die langen - bald anschwellenden - bald verhallenden Töne in mir aufregten. Wenn die ganz eigentümliche, nie gehörte Melodie - ach, es war ja die tiefe, wonnevolle Schwermut der inbrünstigsten Liebe selbst -, wenn sie den Gesang in einfachen Melismen bald in die Höhe führte, daß die Töne wie helle Kristallglocken erklangen, bald in die Tiefe hinabsenkte, daß er in den dumpfen Seufzern einer hoffnungslosen Klage zu ersterben schien, dann fühlte ich, wie ein unnennbares Entzücken mein Innerstes durchbebte, wie der Schmerz der unendlichen Sehnsucht meine Brust krampfhaft zusammenzog, wie mein Atem stockte, wie mein Selbst unterging in namenloser, himmlischer Wollust. Ich wagte nicht, mich zu regen, meine ganze Seele, mein ganzes Gemüt war nur Ohr. Schon längst hatten die Töne geschwiegen, als ein Tränenstrom endlich die Überspannung brach, die mich zu vernichten drohte. Der Schlaf mochte mich doch zuletzt übermannt haben, denn als ich, von dem gellenden Ton eines Posthorns geweckt, auffuhr, schien die helle Morgensonne in mein Zimmer, und ich wurde gewahr, daß ich nur im Traume des höchsten Glücks, der höchsten Seligkeit, die für mich auf der Erde zu finden, teilhaftig worden. — Ein herrliches blühendes Mädchen war in mein Zimmer getreten; es war die Sängerin, und sie sprach zu mir mit gar lieblicher, holdseliger Stimme: ,So konntest du mich dann wiedererkennen, lieber, lieber Ferdinand! aber ich wußte ja wohl, daß ich nur singen durfte, um wieder ganz in dir zu leben; denn jeder Ton ruhte ja in deiner Brust und mußte in meinem Blick erklingen.' — Welches unnennbare Entzücken durchströmte mich, als ich nun sah, daß es die Geliebte meiner Seele war, die ich schon von früher Kindheit an im Herzen getragen, die mir ein feindliches Geschick nur so lange entrissen und die ich Hochbeglückter nun wiedergefunden. Aber meine inbrünstige Liebe erklang eben in jener Melodie der tief klagenden Sehnsucht, und unsere Worte, unsere Blicke wurden

zu herrlichen anschwellenden Tönen. die wie in einem Feuerstrom zusammenflossen. — Nun ich erwacht war, mußte ich mir's eingestehen, daß durchaus keine Erinnerung aus früher Zeit sich an das holdselige Traumbild knüpfte - ich hatte das herrliche Mädchen zum ersten Male gesehen. Es wurde vor dem Hause laut und heftig gesprochen - mechanisch raffte ich mich auf und eilte ans Fenster; ein ältlicher, wohlgekleideter Mann zankte mit den Postknechten, die etwas an dem zierlichen Reisewagen zerbrochen. Endlich war alles hergestellt, und nun rief der Mann herauf: ,Jetzt ist alles in Ordnung, wir wollen fort.' Ich wurde gewahr, daß dicht neben mir ein Frauenzimmer zum Fenster herausgesehen, die nun schnell zurückfuhr, so daß ich, da sie einen ziemlich tiefen Reisehut aufgesetzt hatte, das Gesicht nicht erkennen konnte. Als sie aus der Haustüre trat, wandte sie sich um und sah zu mir herauf. —Ludwig! — es war die Sängerin! — es war das Traumbild - der Blick des himmlischen Auges fiel auf mich, und es war mir, als träfe der Strahl eines Kristalltons meine Brust wie ein glühender Dolchstich, daß ich den Schmerz physisch fühlte, daß alle meine Fibern und Nerven erbebten und ich vor unnennbarer Wonne erstarrte. — Schnell war sie im Wagen - der Postillion blies wie im jubelnden Hohn ein munteres Stückchen. Im Augenblick waren sie um die Straßenecke verschwunden. Wie ein Träumender blieb ich im Fenster, die Kurländer traten ins Zimmer. mich zu einer verabredeten Lustfahrt hinabzuholen - ich sprach kein Wort - man hielt mich für krank - wie hätte ich auch nur das mindeste davon äußern können, was geschehen! Ich unterließ es, mich nach den Fremden, die neben mir gewohnt, im Hause zu erkundigen, denn es war, als entweihe jedes Wort andrer Lippen, das sich auf die Herrliche bezöge, das zarte Geheimnis meines Herzens. Getreulich wollte ich es fortan in mir tragen und nie mehr lassen von der, die nun die Ewiggeliebte meiner Seele worden, sollte ich sie auch nimmer wieder schauen. Du, mein Herzensfreund! erkennst wohl ganz den Zustand, in den ich mich versetzt fühlte; du tadelst mich daher nicht, daß ich alles und jedes vernachlässigte, mir auch nur eine Spur von der unbekannten Geliebten zu verschaffen. Die lustige Gesellschaft der Kurländer wurde mir in meiner Stimmung höchst zuwider, ehe sie sich's versahen, war ich in einer Nacht auf und davon und eilte nach B., meiner damaligen Bestimmung zu folgen. Du weißt, daß ich schon seit früher Zeit ziemlich gut zeichnete; in B. legte ich mich unter der Anleitung geschickter Meister auf das Miniaturmalen und brachte es in kurzer Zeit so weit, daß ich den einzigen mir vorgesteckten Zweck, nämlich das höchst ähnliche Bild der Unbekannten würdig zu malen, erfüllen konnte. Heimlich, bei verschlossenen Türen, malte ich das Bild. Kein menschliches Auge hat es jemals gesehen, denn ein anderes Bild gleicher Größe ließ ich fassen und setzte mit Mühe dann selbst das Bild der Geliebten ein, das ich seit der Zeit auf bloßer Brust trug.

Zum erstenmal in meinem Leben habe ich heute von dem höchsten Moment meines Lebens gesprochen, und du, Ludwig! bist der einzige, dem ich mein Geheimnis vertraut! — Aber auch heute ist eine fremde Macht feindselig in mein Inneres gedrungen! —Als ich zu dem Türken hintrat, fragte ich, der Geliebten meines Herzens denkend: ,Werde ich künftig noch einen Moment erleben, der dem gleicht, wo ich am glücklichsten war?' Der Türke wollte, wie du bemerkt haben wirst, durchaus nicht anworten; endlich, als ich nicht nachließ, sprach er: ,Die Augen schauen in deine Brust, aber das spiegelblanke Gold, das mir zugewendet, verwirrt meinen Blick - wende das Bild um!' — Habe ich denn Worte für das Gefühl, das mich durchbebte? — Dir wird meine innre Bewegung nicht entgangen sein. Das Bild lag wirklich so auf meiner Brust, wie es der Türke angegeben; ich wandte es unbemerkt um und wiederholte meine Frage, da sprach die Figur im düstern Ton: ,Unglücklicher! in dem Augenblick, wenn du sie wiedersiehst, hast du sie verloren!"

Eben wollte Ludwig es versuchen, den Freund, der in tiefes Nachdenken versunken war, mit tröstenden Worten aufzurichten,

als sie durch mehrere Bekannte, die auf sie zuschritten, unterbrochen wurden.

Schon hatte sich das Gerücht von der neuen mysteriösen Antwort, die der weise Türke erteilte, in der Stadt verbreitet, und man erschöpfte sich in Vermutungen, was für eine unglückliche Prophezeiung wohl den vorurteilsfreien Ferdinand so aufgeregt haben könne; man bestürmte die Freunde mit Fragen, und Ludwig wurde genötigt, um seinen Freund aus dem Gedränge zu retten, ein abenteuerliches Geschichtchen aufzutischen, das desto mehr Eingang fand, je weiter es sich von der Wahrheit entfernte. Dieselbe Gesellschaft, in welcher Ferdinand angeregt wurde, den wunderbaren Türken zu besuchen, pflegte sich wöchentlich zu versammeln, und auch in der nächsten Zusammenkunft kam wieder der Türke um so mehr an die Reihe, als man sich immer noch bemühte, recht viel von Ferdinand selbst über ein Abenteuer zu hören, das ihn in die düstre Stimmung versetzt hatte, welche er vergebens zu verbergen suchte. Ludwig fühlte es nur zu lebhaft, wie sein Freund im Innersten erschüttert sein mußte, als er das tief in der Brust treu bewahrte Geheimnis einer phantastischen Liebe von einer fremden grauenvollen Macht durchschaut sah, und auch er war ebensogut wie Ferdinand fest überzeugt, daß dem das Geheimste durchdringenden Blick jener Macht auch wohl der mysteriöse Zusammenhang, vermöge dessen sich das Zukünftige dem Gegenwärtigen anreiht, offenbar sein könne. Ludwig mußte an den Spruch des Orakels glauben, aber das feindselige schonungslose Verraten des bösen Verhängnisses, das dem Freunde drohte, brachte ihn gegen das versteckte Wesen, das sich durch den Türken vernehmen ließ, auf. Er bildete daher standhaft gegen die zahlreichen Bewunderer des Kunstwerks die Opposition und behauptete, als jemand bemerkte, in den natürlichen Bewegungen des Automats liege etwas ganz besonders Imposantes, wodurch der Eindruck der orakelmäßigen Antworten erhöht werde, gerade das Augenverdrehen und Kopfwenden des ehrbaren Türken habe für ihn

was unbeschreiblich Possierliches gehabt, weshalb er auch durch ein Bonmot, das ihm entschlüpft, den Künstler und auch vielleicht das unsichtbar wirkende Wesen in üblen Humor versetzt, welchen letzteres auch durch eine Menge schaler, nichtsbedeutender Antworten an den Tag gelegt. "Ich muß gestehen", fuhr Ludwig fort, "daß die Figur gleich beim Eintreten mich lebhaft an einen überaus zierlichen künstlichen Nußknacker erinnerte, den mir einst, als ich noch ein kleiner Knabe war, ein Vetter zum Weihnachten verehrte. Der kleine Mann hatte ein überaus ernsthaft komisches Gesicht und verdrehte jedesmal mittelst einer innern Vorrichtung die großen aus dem Kopfe herausstehenden Augen, wenn er eine harte Nuß knackte, was denn so etwas possierlich Lebendiges in die ganze Figur brachte, daß ich stundenlang damit spielen konnte und der Zwerg mir unter den Händen zum wahren Alräunchen wurde. Alle noch so vollkommne Marionetten waren mir nachher steif und leblos gegen meinen herrlichen Nußknacker. Von den höchst wunderbaren Automaten im Danziger Arsenal war mir car viel erzählt worden, und vorzüglich deshalb unterließ ich nicht hineinzugehen, als ich mich gerade vor einigen Jahren in Danzig befand. Bald nachdem ich in den Saal getreten, schritt ein altdeutscher Soldat keck auf mich los und feuerte seine Büchse ab, daß es durch die weiten Gewölbe recht derb knallte - noch mehrere Spielereien der Art, die ich in der Tat wieder vergessen, überraschten hin und wieder, aber endlich führte man mich in den Saal, in welchem der Gott des Krieges, der furchtbare Mavors, sich mit seiner ganzen Hofhaltung befand. — Mars selbst saß in ziemlich grotesker Kleidung auf einem mit Waffen aller Art geschmückten Thron, von Trabanten und Kriegern umgeben. Sobald wir vor den Thron getreten, fingen ein paar Trommelschläger an, auf ihren Trommeln zu wirbeln, und Pfeifer bliesen dazu ganz erschrecklich, daß man sich vor dem kakophonischen Getöse hätte die Ohren zuhalten mögen. Ich bemerkte, daß der Gott des Krieges eine durchaus schlechte, Seiner Majestät unwürdige Kapelle habe, und man gab mir recht. —Endlich hörte das Trommeln und Pfeifen auf - da fingen an die Trabanten die Köpfe zu drehen und mit den Hellebarden zu stampfen, bis der Gott des Krieges, nachdem er auch mehrmals die Augen verdreht, von seinem Sitz aufsprang und keck auf uns zuschreiten zu wollen schien. Bald aber warf er sich wieder in seinen Thron, und es wurde noch etwas getrommelt und gepfiffen, bis alles wieder in die alte hölzerne Ruhe zurückkehrte. Als ich denn nun alle diese Automate geschaut, sagte ich im Herausgehen zu mir selbst: ,Mein Nußknacker war mir doch lieber', und jetzt, meine Herren! nachdem ich den weisen Türken geschaut, sage ich abermals: ,Mein Nußknacker war mir doch lieber!" — Man lachte sehr, meinte aber einstimmig, daß Ludwigs Ansicht von der Sache mehr lustig sei als wahr, denn abgesehen von dem seltenen Geist, der doch mehrenteils in den Antworten des Automats liege, sei doch auch die durchaus nicht zu entdeckende Verbindung des verborgenen Wesens mit dem Türken, das nicht allein durch ihn rede, sondern auch seine von den Fragen motivierte Bewegungen veranlassen müßte, höchst wunderbar und in jedem Fall ein Meisterwerk der Mechanik und Akustik.

Dies mußte nun wohl selbst Ludwig eingestehen, und man pries allgemein den fremden Künstler. Da stand ein ältlicher Mann, der in der Regel wenig sprach und sich auch dieses Mal noch gar nicht ins Gespräch gemischt hatte, vom Stuhl auf, wie er zu tun pflegte, wenn er auch endlich ein paar Worte, die aber jedesmal ganz zur Sache gehörten, anbringen wollte, und fing nach seiner höflichen Weise an: "Wollen Sie gütigst erlauben - ich bitte gehorsamst, meine Herren! — Sie rühmen mit Recht das seltene Kunstwerk, das nun schon so lange uns anzuziehen weiß; mit Unrecht nennen Sie aber den ordinären Mann, der es zeigt, den Künstler, da er an allem dem, was in der Tat an dem Werk vortreiflich ist, gar keinen Anteil hat, selbiges vielmehr von einem in allen Künsten der Art gar tief erfahrnen Mann herrührt,

der sich stets und schon seit vielen Jahren in unsern Mauern befindet und den wir alle kennen und höchlich verehren." Man geriet in Erstaunen, man stürmte mit Fragen auf den Alten ein, der also fortfuhr: "Ich meine niemanden anders als den Professor X. — Der Türke war schon zwei Tage hier, ohne daß jemand sonderlich Notiz von ihm genommen hätte, der Professor X. dagegen unterließ nicht, bald hinzugehen, da ihn alles, was nur Automat heißt, auf das höchste ,interessiert. Kaum hatte er aber von dem Türken ein paar Antworten erhalten, als er den Künstler beiseite zog und ihm einige Worte ins Ohr sagte. Dieser erblaßte und verschloß das Zimmer, als es von den wenigen Neugierigen, die sich eingefunden, verlassen war; die Anschlagzettel verschwanden von den Straßenecken, und man hörte nichts mehr von dem weisen Türken, bis nach vierzehn Tagen eine neue Ankündigung erschien und man den Türken mit dem neuen schönen Haupte und die ganze Einrichtung, so wie sie jetzt als ein unauflösliches Rätsel besteht, wiederfand. Seit der Zeit sind auch die Antworten so geistreich und bedeutungsvoll. Daß aber dies alles das Werk des Professor X. ist. unterliegt gar keinem Zweifel, da der Künstler in der Zwischenzeit, als er sein Automat nicht zeigte, täglich bei ihm war und auch, wie man gewiß weiß, der Professor mehrere Tage hintereinander sich in dem Zimmer des Hotels befand, wo die Figur aufgestellt war und noch jetzt steht. Ihnen wird übrigens, meine Herren! doch bekannt sein, daß der Professor selbst sich in dem Besitz der herrlichsten, vorzüglich aber musikalischer Automate befindet, daß er seit langer Zeit mit dem Hofrat B—. mit dem er ununterbrochen über allerlei mechanische und auch wohl magische Künste korrespondiert, darin wetteifert, und daß es nur an ihm liegt, die Welt in das höchste Erstaunen zu setzen? Aber er arbeitet und schafft im Verborgenen, wiewohl er jedem, der wahre Lust und wahres Belieben daran findet, seine seltenen Kunstwerke gar gern zeigt."

Man wußte zwar, daß der Professor X., dessen Hauptwissenschaften

Physik und Chemie waren, nächstdem sich auch gern mit mechanischen Kunstwerken beschäftigte, kein einziger von der Gesellschaft hatte aber seinen Einfluß auf den weisen Türken geahnet, und nur von Hörensagen kannte man das Kunstkabinett, von dem der Alte gesprochen. Ferdinand und Ludwig fühlten sich durch des Alten Bericht über den Professor X. und über sein Einwirken auf das fremde Automat gar seltsam angeregt.

"Ich kann dir's nicht verhehlen", sagte Ferdinand, "mir dämmert eine Hoffnung auf, vielleicht die Spur des Geheimnisses zu finden, das mich jetzt so grauenvoll befängt, wenn ich dem Professor X. nähertrete. Ja, es ist möglich, daß die Ahnung des wunderbaren Zusammenhanges, in dem der Türke, oder vielmehr die versteckte Person. die ihn zum Organ ihrer Orakelsprüche braucht, mit meinem Ich steht, mich vielleicht tröstet und den Eindruck jener für mich schrecklichen Worte entkräftet. Ich bin entschlossen, unter dem Vorwande, seine Automate zu sehen, die nähere Bekanntschaft des mysteriösen Mannes zu machen, und da seine Kunstwerke, wie wir hörten, musikalisch sind, wird es für dich nicht ohne Interesse sein, mich zu begleiten."

"Als wenn", erwiderte Ludwig, "es nicht für mich genug wäre, daß ich in deiner Angelegenheit dir beistehen soll mit Rat und Tat! — Daß mir aber eben heute, als der Alte von der Einwirkung des Professors X. auf die Maschine sprach, ganz besondere Ideen durch den Kopf gegangen sind, kann ich nicht leugnen, wiewohl es möglich ist, daß ich das auf entlegenem Wege suche, was vielleicht uns ganz nahe liegt. — Ist es nämlich, um eben die Auflösung des Rätsels ganz nahe zu suchen, nicht denkbar, daß die unsichtbare Person wußte, daß du ein Bild auf der Brust trägst, und konnte nicht eine glückliche Kombination sie gerade wenigstens das scheinbar Richtige treffen lassen? Vielleicht rächte sie durch die unglückliche Weissagung sich an uns des Mutwillens wegen, in dem wir die Weisheit des Türken höhnten."

"Keine menschliche Seele", erwiderte Ferdinand, "hat,

wie ich dir schon vorhin sagte, das Bildnis gesehen, niemanden habe ich jemals jenen auf mein ganzes Leben einwirkenden Vorfall erzählt - auf gewöhnliche Weise kann der Türke unmöglich von dem allen unterrichtet worden sein! — vielleicht nähert sich das, was du auf entlegenem Wege suchst, weit mehr der Wahrheit!"

"So meine ich denn nun", sagte Ludwig, "daß unser Automat, sosehr ich heute auch das Gegenteil zu behaupten schien, wirklich zu den merkwürdigsten Erscheinungen gehört, die man jemals sah, und alles beweiset, daß dem, der als Dirigent über dem ganzen Kunstwerke schwebt, tiefere Kenntnisse zu Gebote stehen, als die wohl glauben, welche nur so etwas leichtsinnig begaffen und sich über das Wunderbare nur wundern. Die Figur ist nichts weiter als die Form der Mitteilung, aber es ist nicht zu leugnen, daß diese Form geschickt gewählt ist, da das ganze Ansehen und auch die Bewegungen des Automats dazu geeignet sind, die Aufmerksamkeit zugunsten des Geheimnisses zu fesseln und vorzüglich den Fragenden auf gewisse Weise nach dem Zweck des antwortenden Wesens zu spannen. In der Figur kann kein menschliches Wesen stecken, das ist so gut als erwiesen. daß wir daher die Antworten aus dem Munde des Türken zu empfangen glauben, beruht sicherlich auf einer akustischen Täuschung; wie dies bewerkstelligt ist, wie die Person, welche antwortet, in den Stand gesetzt wird, die Fragenden zu sehen, zu vernehmen und sich ihnen wieder verständlich zu machen, ist und bleibt mir freilich ein Rätsel; allein es setzt nur gute akustische und mechanische Kenntnisse und einen vorzüglichen Scharfsinn oder auch vielleicht, besser gesagt, eine konsequente Schlauheit des Künstlers voraus, der kein Mittel unbeachtet ließ, uns zu täuschen, und ich muß gestehen, daß mich die Auflösung dieses Geheimnisses weniger interessiert, als es von dem nur allein höchst merkwürdigen Umstande überwogen wird, daß der Türke off die Seele des Fragenden zu durchschauen, ja, wie du schon, noch ehe es dir selbst bewiesen wurde, bemerktest,

in die tiefste Tiefe des Gemüts zu dringen scheint. Wie, wenn es dem antwortenden Wesen möglich wäre, sich durch uns unbekannte Mittel einen psychischen Einfluß auf uns zu verschaffen, ja sich mit uns in einen solchen geistigen Rapport zu setzen, daß es unsere Gemütsstimmung, ja unser ganzes inneres Wesen in sich auffaßt und so, wenn auch nicht das in uns ruhende Geheimnis deutlich ausspricht, doch wie in einer Ekstase, die eben der Rapport mit dem fremden geistigen Prinzip erzeugte, die Andeutungen alles dessen, was in unserer eigenen Brust ruht, wie es hell erleuchtet dem Auge des Geistes offenbar wird, hervorruft. Es ist die psychische Macht, die die Saiten in unserm Innern, welche sonst nur durcheinanderrauschten, anschlägt, daß sie vibrieren und ertönen und wir den reinen Akkord deutlich vernehmen; so sind wir aber es selbst, die wir uns die Antworten erteilen, indem wir die innere Stimme, durch ein fremdes geistiges Prinzip geweckt, außer uns verständlicher vernehmen und verworrene Ahndungen, in Form und Weise des Gedankens festgebannt, nun zu deutlichen Sprüchen werden; so wie uns oft im Traum eine fremde Stimme über Dinge belehrt, die wir gar nicht wußten oder über die wir wenigstens in Zweifel waren, unerachtet die Stimme, welche uns fremdes Wissen zuzuführen scheint, doch nur aus unserm eignen Innern kommt und sich in verständlichen Worten ausspricht. — Daß der Türke, worunter ich natürlich jenes versteckte geistige Wesen verstehe, sehr selten nötig haben wird, sich mit dem Fragenden in jenen psychischen Rapport zu setzen, versteht sich wohl von selbst. Hundert Fragende werden ebenso oberflächlich abgefertigt, als es ihre Individualität verdient, und oft genügt ein witziger Einfall, dem der natürliche Scharfsinn oder die geistige Lebendigkeit des antwortenden Wesens die treffende Spitze gibt, wo von irgendeiner Tiefe, in der die Frage aufzufassen ist, nicht die Rede sein kann. Irgendeine exaltierte Gemütsstimmung des Fragenden wird den Türken augenblicklich auf ganz andere Weise ansprechen, und dann wendet er die Mittel an, die es ihm möglich machen, den psychischen Rapport hervorzubringen, der ihm die Macht gibt, aus dem tiefsten Innern des Fragenden selbst zu antworten. Die Weigerung des Türken, auf solche tief gestellte Fragen gleich zu antworten, ist vielleicht nur der Aufschub, den er sich gönnt, um für die Anwendung jener geheimnisvollen Mittel Momente zu gewinnen. Dies ist meine innige Herzensmeinung, und du siehst, daß mir das Kunstwerk nicht so verächtlich ist, als ich es euch heute glauben machen wollte - vielleicht nehme ich die Sache zu ernst! — Doch mochte ich dir nichts verhehlen, wiewohl ich einsehe, daß, wenn du in meine Idee eingehst, ich dir gerade nichts zur innern Beruhigung gesagt habe!"

"Du irrst, mein geliebter Freund", erwiderte Ferdinand, "gerade daß deine Ideen ganz mit dem übereinstimmen, was mir gleich dunkel vor der Seele lag, beruhigte mich auf eine wunderbare Weise; ich habe es mit mir selbst allein zu tun. mein liebes Geheimnis blieb unentweiht, denn mein Freund wird es treulich bewahren wie ein anvertrautes Heiligtum. Doch muß ich jetzt noch eines ganz besondern Umstandes erwähnen, dessen ich bisher noch nicht gedachte. Als der Türke die verhängnisvollen Worte sprach, war es mir, als hörte ich die tiefklagende Melodie: ,Mio ben ricordati s'avvien ch'io mora' in einzeln abgebrochenen Lauten - und dann war es wieder, als schwebe nur ein langgehaltener Ton der göttlichen Stimme, die ich in jener Nacht hörte, an mir vorüber."

"So mag ich es dir auch nicht verschweigen", sagte Ludwig, "daß ich, als du gerade die leise Antwort erhieltest, zufällig die Hand auf das Geländer, welches das Kunstwerk umschließt, gelegt hatte; es dröhnte fühlbar in meiner Hand, und auch mir war es, als gleite ein musikalischer Ton, Gesang kann ich es nicht nennen, durchs Zimmer. Ich achtete nicht sonderlich darauf, weil, wie du weißt, immer meine ganze Phantasie von Musik erfüllt ist und ich deshalb schon auf die wunderlichste Weise getäuscht worden bin; nicht

wenig erstaunte ich aber im Innern, als ich den mysteriösen Zusammenhang jenes tiefklagenden Tons mit der verhängnisvollen Begebenheit in D., die deine Frage an den Türken veranlaßte, erfuhr."

Ferdinand hielt es nur für einen Beweis des psychischen Rapports mit seinem geliebten Freunde, daß auch dieser den Ton gehört hatte, und als sie noch tiefer eingingen in die Geheimnisse der psychischen Beziehungen verwandter geistiger Prinzipe, als immer lebendiger wunderbare Resultate sich erzeugten, da war es ihm endlich, als sei die schwere Last, die seit jenem Augenblick, als er die Antwort erhalten, seine Brust gedrückt, ihm wieder entnommen; er fühlte sich ermutigt, jedem Verhängnis keck entgegenzutreten. "Kann ich sie denn verlieren", sagte er, "sie, die ewig in meinem Innern waltet und so eine intensive Existenz behauptet, die nur mit meinem Sein untergeht?"

Voller Hoffnung, über manche jener Vermutungen, die für beide die größte innere Wahrheit hatten, näheren Aufschluß zu erhalten, gingen sie zum Professor X. Sie fanden an ihm einen hochbejahrten, altfränkisch gekleideten Mann muntern Ansehens, dessen kleine graue Augen unangenehm stechend blickten und um dessen Mund ein sarkastisches Lächeln schwebte, das eben nicht anzog.

Als sie den Wunsch äußerten, seine Automate zu sehen, sagte er: "Ei! sind Sie doch auch wohl Liebhaber von mechanischen Kunstwerken, vielleicht selbst Kunstdilettanten? Nun, Sie finden bei mir, was Sie in ganz Europa, ja in der ganzen bekannten Welt vergebens suchen." Des Professors Stimme hatte etwas höchst Widriges, es war ein hoher kreischender, dissonierender Tenor, der gerade zu der marktschreierischen Art paßte, womit er seine Kunstwerke ankündigte. Er holte mit vielem Geräusch die Schlüssel und öffnete den geschmackvoll, ja prächtig verzierten Saal, in welchem die Kunstwerke sich befanden. In der Mitte stand auf einer Erhöhung ein großer Flügel, neben demselben rechts eine lebensgroße männliche Figur mit einer Flöte in

der Hand, links saß eine weibliche Figur vor einem klavierähnlichen Instrumente, hinter derselben zwei Knaben mit einer großen Trommel und einem Triangel. Im Hintergrunde erblickten die Freunde das ihnen schon bekannte Orchestrion und rings an den Wänden umher mehrere Spieluhren. Der Professor ging nur flüchtig an dem Orchestrion und den Spieluhren vorüber und berührte kaum merklich die Automate; dann setzte er sich aber an den Flügel und fing pianissimo ein marschmäßiges Andante an; bei der Reprise setzte der Flötenbläser die Flöte an den Mund und spielte das Thema, nun paukte der Knabe richtig im Takte ganz leise auf der Trommel, indem der andere einen Triangel kaum hörbar berührte. Bald darauf fiel das Frauenzimmer mit vollgriffigen Akkorden ein, indem sie durch das Niederdrücken der Tasten einen harmonikaähnlichen Ton hervorbrachte! Aber nun wurde es immer reger und lebendiger im ganzen Saal, die Spieluhren fielen nacheinander mit der größten rhythmischen Genauigkeit ein, der Knabe schlug immer stärker seine Trommel, der Triangel gellte durch das Zimmer. und zuletzt trompetete und paukte das Orchestrion im Fortissimo dazu, daß alles zitterte und bebte, bis der Professor mit seinen Maschinen auf einen Schlag im Schlußakkord endete. Die Freunde zollten dem Professor den Beifall, den sein schlau und zufrieden lächelnder Blick zu begehren schien; er war im Begriff, noch mehr musikalische Produktionen der Art vorzubereiten, indem er sich den Automaten näherte, aber die Freunde, als hätten sie sich vorher dazu verabredet, schützten einstimmig ein dringendes Geschäft vor, das ihnen nicht erlaube, länger zu verweilen, und verließen den Mechaniker und seine Maschinen. "Nun, war das nicht alles überaus künstlich und schön?"frug Ferdinand, aber Ludwig brach los wie im lange verhaltenen Zorn: "Ei, daß den verdammten Professor der - ei, wie sind wir doch so bitter getäuscht worden! wo sind die Aufschlüsse, nach denen wir trachteten, wie blieb es mit der lehrreichen Unterhaltung, in der uns der weise Professor erleuchten sollte wie die Lehrlinge zu Sais?" — "Dafür", sagte Ferdinand, "haben wir aber in der Tat merkwürdige mechanische Kunstwerke gesehen; auch in musikalischer Hinsicht! Der Flötenbläser ist offenbar die berühmte Vaucansonsche Maschine und derselbe Mechanismus rücksichtlich der Fingerbewegung auch bei der weiblichen Figur angewendet, die auf ihrem Instrumente recht wohllautende Töne hervorbringt; die Verbindung der Maschinen ist wunderbar." — "Das alles ist es eben", fiel Ludwig ein, "was mich ganz toll machte! ich bin von all der Maschinenmusik, wozu ich auch des Professors Spiel auf dem Flügel rechne, ordentlich durchgewalkt und durchgeknetet, daß ich es in allen Gliedern fühle und lange nicht verwinden werde.

Schon die Verbindung des Menschen mit toten, das Menschliche in Bildung und Bewegung nachäffenden Figuren zu gleichem Tun und Treiben hat für mich etwas Drückendes, Unheimliches, ja Entsetzliches. Ich kann mir es denken, daß es möglich sein müßte, Figuren vermöge eines im Innern verborgenen Getriebes gar künstlich und behende tanzen zu lassen, auch müßten diese mit Menschen gemeinschaftlich einen Tanz aufführen und sich in allerlei Touren wenden und drehen, so daß der lebendige Tänzer die tote hölzerne Tänzerin faßte und sich mit ihr schwenkte, würdest du den Anblick ohne inneres Grauen eine Minute lang ertragen? Aber vollends die Maschinenmusik ist für mich etwas Heilloses und Greuliches, und eine gute Strumpfmaschine übertrifft nach meiner Meinung an wahrem Wert himmelweit die vollkommenste prächtigste Spieluhr.

Ist es denn nur allein der aus dem Munde strömende Hauch, der dem Blasinstrumente, sind es nur allein die gelenkigen geschmeidigen Finger, die dem Saiteninstrumente Töne entlocken, welche uns mit mächtigem Zauber ergreifen, 'ja in uns die unbekannten unaussprechlichen Gefühle erregen, welche, mit nichts Irdischem hienieden verwandt, die Ahndungen eines fernen Geisterreichs und unsers höhern Seins in demselben hervorrufen? Ist es nicht vielmehr

das Gemüt, welches sich nur jener physischen Organe bedient, um das, was in seiner tiefsten Tiefe erklungen, in das rege Leben zu bringen, daß es andern vernehmbar ertönt und die gleichen Anklänge im Innern erweckt, welche dann im harmonischen Widerhall dem Geist das wundervolle Reich erschließen, aus dem jene Töne wie entzündende Strahlen hervordrangen? Durch Ventile, Springfedern, Hebel, Walzen, und was noch alles zu dem mechanischen Apparat gehören mag, musikalisch wirken zu wollen ist der unsinnige Versuch, die Mittel allein das vollbringen zu lassen, was sie nur durch die innere Kraft des Gemüts belebt und von derselben in ihrer geringsten Bewegung geregelt ausführen können. Der größte Vorwurf, den man dem Musiker macht, ist, daß er ohne Ausdruck spiele, da er dadurch eben dem eigentlichen Wesen der Musik schadet oder vielmehr in der Musik die Musik vernichtet, und doch wird der geist- und empfindungsloseste Spieler noch immer mehr leisten als die vollkommenste Maschine, da es nicht denkbar ist, daß nicht irgend einmal eine augenblickliche Anregung aus dem Innern sein Spiel wirken sollte, welches natürlicherweise bei der Maschine nie der Fall sein kann.

Das Streben der Mechaniker, immer mehr und mehr die menschlichen Organe zum Hervorbringen musikalischer Töne nachzuahmen oder durch mechanische Mittel zu ersetzen, ist mir der erklärte Krieg gegen das geistige Prinzip, dessen Macht nur noch glänzender siegt, je mehr scheinbare Kräfte ihm entgegengesetzt werden; eben darum ist mir gerade die nach mechanischen Begriffen vollkommenste Maschine der Art eben die verächtlichste, und eine einfache Drehorgel, die im Mechanischen nur das Mechanische bezweckt. immer noch lieber als der Vaucansonsche Flötenbläser und die Harmonikaspielerin."

"Ich muß dir ganz beistimmen", sagte Ferdinand, "denn du hast nur in Worten deutlich ausgesprochen, was ich längst und vorzüglich heute bei dem Professor im Innern lebhaft gefühlt. Ohne so ganz in der Musik zu leben

und zu weben wie du und ohne daher für alle Mißgriffe so gar empfindlich zu sein, ist mir doch das Tote, Starre der Maschinenmusik von jeher zuwider gewesen, und ich erinnre mich noch, daß schon als Kind in dem Hause meines Vaters mir eine große Harfenuhr, welche stündlich ihr Stückchen abspielte, ein recht quälendes Mißbehagen erregte. Es ist schade, daß recht geschickte Mechaniker ihre Kunst dieser widrigen Spielerei und nicht vielmehr der Vervollkommnung der musikalischen Instrumente zuwenden." —"Das ist wahr", erwiderte Ludwig, "vorzüglich rücksichtlich der Tasteninstrumente wäre noch manches zu tun, denn gerade diese öffnen dem geschickten Mechaniker ein weites Feld, und wirklich ist es zu bewundern, wie weit zum Beispiel der Flügel in seiner Struktur, die auf Ton und Behandlungsart den entschiedensten Einfluß hat, vorgerückt ist.

Sollte es aber nicht die höhere musikalische Mechanik sein, welche die eigentümlichsten Laute der Natur belauscht, welche die in den heterogensten Körpern wohnende Töne erforscht und welche dann diese geheimnisvolle Musik in irgendein Organon festzubannen strebt, das sich dem Willen des Menschen fügt und in seiner Berührung erklingt. Alle Versuche, aus metallenen, gläsernen Zylindern, Glasfäden, Glas, ja Marmorstreifen Töne zu ziehen oder Saiten auf ganz andere als die gewöhnliche Weise vibrieren und ertönen zu lassen, scheinen mir daher im höchsten Grade beachtenswert, und dem weitern Vorschreiten dieses Bestrebens, in die tiefen akustischen Geheimnisse, wie sie überall in der Natur verborgen, zu dringen, steht es nur im Wege, daß jeder mangelhafte Versuch gleich, der Ostentation oder des Geldgewinns wegen, als eine neue, schon zur Vollkommenheit gediehene Erfindung angepriesen und vorgezeigt wird. Hierin liegt es, daß in kurzer Zeit so viele neue Instrumente, zum Teil unter seltsamen oder prunkenden Namen, entstanden und ebenso schnell wieder verschwunden und in Vergessenheit geraten sind." —"Deine höhere musikalische Mechanik", sagte Ferdinand, "ist allerdings sehr interessant,

wiewohl ich mir eigentlich nicht die Spitze oder das Ziel jener Bestrebungen denken kann."

"Dies ist kein anderes", erwiderte Ludwig, "als die Auffindung des vollkommensten Tons; ich halte aber den musikalischen Ton für desto vollkommner, je näher er den geheimnisvollen Lauten der Natur verwandt ist, die noch nicht ganz von der Erde gewichen." —"Mag es sein", sagte Ferdinand, "daß ich nicht so wie du in diese Geheimnisse eingedrungen, aber ich gestehe, daß ich dich nicht ganz fasse." — "Laß mich es wenigstens andeuten", fuhr Ludwig fort, "wie mir das alles so in Sinn und Gedanken liegt.

In jener Urzeit des menschlichen Geschlechts, als es, um mich ganz der Worte eines geistreichen Schriftstellers zu bedienen (Schubert in den ,Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft'), in der ersten heiligen Harmonie mit der Natur lebte, erfüllt von dem göttlichen Instinkt der Weissagung und Dichtkunst, als der Geist des Menschen nicht die Natur, sondern diese den Geist des Menschen erfaßte und die Mutter das wunderbare Wesen, das sie geboren, noch aus der Tiefe ihres Daseins nährte, da umfing sie den Menschen wie im Wehen einer ewigen Begeisterung mit heiliger Musik, und wundervolle Laute verkündeten die Geheimnisse ihres ewigen Treibens. Ein Nachhall aus der geheimnisvollen Tiefe dieser Urzeit ist die herrliche Sage von der Sphärenmusik, welche mich schon als Knabe, als ich in ,Scipios Traum' zum erstenmal davon las, mit inbrünstiger Andacht erfüllte, so daß ich oft in stillen mondhellen Nächten lauschte, ob nicht im Säuseln des Windes jene wunderbaren Töne erklingen würden. Aber noch sind jene vernehmlichen Laute der Natur, wie ich schon vorhin sagte, nicht von der Erde gewichen, denn nichts anders ist jene Luftmusik oder Teufelsstimme, auf Ceylon, deren ebenjener Schriftsteller erwähnt und die eine so tiefe Wirkung auf das menschliche Gemüt äußert, daß selbst die ruhigsten Beobachter sich eines tiefen Entsetzens, eines zerschneidenden Mitleids mit jenen den menschlichen Jammer so entsetzlich

nachahmenden Naturtönen nicht erwehren können. Ja, ich habe selbst in früherer Zeit eine ganz ähnliche Naturerscheinung, und zwar in der Nähe des Kurischen Haffs in Ostpreußen, erlebt. Es war im tiefen Herbst, als ich mich einige Zeit auf einem dort gelegenen Landgute aufhielt und in stillen Nächten bei mäßigem Winde deutlich lang gehaltene Töne hörte, die bald gleich einer tiefen gedämpften Orgelpfeife, bald gleich einer vibrierenden dumpfen Glocke erklangen. Oft konnte ich genau das tiefe F mit der anschlagenden Quinte C unterscheiden, oft erklang sogar die kleine Terz Es, so daß der schneidende Septimenakkord in den Tönen der tiefsten Klage meine Brust mit einer das Innerste durchdringenden Wehmut, ja mit Entsetzen erfüllte.

In dem unvermerkten Entstehen, Anschwellen und Verschweben jener Naturlaute liegt etwas, das unser Gemüt unwiderstehlich ergreift, und das Instrument, dem dies zu Gebote steht, wird in eben dem Grade auf uns wirken müssen; mir scheint daher, daß die Harmonika rücksichtlich des Tons sich gewiß jener Vollkommenheit, die ihren Maßstab in der Wirkung auf unser Gemüt findet, am mehrsten nähert, und es ist eben schön, daß gerade dieses Instrument, welches jene Naturlaute so glücklich nachahmt und auf unser Inneres in den tiefsten Beziehungen so wunderbar wirkt, sich dem Leichtsinn und der schalen Ostentation durchaus nicht hingibt, sondern nur in der heiligen Einfachheit ihr eigentümliches Wesen behauptet. Recht viel in dieser Hinsicht wird auch gewiß das neuerfundene sogenannte Harmonichord leisten, welches statt der Glocken mittelst einer geheimen Mechanik, die durch den Druck der Tasten und den Umschwung einer Walze in Bewegung gesetzt wird, Saiten vibrieren und ertönen läßt. Der Spieler hat das Entstehen, Anschwellen, Verschweben des Tons beinahe noch mehr in der Gewalt als bei der Harmonika, und nur den wie aus einer andern Welt herabgekommenen Ton dieses Instruments hat das Harmonichord noch nicht im mindesten erreicht." — "Ich habe dies Instrument gehört", sagte Ferdinand, "und

muß gestehen, daß sein Ton recht in mein Inneres gedrungen, wiewohl es, nach meiner Einsicht, von dem Künstler selbst nicht eben vorteilhaft behandelt wurde. Übrigens fasse ich dich ganz, wiewohl mir die enge Beziehung jener Naturlaute, von denen du sprichst, mit der Musik, die wir durch Instrumente hervorbringen, noch nicht deutlich einleuchtet." — "Kann denn", erwiderte Ludwig, "die Musik, die in unserm Innern wohnt, eine andere sein als die, welche in der Natur wie ein tiefes, nur dem höhern Sinn erforschliches Geheimnis verborgen und die durch das Organ der Instrumente nur wie im Zwange eines mächtigen Zaubers, dessen wir Herr worden, ertönt? Aber im rein psychischen Wirken des Geistes, im Traume ist der Bann gelöst, und wir hören selbst im Konzert bekannter Instrumente jene Naturlaute, wie sie wunderbar, in der Luft erzeugt, auf uns niederschweben, anschwellen und verhallen." — "Ich denke an die Äolsharfe", unterbrach Ferdinand den Freund; "was hältst du von dieser sinnigen Erfindung?" —"Die Versuche", erwiderte Ludwig, "der Natur Töne zu entlocken, sind allerdings herrlich und höchst beachtenswert, nur scheint es mir, daß man ihr bis jetzt nur ein kleinliches Spielzeug darbot, das sie mehrenteils wie in gerechtem Unmute zerbrach. Viel größer in der Idee als alle die Äolsharfen, die nur als musikalische Ableiter der Zugluft zum kindischen Spielwerk geworden, ist die Wetterharfe, von der ich einmal gelesen. Dicke, in beträchtlicher Weite im Freien ausgespannte Drähte wurden von der Luft in Vibration gesetzt und ertönten in mächtigem Klange.

Überhaupt bleibt hier dem sinnigen, von höherem Geiste beseelten Physiker und Mechaniker noch ein weites Feld offen, und ich glaube, daß bei dem Schwunge, den die Naturwissenschaft erhalten, auch tieferes Forschen in das heilige Geheimnis der Natur eindringen und manches, was nur noch geahnet, in das rege Leben sichtlich und vernehmbar bringen wird."

Plötzlich wehte ein seltsamer Klang durch die Luft, der

im stärkern Anschwellen dem Ton einer Harmonika ähnlich wurde. Die Freunde blieben, von innerm Schauer ergriffen, wie an den Boden festgebannt, stehen; da wurde der Ton zur tiefklagenden Melodie einer weiblichen Stimme. Ferdinand ergriff des Freundes Hand und drückte sie krampfhaft an seine Brust, aber leise und bebend sprach Ludwig: "Mio ben ricordati s'avvien ch'io mora." Sie befanden sich außerhalb der Stadt vor dem Eingange eines mit hohen Hecken und Bäumen umschlossenen Gartens; dicht vor ihnen hatte unbemerkt ein kleines niedliches Mädchen, im Grase sitzend, gespielt, das sprang nun schnell auf und sprach: "Ach, wie schön singt Schwesterchen wieder, ich muß ihr nur eine Blume bringen, denn ich weiß schon, wenn sie die bunten Nelken sieht, dann singt sie noch schöner und länger." Und damit hüpfte sie, einen großen Blumenstrauß in der Hand, in den Garten, dessen Türe offenstehen blieb, so daß die Freunde hineinschauen konnten. Aber welch ein Erstaunen, ja welch ein inneres Grausen durchdrang sie, als sie den Professor X. erblickten, der mitten im Garten unter einer hohen Esche stand. Statt des zurückschreckenden ironischen Lächelns, mit deiner die Freunde in seinem Hause empfing, ruhte ein tiefer melancholischer Ernst auf seinem Gesicht, und sein himmelwärts gerichteter Blick schien wie in seliger Verklärung das geahnete Jenseits zu schauen, was hinter den Wolken verborgen und von dem die wunderbaren Klänge Kunde gaben, welche wie ein Hauch des Windes durch die Luft bebten. Er schritt langsam und abgemessen den Mittelgang auf und nieder, aber in seiner Bewegung wurde alles um. ihn her rege und lebendig, und überall flimmerten kristallne Klänge aus den dunklen Büschen und Bäumen empor und strömten, vereinigt im wundervollen Konzert, wie Feuerflammen durch die Luft, ins Innerste des Gemüts eindringend und es zur höchsten Wonne himmlischer Ahndungen entzündend. Die Dämmerung war eingebrochen, der Professor verschwand in den Hecken, und die Töne erstarben im Pianissimo. Endlich gingen die Freunde im tiefen Schweigen nach der Stadt zurück; aber als Ludwig sich nun von dem Freunde trennen wollte, da drückte ihn Ferdinand fest an sich und sprach: "Sei mir treu! — sei mir treu! — ach, ich fühle es ja, daß eine fremde Macht in mein Inneres gedrungen und alle die im Verborgenen liegenden Saiten ergriffen hat, die nun nach ihrer Willkür erklingen müssen, und sollte ich darüber zugrunde gehen!

War denn nicht die gehässige Ironie, womit uns der Professor in seinem Hause empfing, nur der Ausdruck des feindlichen Prinzips, und hat er uns mit seinen Automaten nicht nur abfertigen wollen, um alle nähere Beziehung mit mir im extensiven Leben von der Hand zu weisen?" — "Du kannst wohl recht haben", erwiderte Ludwig, "denn auch ich ahne es deutlich, daß auf irgendeine Weise, die uns nun freilich wenigstens jetzt ein unauflösliches Rätsel bleibt, der Professor in dein Leben oder, besser gesagt, in das geheimnisvolle psychische Verhältnis, in dem du mit jenem unbekannten weiblichen Wesen stehst, eingreift. Vielleicht verstärkt er selbst wider seinen Willen, als feindliches Prinzip darin verflochten und dagegen ankämpfend, den Rapport, dessen Kraft eben im Kampfe wächst, und es wäre denkbar, daß ihm dein Nähertreten schon deshalb verhaßt sein müßte, weil dein geistiges Prinzip dann wider seinen Willen, oder vielmehr irgendeiner konventionellen Absicht entgegen, alle die Anklänge jenes psychischen Rapports weckt und in neuen lebhafteren Schwung setzt." — Die Freunde beschlossen nun, kein Mittel unversucht zu lassen, dem Professor X. näherzutreten und vielleicht endlich das Rätsel zu lösen, das so tief auf Ferdinands Leben wirkte; schon am folgenden Morgen sollte ein zweiter Besuch bei dem Professor das Fernere einleiten, ein Brief, den Ferdinand unvermutet von seinem Vater erhielt, rief ihn aber nach B., er durfte sich nicht den mindesten Aufschub verstatten, und in wenigen Stunden eilte er schon mit Postpferden von dannen, indem er seinem Freunde versicherte, daß ihn nichts abhalten würde, spätestens in vierzehn Tagen wieder in J. zu sein.

Merkwürdig war es Ludwigen im höchsten Grade, daß er bald nach Ferdinands Abreise von demselben ältlichen Mann, der zuerst von des Professors X. Einwirkung auf den Türken gesprochen, nun erfuhr, wie des Professors mechanische Kunstwerke nur aus einer untergeordneten Liebhaberei hervorgegangen und daß tiefes Forschen, tiefes Eindringen in alle Teile der Naturwissenschaft eigentlich der unausgesetzte Zweck alles seines Strebens sei. Vorzüglich rühmte der Mann die Erfindungen des Professors in der Musik, die er aber bis jetzt niemanden mitteile. Sein geheimnisvolles Laboratorium sei ein schöner Garten bei der Stadt, und oft hätten schon Vorübergehende seltsame Klänge und Melodien ertönen gehört, als sei der Garten von Feen und Geistern bewohnt.

Vierzehn Tage vergingen, aber Ferdinand kehrte nicht wieder, endlich nach zwei Monaten erhielt Ludwig einen Brief aus B. des Inhalts:

"Lies und erstaune, aber erfahre nur das, was Du vielleicht ahntest, nachdem Du dem Professor, wie ich hoffe. nähergetreten. Im Dorfe P. werden Pferde gewechselt, ich stehe und schaue recht gedankenlos in die Gegend hinein.

Da fährt ein Wagen vorbei und hält vor der nahen offnen Kirche; ein einfach gekleidetes Frauenzimmer steigt aus, ihr folgt ein junger schöner Mann in russischer Jägeruniform, mit Orden geschmückt; zwei Männer steigen aus einem zweiten Wagen. Der Posthalter sagt: ,Das ist das fremde Paar, das unser Herr Pastor heut traut.' Mechanisch gehe ich in die Kirche und trete ein, als der Geistliche gerade mit dem Segen die Zeremonie endigt. Ich schaue hin, die Braut ist die Sängerin, sie erblickt mich, sie erblaßt, sie sinkt, der hinter ihr stehende Mann fängt sie auf in seine Arme, es ist der Professor X. — Was weiter vorgegangen, weiß ich nicht mehr, auch nicht, wie ich hieher gekommen, Du wirst es wohl vom Professor X. erfahren. Jetzt ist eine nie gefühlte Ruhe und Heiterkeit in meine Seele gekommen. Der verhängnisvolle Spruch des Türken war eine verdammte

Lüge, erzeugt vom blinden Hintappen mit ungeschickten Fühlhörnern. Habe ich sie denn verloren? ist sie nicht im innern glühenden Leben ewig mein? Du wirst lange nicht von mir hören, denn ich gehe nach K., vielleicht auch in den tiefen Norden nach P."

Ludwig ersah aus seines Freundes Worten nur zu deutlich seinen zerrütteten Seelenzustand, und um so rätselhafter wurde ihm das Ganze, als er erfuhr, daß der Professor X. durchaus die Stadt nicht verlassen habe. Wie, dachte er, wenn es nur die Resultate des Konflikts wunderbarer psychischer Beziehungen, die vielleicht unter mehreren Personen stattfanden, wären, die in das Leben traten und selbst äußere, von ihnen unabhängige Begebenheiten so in ihren Kreis zogen, daß sie der getäuschte innere Sinn für eine aus ihm unbedingt hervorgehende Erscheinung hielt und daran glaubte? — Doch vielleicht tritt künftig die frohe Ahnung ins Leben, die ich in meinem Innern trage und die meinen Freund trösten soll! Der verhängnisvolle Spruch des Türken ist erfüllt und vielleicht gerade durch diese Erfüllung der vernichtende Stoß abgewendet, der meinem Freunde drohte.



"Nun", sprach Ottmar, als Theodor plötzlich schwieg, "nun, ist das alles? Wo bleibt die Aufklärung, wie wurd es mit Ferdinand, mit dem Professor X., mit der holden Sängerin, mit dem russischen Offizier?" —"Habe ich", erwiderte Theodor, "denn nicht vorausgesagt, daß es nur ein Fragment sei, was ich vortragen wolle? Überdem dünkt mich, daß die merkwürdige Historie vom redenden Türken gerade von Haus aus fragmentarisch angelegt ist. Ich meine, die Phantasie des Lesers oder Hörers soll nur ein paar etwas heftige Rucke erhalten und dann sich selbst beliebig fortschwingen. Willst du, lieber Ottmar, aber durchaus über Ferdinands Schicksal beruhigt sein, so erinnere dich doch nur an das Gespräch über die Oper, das ich vor einiger Zeit vorlas. Es ist derselbe Ferdinand, der dort, gesund an Leib und Seele, mit freudiger Kampflust in das Feld zieht, der hier, obschon in einer früheren Periode seines Lebens, aufgetreten, alles muß daher wohl mit der somnambulen Liebschaft sehr gut abgegangen sein."

"Und nun", nahm Ottmar das Wort, "ist noch hinzuzufügen, daß unser Theodor sich ehemals sehr wohl darin gefiel, in allerlei wunderbaren, ja tollen Geschichten mit aller möglichen Kraft die Phantasie anzuregen und dann plötzlich abzubrechen. Sowenig er selbst daran denkt, wird ihn jeder wenigstens einer unartigen Mystifikation anklagen müssen. — Aber es gab eine Zeit, wo sein ganzes Tun und Treiben fragmentarisch erschien. Er las damals nur zweite Teile, ohne sich um den ersten und letzten zu bekümmern, sah im Schauspiel zweite und dritte Akte und sofort."

"Und diese Neigung", sprach Theodor, "habe ich wohl noch. Nichts ist mir mehr zuwider, als wenn in einer Erzählung, in einem Roman der Boden, auf dem sich die phantastische Welt bewegt hat, zuletzt mit dem historischen Besen so rein gekehrt wird, daß auch kein Körnchen, kein Stäubchen bleibt, wenn man so ganz abgefunden nach Hause geht, daß man gar keine Sehnsucht empfindet, noch einmal hinter die Gardinen zu kucken. Dagegen dringt manches Fragment einer geistreichen Erzählung tief in meine Seele und verschafft mir, da nun die Phantasie die eignen Schwingen regt, einen lange dauernden Genuß. Wem ist es nicht so gegangen mit Goethes ,Nußbraunem Mädchen'! — Vor allen hat auf mich aber das Goethesche Fragment jenes allerliebsten Märchens von der kleinen Frau, die der Reisende im Kästchen mit sich führt, einen unbeschreiblichen Zauber geübt."

"Genug", unterbrach Lothar den Freund, "genug; wir erfahren nichts mehr von dem redenden Türken, und eigentlich war auch die Geschichte gewissermaßen ganz aus. Darum soll nun aber unser Ottmar ohne weiteres zu Worte kommen."

Ottmar zog sein Manuskript hervor und las:


Doge und Dogaresse

Mit diesem Namen war in dem Katalog der Kunstwerke, die die Akademie der Künste zu Berlin im September 1816 ausstellte, ein Bild bezeichnet, das der wackre, tüchtige C. Kolbe, Mitglied der Akademie, gemalt hatte und das mit besonderm Zauber jeden anzog, so daß der Platz davor selten leer blieb. Ein Doge in reichen prächtigen Kleidern schreitet, die ebenso reich geschmückte Dogaresse an der Seite, auf einer Balustrade hervor, er ein Greis mit grauem Bart, sonderbar gemischte Züge, die bald auf Kraft, bald auf Schwäche, bald auf Stolz und Übermut, bald auf Gutmütigkeit deuten, im braunroten Gesicht; sie ein junges Weib, sehnsüchtige Trauer, träumerisches Verlangen im Blick, in der ganzen Haltung. Hinter ihnen eine ältliche Frau und ein Mann, der einen aufgespannten Sonnenschirm hält. Seitwärts an der Balustrade stößt ein junger Mensch in ein muschelförmig gewundenes Horn, und vor derselben im Meer liegt eine reichverzierte, mit der venezianischen Flagge geschmückte Gondel, auf der zwei Ruderer befindlich. Im Hintergrunde breitet sich das mit hundert und aber hundert Segeln bedeckte Meer aus, und man erblickt die Türme und Paläste des prächtigen Venedig, das aus den Fluten emporsteigt. Links unterscheidet man San Marco, rechts, mehr im Vorgrunde, San Giorgio Maggiore. In dem goldnen Rahmen des Bildes sind die Worte eingeschnitzt:

Ah senza amare,
Andare sul mare
Col sposo del mare
Non pua consolare.
Ach! gebricht der Liebe Leben,
Kann auf hohem Meer zu schweben
Mit dem Gatten selbst des Meeres
Doch nicht Trost dem Herzen geben.

Vor diesem Bilde entstand eines Tages ein unnützer Streit darüber, ob der Künstler durch das Bild nur ein Bild, das heißt die durch die Verse hinlänglich angedeutete augenblickliche Situation eines alten abgelebten Mannes, der mit aller Pracht und Herrlichkeit nicht die Wünsche eines sehnsuchtsvollen Herzens zu befriedigen vermag, oder eine wirkliche geschichtliche Begebenheit habe darstellen wollen. Des Geschwätzes müde, verließ einer nach dem andern den Platz, so daß zuletzt nur noch zwei der edlen Malerkunst gar holde Freunde übrigblieben. "Ich weiß nicht", fing der eine an, "wie man sich selbst allen Genuß verderben mag mit dem ewigen Deuteln und Deuteln. Außer dem, daß ich ja genau zu ahnen glaube, was es mit diesem Dogen, mit dieser Dogaressa für eine Bewandtnis hat im Leben, so ergreift mich auch auf ganz besondre Weise der Schimmer des Reichtums und der Macht, der über das Ganze verbreitet ist. Sieh diese Flagge mit dem geflügelten Löwen, wie sie, der Welt gebietend, in den Lüften flattert - O herrliches Venedig!" Er fing an, Turandots Rätsel von dem Adriatischen Löwen herzusagen: "Dimmi, qual sia quella terribil fera" etc. Kaum hatte er geendet, als eine wohltönende Männerstimme mit Kalafs Auflösung einfiel: "Tu quadrupede fera"etc. Von den Freunden unbemerkt, hatte sich hinter ihnen ein Mann hingestellt von hohem edlen Ansehn, den grauen Mantel malerisch über die Schulter geworfen, das Bild mit funkelnden Augen betrachtend. — Man geriet ins Gespräch, und der Fremde sagte mit beinahe feierlichem Tone: "Es ist ein eignes Geheimnis, daß in dem Gemüt des Künstlers oft ein Bild aufgeht, dessen Gestalten, zuvor unkennbare körperlose, im leeren Luftraum treibende Nebel, eben in dem Gemüte des Künstlers erst sich zum Leben zu formen und ihre Heimat zu finden scheinen. Und plötzlich verknüpft sich das Bild mit der Vergangenheit oder auch wohl mit der Zukunft und stellt nur dar, was wirklich geschah oder geschehen wird. Kolbe mag vielleicht selbst noch nicht wissen, daß er auf dem Bilde dort niemanden anders

darstellte als den Dogen Marino Falieri und seine Gattin Annunziata." — Der Fremde schwieg, aber beide Freunde drangen in ihn, dies Rätsel ihnen so zu lösen wie das Rätsel vom Adriatischen Löwen. Da sprach er: "Habt ihr Geduld, ihr neugierigen Herrn, so will ich euch auf der Stelle mit Falieris Geschichte die Erklärung des Bildes geben. Aber habt ihr auch Geduld? — Ich werde sehr umständlich sein, denn anders mag ich nicht von Dingen reden, die mir so lebendig vor Augen stehen, als habe ich sie selbst erschaut. — Das kann auch wohl der Fall sein, denn jeder Historiker, wie ich nun einmal einer bin, ist ja eine Art redendes Gespenst aus der Vorzeit."

Die Freunde traten mit dem Fremden in ein entferntes Zimmer, wo er ohne weitere Vorrede in folgender Art begann:



Vor gar langer Zeit, und irr ich nicht, so war's im Monat August des Jahres eintausenddreihundertundvierundfünfzig, als der tapfere genuesische Feldherr, Paganino Doria geheißen, die Venezianer aufs Haupt geschlagen und ihre Stadt Parenzo erstürmt hatte. Im Golf, dicht vor Venedig, kreuzten nun seine wohlbemannten Galeeren hin und her wie hungrige Raubtiere, die in unruhiger Gier auf und nieder rennen, spähend, wo die Beute am sichersten zu haschen; und Todesschrecken erfaßte Volk und Signorie. Alle Mannschaft, jeder, der nur vermochte die Arme zu rühren, griff zur Waffe oder zum Ruder. In dem Hafen von San Nicolo sammelte man die Haufen. Schiffe, Bäume wurden versenkt, Kett an Kette geschlossen, um dem Feinde den Eingang zu sperren. Während hier in wildem Getümmel die Waffen klirrten, die Lasten in das schäumende Meer niederdonnerten, sah man auf dem Rialto die Agenten der Signorie, wie sie, den kalten Schweiß sich von der bleichen Stirn wegtrocknend, mit verstörtem Gesichte, mit heiserer Stimme Prozente über Prozente boten für bares Geld. denn auch daran mangelte es der bedrohten Republik. In dem unerforschlichen Ratschlusse der ewigen Macht lag es aber, daß gerade in dieser Zeit der höchsten Kümmernis und Not der bedrängten Herde der treue Hirte entrissen werden sollte. Ganz erdrückt von der Last des Ungemachs, starb der Doge Andrea Dandulo, den das Volk sein liebes Gräfchen (il caro contino) nannte, weil er immer fromm und freundlich war und niemals über den Markusplatz schritt, ohne für jeden des Geldes oder des guten Rats Bedürftigen, für diesen Trost im Munde, für jenen Zechinen in der Tasche zu führen. Wie es denn nun geschieht, daß den vom Unglück Entmuteten jeder Schlag, sonst kaum gefühlt, doppelt schmerzlich trifft, so war denn auch das Volk, als die Glocken von San Marco in dumpfen schauerlichen Klängen den Tod des Herzogs verkündeten, ganz außer sich vor Jammer und Betrübnis. Nun sei ihre Stütze, ihre Hoffnung dahin, nun müßten sie die Nacken beugen dem genuesischen Joch, so schrien sie laut, unerachtet, was die eben nötigen kriegerischen Operationen betraf, der Verlust des Dandulo eben nicht so verderblich schien. Das gute Gräfchen lebte gerne in Ruhe und Frieden, es verfolgte lieber den wunderbaren Gang der Gestirne als die rätselhaften Verschlingungen der Staatsklugheit, es verstand sich besser darauf, am heiligen Osterfeste die Prozession zu ordnen, als ein Kriegsheer zu führen. Nun kam es darauf an, einen Doge zu wählen, der, gleich begabt mit mutigem Feldherrnsinn und tüchtiger Staatsklugheit, das in seinen Grundfesten erschütterte Venedig rette von der bedrohlichen Gewalt des immer kühneren Feindes. Die Senatoren versammelten sich, aber da sah man nichts als trübe Gesichter, starre Blicke, zu Boden gesenkte, in die Hand gestützte Häupter. Wo einen Mann finden, der jetzt mit kräftiger Hand das lose Steuer zu ergreifen und richtig zu lenken vermag? Der älteste Rat, Marino Bodoeri geheißen, erhob endlich seine Stimme. "Hier um uns, unter uns", so sprach er, "hier werdet ihr ihn nicht finden, aber richtet eure Blicke nach Avignon, auf Marino Fallen, den wir hinschickten, um dem Papste Innozenz Glück zu wünschen zu seiner Erhebung, der kann jetzt was Besseres tun, der vermag es, wählen wir ihn zum Doge, allem Ungemach zu steuern. Ihr werdet einwenden, daß dieser Marino Falieri schon an die achtzig Jahre alt ist, daß Haupthaar und Bart reines Silber geworden, daß sein muntres Ansehen, sein brennendes Auge, das Glührot auf Nase und Wangen, wie Verleumder wollen, mehr dem guten Zyperwein als innerer Kraft zuzuschreiben ist, aber achtet das nicht. Erinnert euch, welche glänzende Tapferkeit dieser Marino Falieri als Proveditor der Flotte auf dem Schwarzen Meere zeigte, bedenkt, welche Verdienste es sein mußten, die die Prokuratoren von San Marco bewegen konnten, diesen Falieri mit der reichen Grafschaft Valdemarino zu belehnen." — So strich Bodoeri Falieris Verdienste wacker heraus und wußte jedem Einwand im voraus zu begegnen, bis endlich alle Stimmen sich zu Falieris Wahl einten. Mancher sprach zwar noch viel von Falieris aufbrausendem Zorn, von seiner Herrschsucht, seinem Eigenwillen, aber da hieß es: "Ebendeshalb, weil das alles von dem Greise gewichen, wählen wir den Greis und nicht den Jüngling Falieri." Derlei tadelnde Stimmen verhallten nun auch vollends, als das Volk die Wahl des neuen Doge erfuhr und ausbrach in ungemessenen ausgelassenen Jubel. Weiß man nicht, daß in solch gefahrvoller Zeit, in solcher Unruhe und Spannung jeder Entschluß, ist es nur wirklich einer, wie eine Eingebung des Himmels erscheint? — So geschah es, daß das gute Gräfchen mit all seiner Frömmigkeit und Milde rein vergessen war und daß jeder rief: "Beim heiligen Markus, dieser Marino hätte längst unser Doge sein sollen, und der übermütige Doria säße uns nicht in den Rippen!" — Und verkrüppelte Soldaten streckten mühsam die lahmen Arme hoch aus in die Lüfte und schrien: "Das ist der Falieri, der den Morbassan schlug - der tapfere Heerführer, dessen siegreiche Flaggen im Schwarzen Meere wehten." Und wo das Volk zusammenstand, erzählte einer von des alten Falieri Heldentaten, und als sei Doria schon geschlagen, erhallten die Lüfte von wildem Jubelgeschrei. Hiezu kam, daß Nicolo Pisani, der, mag der Himmel wissen warum, statt dem Doria zu begegnen, mit der Flotte ruhig nach Sardinien gesegelt war, endlich zurückkehrte. Doria verließ den Golf, und was die Annäherung der Flotte des Pisani verursachte, wurde dem furchtbaren Namen Marino Falieri zugeschrieben. Da ergriff Volk und Signorie eine Art fanatischer Verzückung über die glückliche Wahl, und man beschloß, damit das Außerordentliche geschehe, den neuerwählten Dogen wie den Hirnmelsboten, der Ehre, Sieg, die Fülle des Reichtums bringt, zu empfangen. Zwölf Edle, jeder von zahlreicher glänzender Dienerschaft umgeben, hatte die Signorie bis nach Verona geschickt, wo die Gesandten der Republik dem Falieri, sowie er angekommen, nochmals seine Erhebung zum Oberhaupt des Staats feierlich ankündeten. Fünfzehn reichverzierte Staatsbarken, vom Podesta von Chioggia unter den Befehlen seines eignen Sohnes Taddeo Giustiniani ausgerüstet, nahmen darauf in Chiozza den Dogen mit seinem Gefolge auf, der nun wie im Triumphzuge des mächtigsten siegreichsten Monarchen nach St. Clemens ging, wo ihn der Bucentoro erwartete.

Gerade in diesem Augenblick, als nämlich Marino Falieri den Bucentoro zu besteigen im Begriff stand, und das war am dritten Oktober abends, da schon die Sonne zu sinken begann, lag vor den Säulen der Dogana, auf dem harten Marmorpflaster ausgestreckt, ein armer unglücklicher Mensch. Einige Lumpen gestreifter Leinwand, deren Farbe nicht mehr kenntlich und die sonst einem Schifferkleide, wie das gemeinste Volk der Lastträger und Ruderknechte es trägt, angehört zu haben schienen, hingen um den abgemagerten Körper. Von Hemde war nichts mehr zu sehen als die eigne Haut des Armen, die überall durchblickte, aber so weiß und zart war, daß sie der Edelsten einer ohne Scheu und Scham hätte tragen können. So zeigte auch die Magerkeit nur desto besser das reinste Ebenrnaß der wohlgebauten Glieder, und betrachtete man nun vollends die hell-kastanienbraune Lokken,

die zerzaust und verworren die schönste Stirn umschatteten, die blauen, nur von trostlosem Elend verdüsterten Augen, die Adlernase, den feingeformten Mund des Unglücklichen, der höchstens zwanzig Jahre zu zählen schien, so war es gewiß, daß irgendein feindseliges Schicksal den Fremdling von guter Geburt in die unterste Klasse des Volks geschleudert haben mußte.

Wie gesagt, vor den Säulen der Dogana lag der Jüngling und starrte, den Kopf auf den rechten Arm gestützt, mit stierem gedankenlosen Blick ohne Regung und Bewegung hinein in das Meer. Man hätte denken sollen, das Leben sei von ihm gewichen, der Todeskampf habe ihn zur Bildsäule versteinert, hätte er nicht dann und wann tief wie im unsäglichsten Schmerz aufgeseufzt. Das war denn nun wohl der Schmerz des linken Arms, den er ausgestreckt hatte auf dem Pflaster und der, mit blutigen Lumpen umwickelt, schwer verwundet zu sein schien.

Alle Arbeit ruhte, das Getöse des Gewerbes schwieg, ganz Venedig schwamm in tausend Barken und Gondeln -dem-hoch gepriesenen Falieri entgegen. So kam es, daß auch der unglückliche junge Mensch in trostloser Hülflosigkeit seinen Schmerz verseufzte. Doch eben als sein mattes Haupt herabsank auf das Pflaster und er der Ohnmacht nahe schien, rief eine heisere Stimme recht kläglich mehrmals hintereinander: "Antonio - mein lieber Antonio!" — Antonio erhob sich endlich mühsam mit halbem Leibe, und indem er den Kopf nach den Säulen der Dogana, hinter denen die Stimme hervorzukommen schien, hin richtete, sprach er ganz matt und kaum vernehmbar: "Wer ist's, der mich ruft? — Wer kommt, meinen Leichnam ins Meer zu werfen, denn bald werde ich hier umgekommen sein!" — Da keuchte und hüstelte sich ein kleines steinaltes Mütterchen am Stabe heran zu dem wunden Jüngling, und indem sie neben ihm hinkauerte, brach sie aus in ein widriges Kichern und Lachen. "Töricht Kind", so lispelte dann die Alte, "töricht Kind, willst hier umkommen - willst hier sterben, weil das goldne

Glück dir aufgeht? — Schau nur hin, schau nur hin, dort im Abend die lodernden Flammen, das sind Zechinen für dich. — Aber du mußt essen, lieber Antonio, essen und trinken, denn der Hunger nur ist es, der dich zu Boden geworfen hat hier auf dem kalten Pflaster! — Der Arm ist schon heil, schon wieder heil!" —Antonio erkannte in dem alten Mütterchen das seltsame Bettelweib, das auf den Stufen der Franziskanerkirche die Andächtigen, immer kichernd und lachend, um Almosen anzusprechen pflegte und der er manchmal, von innerm unerklärlichem Hange getrieben, einen sauer verdienten Quattrino, den er selbst nicht übrig, hingeworfen. "Laß mich in Ruhe", sprach er, "laß mich in Ruhe, altes wahnsinniges Weib, wohl ist es der Hunger mehr als die Wunde, der mich kraftlos und elend macht, seit drei Tagen hab ich keinen Quattrino verdient. Hinüber wollt ich nach dem Kloster und sehen, ein paar Löffel Krankensuppe zu erhaschen, aber alle Kameraden sind fort - keiner, der mich aus Barmherzigkeit aufnimmt in die Barke, und da bin ich hier umgesunken und werde wohl niemals wieder aufstehen." — "Hi, hi, hi, hi", kicherte die Alte, "warum gleich verzweifeln? warum gleich verzagen? Du bist durstig, du bist hungrig, dafür hab ich Rat. Hier sind schöne gedörrte Fischlein, erst heute auf der Zecca eingekauft, hier ist Limoniensaft, hier ein artig weißes Brötlein, iß, mein Söhnlein, iß und trinke, mein Söhnlein, dann wollen wir nach dem wunden Arm schauen." Die Alte hatte in der Tat aus dem Sack, der ihr wie eine Kapuze auf dem Rücken hing und hoch hinüberragte über das gebückte Haupt, Fische, Brot und Limoniensaft hervorgeholt. Sowie Antonio nur die brennenden verschrumpften Lippen genetzt hatte mit dem kühlen Getränke, erwachte der Hunger mit doppelter Gewalt, und er verschlang gierig Fische und Brot. Die Alte war indessen drüber her, ihm die Lumpen von dem wunden Arm abzuwickeln, und da fand es sich denn, daß der Arm zwar hart zerschlagen, die Wunde aber schon in voller Heilung war. Indem nun die Alte eine Salbe, die in einem kleinen Büchschen befindlich und die sie mit dem Hauch des Mundes erwärmt, daraufstrich, frug sie: "Aber wer hat dich denn so arg geschlagen, mein armes Söhnlein?" Antonio, ganz erquickt, von neuem Lebensfeuer durchglüht, hatte sich ganz aufgerichtet; mit blitzenden Augen, die geballte Rechte erhoben, rief er: "Ha! — Nicolo, der Spitzbube, der wollte mich lahm schlagen, weil er mich um jeden elenden Quattrino beneidet, den mir eine wohltätige Hand zuwirft! Du weißt, Alte, daß ich mühsam mein Leben dadurch erhielt, daß ich die Lasten aus den Schiffen und Barken in das Kaufhaus der Deutschen, in den sogenannten Fontego (du kennst es ja wohl, das Gebäude), schleppen half." — Sowie Antonio das Wort "Fontego"aussprach, kicherte und lachte die Alte recht abscheulich auf und plapperte immerfort: "Fontego - Fontego -Fontego." — "Laß dein tolles Lachen, Alte, wenn ich erzählen soll", rief Antonio erzürnt; da wurde die Alte gleich still, und Antonio fuhr fort: "Nun hatte ich einige Quattrinos verdient, mir ein neues Wams gekauft, sah ganz stattlich aus und kam in die Zahl der Gondolieres. Weil ich immer frohen Mutes--war, wacker arbeitete und manch schönes Lied wußte, verdiente ich manchen Quattrino mehr als die andern. Aber da erwachte der Neid unter den Kameraden. Sie verschwärzten mich bei meinem Herrn, der mich fortjagte, überall, wo ich ging und stand, riefen sie mir nach: ,Deutscher Hund! verfluchter Ketzer!', und vor drei Tagen, als ich bei San Sebastian eine Barke ans Land rollen half, überfielen sie mich mit Steinwürfen und Prügeln. Wacker wehrte ich mich meiner Haut, aber da traf mich der tückische Nicolo mit einem Ruderschlage, der, mein Haupt streifend und den Arm schwer verletzend, mich zu Boden warf. — Nun, du hast mich satt gemacht, Alte, und in der Tat fühle ich, daß deine Salbe meinem wunden Arm auf wunderbare Weise wohltut. Sieh nur, wie ich den Arm schon zu schwingen vermag - nun will ich wieder tapfer rudern!" Antonio war vom Boden aufgestanden und schwang den wunden Arm kräftig hin und her, aber die Alte kicherte und lachte wieder laut auf und rief, indem sie ganz wunderlich, wie in kurzen Sprüngen tänzelnd, hin und her trippelte: "Söhnlein, Söhnlein, mein Söhnlein, rudere tapfer -tapfer - er kommt - er kommt, das Gold glüht in lichten Flammen, rudere tapfer, tapfer! — aber nur noch einmal, nur noch einmal! —dann nicht wieder!"

Antonio achtete nicht auf der Alten Beginnen, denn vor ihm hatte sich das allerherrlichste Schauspiel aufgetan. Von San Clemens her schwamm der Bucentoro, den Adriatischen Löwen in der flatternden Flagge, mit tönendem Ruderschlage daher wie ein kräflig-beschwingter goldner Schwan. Umringt von tausend Barken und Gondeln, schien er, sein fürstlich kühnes Haupt erhoben, zu gebieten über ein jubelndes Heer, das mit glänzenden Häuptern aufgetaucht war aus dem tiefen Meeresgrunde. Die Abendsonne warf ihre glühenden Strahlen über das Meer, über Venedig hin, so daß alles in lodernden Flammen stand; aber wie Antonio in Vergessenheit alles Kummers ganz entzückt hinschaute, wurde der Schein immer blutiger und blutiger. Ein dumpfes Sausen ging durch die Lüfte, und wie ein furchtbares Echo hallte es wider aus der Tiefe des Meers. Der Sturm kam dahergefahren auf schwarzen Wolken und hüllte alles in dicke Finsternis ein, während aus dem brausenden Meere höher und höher die Wellen wie zischende schäumende Ungeheuer emporstiegen und alles zu. verschlingen drohten. Gleich zerstäubtem Gefieder sah man Gondeln und Barken hier und dort auf dem Meere treiben. Der Bucentoro, mit seinem flachen Boden unfähig, dem Sturme zu widerstehen, schwankte hin und her. Statt des fröhlichen Jubels der Zinken und Trompeten hörte man durch den Sturm das Angstgeschrei der Bedrängten.

Erstarrt schaute Antonio hin, dicht vor ihm rasselte es wie mit Ketten, er schaute hinab, ein kleiner Kahn, der an die Mauer angekettet, wurde von den Wellen geschaukelt, da fiel es wie ein Blitzstrahl in seine Seele. Er sprang in den Kahn, machte ihn frei, ergriff das Ruder, das er darinnen

fand, und stach kühn und mutvoll hinaus in die See, gerade zu auf den Bucentoro. Je näher er kam, desto deutlicher vernahm er das Hülfsgeschrei auf dem Bucentoro: "Hinan! —hinan! — rettet den Doge! rettet den Doge!" —Es ist bekannt, daß kleine Fischerkähne im Golf, wenn er stürmt, gerade sicherer sind und besser zu handhaben als größere Barken, und so kam es denn, daß dergleichen von allen Seiten herbeieilten, um das teure Haupt des würdigen Marino Falieri zu retten. Aber im Leben geschieht es ja immer, daß die ewige Macht nur einem das tüchtige Gelingen einer kühnen Tat als sein Eigen zugeteilt hat, so daßalle andere sich ganz vergebens darum bemühen. So war es diesmal der arme Antonio, dem die Rettung des neuerwählten Doge zugedacht war, und deshalb gelang es ihm ganz allein, sich mit seinem kleinen geringen Fischerkahn glücklich hinanzuarbeiten an den Bucentoro. Der alte Marino Falieri. mit solcher Gefahr vertraut, stieg, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, rüstig heraus aus dem prächtigen, aber verräterischen Bucentoro und hinein in den kleinen Kahn des armen Antonio, der inh, über die brausenden Wellen leicht weggleitend wie ein Delphin, in wenigen Minuten hinüberruderte nach dem Platze des heiligen Markus. Mit durchnäßten Kleidern, große Meerestropfen im grauen Bart, führte man den Alten in die Kirche, wo der Adel mit verbleichten Gesichtern die Zeremonien des Einzuges beendete. Das Volk, ebenso wie die Signorie bestürzt über die Unfälle des Einzuges, zu denen es auch rechnete, daß der Doge in der Eil und Verwirrung durch die zwei Säulen geführt worden, wo gewöhnliche Missetäter hingerichtet zu werden pflegen, verstummte mitten im Jubel, und so endete der festlich begonnene Tag traurig und düster.

An den Retter des Doge schien niemand zu denken, und Antonio selbst dachte nicht daran, sondern lag todmüde, halb ohnmächtig von Schmerz, den ihm die neu aufgereizte Wunde verursachte, in dem Säulengange des herzoglichen Palastes. Desto verwunderlicher war es ihm, als, da beinahe

die Nacht eingebrochen, ein herzoglicher Trabant ihn bei den Schultern packte und mit den Worten: "Komm, guter Freund" in den Palast und in die Zimmer des Doge hineinstieß. Der Alte kam ihm freundlich entgegen und sprach, indem er auf ein paar Beutel wies, die auf dem Tische lagen: "Du hast dich. wacker gehalten, mein guter Sohn, hier! — nimm diese dreitausend Zechinen. willst du mehr, so fordere, aber erzeige mir den Gefallen und lasse dich nie mehr vor meinem Angesicht sehen." Bei den letzten Worten blitzten Funken aus den Augen des Alten, und die Nasenspitze rötete sich höher. Antonio wußte nicht, was der Alte wollte, ließ sich das auch gar nicht zu Herzen gehn, sondern lastete mit Mühe die Beutel auf, die er mit Fug und Recht verdient zu haben glaubte.

Leuchtend im Glanz der neuerlangten Herrschaft, sah andern Morgens der alte Falieri aus den hohen Bogenfenstern des Palastes herab auf das Volk. das sich unter ihm in allerlei Waffenübungen lustig tummelte. Da trat Bodoeri, seit den Jünglingsjahren in unwandelbarer Freundschaft mit dem Dogen fest verkettet, ins Gemach, und als nun dieser, ganz versunken in sich und seine Würde, ihn gar nicht zu bemerken schien, schlug er die Hände zusammen und rief laut lachend aus: "Ei, Falieri, welche erhabene Gedanken mögen brüten und gedeihen in deinem Kopfe seit dem Augenblicke, daß die krumme Mütze darauf sitzt?" — Falieri, wie aus einem Traum erwachend, kam dem Alten mit erzwungener Freundlichkeit entgegen. Er fühlte, daß es doch eigentlich Bodoeri war, dem er die Mütze zu verdanken, und jene Rede schien ihn daran zu mahnen. Da nun aber jede Verpflichtung sein stolzes herrschsüchtiges Gemüt wie eine Last drückte und er den ältesten Rat, den bewährten Freund nicht abfertigen konnte wie den armen Antonio, so zwang er sich einige Worte des Dankes ab und fing dann gleich an, von den Maßregeln zu sprechen, die jetzt den überall sich regenden Feinden entgegengestellt werden müßten. "Das", fiel ihm Bodoeri mit schlauem Lächeln in die Rede, "das und

alles übrige, was sonst noch der Staat von dir fordert, wollen wir nach ein paar Stunden im versammelten Großen Rat reiflich erwägen und überlegen. Nicht darum bin ich so früh gekommen, um mit dir die Mittel aufzufinden, wie man den kecken Doria schlägt oder wie man den ungarischen Ludwig, dem es wieder nach unsern dalmatischen Seestädten gelüstet, zur Vernunft bringt. Nein, Marino, nur an dich selbst hab ich gedacht, und zwar, was du vielleicht nicht raten würdest, an deine Vermählung." — "Wie konntest du", erwiderte der Doge, indem er ganz verdrießlich aufstand und, dem Bodoeri den Rücken gewendet, hinausschaute durch das Fenster - "wie konntest du nur daran denken? Noch lange ist's hin bis zum Himmelfahrtstage. Dann, hoff ich, soll der Feind geschlagen, Sieg, Ehre, neuer Reichtum, glänzendere Macht dem meergebornen Adriatischen Löwen erworben sein. Die keusche Braut soll den Bräutigam ihrer würdig finden." — "Ach", fiel ihm Bodoeri ungeduldig in die Rede, "ach, du sprichst von der seltsamen Feierlichkeit am Himmelfahrtstage, wenn du, den goldnen Ring vom Bucentoro hinabschleudernd in die Wellen, dich zu vermählen gedenkst mit dem Adriatischen Meer. Du, Marino, du, dem Meer Verwandter, kennst du denn keine andere Braut als das kalte, feuchte verräterische Element, dem du zu gebieten wähnst und das erst gestern gar bedrohlich sich gegen dich auflehnte? —Ei, wie magst du liegen wollen in den Armen einer solchen Braut, die, ein eigensinnig tolles Ding, gleich, als du, auf dem Bucentoro dahergleitend, ihr nur die bläulich gefrornen Wangen streicheltest, zankte und tobte. Reicht denn ein ganzer Vesuv voll Glut dazu hin, den eisigen Busen eines falschen Weibes zu erwärmen, die, in steter Treulosigkeit immer und immer sich neu vermählend, die Ringe nicht empfängt als teures Liebespfand, sondern hinabreißt den Tribut der Sklaven? Nein, Marino, ich gedachte, daß du dich vermählen solltest mit dem schönsten Erdenkinde, das nur zu finden." — "Du faselst", murmelte Falieri, ohne sich vom Fenster wegzuwenden, "du faselst, Alter. Ich, ein achtzigjähriger Greis, belastet mit Mühe und Arbeit, niemals verheiratet gewesen, kaum mehr fähig zu lieben." — "Halt ein", rief Bodoeri, "lästere dich nicht selbst. — Streckt nicht der Winter, so rauh und kalt, als er auch sein mag, doch nicht zuletzt voll Sehnsucht die Arme aus nach der holden Göttin, die ihm entgegenzieht, von lauen Westwinden getragen? — Und wenn er sie dann an den erstarrten Busen drückt, wenn sanfte Glut seine Adern durchrinnt, wo bleibt da Eis und Schnee! Du sagst, du seist an die achtzig Jahre alt, das ist wahr, aber berechnest du das Greistum denn bloß nach den Jahren? —Trägst du dein Haupt nicht so aufrecht, gehst du nicht mit solchem festen Schritt einher wie vor vierzig Sommern? Oder fühlst du vielleicht doch, daß deine Kraft abgenommen, daß du ein geringeres Schwert tragen mußt, daß du im raschen Gange ermattest, daß du die Treppen des herzoglichen Palastes heraufkeuchst?" — "Nein, beim Himmel!" unterbrach Falieri den Freund, indem er mit rascher heftiger Bewegung vom Fenster weg- und auf ihn zutrat, "nein, beim Himmel! von dem allem spüre ich nichts." — "Nun dann", fuhr Bodoeri fort, "so genieße als Greis mit allen Zügen alles Erdenglück, was dir noch zugedacht. Erhebe das Weib, das ich für dich wählte, zur Dogaressa, und die Frauen von Venedig werden, was Schönheit und Tugend betrifft, so gut in ihr die Erste anerkennen müssen als die Venezianer in dir ihr Oberhaupt an Tapferkeit, Geist und Kraft." Bodoeri fing nun an, das Bild eines Weibes zu entwerfen, und wußte die Farben so geschickt zu mischen und so lebendig aufzutragen, daß des alten Falieri Augen blitzten, daß er im ganzen Gesicht röter und röter wurde, daß die Lippen sich spitzten und schmatzten, als genösse er ein Gläslein feurigen Syrakuser nach dem andern. "Ei", sprach er endlich schmunzelnd, "ei, was ist denn das für ein Ausbund von Liebreiz, von dem du sprichst?" — "Kein anderes Weib", erwiderte Bodoeri, "kein anderes Weib meine ich als mein liebes Nichtchen." — "Was", fiel ihm Fallen in die Rede, "deine Nichte? Die wurde ja, als ich Podesta von Treviso war, an Bertuccio Nenolo verheiratet." — "Ei", sprach Bodoeri weiter, "du denkst an meine Nichte Franzeska, und deren Töchterlein ist es, die ich dir zugedacht. Du weißt, daß den wilden barschen Nenolo der Krieg ins Meer verlockte. Franzeska, voller Gram und Schmerz, begrub sich in ein römisches Kloster, so ließ ich die kleine Annunziata erziehen in tiefer Einsamkeit auf meiner Villa in Treviso." — "Was", unterbrach Falieri den Alten voller Ungeduld aufs neue, "was, die Tochter deiner Nichte soll ich zu meiner Gemahlin erheben? — Wie lange ist's, daß Nenolo sich vermählte? — Annunziata muß .ein Kind sein von höchstens zehn Jahren. Als ich Podesta von Treviso wurde, war an Nenolos Vermählung noch nicht zu denken, und das sind -" —"fünfundzwanzig Jahre her", fiel Bodoeri ihm lachend in die Rede, "ei! wie magst du dich so verrechnen in der Zeit, die dir schnell vergangen. Annunziata ist ein Mädchen von neunzehn Jahren, schön wie die Sonne, sittsam, demütig, in der Liebe unerfahren, denn sie sah kaum einen Mann. Sie wird dir anhängen mit kindlicher Liebe und anspruchsloser Ergebenheit."— "Ich will sie sehen, ich will sie sehen", rief der Doge, dem das Bild, das Bodoeri von der schönen Annunziata entworfen, wieder vor Augen kam. Sein Wunsch wurde selbigen Tages erfüllt, denn kaum als er aus dem Großen Rat in seine Gemächer zurückgekehrt war, führte ihm der schlaue Bodoeri, der mancherlei Ursachen haben mochte, seine Nichte als Dogaressa an Falieris Seite zu sehen, die holde Annunziata ganz heimlich zu. Als nun der alte Falieri das Engeiskind erblickte, war er ganz bestürzt über das Wunder von Schönheit und vermochte kaum, unverständliche Worte stammelnd, um sie zu werben. Annunziata, wohl von Bodoeri schon unterrichtet, sank, hohe Röte auf den Wangen, nieder vor dem fürstlichen Greise. Sie ergriff seine Hand, die sie an die Lippen drückte, und lispelte leise: "0 Herr, wollt Ihr mich denn würdigen, Euch zur Seite den fürstlichen Thron zu besteigen? — Nun, so will ich Euch aus dem Grunde meiner Seele verehren und Eure treue Magd sein bis zum letzten Atemzuge." Der alte Falieri war außer sich vor Wonne und Entzücken. Als Annunziata seine Hand ergriff, fühlt' er es durch alle Glieder zucken, und dann begann er dermaßen mit dem Kopfe, mit dem ganzen Leibe zu wackeln und zu zittern, daß er nur ganz geschwinde sich in den großen Lehnstuhl setzen mußte. Es schien, als solle Bodoeris gute Meinung von dem kräftigen Alter der achtziger Jahre widerlegt werden. Der konnte freilich ein seltsames Lächeln, das um seine Lippen zuckte, nicht unterdrücken, die unschuldige unbefangene Annunziata bemerkte nichts, und sonst war zum Glück niemand zugegen. — Mocht es sein, daß der alte Falieri, dacht er daran, sich dem Volke als Bräutigam eines neunzehnjährigen Mädchens zu zeigen, das Unbequeme dieser Lage fühlte, daß sogar eine Ahnung in ihm sich regte, daß man die zum Spott geneigten Venezianer dazu eben nicht aufreizen dürfe und daß es besser sei, den kritischen Zeitpunkt des Bräutigamsstandes ganz zu verschweigen, genug, mit Bodoeris Übereinstimmung wurde beschlossen, daß die Trauung in der größten Heimlichkeit vollzogen und dann einige Tage darauf die Dogaressa als mit Falieri längst vermählt und als sei sie eben aus Treviso angekommen, wo sie sich während Falieris Sendung nach Avignon aufgehalten, der Signorie und dem Volk vorgestellt werden sollte.

Richten wir unsern Blick auf jenen sauber gekleideten bildschönen Jüngling, der, den Beutel mit Zechinen in der Hand, den Rialto auf und ab geht, mit Juden, Türken, Armeniern, Griechen spricht, die verdüsterte Stirn wieder abwendet, weiterschreitet, stehenbleibt, wieder umkehrt und endlich sich nach dem Markusplatz gondeln läßt, wo er mit ungewissem zaudernden Schritt, die Arme übereinandergeschlagen, den Blick zur Erde gesenkt, auf und ab wandelt und nicht bemerkt, nicht ahnt, daß manches Flüstern, manches Räuspern aus diesem, jenem Fenster, von diesem, jenem reichbehängten Balkon herab, Liebeszeichen sind, die ihm gelten. Wer würde in diesem Jünglinge so leicht den Antonio

erkennen, der noch vor wenigen Tagen zerlumpt, arm und elend auf dem Marmorpflaster vor der Dogana lag! "Söhnlein, mein goldnes Söhnlein Antonio, guten Tag! — guten Tag!" So rief ihm das alte Bettelweib entgegen, die auf den Stufen der Markuskirche saß und bei der er vorüberschreiten wollte, ohne sie zu sehen. Sowie er, sich rasch umwendend, die Alte erblickte, griff er in den Beute! und holte eine Handvoll Zechinen heraus, die er ihr zuwerfen wollte. "0 laß doch dein Gold stecken", kicherte und lachte die Alte, "was soll ich denn mit deinem Golde anfangen, bin ich denn nicht reich genug? — Aber wenn du mir Gutes tun willst, so laß mir eine neue Kapuze machen, denn die, die ich trage, will nicht mehr halten gegen Wind und Wetter! —Ja, das tue, mein Söhnlein, mein goldnes Söhnlein - aber bleib weg vom Fontego - vom Fontego." — Antonio starrte der Alten ins bleichgelbe Antlitz, in dem die tiefen Furchen auf seltsame grauliche Weise zuckten, und als sie nun die dürren Knochenhände klappernd zusammenschlug und mit heulender Stimme und widrigem Kichern immer fortplapperte: "Bleib weg vom Fontego !", rief Antonio: "Kannst du denn niemals dein tolles wahnsinniges Treiben lassen, du - Hexenweib!" Sowie Antonio dies Wort aussprach, kugelte die Alte, wie vom Blitz getroffen, die hohen Marmorstufen herab. Antonio sprang hinzu, faßte die Alte mit beiden Händen und verhinderte den schweren Fall. "0 mein Söhnlein", sprach jetzt die Alte mit leiser kläglicher Stimme, "o mein Söhnlein, was für ein entsetzliches Wort sprachst du aus! O töte mich lieber, als daß du dieses Wort noch einmal wiederholst. —Ach, du weißt nicht, wie schwer du mich verletzt hast, mich, die dich ja so getreulich im Herzen trägt -ach, du weißt nicht." — Die Alte brach plötzlich ab, verhüllte ihr Haupt mit dem dunkelbraunen Tuchlappen, der ihr wie ein kurzes Mäntelchen um die Schultern hing, und seufzte und wimmerte wie in tausend Schmerzen. Antonio fühlte sich im Innersten auf seltsame Weise bewegt, er faßte die Alte und trug sie hinauf bis in das Portal der Markuskirche, wo er sie auf eine Marmorbank, die dort befindlich, hinsetzte. "Du hast mir Gutes getan, Alte", fing er dann an, nachdem er des Weibes Haupt befreit hatte von dem häßlichen Tuchlappen, "du hast mir Gutes getan, dir hab ich eigentlich meinen ganzen Wohlstand zu verdanken, denn standest du mir nicht bei in der Todesnot, so läge ich längst im Meeresgrunde, ich rettete nicht den alten Dogen, ich erhielt nicht die wackern Zechinen. Aber selbst, hättest du das auch nicht getan, so fühle ich, daß ich doch mit ganz besonderer Neigung dir anhängen müßte mein Leben lang, unerachtet du mir wieder mit deinem wahnsinnigen Treiben, wenn du so widerlich kicherst und lachst, oft inneres Grauen genug erregst. In der Tat, Alte, als ich noch mit Lasttragen und Rudern mühsam mein Leben fristete, da war mir es ja immer, als müsse ich schärfer arbeiten, nur um dir ein paar Quattrinos abgeben zu können." —"0 mein Herzenssöhnlein, mein goldner Tonino", rief die Alte, indem sie die verschrumpften Arme hoch emporhob, so daß ihr Stab klappernd auf den Marmor niederfiel und weit fortrollte, "o mein Tonino! ich weiß es ja, ich weiß es ja, daß du mir, stellst du dich auch an, wie du nur magst, mit ganzer Seele anhängen mußt, denn - doch still - still - still." — Die Alte bückte sich mühsam herab nach ihrem Stabe; Antonio hob ihn auf und reichte ihn ihr hin. Das spitze Kinn auf den Stab gestützt, den starren Blick auf den Boden gerichtet, sprach die Alte nun mit zurückgehaltener dumpfer Stimme: "Sage mir, mein Kind! magst du dich denn gar nicht der früheren Zeit erinnern, wie es ging, wie es war mit dir, ehe du hier, ein armer elender Mensch, kaum dein Leben fristen konntest?" Antonio seufzte tief auf, er nahm Platz neben der Alten und fing dann an: "Ach, Mutter, nur zu gut weiß ich, daß ich von Eltern geboren wurde, die in dem blühendsten Wohlstande lebten, aber wie sie waren, wie ich von ihnen kam, nicht die leiseste Ahnung davon blieb und konnte davon in meiner Seele bleiben. Ich erinnere mich sehr gut eines großen schönen Mannes, der mich oft auf den Arm nahm, mich abherzte und mir Zuckerwerk in den Mund steckte. Ebenso gedenke ich einer freundlichen hübschen Frau. die mich aus- und anzog, mich jeden Abend in ein weiches Bettchen legte und mir überhaupt Gutes tat auf jede Weise. Beide sprachen mit mir in einer fremden volltönenden Sprache, und ich selbst laute manches Wort in dieser Sprache ihnen nach. Als ich noch ruderte, pflegten meine feindlichen Kameraden immer zu sagen, ich müsse meiner Haare, meiner Augen, meines ganzen Körperbaues halber deutscher Abkunft sein. Das glaub ich auch, jene Sprache meiner Pfleger (der Mann war gewiß mein Vater) war deutsch. Die lebhafteste Erinnerung jener Zeit ist das Schreckbild einer Nacht, in der ich durch ein entsetzliches Jammergeschrei aus tiefem Schlaf geweckt wurde. Man rannte im Hause umher, Türen wurden auf- und zugeschlagen, mir wurde unbeschreiblich bange, laut fing ich an zu weinen. Da stürzte die Frau, die mich pflegte, hinein, riß mich aus dem Bette, verstopfte mir den Mund, wickelte mich ein in Tücher und rannte mit mir von dannen. Seit diesem Augenblicke schweigt meine Erinnerung. Ich finde mich wider in einem prächtigen Hause, das in der anmutigsten Gegend lag. Das Bild eines Mannes tritt hervor, den ich ,Vater' nannte und der ein stattlicher Herr war von edlem und dabei gutmütigem Ansehen. Er sowie alle im Hause sprachen italienisch. Mehrere Wochen hatte ich den Vater nicht gesehen, da kamen eines Tages fremde Leute von häßlichem Ansehen, die machten vielen Lärm im Hause und stöberten alles durch. Als sie mich erblickten, fragten sie, wer ich denn sei und was ich hier im Hause mache. —,Ich bin ja Antonio, der Sohn vom Hause!' Als ich das erwiderte, lachten sie mir ins Gesicht, rissen mir die guten Kleider vom Leibe und stießen mich zum Hause hinaus, mit der Drohung, daß ich, wage ich es, mich wieder zu zeigen, fortgeprügelt werden solle. Laut jammernd lief ich von dannen. Kaum hundert Schritte vom Hause trat mir ein alter Mann entgegen, in dem ich einen Diener meines Pflegevaters erkannte. ,Komm, Antonio', rief er, indem er mich bei der Hand faßte; ,komm, Antonio, armer Junge! für uns beide ist das Haus dort auf immer verschlossen. Wir müssen nun beide zusehen, wo wir ein Stück Brot finden.' Der Alte nahm mich mit hierher. Er war nicht so arm. als er seiner schlechten Kleidung nach zu sein schien. Kaum angekommen, sah ich, wie er die Zechinen aus dem zertrennten Wams hervorholte und, den ganzen Tag sich auf dem Rialto umhertreibend, bald den Unterhändler, bald den Handelsmann selbst machte. Ich mußte immer hinter ihm her sein, und er pflegte, hatte er den Handel gemacht, noch immer um eine Kleinigkeit für den flgliuolo zu bitten. Jeder, dem ich recht dreist in die Augen sah, rückte noch gern einige Quattrinos heraus, die er mit vieler Behaglichkeit einsteckte, indem er, mir die Wangen streichelnd, versicherte, er sammle das alles für mich zum neuen Wams. Ich befand mich wohl bei dem Alten, den die Leute, ich weiß nicht warum, Väterchen Blaunas nannten. Doch das dauerte nicht lange. Du erinnerst dich, Alte, jener Schreckenszeit, als eines Tages die Erde zu beben begann, als, in den Grundfesten erschüttert, Türme und Paläste wankten, als, wie von unsichtbaren Riesenarmen gezogen, die Glocken läuteten. Es sind ja kaum sieben Jahre darüber vergangen. — Glücklich rettete ich mich mit dem Alten aus dem Hause, das hinter uns zusammenstürzte. Alles Geschäft ruhte, auf dem Rialto lag alles in toter Betäubung. Aber mit diesem entsetzlichen Ereignis kündigte sich nur das herannahende Ungeheuer an, das bald seinen giftigen Atem aushauchte über Stadt und Land. Man wußte, daß die Pest, aus der Levante zuerst nach Sizilien gedrungen, schon in Toskana wütete. Noch war Venedig davon befreit. Da handelte eines Tages mein Väterchen Blaunas auf dem Rialto mit einem Armenier. Sie wurden handelseinig und schüttelten sich wacker die Hände. Mein Väterchen hatte einige gute Waren dem Armenier abgelassen um geringen Preis und forderte nun wie gewöhnlich die Kleinigkeit per il figliuolo. Der Armenier, ein großer starker Mann mit dickem krausem Bart (noch steht er vor mir), schaute mich an mit freundlichem Blick, dann küßte er mich und drückte mir ein paar Zechinen in die Hand, die ich hastig einsteckte. Wir gondelten nach San Marco. Unterwegs forderte Väterchen mir die Zechinen ab, und ich weiß selbst nicht, wie ich darauf kam zu behaupten, daß ich sie mir selbst verwahren müsse, da der Armenier es so gewollt. Der Alte wurde verdrießlich, aber indem er mit mir zankte, bemerkte ich, daß sein Gesicht sich mit einer widerlichen erdgelben Farbe überzog und daß er allerlei tolles unzusammenhängendes Zeug in seine Reden mischte. Auf dem Platz angekommen, taumelte er hin und her wie ein Betrunkener, bis er dicht vor dem herzoglichen Palast tot niederstürzte. Mit lautem Jammergeschrei warf ich mich auf den Leichnam. Das Volk rannte zusammen, aber sowie der fürchterliche Ruf: ,Die Pest - die Pest' erscholl, stäubte alles voll Entsetzen auseinander. In dem Augenblick ergriff mich eine dumpfe Betäubung, mir schwanden die Sinne. Als ich erwachte, fand ich mich in einem geräumigen Zimmer auf einer geringen Matratze, mit einem wollenen Tuche bedeckt. Um mich herum lagen auf ähnlichen Matratzen wohl zwanzig bis dreißig elende bleiche Gestalten. So wie ich später erfuhr, hatten mich mitleidige Mönche, die gerade aus San Marco kamen, da sie Leben in mir verspürten, in eine Gondel bringen und nach der Giudecca in das Kloster San Giorgio Maggiore, wo die Benediktiner ein Hospital angelegt hatten, schaffen lassen. — Wie vermag ich dir denn, Alte, diesen Augenblick des Erwachens zu beschreiben! Die Wut der Krankheit hatte mir alle Erinnerung des Vergangenen gänzlich geraubt. Gleich als wäre in die todstarre Bildsäule plötzlich der Lebensfunken gefahren, gab es für mich nur augenblickliches Dasein, das sich an nichts knüpfte. Du kannst es dir denken, Alte! welchen Jammer, welche Trostlosigkeit dies Leben, nur ein im leeren Raum ohne Halt schwimmendes Bewußtsein zu nennen, über mich bringen mußte! — Die Mönche konnten mir nur sagen, daß man mich bei Väterchen Blaunas gefunden, für dessen Sohn ich allgemein gegolten. Nach und nach sammelten sich zwar meine Gedanken, und ich besann mich auf mein früheres Leben, aber was ich dir erzählte, Alte, das ist alles, was ich davon weiß, und das sind doch nur einzelne Bilder ohne Zusammenhang. Ach! dieses trostlose Alleinstehen in der Welt. das läßt mich zu keiner Fröhlichkeit kommen, so gut es mir nun auch gehen mag." —"Tonino, mein lieber Tonino", sprach die Alte, "begnüge dich mit dem, was dir die helle Gegenwart schenkt." — "Schweig, Alte", unterbrach sie Antonio, "schweig, noch etwas ist es, was mir mein Leben verkümmert, mich rastlos verfolgt, was mich über kurz oder lang rettungslos verderben wird. Ein unaussprechliches Verlangen, eine mein Innerstes verzehrende Sehnsucht nach einem Etwas, das ich nicht zu nennen, nicht zu denken vermag, hat, seitdem ich im Spital zum Leben erwachte, mein ganzes Wesen erfaßt. Wenn ich als ein Armer, Elender, ermüdet, zerschlagen von der mühseligen Arbeit, nachts auf dem harten Lager ruhte, dann kam der Traum und goß, mir in lindern Säuseln die heiße Stirn fächelnd, alle Seligkeit irgendeines glücklichen Moments, in dem mir die ewige Macht die Wonne des Himmels ahnen ließ und dessen Bewußtsein tief in meiner Seele ruht, in mein Inneres. Jetzt ruhe ich auf weichen Kissen, und keine Arbeit verzehrt meine Kraft, aber erwache ich aus dem Traum oder kommt mir wachend das Bewußtsein jenes Moments in den Sinn, so fühle ich, daß mein armes verlassenes Dasein mir ja ebenso wie damals eine drückende Bürde ist, die abzuwerfen ich trachten möchte. Alles Sinnen, alles Forschen ist vergebens, ich kann es nicht ergründen, was mir früher im Leben so Hochherrliches geschah, dessen dunkler, ach, mir unverständlicher Nachklang mich mit solcher Seligkeit erfüllt; aber wird diese Seligkeit nicht zum brennendsten Schmerz, der mich zu Tode foltert, wenn ich erkennen muß, daß alle Hoffnung verloren ist, jenes unbekannte Eden wiederzufinden, ja es nur zu suchen? Gibt es denn Spuren des spurlos Verschwundenen?" Antonio hielt inne, indem er aus tiefer Brust schwer aufseufzte. Die Alte hatte sich während seiner Erzählung gebärdet wie einer, der, ganz hingerissen von dem Leid des andern, alles selbst fühlt und jede Bewegung, die diesem der Schmerz abnötigt, wie ein Spiegel zurückgibt. "Tonino", fing sie jetzt mit weinerlicher Stimme an, "mein lieber Tonino, darum willst du verzagen, weil dir im Leben etwas Hochherrliches begegnet ist, dessen Erinnerung dir erloschen? — Törichtes Kind, törichtes Kind - merk auf -hi, hi, hi." — Die Alte begann nach ihrer gewöhnlichen Weise widerlich zu kichern und zu lachen und auf dem Marmorboden herumzuhüpfen. — Leute kamen, die Alte kauerte nieder, man warf ihr Almosen zu. — "Antonio - Antonio, bring mich fort - fort ans Meer!" So kreischte sie auf, Antonio wußte nicht, wie ihm geschah, beinahe willkürlos faßte er die Alte und führte sie über den Markusplatz langsam fort. Während sie gingen, murmelte die Alte leise und feierlich: "Antonio - siehst du wohl die dunklen Blutflecken hier auf dem Boden? — ja, Blut - viel Blut, überall viel Blut! — aber hi - hi - hi! — aus dem Blut entsprießen Rosen, schöne rote Rosen zum Kranze für dich - für dein Liebchen. — O du Herr des Lebens, welcher holde Engel des Lichts ist es denn — der dort so anmutig, so sternenklar lächelnd auf dich zuschreitet? — Die lilienweißen Arme breiten sich aus, um dich zu umarmen. O Antonio, hochbeglücktes Kind - halte dich wacker - halte dich wacker! — Und Myrten kannst du pflücken im süßen Abendrot, Myrten für die Braut, für die jungfräuliche Witwe - hi - hi - hi - Myrten, im Abendrot gepflückt, aber sie blühen erst um Mitternacht - hörst du wohl das Geflüster des Nachtwindes - das sehnsüchtig klagende Sausen des Meeres? Rudere wacker zu, mein kühner Schiffer, rudere wacker zu." — Antonio fühlte sich von tiefem Grauen erfaßt bei den wunderlichen Reden der Alten, die sie mit ganz seltsamer fremder Stimme unter beständigem Kichern hermurmelte. Sie waren an die Säule gekommen, die den Adriatischen Löwen trägt. Die Alte wollte, immer weiter fortmurmelnd, vorüberschreiten, Antonio, von der Alten Betragen gepeinigt, von den Vorübergehenden ob seiner Dame verwunderlich angegafft, blieb aber stehen und sprach mit barschem Ton: "Hier - auf diese Stufen setz dich hin, Alte, und halt ein mit deinen Reden, die mich toll machen könnten. Es ist wahr, du hast meine Zechinen in den Flammengebilden der Wolken gesehen, aber ebendeshalb - was schwatzest du von Engeln des Lichts - von Braut - jungfräulicher Witwe - von Rosen und Myrten? — willst du mich betören, entsetzliches Weib, daß irgendein wahnsinniges Streben mich in den Abgrund schleudert? Eine neue Kapuze sollst du haben, Brot - Zechinen -alles, was du willst, aber laß ab von mir." — Antonio wollte rasch fort, allein die Alte ergriff ihn beim Mantel und rief mit schneidender Stimme: "Tonino - mein Tonino, sieh mich doch nur noch einmal recht an, sonst muß ich ja hin bis an den äußersten Rand des Platzes dort und mich trostlos hinabstürzen in das Meer." — Antonio, um nicht noch mehr Blicke auf sich zu ziehen, als sich auf ihn zu richten begannen, blieb wirklich stehen. "Tonino", fuhr die Alte fort, "setze dich her zu mir, es drückt mir das Herz ab, ich muß dir es sagen - o setze dich her zu mir." Antonio ließ sich auf die Stufen so nieder, daß er der Alten den Rücken zuwandte, und zog sein Rechnungsbuch hervor, dessen weiße Blätter von dem Eifer zeugten, mit dem er seine Handelsgeschäfte auf dem Rialto betrieb. "Tonino", lispelte nun die Alte ganz leise, "Tonino, wenn du so in mein verschrumpftes Antlitz schaust, dämmert denn gar keine leise Ahnung in deinem Innern auf, daß du mich wohl in früher, früher Zeit gekannt haben könntest!" —"Ich, sagte dir schon", erwiderte Antonio ebenso leise und ohne sich umzuwenden, "ich sagte dir schon, Alte, daß ich auf eine mir unerklärliche Weise mich zu dir hingeneigt fühle, aber daran ist dein häßliches, verschrumpftes Gesicht nicht schuld. Schaue ich vielmehr deine seltsamen schwarzen blitzenden Augen, deine spitze Nase, deine blauen Lippen, dein langes Kinn, dein struppiges eisgraues Haar an, hör ich dein widriges Kichern und Lachen - deine verworrenen Reden - ei, so möcht ich mit Abscheu mich von dir abwenden und gar glauben, irgend verruchte Mittel stünden dir zu Gebote, mich an dich zu locken." — "0 Herr des Himmels", heulte die Alte, von unsäglichem Schmerz erfaßt, "o Herr des Himmels, welcher böse höllische Geist gab dir solche entsetzliche Gedanken ein! O Tonino, mein süßer Tonino, das Weib, das dich als Kind so zärtlich hegte und pflegte, das dich in jener Schreckensnacht rettete aus dringender Todesgefahr, das Weib war ich." Im plötzlichen Schreck der Überraschung drehte sich Antonio rasch um, aber wie er nun der Alten in das abscheuliche Gesicht starrte, rief er zornig: "So gedenkst du mich zu betören, altes verruchtes, wahnsinniges Weib? — Die wenigen Bilder, die aus meiner Kindheit mir geblieben, sind lebendig und frisch. Jene holde freundliche Frau, die mich pflegte, oh, ich sehe sie lebhaft vor Augen! — Sie hatte ein volles, frischgefärbtes Gesicht - mild blickende Augen - schönes dunkelbraunes Haupthaar —zierliche Hände - sie mochte kaum dreißig Jahre alt sein - und du? — ein neunzigjähriges Mütterchen -" — "0 all ihr Heiligen", fiel die Alte ihm schluchzend in die Rede, "o all ihr Heiligen, wie beginn ich es denn, daß mein Tonino an mich, an seine treue Margareta, glaubt." — "Margareta?" — murmelte Antonio, "Margareta? — Der Name fällt wie vor langer Zeit gehörte, längst vergessene Musik mir in die Ohren. — Aber es ist nicht möglich - es ist nicht möglich!" — "Wohl war", fuhr die Alte ruhiger fort, indem sie gesenkten Blicks mit dem Stabe auf dem Boden hin und her kritzelte. "wohl war der große schöne Mann, der dich auf den Arm nahm, dich abherzte und dir Zuckerwerk in den Mund steckte, wohl war das dein Vater, Tonino! wohl war es das herrliche volltönende Deutsch, was wir miteinander sprachen. Dein Vater war ein angesehener reicher Kaufmann in Augsburg. Sein schönes junges Weib starb ihm, als sie dich gebar. Da zog er, weil er sich selbst nicht dulden konnte an dem Ort, wo sein Liebstes begraben lag, hierher nach Venedig und nahm mich mit, mich, deine Amme, deine Pflegerin. In jener Nacht erlag dein Vater einem grausenden Schicksal, das auch dich bedrohte. Es gelang mir, dich zu retten. Ein edler Venezianer nahm dich auf. Aller Hülfsmittel beraubt, mußt ich in Venedig bleiben. Von Kindheit auf machte mich mein Vater, ein Wundarzt, dem man nachsagte, er treibe nebenher verbotene Wissenschaften, bekannt mit den geheimen Heilkräften der Natur. Von ihm lernte ich, durch Wald und Flur streifend, die Abzeichen manches heilbringenden Krauts, manches unscheinbaren Mooses, die Stunde, wenn es gepflückt, gelesen werden mußte, die verschiedene Mischung der Säfte kennen. Aber dieser Wissenschaft gesellte sich eine besondere Gabe bei, die der Himmel mir verlieh in unerforschlicher Absicht. — Wie in einem fernen dunklen Spiegel erschaue ich oft künftige Ereignisse, und beinahe ohne eignen Willen, in mir oft selbst unverständlichen Redensarten das, was ich erschaut, auszusprechen, zwingt mich dann die unbekannte Macht, der ich nicht zu widerstehen vermag. — Als ich nun einsam, von aller Welt verlassen, zurückbleiben mußte in Venedig, gedachte ich durch meine erprobte Kunst mein Leben zu fristen. Ich heilte die bedenklichsten Übel in kurzer Zeit. Kam nun noch hinzu, daß meine Erscheinung auf die Kranken wohltuend wirkte, daß oft das sanfte Bestreichen mit meiner Hand in wenigen Augenblicken die Krisis löste, so konnt es nicht fehlen, daß mein Ruf bald die Stadt durchdrang und mir die Fülle des Geldes zufloß. Da erwachte der Neid der Ärzte, der Ciarlatani, die auf dem Markusplatz, auf dem Rialto, auf der Zecca ihre Pillen, ihre Essenzen verkauften und die Kranken vergifteten, statt sie zuheilen. Ich stehe mit dem leidigen Satan im Bündnis, das sprengten sie aus und fanden Glauben bei dem abergläubischen Volk. Bald wurde ich verhaftet und vor das geistliche Gericht gestellt. O mein Tonino, mit welchen gräßlichen Martern suchte man mir das Geständnis des abscheulichsten Bündnisses zu erpressen. Ich blieb standhaft. Meine Haare verbleichten, mein Körper schrumpfte ein zur Mumie - Füße und Hände erlahmten. — Die entsetzlichste Folter, die sinnreichste Erfindung des höllischen Geistes, war noch übrig, die entlockte mir ein Geständnis, vor dem ich noch jetzt zusammenschaudre. Ich sollte verbrannt werden, als aber das Erdbeben die Grundmauern der Paläste, des großen Gefängnisses erschütterte, sprangen die Türen des unterirdischen Kerkers, in dem ich gefangensaß, von selbst auf, ich wankte wie aus tiefem Grabe durch Schutt und Trümmer hervor. Ach, Tonino. du nanntest mich ein neunzigjähriges Mütterchen, da ich kaum über fünfzig Jahre alt. Dieser knochendürre Leib, dieses abscheulich verzogene Gesicht, dieses eisige Haar - diese erlahmten Füße - nein, nicht Jahre, nur unsägliche Martern konnten das kräftige Weib in wenigen Monden umwandeln in ein Scheusal. — Und dieses widrige Kichern und Lachen — die letzte Folter, vor der sich noch meine Haare sträuben und mein ganzes Selbst erbrennt, wie im glühenden Panzer eingeschlossen, hat mir das ausgepreßt, und seit der Zeit überfällt mich es wie ein steter unbezwingbarer Krampf. Entsetze dich nun nicht mehr vor mir, mein Tonino! — Ach, dein Herz hat es dir ja doch gesagt, daß du, ein kleiner Knabe, an meinem Busen-lagst!"--"Weib",-sprach Antonio dumpf und in sich gekehrt, "Weib, es ist mir so, als wenn ich dir glauben müßte. Aber wer war mein Vater? wie hieß er? welchem grausigen Schicksal mußte er erliegen in jener Schreckensnacht? — Wer war es, der mich aufnahm? und - was geschah in meinem Leben, das noch jetzt wie ein mächtiger Zauber aus fremder unbekannter Welt mein ganzes Selbst unwiderstehlich beherrscht, so daß alle meine Gedanken sich verlaufen wie in ein düstres nächtiges Meer? — Das alles sollst du mir sagen, du rätselhaftes Weib, dann werde ich dir glauben!" — "Tonino", erwiderte die Alte seufzend, "dir zum Heil muß ich schweigen, aber bald, bald wird es an der Zeit sein. — Der Fontego, der Fontego - bleib weg vom Fontego!" — "Oh", rief Antonio erzürnt, "deiner dunklen Worte bedarf es nicht mehr, mich mit verruchter Kunst zu verlocken. — Mein Inneres ist zerrissen - du mußt sprechen oder -" —"Halt ein", unterbrach ihn die Alte, "keine Drohungen - bin ich nicht deine treue Amme, deine Pflegerin!" — Ohne abzuwarten, was die Alte weiter sprechen wollte, raffte sich Antonio auf und rannte schnell von dannen. Aus der Ferne rief er dem Weibe zu: "Die neue Kapuze sollst du doch haben und Zechinen obendrein, soviel du willst." —

Es war in der Tat ein wunderlich Schauspiel, den alten Dogen Marino Falieri zu sehen mit seiner blutjungen Gattin. Er, zwar stark und robust genug, aber mit greisem Bart, tausend Runzeln im braunroten Gesicht, mit mühsam zurückgebogenem Nacken, pathetisch daherschreitend; sie, die Anmut selbst, fromme Engelsmilde im himmlisch schönen Antlitz, unwiderstehlichen Zauber im sehnsüchtigen Blick, Hoheit und Würde auf der offnen lilienweißen, von dunklen Locken umschatteten Stirne, süßes Lächeln auf Wang und Lippen -das Köpfchen geneigt in holder Demut, den schlanken Leib leicht tragend - daherschwebend - ein herrliches Frauenbild, heimatlich in anderer höherer Welt. — Nun, ihr kennt wohl solche Engelsgestalten, wie sie die alten Maler zu erfassen und darzustellen wußten. — So war Annunziata. Konnt es denn fehlen, daß jeder, der sie sah, in Erstaunen und Entzücken geriet, daß jeder feurige Jüngling von der Signorie aufloderte in hellen Flammen und, den Alten mit spöttischen Blicken messend, im Herzen schwur, der Mars dieses Vulkans zu werden, koste es, was es wolle? Annunziata sah sich bald von Anbetern umringt, deren schmeichlerische verführerische Reden sie still und freundlich aufnahm, ohne sich was Besonderes dabei zu denken. Ihr engelreines Gemüt hatte das Verhältnis zu dem alten fürstlichen Gemahl nicht anders begriffen, als daß sie ihn wie ihren hohen Herrn verehren und ihm anhängen müsse mit der unbedingten Treue einer unterwürfigen Magd! Er war freundlich, ja zärtlich gegen sie, er drückte sie an seine eiskalte Brust, er nannte sie sein Liebchen, er beschenkte sie mit allen Kostbarkeiten, die es nur gab; was hatte sie sonst noch für Wünsche, für Rechte an ihn? Auf diese Weise konnte der

Gedanke, daß es möglich sei, dem Alten untreu zu werden, sich in keiner Art in ihr gestalten, alles, was außer dem engen Kreise jenes beschränkten Verhältnisses lag, war ein fremdes Gebiet, dessen verbotene Grenze im dunklen Nebel lag -ungesehen -ungeahnet von dem frommen Kinde. So kam es, daß alle Bewerbungen fruchtlos blieben. Keiner von allen war aber so heftig in wildem Liebesfeuer entbrannt für die schöne Dogaressa als Michaele Steno. Seiner Jugend unerachtet, bekleidete er die wichtige einflußreiche Stelle eines Rats der Vierzig. Darauf sowie auf seine äußere Schönheit bauend, war er seines Sieges gewiß. Er fürchtete den alten Marino Falieri nicht, und in der Tat, dieser schien, sowie er verheiratet, ganz abzulassen von seinem jähen aufbrausenden Zorn, von seiner rohen unbezähmbaren Wildheit. An der Seite der schönen Annunziata saß er in den reichsten buntesten Kleidern aufgeschniegelt und geputzt da, schmunzelnd und lächelnd und mit süßem Blick aus den grauen Augen, denen manchmal ein Tränchen enttriefte, die andern herausfordernd, ob sich solcher Gemahlin einer rühmen könne. Statt des herrischen rauhen-Tons, indem er sonst zu sprechen pflegte, lispelte er, die Lippen kaum bewegend, nannte jeden seinen Allerliebsten und bewilligte die widersinnigsten Gesuche. Wer hätte in diesem weichlichen verliebten Alten den Falieri erkennen sollen, der in Treviso in toller Hitze am Fronleichnamsfeste dem Bischof ins Gesicht schlug, der den tapfern Morbassan besiegte. Diese zunehmende Schwäche feuerte den Michaele Steno an zu den rasendsten Unternehmungen. Annunziata verstand nicht, was Michaele, sie unaufhörlich mit Blicken und Worten verfolgend, von ihr eigentlich wollte, sie blieb in steter milder Ruhe und Freundlichkeit, und das eben, das Trostlose, was in diesem unbefangenen, stets gleichen Wesen lag, brachte ihn zur Verzweiflung. Er sann auf verruchte Mittel. Es gelang ihm, einen Liebeshandel mit Annunziatas vertrautestem Kammermädchen anzuspinnen, die ihm endlich nächtliche Besuche verstattete. So glaubte er den Weg gebahnt zu Annunziatas unentweihtem Gemach, aber die ewige Macht des Himmels wollte, daß solche trügerische Tücke zurückfallen mußte auf das Haupt des boshaften Urhebers. — Es begab sich, daß eines Nachts der Doge, der eben die böse Nachricht von der Schlacht, die Nicolo Pisani bei Portelongo gegen den Doria verloren, erhalten, schlaflos in tiefer Kümmernis und Sorge die Gänge des herzoglichen Palastes durchstrich. Da gewahrte er einen Schatten, der, wie aus Annunziatas Gemächern schlüpfend, nach den Treppen schlich. Schnell eilte er darauf los, es war Michaele Steno, der von seinem Liebchen kam. Ein entsetzlicher Gedanke durchfuhr den Falieri; mit dem Schrei: "Annunziata!" rannte er ein auf den Steno mit gezogenem Stilett. Aber Steno, kräftiger und gewandter als der Alte, unterlief ihn, warf ihn mit einem tüchtigen Faustschlage zu Boden und stürzte, laut auflachend: "Annunziata, Annunziata!", die Treppe herab. Der Alte raffte sich auf und schlich, brennende Qualen der Hölle im Herzen, nach Annunziatas Gemächern. Alles ruhig - still wie im Grabe. — Er klopfte an, ein fremdes Kammermädchen, nicht die, welche sonst gewohnt, neben Annunziatas Gemach zu schlafen, öffnete ihm die Türe. "Was befiehlt mein fürstlicher Gemahl um diese späte ungewohnte Zeit?" — so sprach Annunziata, die unterdessen ein leichtes Nachtgewand umgeworfen und herausgetreten, mit ruhigem engelsmildem Ton. Der Alte starrte sie an, dann hob er beide Hände hoch in die Höhe und rief: "Nein, es ist nicht möglich, es ist nicht möglich!" — "Was ist nicht möglich, mein fürstlicher Herr?" fragte die über den feierlichen dumpfen Ton des Alten ganz bestürzte Annunziata. Aber Falieri, ohne zu antworten, wandte sich an das Kammermädchen: "Warum schläfst du, warum schläft Luigia nicht hier wie gewöhnlich?" — "Ach", erwiderte die Kleine, "Luigia wollte durchaus mit mir tauschen diese Nacht, die schläft im Vordergemach dicht neben der Treppe." — "Dicht neben der Treppe?" rief Falieri voller Freude und eilte mit raschen Schritten nach dem Vordergemach. Luigia öffnete auf starkes Klopfen, und als sie nun das zornrote Antlitz, die funkensprühenden Augen des fürstlichen Herrn erblickte, fiel sie nieder auf die nackten Knie und bekannte ihre Schmach, über die auch ein Paar zierliche Männerhandschuhe, die auf dem Polsterstuhle lagen und deren Ambrageruch den stutzerhaften Eigentümer verriet, gar keinen Zweifel ließen. Ganz ergrimmt über Stenos unerhörte Frechheit, schrieb der Doge ihm andern Morgens: bei Strafe der Verbannung aus der Stadt habe er den herzoglichen Palast, jede Nähe des Dogen und der Dogaressa zu vermeiden. Michaele Steno war toll vor Wut über das Mißlingen des wohlangelegten Plans, über die Schmach der Verbannung aus der Nähe seines Abgotts. Als er nun aus der Ferne sehen mußte, wie die Dogaressa mild und freundlich, ihr Wesen war nun einmal so, mit andern Jünglingen von der Signorie sprach, so gab ihm der Neid, die Wut der Leidenschaft den bösen Gedanken ein, daß die Dogaressa wohl nur deshalb ihn verschmäht haben möge, weil andere ihm mit besserem Glück zuvorgekommen, und er unterstand sich, davon laut und öffentlich zu sprechen. Sei es nun, daß der alte Falieri Kunde erhielt von solchen unverschämten Reden oder daß das Bild jener Nacht ihm erschien wie ein warnender Wink des Schicksals oder daß ihm selbst bei aller Ruhe und Behaglichkeit, bei vollem Vertrauen auf die Frömmigkeit seines Weibes doch die Gefahr des unnatürlichen Mißverhältnisses mit der Gattin hell vor Augen kam, kurz, er wurde grämlich und mürrisch, alle tausend Eifersuchtsteufel zwickten ihn wund, er sperrte Annunziata ein in die innern Gemächer des herzoglichen Palastes. und kein Mensch bekam sie mehr zu sehen. Bodoeri nahm sich seiner Großnichte an und schalt den alten Falieri wacker aus, der aber von der Änderung seines Betragens gar nichts wissen wollte. Dies geschah alles kurz vor dem Giovedi grasso. Es ist Sitte, daß bei den Volksfesten, die an diesem Tage auf dem Markusplatz stattfinden, die Dogaressa unter dem Thronhimmel, der auf einer dem kleinen Platz gegenüberstehenden Galerie angebracht ist, neben dem Dogen Platz nimmt. Bodoeri erinnerte ihn daran und meinte, daß es sehr abgeschmackt sein und er ganz gewiß von Volk und Signorie ob seiner verkehrten Eifersucht weidlich ausgelacht werden würde, wenn er, aller Sitte und Gewohnheit entgegen, Annunziata von dieser Ehre ausschlösse. "Glaubst du", erwiderte der alte Falieri, dessen Ehrgeiz auf einmal angeregt wurde, "glaubst du, daß ich, ein alter blödsinniger Tor, mich denn scheue, mein kostbarstes Kleinod zu zeigen aus Furcht vor diebischen Händen, denen ich nicht den Raub wehren könnte mit meinem guten Schwerte? — Nein, Alter, du irrst, morgenden Tages wandle ich mit Annunziata in feierlich glänzendem Zuge über den Markusplatz, damit das Volk seine Dogaressa sehe, und am Giovedi grasso empfängt sie den Blumenstrauß von dem kühnen Segler, der sich aus den Lüften zu ihr herabschwingt." Der Doge dachte, indem er diese Worte sprach, an eine uralte Gewohnheit. Am Giovedi grasso fährt nämlich irgendein kühner Mensch aus dem Volke an Seilen, die aus dem Meere steigen und an der Spitze des Markusturms befestigt sind, in einer Maschine, die einem kleinen Schiffchen gleicht, herauf und schießt dann von der Spitze des Turms pfeilschnell herab bis zu dem Platz, wo Doge und Dogaressa sitzen, der er den Blumenstrauß, den sonst der Doge, ist er allein, erhält, überreicht. — Andern Tages tat der Doge, wie er verheißen. Annunziata mußte die prächtigsten Kleider anlegen, und von der Signorie umringt, von Edelknaben und Trabanten begleitet, wandelte Falieri über den vom Volk überströmten Markusplatz. Man stieß und drängte sich halb tot, um die schone Dogaressa zu sehen, und wem es gelang, sie zu erblicken, der glaubte, er habe ins Paradies geschaut und das schönste Engelsbild sei ihm strahlend und herrlich aufgegangen. — Wie die Venezianer nun sind, mitten unter den tollsten Ausbrüchen wahnsinniger Verzückung hörte man hie und da allerlei spöttische Redensarten und Reime, die derb genug auf den alten Falieri mit der jungen Frau losfuhren. Falieri schien aber davon nichts zu bemerken, sondern schritt, von aller Eifersucht dasmal verlassen, obgleich er überall Blicke des brennendsten Verlangens auf die schöne Gattin gerichtet sah, schmunzelnd und lächelnd mit dem ganzen Gesicht, so pathetisch als möglich an Annunziatas Seite daher. Vor dem Hauptportal des Palastes hatten die Trabanten das Volk mit Mühe auseinandergetrieben, so daß, als der Doge mit seiner Gemahlin hineinschritt, nur hin und wieder einzelne kleine Haufen besser gekleideter Bürger standen, denen man selbst den Eintritt in den innern Hof des Palastes nicht wohl verwehren konnte. Da geschah es, daß in dem Augenblicke, als die Dogaressa in den Hof trat, ein junger Mensch, der nebst wenigen andern Leuten am Säulengange stand, mit dem lauten Schrei: "0 du Gott des Himmels!" entseelt auf das harte Marmorpflaster niederschlug. Alles lief herbei und umringte den Toten, so daß die Dogaressa ihn nicht erblicken konnte, aber sowie der Jüngling niederstürzte, durchfuhr plötzlich ein glühender Dolchstich ihre Brust, sie erbleichte, sie wankte, nur die Riechfläschchen der herbeieilenden Frauen retteten sie von tiefer Ohnmacht. Der alte Falieri, voller Schreck und Bestürzung über den Unfall, wünschte den jungen Menschen mitsamt seinem Schlagfluß zu allen Teufeln und trug, so sauer es ihm auch wurde, seine Annunziata, die das Köpfchen mit geschlossenen Augen über die Brust hing wie eine kranke Taube, die Treppe hinauf in die inneren Gemächer.

Unterdessen hatte sich dem Volke, das immer mehr im innern Hofe des Palastes zusammengelaufen, ein wunderlich seltsames Schauspiel eröffnet. Man wollte den jungen Menschen, den man unbedingt für tot hielt, aufheben und forttragen, da hinkte mit lautem Jammergeschrei ein altes häßliches zerlumptes Bettelweib heran, machte sich, die spitzen Ellenbogen in Seiten und Rücken bohrend, im dicksten Haufen Platz und rief, als sie endlich bei dem entseelten Jünglinge stand: "Laßt ihn liegen - Narren! —tolles Volk! — er ist ja nicht tot." Nun kauerte sie nieder, nahm den Kopf des Jünglings auf den Schoß und nannte, seine Stirn sanft

streichend und reibend. ihn bei den süßesten Namen. Betrachtete man nun das abscheuliche Fratzengesicht der Alten, wie es herabhing über des Jünglings bildschönem Antlitz, dessen milde Züge im bleichen Tode erstarrt lagen, während auf dem Gesicht der Alten ein widriges Muskelspiel herumhüpfte - betrachtete man, wie die schmutzigen Lumpen hin und her flatterten über die reichen Kleider, die der Jüngling trug - wie die dürren braungelben Arme die Knochenhände auf der Stirne, auf der offenen Brust des Jünglings zitterten - in der Tat, man mochte sich innern Grauens nicht erwehren. War es denn nicht anzusehen, als sei es des Todes grinsende Gestalt selbst, in deren Armen der Jüngling lag? So kam es denn auch, daß die umstehenden Leute, einer nach dem andern, still fortschlichen und nur wenige übrigblieben, die den Jüngling, als er mit einem tiefen Seufzer die Augen aufschlug, faßten und auf der Alten Geheiß nach dem Großen Kanal trugen, wo eine Gondel beide, die Alte und den Jüngling, aufnahm und fortschaffte bis nach dem Hause, das die Alte als die Wohnung des Jünglings bezeichnet hatte. Bedarf es denn noch gesagt zu werden, daß der Jüngling Antonio, die Alte aber das Bettelweib von der Franziskanertreppe war, das durchaus seine Amme sein wollte?

Als Antonio ganz aus seiner Betäubung erwacht war und die Alte an seinem Lager erblickte, die ihm soeben einige stärkende Tropfen eingeflößt hatte, so sprach er, lange den düstern schwermütigen Blick starr auf sie gerichtet, mit dumpfem, mühsam gehaltenen Ton: "Du bist bei mir, Margareta! — das ist gut! wo hätt ich denn sonst eine treuere Pflegerin als dich! — Ach, verzeih mir nur, Mutter, daß ich blödsinniger ohnmächtiger Knabe nur einen Augenblick daran zweifeln konnte, was du mir entdecktest. Ja, du bist die Margareta, die mich nährte, die mich hegte und pflegte, ich wußte es ja schon immer, aber der böse Geist verwirrte mir die Gedanken. — Ich habe sie gesehen - sie ist es - sie ist es. — Hab ich dir nicht gesagt, daß irgendein dunkler

Zauber in mir ruhe, der mein Selbst unwiderstehlich beherrsche? Aus der Dunkelheit blitzstrahlend ist er hervorgetreten, um mich in namenlosem Entzücken zu verderben! —Ich weiß jetzt alles -alles! — War nicht Bertuccio Nenolo mein Pflegevater, der mich erzog auf einem Landhause bei Treviso?" —"Ach ja", erwiderte die Alte, "wohl war es Bertuccio Nenolo, der große Seeheld, den das Meer verschlang, als er mit dem Lorbeerkranz sein Haupt zu schmücken gedachte." — "Unterbrich mich nicht", sprach Antonio weiter, "höre mich geduldig an. — Es ging mir gut bei dem Bertuccio Nenolo. Ich trug hübsche Kleider -immer war der Tisch gedeckt, wenn mich hungerte, ich durfte, hatte ich meine drei Gebete ordentlich hergesagt, herumschwärmen nach Gefallen in Wald und Flur. Dicht beim Landhause befand sich ein dunkles kühles Pinienwäldchen voll Duft und Gesang. Da streckte ich, müde vom Springen und Laufen, an einem Abend, als schon die Sonne zu sinken begann, mich hin unter einen großen Baum und starrte hinauf in den blauen Himmel. Mag es sein, daß der würzige Geruch der blühenden Kräuter, in denen ich lag, mich betäubte, genug, meine Augen schlossen sich unwillkürlich, und ich versank in träumerisches Hinbrüten, aus dem mich ein Rauschen, gleich als fiele ein Schlag dicht neben mir in das Gras, erweckte. Ich fuhr auf in die Höhe; ein Engeiskind mit himmlischem Antlitz stand neben mir, schaute in holder Anmut lächelnd auf mich herab und sprach mit süßer Stimme: ,Ei, mein lieber Knabe, wie schliefst du so schön, so ruhig, und doch war dir der Tod so nahe, der böse Tod.' Dicht neben meiner Brust erblickte ich eine kleine schwarze Schlange mit geborstenem Haupt, das Kind hatte das giftige Tier mit dem Zweige eines Nußbaums erschlagen in dem Augenblick, als es zu meinem Verderben sich heranringeln wollte. Da erbebte ich in süßem Schauer -ich wußte ja, daß oftmals Engel herabsteigen aus dem hohen Himmel, um sichtbarlich den Menschen zu retten vor dem bedrohlichen Angriff irgendeines bösen Feindes - ich sank nieder auf die Knie, ich erhob die gefalteten Hände. ,Ach, du bist ja ein Engel des Lichts, den der Herr sandte, mich zu retten vom Tode.' So rief ich, das holde Wesen streckte aber beide Arme nach mir aus und lispelte, indem höheres Rot auf seinen Wangen leuchtete: ,Ach, du lieber Knabe, ich bin ja kein Engel, ein Mädchen, ein Kind wie du!' Da vergingen die Schauer in namenloses Entzücken, das mich mit sanfter Glut durchströmte - ich stand auf - wir schlossen uns in die Arme - wir drückten Lipp auf Lippe -sprachlos -weinend -schluchzend vor süßem unnennbaren Weh! Nun rief eine silberhelle Stimme durch den Wald: ,Annunziata -Annunziata!' —,Ich muß nun fort, du herzlieber Knabe, die Mutter ruft', so lispelte das Mädchen, ein unsäglicher Schmerz durchfuhr meine Brust. — ,Ach, ich liebe dich so sehr', schluchzte ich, heiße Tränen, die das Mädchen vergoß, fielen brennend auf meine Wangen. ,Ich bin dir so herzensgut, du lieber Knabe', rief das Mädchen, indem sie den letzten Kuß mir auf meine Lippen drückte. —,Annunziata!' rief es aufs neue, und das Mädchen verschwand im Gebüsch! — Sieh, Margareta, das war der Augenblick, in dem der mächtige Liebesfunke in meine Seele fiel, der, ewig stets neue Flammen entzündend, in mir fortglühen wird! —Wenige Tage nachher wurde ich hinausgestoßen aus dem Hause. Vater Blaunas sagte mir, als ich es nicht lassen konnte, von dem Engelskinde zu reden, das mir erschienen und dessen süße Stimme ich zu vernehmen glaubte in dem Rauschen der Bäume, in dem Gelispel der Quellen, in dem ahnungsvollen Sausen des Meers - ja, da sagte mir Vater Blaunas, das Mädchen könne niemand anders gewesen sein als Nenolos Tochter Annunziata, die mit ihrer Mutter Franzeska nach dem Landhause gekommen, andern Tages aber wieder abgereiset sei. — O Mutter - Margareta. — Hilf, Himmel! —Diese Annunziata - es ist die Dogaressa!" — Damit hüllte sich, vor unsäglichem Schmerz weinend und schluchzend, Antonio in die Kissen ein. "Mein lieber Tonino!" sprach die Alte, "ermanne dich, widerstehe doch nur tapfer dem törichten Schmerz. Ei, wer mag denn gleich verzweifeln in Liebesnot, ei, wem anders blüht denn das goldene Blümchen Hoffnung als dem Verliebten! Am Abend weiß man nicht, was der Morgen bringt, was man im Traum geschaut, kommt lebendig dahergegangen. Das Schloß, das in den Wolken schwamm, steht mit einemmal blank und herrlich auf der Erde. — Sieh, Tonino, du gibst nichts auf meine Reden, aber mein kleiner Finger sagt es mir und wohl noch jemand anders, daß auf dem Meer dir die leuchtende Liebesflagge mit frohem Schwingen entgegenweht -Geduld, mein Söhnlein Tonino -Geduld!" — So versuchte es die Alte. den armen Antonio zu trösten, denn in der Tat, ihre Worte klangen wie liebliche Musik. Er ließ sie gar nicht mehr von sich. Das Bettelweib auf der Franziskanertreppe war verschwunden, und statt ihrer sah man die Haushälterin des Herrn Antonio in anständigen Matronenkleidern auf San Marco herumhinken und die Bedürfnisse der Tafel einkaufen.

Der Giovedi grasso war gekommen. Glänzendere Feste als jemals sollten ihn feiern. Mitten auf dem kleinen Platz von San Marco wurde ein hohes Gerüst errichtet für ein besonderes, nie gesehenes Kunstfeuer, das ein Grieche, der sich auf solch Geheimnis verstand, abbrennen wollte. Am Abend bestieg der alte Fallen mit seiner schönen Gemahlin, sich spiegelnd in dem Glanze seiner Herrlichkeit, seines Glücks und mit verklärten Blicken alles um sich her auffordernd zum Staunen, zur Bewunderung, die Galerie. Im Begriff, sich auf dem Thron niederzulassen, wurde er aber den Michaele Steno gewahr, der auf derselben Galerie, und zwar so Platz genommen hatte, daß er die Dogaressa beständig im Auge behielt und von ihr notwendig bemerkt werden mußte. Ganz entbrannt von wildem Zorn, von toiler Eifersucht, schrie Falieri mit starker, gebieterischer Stimme, man solle augenblicklich den Steno von der Galerie entfernen. Michaele Steno erhob den Arm gegen den Falieri, in dem Augenblick traten die Trabanten hinzu und nötigten ihn, der vor Wut mit den Zähnen knirschte und in den abscheulichsten

Verwünschungen Rache drohte, die Galerie zu verlassen.

Unterdessen hatte sich Antonio, den der Anblick seiner geliebten Annunziata ganz außer sich selbst gebracht, durch das Volk fortgedrängt und schritt, tausend Qualen im zerrissenen Herzen, einsam in dunkler Nacht am Gestade des Meers hin und her. Er gedachte, ob es nicht besser sei, in den eiskalten Wellen die brennende Glut zu löschen, als langsam totgefoltert zu werden von trostlosem Schmerz. Viel hätte nicht gefehlt, er wäre hineingesprungen in das Meer, schon stand er auf der letzten Stufe, die hinabführt, als eine Stimme aus einer kleinen Barke hinaufrief: "Ei. schönen guten Abend, Herr Antonio!" Im Widerschein der Erleuchtung des Platzes erkannte Antonio den lustigen Pietro, einen seiner vormaligen Kameraden, welcher in der Barke stand, Federn, Rauschgold auf der blanken Mütze, die neue gestreifte Jacke bunt bebändert, einen großen schönen Strauß duftiger Blumen in der Hand. "Guten Abend, Pietro", rief Antonio zurück, "welch hohe Herrschaft willst du denn heute noch fahren, daß du dich so schön geputzt hast?" — "Ei", erwiderte Pietro, indem er hoch aufsprang, daß die Barke schwankte, "ei, Herr Antonio, heute verdiene ich meine drei Zechinen, ich mache ja die Fahrt hinauf nach dem Markusturm und dann hinab und überreiche diesen Strauß der schönen Dogaressa." — "Ist denn", fragte Antonio, "ist denn das nicht ein halsbrechendes Wagestück, Kamerad Pietro?" — "Nun", erwiderte dieser, "den Hals kann man wohl ein wenig brechen, und dann zumal heute geht's mittendurch durch das Kunstfeuer. Der Grieche sagt zwar, es sei alles so eingerichtet, daß kein Haar einem angehen solle vom Feuer, aber -" — Pietro schüttelte sich. Antonio war zu ihm hinabgestiegen in die Barke und wurde nun erst gewahr, daß Pietro dicht vor der Maschine an dem Seil stand, das aus dem Meere stieg. Andere Seile, mittelst deren die Maschine angezogen wurde, verloren sich in die Nacht. "Höre, Pietro", fing Antonio nach einigem Stillschweigen an,

"höre, Kamerad Pietro, wenn du heute zehn Zechinen verdienen könntest, ohne dein Leben in Gefahr zu setzen, würde dir das nicht lieber sein?" — "Ei freilich", lachte Pietro aus vollem Halse. "Nun", fuhr Antonio fort. "so nimm diese zehn Zechinen, wechsle mit mir die Kleider und überlasse mir deine Stelle. Statt deiner will ich hinauffahren. Tu es, mein guter Kamerad Pietro Pietro schüttelte bedächtig den Kopf und sprach, das Gold in der Hand wiegend: "Ihr seid sehr gütig, Herr Antonio, mich armen Teufel noch immer Euern Kameraden zu nennen - und freigebig dazu! — Ums Geld ist's mir freilich zu tun, aber der schönen Dogaressa den Strauß selbst in die Hand zu geben, ihr süßes Stimmchen zu hören - ei, das ist's doch eigentlich, warum man sein Leben aufs Spiel setzt. — Nun - weil Ihr's seid, Herr Antonio, mag's darum sein."Beide warfen schnell die Kleider ab, kaum war Antonio mit dem Ankleiden fertig, als Pietro rief: "Schnell hinein in die Maschine, das Zeichen ist schon gegeben." In dem Augenblick leuchtete das Meer auf im flammenden Widerschein von tausend lodernden Blitzen, und die Luft, das Gestade erdröhnte von brausenden wirbelnden Donnern. Mitten durch die knisternden zischenden Flammen des Kunstfeuers fuhr mit des Sturmwindes Schnelle Antonio auf in die Lüfte - unversehrt sank er nieder zur Galerie, schwebte er vor der Dogaressa. — Sie war aufgestanden und vorgetreten, er fühlte ihren Atem an seinen Wangen spielen.—. er reichte ihr den Strauß; aber in der unsäglichsten Himmelswonne des Augenblicks faßte ihn wie mit glühenden Armen der brennende Schmerz hoffnungsloser Liebe. — Sinnlos - rasend vor Verlangen - Entzücken -Qual, ergriff er die Hand der Dogaressa - drückte er glühende Küsse darauf - rief er mit dem schneidenden Ton des trostlosen Jammers: "Annunziata!" — Da riß ihn die Maschine, wie das blinde Organ des Schicksals selbst, fort von der Geliebten, hinab ins Meer, wo er ganz betäubt, ganz erschöpft in Pietros Arme sank, der seiner in der Barke wartete. Unterdessen war auf der Galerie des Doge alles in Aufruhr und Verwirrung geraten. An den Sitz des Doge hatte man ein kleines Zettelchen angeheftet gefunden, auf welchem in gemeiner venezianischer Mundart die Worte standen.
 Il dose Falier della bella muier,
I altri la gode é lui la mantien.
Zwar ist der Doge Falier
Der schönen Dame Eheherr,
Doch hält er nur und hat sie nie,
Und andre, die gewinnen sie.

Der alte Falieri fuhr auf in glühendem Zorn und schwur, daß den, der den boshaften Frevel begangen, die härteste Strafe treffen solle. Indem er seine Blicke umherwarf, fiel ihm auf dem Platze unter der Galerie Michaele Steno ins Auge, der in vollem Kerzenschimmer dastand, und sogleich befahl er den Trabanten, ihn festzunehmen als den Urheber jenes Frevels. Alles schrie auf über den Befehl des Doge, der, indem er sich ganz seinem überwallenden Zorn überließ, beide, Signorie und Volk, beleidigte, die Rechte der ersteren kränkend, dem letztem die Freude des Festes verderbend. Die Signorie verließ ihre Plätze, und nur den alten Marino Bodoeri sah man, wie er sich unter das Volk mischte, voller Eifer von der schweren Beleidigung sprach, die dem Haupte des Staats widerfahren, und allen Haß auf den Michaele Steno zu leiten suchte. Falieri hatte sich nicht geirrt, denn in der Tat war Michaele Steno, als er fortgewiesen wurde von der Galerie des Herzogs, nach Hause gelaufen, hatte jene hämische Worte geschrieben, in dem Augenblicke, als aller Augen auf das Kunstfeuer gerichtet waren, das Zettelchen an den Stuhl des Doge angeheftet und dann sich unbemerkt wieder entfernt. Recht tückisch gedachte erden empfindlichen Streich zu führen, der beide, Doge und Dogaressa, recht tief, recht ans Leben dringend verwunden sollte. Michaele Steno gestand ganz freimütig die Tat und schob

alle Schuld auf den Doge, der ihn zuerst empfindlich gekränkt habe. Die Signorie war längst unzufrieden mit einem Haupt, das, statt die gerechten Erwartungen des Staats zu erfüllen, täglich bewies, wie der kriegerische zornige Mut in dem erkalteten Herzen des abgelebten Greises nur dem Kunstfeuer gleicht, das aus der Rakete ganz gewaltig emporknistert, aber sogleich in schwarzen toten Flocken wirkungslos dahinschwindet. Hiezu kam, daß das Bündnis mit der jungen schönen Frau (längst wußte man, daß er es vor kurzer Zeit als Doge geschlossen) seine Eifersucht den alten Falieri nicht mehr als Kriegsheld, sondern als vecchio Pantalone erscheinen ließ, und so mußte es geschehen, daß die Signorie, gärendes Gift im Innern nährend, mehr geneigt war, dem Michaele Steno recht zu geben als dem bitter gekränkten Oberhaupt. Von dem Rate der Zehen wurde die Sache verwiesen an die Quarantie, von der Michaele sonst einer der Häupter war. Michaele Steno habe schon genug gelitten, und eine monatliche Verbannung sei genugsame Rüge des Vergehens, so fiel der Rechtsspruch aus, der den alten Falieri aufs neue und stärker erbitterte gegen eine Signorie, die, statt das Haupt zu schützen, ihm widerfahrne Kränkungen nur als Vergehen der leichtesten Art zu bestrafen sich unterstand.

Wie es denn zu gehen pflegt, daß der Liebende, den ein einziger Strahl des Liebesglücks getroffen, tage-, wochen-, monatelang, von goldenem Schimmer umflossen, Träume des Himmels träumt, so konnte sich Antonio auch gar nicht erholen von der Betäubung des wonnereichsten Augenblicks, kaum aufatmen vor süßem Weh. — Die Alte hatte ihn tüchtig ausgescholten wegen des Wagestücks und murmelte und brummte unaufhörlich von ganz unnötigem Beginnen. Eines Tages kam sie aber so seltsam am Stabe hineingetänzelt und gehüpft, wie sie es in ihrer Art hatte, wenn sie von fremdem Zauber berührt schien. Sie kicherte und lachte, ohne auf Antonios Reden und Fragen zu achten, schürte sie im Kamin ein kleines Feuer an, setzte ein Pfännchen darauf, kochte,

aus allerlei bunten Gläsern Ingredienzien hineinwerfend, eine Salbe, tat sie in eine kleine Büchse und hinkte damit, laut kichernd und lachend, von dannen. Erst am späten Abend kam sie zurück, setzte sich keuchend und hüstelnd in den Lehnstuhl und fing, wie von großer Erschöpfung zu sich selbst gekommen, endlich an: "Tonino, mein Söhnlein, Tonino, von wem komme ich her? —sieh zu, ob du raten kannst — von wem komme ich her, von wem komme ich her?" — Antonio starrte sie an, von seltsamer Ahnung ergriffen. "Nun", kicherte die Alte, "von ihr selbst komme ich her, von dem lieben Täubchen, von der holden Annunziata!" — "Mache mich nicht wahnsinnig, Alte", schrie Antonio. — "Ei was", fuhr die Alte fort, "ich denke immer an dich, mein Tonino! — Heute morgen, als ich unter den Säulengängen des Palastes feilschte um schönes Obst. murmelt das Volk von dem Unglück, das die schöne Dogaressa betroffen. Ich frage und frage, da spricht ein großer ungeschlachter roter Kerl, der, gähnend an eine Säule gelehnt, Limonien kaut: ,Ei nun, an der linken Hand der kleine Finger, an dem hat ein Skorpionchen die jungen Zähnchen probiert, und das ist ein bißchen ins Blut gegangen - nun, mein Herr, der Signor Dottore Giovanni Basseggio, ist eben oben, der wird nun wohl schon das Händchen mitsamt dem Finger weggeschnitten haben.' Und in dem Augenblick, daß der Kerl das spricht, entsteht ein großes Geschrei auf der breiten Treppe, und ein kleines, ganz kleines Männlein kugelt, von Fußstößen der Trabanten wie ein Kegel getrieben, die Stufen herab, uns vor die Füße, schreiend und lamentierend. Das Volk sammelt sich um ihn herum, laut lachend, der Kleine zerarbeitet sich und strampelt mit den Beinen, ohne in die Höhe kommen zu können, da springt aber der rote Kerl herbei, rafft sein Doktorchen auf, nimmt ihn in die Arme und rennt mit ihm, der immerfort aus vollem Halse schreit und heult, was die Beine laufen können, fort nach dem Kanal, wo er mit ihm in die Gondel hineinsteigt und davonrudert. — Ich dachte es wohl, daß, sowie der Signor Basseggio das Messer ansetzen wollte an das schöne Händchen, der Doge ihn die Treppe hinabstoßen ließ. Ich dacht aber noch weiter! — Geschwind - ganz geschwind nach Hause - das Sälbchen kochen - hinauf damit in den herzoglichen Palast! — Da stand ich auf der großen Treppe, mein blankes Fläschlein in der Hand. Der alte Falieri kam gerade herab, der blitzte und prustete mich an: ,Was will das alte Weib hier?' — Aber da machte ich einen Knix tief - tief bis an die Erde, so gut es nur gehen konnte, und sprach, daß ich wohl ein Mittelchen hätte, daß die schöne Dogaressa geheilt sein solle gar bald. Sowie der Alte das hörte, blickte er mich starr an mit recht entsetzlichen Augen und strich sich den grauen Bart zurecht, dann packte er mich bei beiden Schultern und schob mich herauf und hinein in das Gemach, daß ich beinahe der Länge nach hingestürzt wäre. Ach, Tonino, da lag das holde Kind hingestreckt auf die Polster, leichenblaß, seufzend und stöhnend vor Schmerz und leise klagend: ,Ach, nun bin ich wohl schon durch und durch vergiftet.' Aber ich machte mich gleich darüber her und nahm das dumme Pflaster des einfältigen Doktors herab. O -Herr des Himmels! die niedliche kleine Hand - blutrot - geschwollen. — Nun, nun - meine Salbe kühlte - linderte. — ,Das tut jawohl, sehr wohl', lispelte die kranke Taube. Da rief der Marino ganz entzückt: ,Tausend Zechinen sind dein, Alte! wenn du mir die Dogaressa rettest', und verließ das Zimmer. Drei Stunden hatt ich nun da gesessen, die kleine Hand in meiner haltend und sie streichelnd und pflegend. Da erwachte das liebe Weibchen aus leichtem Schlummer, in den sie gesunken, und fühlte keinen Schmerz mehr. Nachdem ich den neuen Verband gemacht, blickte sie mich an mit vor Freude leuchtenden Augen. Da sprach ich: ,Ei, gnädige Frau Dogaressa, Ihr habt ja auch schon einmal einen Knaben gerettet, da Ihr die kleine Schlange tötetet, die ihn stechen wollte zum Tode, als er schlief.' — Tonino! da hättest du sehen sollen, wie, als leuchte ein Strahl des Abendrots hinein, das blasse Antlitz sich schnell färbte - wie die Augen funkelndes Feuer blitzten. —,Ach ja, Alte', sprach sie, ,ach ja -ich war noch ein Kind - auf meines Vaters Landhause. — Ach, es war ein holder lieber Knabe -oh, wie gedenk ich noch seiner - es ist mir, als sei seit der Zeit mir gar nichts Glückliches mehr begegnet.' — Nun sprach ich von dir, daß du in Venedig wärst, daß du noch alle Liebe, alle Wonne jenes Augenblicks im Herzen trügest - daß du, nur um noch einmal in die Himmelsaugen des rettenden Engels zu schauen, die gefährliche Luftfahrt gewagt, daß du ihr den Blumenstrauß gegeben hättest am Giovedi grasso! — Tonino - Tonino! da rief sie wie in Begeisterung: ,Ich hab es gefühlt - ich hab es gefühlt - als er meine Hand an seine Lippen drückte, als er meinen Namen nannte -ach, ich wußt es ja nur nicht, was so seltsam mein Innerstes durchdrang, es war wohl Lust, aber auch zugleich Schmerz! — Bring ihn her - her zu mir - den holden Knaben." — Antonio warf sich, als die Alte dies sprach, auf die Knie nieder und rief wie wahnsinnig: "Herr des Himmels! nur jetzt, nur jetzt laß mich nicht untergehen in irgendeinem ungeheuern Schicksal — nur nicht, bis ich sie geschaut, bis ich sie an meine Brust gedrückt." Er wollte, daß die Alte ihn gleich andern Tages hinführen sollte, was sie ihm aber rund abschlug, da der alte Fallen beinahe zu jeder Stunde die kranke Gemahlin zu besuchen pflegte.

Mehrere Tage waren vergangen, die Dogaressa war von der Alten ganz geheilt, aber noch immer blieb es unmöglich, den Antonio hinzuführen. So gut sie es nur vermochte, tröstete die Alte den Ungeduldigen, immer wiederholend, wie sie mit der holden Annunziata von dem Antonio spreche, den sie gerettet und der sie so inbrünstig liebe. Antonio, von tausend Qualen der Sehnsucht, des Verlangens gefoltert, gondelte, lief auf den Plätzen umher. Unwillkürlich lenkten ihn seine Schritte immer und immer wieder nach dem herzoglichen Palast. Ander Brücke neben der hintern Seite des Palastes, den Gefängnissen gegenüber, stand Pietro, auf ein buntes Ruder gelehnt, im Kanal wogte, an Säulen befestigt,

eine Gondel, die zwar klein, aber mit zierlichern Verdeck, buntem Schnitzwerk, ja mit der venezianischen Flagge geschmückt war und beinahe dem Bucentoro glich. Sowie Pietro den ehemaligen Kameraden gewahrte, rief er ihm laut zu: "Ei, Signor Antonio, seid mir tausendmal gegrüßt! — mit Euern Zechinen ist mir das Glück gekommen!" Antonio fragte ganz zerstreut, was er für ein Glück meine, erfuhr aber nichts Geringeres, als daß Pietro beinahe täglich in den Abendstunden den Dogen mit der Dogaressa hinübergondeln mußte nach der Giudecca, wo unfern von San Giorgio Maggiore der Doge ein artiges Haus besaß. Antonio blickte den Pietro starr an und fuhr dann schnell heraus: "Kamerad, du kannst wieder zehn Zechinen verdienen und mehr, wenn du willst. Laß mich deine Stelle vertreten - ich will den Dogen hinüberrudern." Pietro meinte, daß das gar nicht anginge, da der Doge ihn kenne und eben nur ihm sich anvertrauen wolle; endlich, als Antonio mit dem wilden Zorn, wie er aus dem von tausend Liebesqualen aufgeregten Gemüt hervorsprudelte, in ihn drang, wie er ganz unsinnig schwur, daß er der Gondel nachspringen und ihn herabreißen werde ins Meer, da rief Pietro lachend: "Ei, Signor Antonio! Signor Antonio! wie habt Ihr Euch verguckt in die schönen Augen der Dogaressa!" und willigte ein, daß Antonio mitkommen solle als sein Gehülfe beim Rudern, er wolle die Schwere des Fahrzeugs sowie kränkliche Schwäche vorschützen bei dem alten Falieri, dem so bei solcher Fahrt das Gondeln immer zu langsam ginge. Antonio rannte fort, und kaum war er wieder an der Brücke in schlechten Schifferkleidern, mit gefärbtem Gesicht, einen langen Zwikkelbart über die Lippen gehängt, als der Doge herabstieg mit der Dogaressa, beide in herrlichen bunten glänzenden Kleidern. "Wer ist der fremde Mensch dort?" fuhr der Doge den Pietro zornig an, und nur die heiligsten Versicherungen Pietros, daß er heute eines Gehülfen bedürfe, konnten den Alten endlich bewegen zu erlauben, daß Antonio mitgondle.

Es pflegt wohl zu geschehen, daß gerade im Übermaß alles Entzückens, aller Seligkeit das Gemüt, wie gestärkt durch die Macht des Augenblicks, sich selbst bezwingt und den Flammen gebietet, die aus dem Innern hervorlodern wollen. So vermochte Antonio, dicht neben der holden Annunziata, berührt von dem Saume ihres Kleides. seine Liebesglut zu verbergen, indem er mit kräftiger Faust das Ruder regierte und, größeres Wagstück scheuend, kaum die Geliebte dann und wann flüchtig anblickte. Der alte Falieri schmunzelte und lächelte, küßte und streichelte die kleinen weißen Händchen der holden Annunziata, legte den Arm um ihren schlanken Leib. Mitten auf dem Meere, als der Markusplatz, das prächtige Venedig mit all seinen stolzen Türmen und Palästen sich vor den Schiffenden ausbreitete, da erhob der alte Falieri das Haupt und sprach, indem er mit stolzen Blicken umherschaute: "Ei. mein Liebchen, ist es nicht schön, zu schiffen auf dem Meer mit dem Herrn, mit dem Gemahl des Meers? — Ja, mein Liebchen, sei nicht eifersüchtig auf die Gattin, die demütig uns auf ihrem Nacken trägt. Hör nur das süße Plätschern der Wellen, sind das nicht Liebesworte, die sie dem Gemahl zuflüstert, der sie beherrscht? — Ja, ja, Liebchen, du trägst meinen Ring am Finger, aber die da unten bewahrt in ihrem tiefsten Busen den Trauring, den ich ihr zuwarf." — "Ach, mein fürstlicher Herr", fing Annunziata an, "ach, wie sollte denn die kalte böse Flut deine Gemahlin sein, es wird mir gar schauerlich zumute dabei, daß du dich dem stolzen herrischen Element vermähltest." Der alte Falieri lachte, daß Kinn und Bart wackelten. "Ängstige dich nicht, Täubchen", sprach er dann, "besser ruht sich's ja wohl in deinen weichen warmen Armen als in dem eiskalten Schoß der Gattin da unten, aber schön ist's, zu schiffen auf dem Meer mit dem Herrn des Meers."Indem Augenblick, als der Doge dies sprach, fing eine ferne Musik zu säuseln an. Über die Meereswellen gleitend, kamen näher die Töne einer sanften Männerstimme, es wurden die Worte gesungen:

"Ah! senza amare,
Andare sul mare
Col sposo de!' mare
Non pua consolare."

Andere Stimmen helen ein, und in stetem Wechselgesange wurden jene Worte immer und immer wiederholt, bis der Gesang wie im Hauch des Windes starb. Der alte Falieri schien auf den Gesang gar nicht zu achten, er erzählte der Dogaressa vielmehr sehr weitläufig, was es mit der Feierlichkeit am Himmelfahrtstage, wenn der Doge, von dem Bucentoro den Ring hinabwerfend, sich dem Meer vermähle, für eine Bewandtnis habe.

Er sprach von den Siegen der Republik, wie ehemals Istrien und Dalmatien erobert worden unter der Regentschaft Peter Urseolus' des Zweiten und wie in dieser Eroberung jener Feierlichkeit erster Ursprung liege. Achtete nun der alte Falieri aber nicht auf jenen Gesang, so ging dafür seine Erzählung ganz verloren der Dogaressa. Die saß da, den Sinn ganz zugewendet den süßen-Tönen, die über das Meer schwammen; sie starrte, als der Gesang geendet, mit seltsamem Blick vor sich hin, wie jemand, der, aus tiefem Traum erwacht, die Bilder noch zu schauen, zu deuten strebt, die ihn umgaukelten. —"Senza amare - senza amare - non pua consolare", lispelte sie leise, und Tränen glänzten wie helle Perlen in den Himmelsaugen, und Seufzer entflohen der Brust, die auf- und niederwallte vor innerer Beklemmung. — Noch immer in vollem Schmunzeln und Lächeln forterzählend, trat der Alte, die Dogaressa an der Seite, heraus auf die Balustrade vor seinem Hause bei San Giorgio Maggiore und gewahrte nicht, wie, von seltsamen dunklen Gefühlen im Innern aufgeregt, Annunziata sprachlos, den tränenschweren Blick in ein fernes Land gerichtet, wie im Traume neben ihm stand. — Ein junger Mensch in Schifferkleidung stieß in ein muschelartig gewundenes Horn, daß die Töne weit über das Meer hin hallten. Auf

dies Zeichen näherte sich eine andere Gondel. Unterdessen war ein Mann, der einen Sonnenschirm trug, und eine Frau herangetreten, und so begleitet, schritt der Doge mit der Dogaressa nach dem Palast. Jene Gondel landete. Marino Bodoeri mit vielen Personen, unter denen sich Kaufleute, Künstler, ja Leute aus der niedrigsten Volksklasse befanden, stieg aus und folgte dem Doge.

Antonio konnte kaum den andern Abend erwarten, weil er auf frohe Botschaft hoffte von seiner geliebten Annunziata. Endlich, endlich hinkte die Alte herein, setzte sich keuchend in den Lehnsessel, schlug die dürren Knochenhände ein Mal über das andere zusammen und rief: "Tonino - ach, Tonino, was ist denn geschehen mit unserm armen Täubchen! — Sowie ich heute hineintrete, liegt sie da auf dem Polster mit halbgeschlossenen Augen, das Köpfchen auf den Arm gestützt, nicht schlummernd, nicht wachend, nicht krank, nicht gesund. — Ich nahe mich ihr, ,ei, gnädige Frau Dogaressa', spreche ich, ,was ist Euch denn Schlimmes begegnet? — schmerzt Euch wohl noch die kaum geheilte Wunde?' — Aber da blickt sie mich an mit Augen - Tonino! — mit Augen, wie ich sie noch gar nicht gesehen, und kaum hab ich hineingeschaut in die feuchten Mondesstrahlen, so bergen sie sich hinter die seidnen Wimpern wie hinter dunkles Gewölk. Und dann seufzt sie aus tiefster Brust und kehrt das holde blasse Antlitz der Wand zu und lispelt leise, ganz leise, aber so wehmütig, daß es mir gerade ins Herz sticht: ,Amare - amare - ah senza amare!' — ich hole mir einen kleinen Stuhl, ich setze mich hin zu ihr, ich fange an, von dir zu erzählen. — Sie hüllt sich ein in die Polster - die schnelleren und schnelleren Atemzüge werden zu Seufzern. — Ich sag's ihr unverhohlen, daß du verkleidet bei ihr warst in der Gondel, daß ich dich, der vor Liebe und Sehnsucht verschmachtet, nun ungesäumt zu ihr bringen würde. Da fährt sie plötzlich auf von den Polstern, und indem ein Strom heißer Tränen aus ihren Augen stürzt, ruft sie heftig: ,Um Christus, um aller Heiligen willen - nein -

nein, ich kann ihn nicht sehen -Alte! — ich beschwöre dich, sag ihm, er solle niemals, niemals mehr sich mir nahen - niemals, das sag ihm, er solle Venedig verlassen, schnell verlassen.' — ,Nun', fall ich ihr ins Wort, ,nun, so muß denn mein armer Tonino sterben.' Da sinkt sie, wie von den unsäglichsten Schmerzen gefaßt, in die Polster und schluchzt mit von Tränen erstickter Stimme: ,Muß ich denn nicht auch sterben des bittersten Todes?' Da trat der alte Herr Falieri ins Gemach, und ich mußte mich auf seinen Wink entfernen." — "Sie hat mich verworfen - fort - fort aufs Meer", schrie Antonio auf in heller Verzweiflung. Die Alte kicherte und lachte nach ihrer gewöhnlichen Art und rief: "Du einfältig Kind, du einfältig Kind! —wirst du denn nicht geliebt von der holden Annunziata mit aller Inbrunst, mit aller Liebesqual, die jemals ein weiblich Herz ergriff? —Einfältig Knäblein, morgen am tiefen Abend schleiche dich in den herzoglichen Palast. In der zweiten Galerie, rechts der großen Treppe, wirst du mich finden - und dann wollen wir sehen, was sich weiter begibt."

Als Antonio, bebend vor Sehnsucht, am andern Abend die große Treppe hinaufschlich, war es ihm plötzlich, als wolle er einen ungeheuern Frevel beginnen. Ganz betäubt, vermochte er kaum, zitternd und schwankend, die Stufen zu ersteigen. Er mußte sich dicht vor der ihm bezeichneten Galerie an eine Säule lehnen. Plötzlich umfloß ihn heller Fackelschein, und noch ehe er seinen Platz verlassen konnte, stand der alte Bodoeri dicht vor ihm, von einigen Dienern begleitet, die Fackeln, trugen. Bodoeri sah dem Jünglinge starr ins Angesicht und sprach dann: "Ha! du bist Antonio, man hat dich herbestellt, ich weiß es, folge mir nur!" — Antonio, überzeugt, daß die Zusammenkunft mit der Dogaressa verraten, folgte nicht ohne Zagen. Wie erstaunte er, als, in ein entferntes Gemach getreten, Bodoeri ihn umarmte und von dem wichtigen Posten sprach, der ihm anvertraut worden und den er noch in dieser Nacht mit Mut und Entschlossenheit behaupten solle. Sein Erstaunen ging aber

in Angst über und Entsetzen, da er erfuhr, daß schon seit langer Zeit eine Verschwörung wider die Signorie gereift, an deren Spitze der Doge selbst stehe, daß, wie es in Faliens Hause auf der Giudecca beschlossen, noch in dieser Nacht die Signorie fallen und der alte Marino Falieri als souveräner Herzog von Venedig ausgerufen werden solle. Antonio starrte den Bodoeni sprachlos an, dieser hielt des Jünglings Schweigen für eine Weigerung, teilzunehmen an der Ausführung der entsetzlichen Tat, und rief entrüstet: "Feigherziger Tor! aus dem Palast kommst du nun nicht mehr, entweder du stirbst oder ergreifst mit uns die Waffen, aber sprich erst mit diesem!" Aus dem dunklen Hintergrunde des Zimmers trat eine hohe edle Gestalt hervor. Sowie Antonio das Antlitz des Mannes, den er nur erst im Schein der Kerzen bemerken und erkennen konnte, erblickte, stürzte er nieder auf die Knie und rief, ganz außer sich selbst gebracht durch die nicht geahnte Erscheinung: "0 heiliger Herr des Himmels! mein Vater Bertuccio Nenolo, mein teurer Pfleger!" — Nenolo hob den Jüngling auf, schloß ihn in seine Arme und sprach dann mit sanfter Stimme: "Wohl bin ich Bertuccio Nenolo, den du vielleicht auch in dem Meeresgrunde begraben glaubtest und der erst seit kurzer Zeit der schmählichen Gefangenschaft des wilden Morbassan entgangen; Bertuccio Nenolo, der dich aufnahm und der nicht ahnen konnte, daß die unvernünftigen Diener, die Bodoeri abschickte, als er das ihm verkaufte Landhaus in Besitz nehmen wollte, dich hinausstoßen würden aus dem Hause. — Verblendeter Jüngling! du stehst an, die Waffen zu ergreifen gegen eine despotische Kaste, deren Grausamkeit dir den Vater raubte? — Ja, gehe hin in den Hof des Fontego, es ist deines Vaters Blut, dessen Spuren du noch schauen kannst auf den Steinen des Bodens. Als die Signorie den deutschen Kaufleuten das Kaufhaus, welches du unter dem Namen des Fontego kennst, übermachte, wurde jedem, dem man Gemächer einräumte, verboten, die Schlüssel bei der Abreise an sich zu behalten, er mußte sie bei dem Fontegaro lassen. Diesem Gesetz hatte dein Vater entgegengehandelt und war schon deshalb schwerer Strafe verfallen. Als nun aber bei der Rückkunft des Vaters die Gemächer geöffnet wurden, fand sich unter seinen Waren eine Kiste venezianischer, falsch ausgeprägter Münzen. Vergebens beteuerte er seine Unschuld, es war nur zu gewiß, daß irgendein hämischer Teufel, vielleicht der Fontegaro selbst, die Kiste hineingebracht hatte, um deinen Vater zu verderben. — Die unerbittlichen Richter, mit dem Beweise, daß die Kiste in deines Vaters Gemächern gefunden, zufrieden, verurteilten ihn zum Tode! —Auf dem Hofe des Fontego wurde er hingerichtet. — Auch du wärst nicht mehr, wenn die treue Margarete dich nicht rettete. — Ich, deines Vaters treuster Freund, nahm dich auf; damit du dich der Signorie nicht selbst verraten möchtest, verschwieg man dir deines Vaters Namen. — Aber nun, nun, Anton Dalbirger, nun ist es Zeit, nun ergreife die Waffen und räche an den Häuptern der Signorie den schmählichen Tod deines Vaters." Antonio, vom Geist der Rache beseelt, gelobte den Verschwornen Treue und unbezwingbaren Mut. — Es ist bekannt, daß der Schimpf, den Bertuccio Nenolo von dem über die Seerüstungen gesetzten Dandulo, der ihm bei einem Streit ins Gesicht schlug, erfahren, ihn bewog, mit dem ehrgeizigen Schwiegersohn sich wider die Signorie zu verschwören. Beide, Nenolo und Bodoeri, wünschten dem alten Falieri den Fürstenmantel, um selbst mit ihm zu steigen. — Man wollte (so war der Plan der Verschwornen) die Nachricht ausbreiten, die genuesische Flotte liege vor den Lagunen. In der Nacht sollte dann die große Glocke auf dem Markusturm gezogen und die Stadt zu erdichteten Verteidigungen gerufen werden. Auf dieses Zeichen sollten die Verschwornen, deren Anzahl beträchtlich und durch ganz Venedig verbreitet war, den Markusplatz besetzen, sich der Hauptplätze der Stadt bemächtigen, die Häupter der Signorie ermorden und den Dogen als souveränen Herzog von Venedig ausrufen. Der Himmel wollte aber nicht, daß dieser Mordanschlag gelingen und die Grundverfassung des bedrängten Staats durch den alten, von Stolz und Übermut entflammten Falieri in den Staub getreten werden sollte. Die Versammlungen auf der Giudecca in Falieris Hause waren der Wachsamkeit des Rats der Zehen nicht entgangen, aber unmöglich blieb es, etwas Gewisses zu erfahren. Da rührte einen der Verschwornen, einen Pelzhändler aus Pisa, Bentian geheißen, das Gewissen, er wollte seinen Freund und Gevatter, den Nicolao Leoni, der im Rate der Zehen saß, vom Untergange retten. In der Abenddämmerung begab er sich zu ihm und beschwor ihn, in der Nacht nicht das Haus zu verlassen, es möge auch geschehen, was da wolle. Leoni, von Argwohn ergriffen, hielt den Pelzhändler fest und erfuhr, als er in ihn drang, den ganzen Anschlag. In Gemeinschaft mit Giovanni Gradenigo und Marco Cornaro berief er nun den Rat der Zehen nach St. Salvator, und von hier aus wurden in weniger als drei Stunden Maßregeln ergriffen, die alle Unternehmungen der Verschwornen im ersten Aufglimmen ersticken mußten.

Dem Antonio war es aufgetragen, mit einem Trupp nach dem Markusturm zu gehen und die Glocken anziehen zu lassen. Sowie er hinkam, fand er den Turm stark besetzt von Arsenaltruppen, die, als er sich nahen wollte, mit Hellebarden auf ihn eindrangen. Von plötzlichem Todesschreck ergriffen, stäubte sein Haufen auseinander, er selbst entwischte in der Dunkelheit der Nacht. Dicht hinter sich hörte er Tritte eines Menschen, der ihm nachsetzte, er fühlte sich ergriffen, schon wollte er den Verfolger niederstoßen, als er bei einem plötzlich aufschimmernden Licht den Pietro erkannte. "Rette dich", rief dieser, "rette dich, Antonio! in meine Gondel, es ist alles verraten -Bodoeri -Nenolo -sind in der Gewalt der Signorie - die Tore des herzoglichen Palastes geschlossen - der Doge eingesperrt in sein Gemach - wie ein Verbrecher bewacht von seinen eignen treulosen Trabanten - fort, fort." — Halb sinnlos ließ sich Antonio hineinschleppen in die Gondel. — Dumpfe Stimmen - Klirren der Waffen - einzelne Angstrufe - dann trat mit der tiefsten Finsternis der

Nacht lautlose schauerliche Stille ein. Am andern Morgen erblickte der von Todesschrecken zermalmte Pöbel das entsetzliche Schauspiel, das jedes Blut in den Adern gerinnen machte. Der Rat der Zehen hatte noch in derselben Nacht das Todesurteil über die Häupter der Verschwornen, die ergriffen worden, gefällt. Erdrosselt wurden sie auf dem kleinen Platze zur Seite des Palastes von der Galerie herabgelassen, wo der Doge sonst den Feierlichkeiten zuzuschauen pflegte - ach! wo Antonio vor der holden Annunziata schwebte, wo sie von ihm den Blumenstrauß empfing. —Unter den Leichnamen befanden sich Marino Bodoeri und Bertuccio Nenolo. Zwei Tage nachher wurde der alte Marino Falieri von dem Rate der Zehen verurteilt und auf der sogenannten Riesentreppe des Palastes hingerichtet.

Wie bewußtlos war Antonio umhergeschlichen, niemand griff ihn an, denn niemand kannte ihn als einen der Verschwornen. Als er des alten Falieri graues Haupt fallen sah, da fuhr er auf wie aus schwerem Todestraum. — Mit dem Schrei des wildesten Entsetzens - mit dem Ausruf: "Annunziata!" stürzte er in den Palast. durch die Galerien. — Niemand hielt ihn auf, die Trabanten starrten ihn an wie betäubt von dem Fürchterlichen, das sich soeben zugetragen. Die Alte hinkte ihm entgegen, laut jammernd und klagend, sie ergriff seine Hand, noch einige Schritte, und er trat mit ihr in Annunziatas Gemach. Da lag die Arme entseelt auf den Polstern. Antonio stürzte hin zu ihr, er bedeckte ihre Hände mit glühenden Küssen, er rief die Geliebte mit den süßesten, zärtlichsten Namen. Da schlug sie die holden Himmelsaugen langsam auf, sie sah Antonio - erst war es, als müsse sie sich auf ihn besinnen, doch plötzlich raffte sie sich auf, umschlang ihn mit beiden Armen, drückte ihn an ihre Brust - benetzte ihn mit heißen Tränen - küßte seine Wangen - seine Lippen. "Antonio - mein Antonio - ich liebe dich unaussprechlich - ja, es gibt noch einen Himmel auf Erden! — Was ist des Vaters - des Oheims - des Gatten Tod gegen die Seligkeit deiner Liebe - o laß uns

fliehen - von dieser blutigen Mordstätte!" — So rief Annunziata, zerrissen von dem bittersten Schmerz und der glühendsten Liebe. Unter tausend Küssen, unter tausend Tränen schwuren sich die Liebenden ewige Treue, sie vergaßen die furchtbaren Ereignisse der schrecklichsten Tage, den Blick von der Erde abgewandt, schauten sie auf den Himmel, den ihnen der Geist der Liebe erschlossen. Die Alte riet, nach Chiozza zu fliehen, Antonio wollte dann zu Lande in umgekehrter Richtung weiter herauf nach seinem Vaterlande. Freund Pietro verschaffte ihm eine kleine Barke, die an der Brücke bei der hintern Seite des Palastes angelegt wurde. Eingehüllt in tiefe Schleier, schlich Annunziata, als es Nacht worden, mit dem Geliebten, von der alten Margareta, die in der Kapuze reiche Juwelenkästchen trug, begleitet, über die Treppen hinab. Unbemerkt kamen sie an die Brücke, stiegen sie hinein in die Barke. Antonio ergriff das Ruder, und fort ging es in schneller rüstiger Fahrt. Wie ein fröhlicher Liebesbote tanzte der helle Mondesschimmer auf den Wellen vor ihnen her. Sie waren auf hoher See. Da begann es seltsam zu pfeifen und zu sausen in hoher Luft - finstere Schatten kamen gezogen und hingen sich wie dunkle Schleier über das leuchtende Antlitz des Mondes. Der tanzende Schimmer, der fröhliche Liebesbote, sank herab in die schwarze Tiefe voll dumpfer Donner. Der Sturm erhob sich und jagte die düstern, zusammengeballten Wolken mit zornigem Toben vor sich her. Hoch auf und nieder flog die Barke. "0 hilf, o Herr des Himmels!" schrie die Alte. Antonio, des Ruders nicht mehr mächtig, umschlang die holde Annunziata, die, von seinen glühenden Küssen erweckt, ihn mit der Inbrunst der seligsten Liebe an ihren Busen drückte. "0 mein Antonio!" — "0 meine Annunziata!" So riefen sie, des Sturms nicht achtend, der immer entsetzlicher tobte und brauste. Da streckte das Meer, die eifersüchtige Witwe des enthaupteten Fallen, die schäumenden Wellen wie Riesenarme empor, erfaßte die Liebenden und riß sie samt der Alten hinab in den bodenlosen Abgrund!

Als der Mann im Mantel auf diese Weise seine Erzählung geendet hatte, sprang er schnell auf und verließ mit starken raschen Schritten das Zimmer. Die Freunde sahen ihm stillschweigend und ganz verwundert nach, dann traten sie aufs neue vor das Gemälde. Der alte Doge schmunzelte sie wieder an in törichtem Prunk und faselnder Eitelkeit. aber als sie nun der Dogaressa recht ins Antlitz schauten, da gewahrten sie wohl, wie die Schatten eines unbekannten, nur geahnten Schmerzes auf der Lilienstirn lagen, wie sehnsüchtige Liebesträume unter den dunklen Wimpern hervorleuchteten und um die süßen Lippen schwebten. Aus dem fernen Meer, aus den duftigen Wolken, die San Marco einhüllten, schien die feindliche Macht Tod und Verderben zu drohen. Die tiefere Bedeutung des anmutigen Bildes ging ihnen klar auf, aber auch alle Wehmut der Liebesgeschichte Antonios und Annunziatas kehrte, sooft sie das Bild auch noch anblicken mochten, wieder und erfüllte ihr innerstes Gemüt mit süßen Schauern.



Die Freunde lobten die Erzählung und waren einstimmig im Urteil, daß Ottmar die wahre Geschichte des ehrsüchtigen, unglücklichen Dogen Marino Falieri auf echt serapiontische Weise benutzt habe.

"Ottmar", sprach Lothar, "ließ es sich aber sauer werden, als er die Erzählung schrieb. Denn außer dem, daß ihn das hübsche Bild unseres wackern Kolbe zu dem Ganzen begeistert, lag Le Brets ,Geschichte von Venedig' immer aufgeschlagen auf dem Tische, und das ganze Zimmer hatte er mit pittoresken Ansichten von den Straßen und Plätzen Venedigs geschmückt, die er Gott weiß wo überall aufgetrieben. Deshalb ist die Erzählung so individuell lokal geworden, wie sie sein mußte."

Die Mitternachtsstunde hatte geschlagen, die Freunde schieden in der frohesten Stimmung.


Vierter Abschnitt [Alte und neue Kirchenmusik]

Vinzenz und Sylvester hatten sich eingefunden. Lothar hielt ihnen eine lange Rede, worin er auf höchst ergötzliche Weise sehr weitläuftig die Pflichten eines würdigen Serapionsbruders entwickelte. "Und nun", schloß er, "versprecht mir, teure würdige Novizen, mittelst feierlichen Handschlags, der Regel des heiligen Serapion treu zu sein, das heißt euer ganzes Bestreben dahin zu richten, bei den Versammlungen des schönen Bundes euch so geistreich, lebendig, gemütlich, anregbar und witzig zu zeigen, als es nur in euern Kräften steht."

"Ich", nahm Vinzenz das Wort, "ich für mein Teil verspreche das mit voller Seele. Ich will meine ganze Habe an Geist und Gemüt zur Bundeskasse tragen, aus der ihr mich dann ernähren, ja ordentlicherweise mästen könnt. Ich will jedesmal, wenn ich bei euch einzutreten gedenke, wie man im Sprüchwort sagt, vorher meinem Affen reichlichen Zuckerdarbieten. damit er Lust bekomme zu allerlei zierlichen Kapriolen. Und da euer Schutzpatron allen Ruhm, alle Ehre erworben durch geziemlichen Wahnsinn, will ich mich vorzüglich bemühn, ihm nachzueifern, so daß es dem Bunde nie an lobenswerter Tollheit fehlen soll. Ich kann, verlangst du es, mein würdiger Lothar, wünscht ihr es, meine geschätztesten Serapionsbrüder, mit den saubersten fixen Ideen wechseln. Ich kann mir wie der Professor Titel einbilden,

römischer Kaiser, oder wie der Pater Sgambari, Kardinal zu sein. Ich kann wie jene Frau des Trallianus glauben, das Weltall ruhe auf meinem linken Daumen oder meine Nase sei von Glas und leuchte in den schönsten Farben prismatisch hinauf an Wand und Decke, oder mich wie der kleine Schotte Donald Monro für einen Spiegel halten und alle Blicke, Grimassen, Posituren dessen nachmachen, der mir ins Gesicht schaut. Ja, ich kann überzeugt sein, meine anima sensitiva habe mir, wie dem Chevalier d'Epernay, den Kopf kahl geschoren und ich flöße euch nur Respekt ein durch die wenigen Haare, die ich noch auf den Zähnen behalten. — Ihr werdet als würdige Serapionsbrüder all diesen Wahnsinn zu ehren wissen! — Tut das, Leute! und verfallt nicht etwa darauf, mich kurieren und gar Mittel anwenden zu wollen nach der Methode des Boerhaave, des Mercurialis, des Antius von Amida, des Friedrich Kraft, des Herrn Richter, welche sämtlich sattsames Prügeln anraten und sanftes Maulschellieren. Und doch wirken Prügel wohltätig auf Verstand und Herz und beleben den Körper zu den wichtigsten Funktionen. — Was wäre aus uns geworden, hätten wir eine einzige Vokabel in den Kopf gebracht in Quinta ohne nützliches Prügeln? —ja! ich gedenke noch, daß, wie ich in meinem zwölften Jahre ,Werthers Leiden' gelesen hatte, ich mich stracks in ein dreißigjähriges Fräulein verliebte und mich totschießen wollte. Mein Vater heilte glücklich die zu große Reizbarkeit meines Herzens nach Rhases und Valuscus de Taranta, welche eine gute Tracht Schläge auf den H— als ein kräftiges Mittel wider die Liebe empfehlen. Zu gleicher Zeit weinte der Alte heiße Vatertränen vor Freude über die Entdeckung, daß sein Söhnlein wirklich kein Esel sei, denn dieses Tier wird nach bekannter Erfahrung desto verliebter, je mehr und besser man es prügelt! — Und was den Körper anlangt und dessen Funktionen! Oh, ruft euch doch nur jenen venusinischen Prinzen ins Gedächtnis, dessen Campanella erwähnt! — Der gute Fürst konnte nicht anders zu Stuhle gehn, als wenn er vorher von einem dazu ausdrücklich besoldeten Mann erklecklich abgeprügelt worden!"

"0 aller Fabulanten ergötzlichster Fabulant", rief Theodor, "du ganzes Geschwornengericht des skurrilen Spaßes, wie lustig verführst du deine Kapriolen und Kurbetten! Aber tue das immerhin. — Blitze hinein, sollte es manchmal zu still und dunkel unter uns werden, mit den absonderlichsten Redensarten und belebe vorzüglich unsern Sylvester, der nach seiner gewöhnlichen Art und Weise bis jetzt noch kein einziges Wort gesprochen."

"Überhaupt", sprach Ottmar, "habe ich mich kaum überzeugen können, daß es wirklich Sylvester ist, der dort auf dem Stuhle sitzt und uns so freundlich anlächelt. Denn ganz unmöglich scheint es mir, daß er so bald seinen ländlichen Aufenthalt verlassen konnte, dessen Vorzüge vor unserer Stadt er so hoch pries, und ich denke immer, am Ende ist es nur ein hübscher Spuk, und Sylvester verschwindet uns plötzlich vor unsern sehenden Augen in den zierlichen Dampfwolken, die er aus dem Zigarro bläst!"

"Gott behüte und bewahre", rief Sylvester lachend, "glaubst du denn, daß ich friedlicher ruhiger Mann mich umgesetzt habe in einen Hexenkerl, der ehrliche Leute neckt mit seiner werten Person? Glaubst du, daß ich die mindeste Anlage habe zu einem Philadelphia oder Swedenborg? — Beklagst du dich, Theodor, über meine Wortkargheit, so wisse, daß ich gerade heute mit Bedacht den Atem spare, weil ich nichts Geringeres im Sinn trage, als euch eine ziemlich lange Erzählung vorzulesen, zu der mich ein sehr hübsches Bild unseres wackern Karl Kolbe entzündete und die ich während meines ländlichen Aufenthalts niederschrieb. — Wunderst du dich darüber, Ottmar, daß ich, unerachtet ich die Muße des Landlebens so hoch stelle, doch wieder hieherkam, so bedenke, daß, ist auch das ewige rastlose Gewühl, die leere Geschäftigkeit der großen Stadt meinem ganzen innern Wesen zuwider, ich doch auch dagegen, will ich als Dichter und Schriftsteller bestehen, mancher Anregung bedarf, die ich

nur hier finde. Jene Erzählung, die ich für gut halte, wäre nimmermehr entstanden, hätte ich nicht Kolbes Bild auf der Kunstausstellung geschaut und hätte ich nachher mich nicht der Muße des Landlebens hingegeben."

"Sylvester hat recht", nahm Lothar das Wort, "wenn er als Schauspiel-, als Romandichter die Anregungen in dem bunten Gewühl der großen Stadt sucht und dann dem Geist ruhige Muße gönnt, das zu schaffen, wozu er angeregt worden. Jenes Bild konnte Sylvester auch auf dem Lande schauen, aber nicht die lebendigen Personen, die sich darum her bewegten und in die hinein jene gemalten Personen. des Bildes traten. Dichter jener Art dürfen sich nicht zurückziehen in die Einsamkeit, sie müssen in der Welt leben, in der buntesten Welt, um schauen und auffassen zu können ihre unendlich mannigfachen Erscheinungen!"

"Ha!" rief Vinzenz, "wie jauchzt der Herr von Jacques im Shakespeare, als er den Monsieur Probstein im Walde gefunden? — ,Ein Narr, ein Narr! — Ich traf 'nen Narrn im Walde, 'nen scheckigen Narrn - o jämmerliche Welt.' So jauchze ich: ,Ein Poet! — ein Poet! — ich traf einen Poeten!' — Der taumelte zu hoher Mittagszeit aus dem dritten Weinhause, schaute hinauf mit den trunkfeuchten Augen zur Sonne, rief begeistert: ,0 süßes mildes Mondenlicht, wie fallen deine Strahlen in mein Innres hinein und erleuchten sattsam die ganze Welt, die ich darin hege und pflege! — Wandle vor mir her, wackres Gestirn, damit ich nach dem Ort hinsteure, wo mir Lebenserfahrung, Menschenkenntnis zuströmt in Fülle zum nützlichen Gebrauch - Charakter! lebendige Zeichnung ohne Studien nicht möglich - herrliches Getränk, vortreiflicher Eilfer, der die Herzen erschließt und die Phantasie entzündet! — Ja, er lebt in mir, der dort in jenem Zimmer Salami genießt. Es ist ein großer hagrer Mann, trägt einen blauen Frack mit gelben Knöpfen, englische Stiefel, schnupft Tabak aus einer schwarzlackierten Dose, spricht geläufig deutsch und ist daher, unerachtet jener Stiefel und der italienischen Wurst, ein deutscher herrlicher,

lebensvoller Charakter für meinen neuesten Roman! — Aber - mehr Menschenkenntnis - mehr Charaktere!' — Und damit lief mein Poet mit günstigem Winde ein in die Bucht des vierten Weinhauses!"

"Schweige", rief Lothar, "schweige, du Olivarius Textdreher! — So nenne ich dich, weil du mir in der Tat meinen ganzen Text verdrehst! — Ich weiß recht gut, was du mit deinem trunknen Poeten, der Lebenserfahrung in den Weinhäusern sammelt, und mit seinem Mann im blauen Frack meinst, und mag über dieses Thema gar nichts mehr sagen. Aber ganz andere Leute glauben ebenfalls, daß sie, haben sie die Persönlichkeit dieses, jenes unbedeutenden Subjekts, das ihnen in den Weg kam, genau abgeschrieben, ins Leben greifende Charaktere aufstellten. Mit dem besonderen Zopf, den dieser, jener alte Mann trägt, mit der Farbe, in die sich dieses, jenes Mädchen kleidet, ist es noch gar nicht getan. Es gehört ein eigner Sinn, ein durchdringender Blick dazu, die Gestalten des Lebens in ihrer tieferen Eigentümlichkeit zu erschauen, und auch mit diesem Erschauen ist es noch nicht getan. All die aufgefaßten Bilder, wie sie im ewigen bunten Wechsel sich ihm zeigten, bringt der Geist, der in dem wahren Dichter wohnt, erst auf die Kapelle, und wie aus dem Niederschlag des chemischen Prozesses gehen als Substrat die Gestalten hervor, die der Welt. dem Leben in seiner ganzen Extension angehören. Das sind die wunderbaren Personen, die ohne Rücksicht auf Ort, auf Zeit ein jeder kennt, mit denen ein jeder befreundet ist, die fort und fort unter uns lebendig wandeln! — Darf ich wohl des herrlichen Sancho Pansa, des Falstaff erwähnen? — Und weil du, Vinzenz, gerade vom blauen Frack sprachst, es ist wohl ein eigen Ding, daß die Gestalt, die der wahre Dichter auf jene Weise schuf, sich von selbst ganz artig und ihrem Charakter gemäß kleidet." — "Ei", sprach Ottmar, "das ist im Leben auch nicht anders. Gewiß haben wir alle bei irgendeiner besondern Erscheinung, die uns in den Weg trat, sehr lebhaft gefühlt, daß der Mann vermöge seines ganzen Wesens

nun ganz unmöglich eine andere Mütze, einen andern Hut, einen andern Rock tragen dürfe, als wie er ihn eben trägt. Daß dies geschieht, ist eben nicht so wunderbar, als daß wir es erkennen."

"Liegt", unterbrach Cyprian den Freund, "liegt es denn aber nicht bloß in unserer Erkenntnis, daß es geschieht?" — "0 Spitzfündigkeit ohnegleichen", rief Vinzenz. "Und", sprach Sylvester mit lebhafterem Ton, als es sonst seine Art war, "und alles, was Lothar behauptet, ist doch so wahr, so recht aus meiner Seele genommen. —Vergeßt aber nicht, daß nächst unserm erquicklichen Zusammensein ich auch auf dem Lande einen Genuß entbehre, der mein ganzes Wesen, es ganz und gar durchdringend, hoch erhebt. Ich meine nichts anders als die mannigfachen musikalischen Produktionen, die Aufführungen der herrlichsten Meisterwerke des Gesanges. Erst heute hat mich Beethovens Messe, die, wie ihr wißt, in der katholischen Kirche aufgeführt wurde, wahrlich in höchsten Sinn des Worts ergriffen."

"Und das", sprach Cyprian mürrisch, "verwundert mich nur deshalb nicht, weil dir, Sylvester, die Entbehrung dergleichen Dinge im bessern Licht erscheinen läßt. Dem Hungrigen schmeckt die geringere Kost. Denn, aufrichtig gesagt, Beethoven hat in seinem Hochamt eine gar hübsche, auch wohl geniale Musik geliefert, aber nur durchaus kein Hochamt. Wo ist der strenge Kirchenstil geblieben!"

"Ich weiß es schon", nahm Theodor das Wort, "du, Cyprian! statuierst nur die alten Tonsetzer, erschrickst in der Kirchenpartitur vor allen schwarzen Noten und treibst die Strenge gegen alles Neuere bis zur Ungerechtigkeit."

"Wahr ist es indessen", sprach Lothar, "daß in Beethovens Messe mir vieles zu jubilierend, zu irdisch jauchzend klingt. Überhaupt möcht ich wissen, worin die völlige, miteinander kontrastierende Verschiedenheit des Geistes liegt, in dem die Meister die einzelnen Sätze des Hochamts komponiert haben."

"Ei", rief Sylvester, "das ist es auch, was mir so oft als unerklärlich aufgefallen ist. Man sollte meinen, daß zum

Beispiel die Worte: ,Benedictus qui venit in nomine domini' nur auf gleiche fromme ruhige Weise gesetzt werden könnten, und doch weiß ich nicht allein, daß diese Worte von den größten Meistern in ganz verschiedenem Charakter komponiert worden sind, sondern auch, daß, von den verschiedensten Empfindungen durchdrungen, ich niemals die Komposition dieses, jenes großen Mannes als verfehlt zu verwerfen vermochte. — Theodor könnte uns hierüber aufklären."

"Das wollte ich wohl", sprach Theodor, "so gut ich's vermag, aber ich müßte euch eine kleine Abhandlung vortragen, die mit ihrem Ernst sonderbar abstechen würde gegen die lustige Weise, in der heute unsere Versammlung begann."

"Ist es", erwiderte Ottmar, "ist es denn nicht eben recht serapionsmäßig, daß Ernst und Scherz wechsele? Sprich dich daher nur getrost aus, Theodor, über einen Gegenstand, der uns alle, nehme ich etwa unsern Vinzenz aus, der nichts von der Musik versteht, höchlich interessiert. — Ich bitte auch den neuen Serapionsbrüder Vinzenz, daß er den skurrilen Spaß, der ihm eben auf den Lippen schwebt, verschlucke und unsern Redner nicht unterbreche!"

"0 Serapion!" seufzte Vinzenz mit aufwärts gerichtetem Blick; Theodor begann aber ohne weiteres in folgender Art.


"Das Gebet, die Andacht, regt gewiß das Gemüt, nach seiner eigentümlich in ihm herrschenden oder auch augenblicklichen Stimmung, wie sie von physischem oder psychischem Wohlsein oder von ebensolchem Leiden erzeugt wird, auf. Bald ist daher die Andacht innere Zerknirschung bis zur Selbstverachtung und Schmach, Hinsinken in den Staub vor dem vernichtenden Blitzstrahl des dem Sünder zürnenden Herrn der Welten, bald kräftige Erhebung zu dem Unendlichen, kindliches Vertrauen auf die göttliche Gnade, Vorgefühl der verheißenen Seligkeit. Die Worte des Hochamts geben in einem Zyklus nur den Anlaß, höchstens den Leitfaden der Erbauung, und in jeder Stimmung werden sie den richtigen Anklang in der Seele erwecken. Im

,Kyrie' wird die Barmherzigkeit Gottes angerufen; das ,Gloria' preiset seine Allmacht und Herrlichkeit, das ,Credo' spricht den Glauben aus, auf den die fromme Seele fest bauet, und nachdem im ,Sanctus' und ,Benedictus' die Heiligkeit Gottes erhoben und Segen denen verheißen worden, die voll Vertraun sich ihm nahen, wird im ,Agnus' und im ,Dona' noch zum Mittler gefleht, daß er Beruhigung und seinen Frieden schenke der frommen glaubenden, hoffenden Seele. Schon dieser Allgemeinheit wegen, die der tieferen Beziehung, der inneren Bedeutung, welche ein jeder nach seiner individuellen Gemütsstimmung hineinlegt, nicht vorgreift, schmiegt sich der Text der mannigfaltigsten musikalischen Behandlung an, und ebendeshalb gibt es so ganz in Charakter und Haltung voneinander abweichende ,Kyrie', ,Gloria' und so weiter. Man vergleiche nur zum Beispiel die beiden ,Kyrie' in den Messen aus C-Dur und d-Moll von Joseph Haydn und ebenso seine ,Benedictus'. — Schon hieraus folgt, daß der Komponist, der, wie es stets sein sollte, von wahrer Andacht begeistert, zur Komposition eines Hochamts schreitet, die individuelle religiöse Stimmung seines Gemüts, der sich jedes Wort willig schmiegt, vorherrschen und sich durch das ,Miserere', ,Gloria', ,Qui tollis' und so weiter nicht zum bunten Gemisch des herzzerschneidendsten Jammers der zerknirschten Seele mit jubilierendem Geklingel verleiten lassen wird. Alle Arbeiten dieser letzten Art, wie sie in neuerer Zeit auf höchst frivole Weise gemacht wurden, sind Mißgeburten, von einem unreinen Gemüt erzeugt, die ich ebenso lebhaft verwerfe als Cyprian. Aber hohe Bewundrung zolle ich den herrlichen Kirchenkompositionen Michael und Joseph Haydns, Hasses, Naumanns und anderer, ohne der alten Werke der frommen italienischen Meister (Leo, Durante, Benevoli, Perti und andere) zu vergessen, deren hohe würdige Einfachheit, deren wunderbare Kunst, ohne bunte Ausweichungen eingreifend ins Innerste zu modulieren, in neuerer und neuester Zeit ganz verlorengegangen zu sein scheint. Daß, ohne an dem ursprünglichen reinen Kirchenstil schon deshalb festhalten zu wollen, weil das Heilige den bunten Schmuck irdischer Spitzfündigkeiten verschmäht, auch schon jene einfache Musik in der Kirche musikalisch mehr wirkt, ist nicht zu bezweifeln, da die Töne, je schneller sie aufeinanderfolgen, desto mehr im hohen Gewölbe verhallen und das Ganze undeutlich und unverständlich machen. Daher zum Teil die große Wirkung des Chorals in der Kirche. Mit dir, Cyprian, räume ich auch den erhabenen Kirchengesängen aus der älteren Zeit, schon ihres wahrhaft heiligen, immer festgehaltenen Stils halber, den Vorzug vor der neueren Kirchenmusik unbedingt ein, indessen bin ich doch der Meinung, daß man mit dem Reichtum, den die Musik, was hauptsächlich die Anwendung der Instrumente betrifft, in neuerer Zeit erworben, in der Kirche zwar nicht prunkenden Staat treiben dürfe, ihn doch aber auf edle, würdige Weise anwenden könne. Das gewagte Gleichnis, daß die ältere Kirchenmusik der Italiener sich zu der neueren deutschen verhalte wie die Peterskirche zum Straßburger Münster, möchte ziemlich treffend sein. Die grandiosen Verhältnisse jenes Baues erheben das Gemüt, indem sie kommensurabel bleiben; aber mit einer seltsamen inneren Beunruhigung staunt der Beschauer den Münster an, der sich in den kühnsten Windungen, in den sonderbarsten Verschlingungen bunter phantastischer Figuren und Zieraten hoch in die Lüfte erhebt. Allein, selbst diese Unruhe regt ein das Unbekannte, das Wunderbare ahnendes Gefühl auf, und der Geist überläßt sich willig dem Traume, in dem er das Überirdische, das Unendliche zu erkennen glaubt. Nun! und ebendies ist ja der Eindruck des Rein-Romantischen, wie es in Mozarts, in Haydns Kompositionen lebt und webt. — Daß es jetzt einem Komponisten nicht so leicht gelingen wird, in jenem hohen einfachen Stil der alten Italiener einen Kirchengesang zu setzen, ist leicht zu erklären. Nicht daran denken will ich, daß der wahrhafte fromme Glaube, der jenen Meistern die Kraft gab, das Heiligste in hohen würdigen Tönen zu verkünden, wohl selten in dem Gemüt des Künstlers aus der neuesten Zeit wohnen dürfte; ich will nur des Unvermögens, das der Mangel des wahren Genies herbeiführt, und dann ebenso des Mangels an Selbstverleugnung erwähnen. Regt nicht in der höchsten Einfachheit der tiefe Genius seine kräftigsten Schwingen? Wer aber läßt auch nicht gern den Reichtum, der ihm zu Gebote steht, vor aller Augen glänzen und ist zufrieden mit dem Beifall des einzelnen Kenners, dem auch ohne Prunk das Gediegene das Liebste oder vielmehr das einzig Liebe ist? Dadurch, daß man anfing, sich überall derselben Mittel des Ausdrucks zu bedienen, ist es nun beinahe dahin gekommen, daß es gar keinen Stil mehr gibt. In der komischen Oper hört man oft feierliche, gravitätisch daherschreitende Sätze, in der ernsten Oper tändelnde Liedchen und in der Kirche Oratorien und Ämter nach Opernzuschnitt. Aber es gehört auch eine seltene Tiefe des Geistes, ein hoher Genius dazu, selbst bei der Anwendung des figuriertesten Gesanges, des ganzen Reichtums der Instrumente ernst und würdevoll, kurz, kirchenmäßig zu bleiben. Mozart, so galant er in seinen beiden bekannteren Messen aus C-Dur ist, hat im ,Requiem' jene Aufgabe herrlich gelöst: es ist dies in Wahrheit eine romantisch heilige Musik, aus dem Innersten des Meisters hervorgegangen. Wie vortreiflich auch Haydn in manchem seiner Ämter von dem Heiligsten und Erhabensten in herrlichen Tönen redet, darf ich wohl nicht erst sagen, obgleich man ihm mit Recht hier und da manche Spielerei vorwerfen mag. — Sowie ich nur vernahm, Beethoven habe ein Amt gesetzt, ehe ich eine Note davon gehört oder gelesen hatte, vermutete ich gleich, daß, was Stil und Haltung betrifft, der Meister sich den alten Joseph zum Vorbilde nehmen würde. Und doch fand ich mich getäuscht in Ansehung dessen, wie Beethoven die Worte des Hochamts aufgefaßt hat. Beethovens Genius bewegt sonst gern die Hebel des Schauers, des Entsetzens. So, dachte ich, würde auch die Anschauung des Überirdischen sein Gemüt mit innerem Schauer erfüllen und er dies Gefühl in Tönen aussprechen. Im Gegenteil hat aber das ganze Amt den Ausdruck eines kindlich heitern Gemüts, das, auf seine Reinheit bauend, gläubig der Gnade Gottes vertraut und zu ihm fleht wie zu dem Vater, der das Beste seiner Kinder will und ihre Bitten erhört. Nächst diesem allgemeinen Charakter der Komposition ist die innere Struktur sowie die verständige Instrumentierung, wenn man nur einmal von der Tendenz, wie ich sie erst hinsichts des in der Kirche anzuwendenden musikalischen Reichtums aufstellte, ausgeht, ganz des genialen Meisters würdig."

"Aber ebendiese Tendenz", nahm Cyprian das Wort, "ist nach meiner Überzeugung ganz verkehrt und kann zur ruchlosen Entheiligung des Höchsten führen. — Laß mich es sagen, wie ich über Kirchenmusik denke, und du wirst finden, daß ich wenigstens mit mir selbst darüber ganz im reinen bin. — Keine Kunst, glaube ich, geht so ganz und gar aus der inneren Vergeistigung des Menschen hervor, keine Kunst bedarf nur einzig rein geistiger ätherischer Mittel als die Musik. Die Ahnung des Höchsten und Heiligsten, der geistigen Macht, die den Lebensfunken in der ganzen Natur entzündet, spricht sich hörbar aus im Ton, und so wird Musik, Gesang der Ausdruck der höchsten Fülle des Daseins - Schöpferlob! — Ihrem innern eigentümlichen Wesen nach ist daher die Musik religiöser Kultus und ihr Ursprung einzig und allein in der Religion, in der Kirche zu suchen und zu finden. Immer reicher und mächtiger ins Leben tretend, schüttete sie ihre unerschöpflichen Schätze aus über den Menschen, und auch das Profane durfte sich dann, wie mit kindischer Lust, in dem Glanz putzen, mit dem sie nun das Leben selbst in all seinen kleinen und kleinlichen irdischen Beziehungen durchstrahlte. Aber selbst das Profane erschien in diesem Schmuck wie sich sehnend nach dem göttlichen höheren Reich und strebend, einzutreten in seine Erscheinungen. — Eben dieses ihres eigentümlichen Wesens halber konnte die Musik nicht das Eigentum der antiken Welt sein, wo alles auf sinnliche Verleiblichung ausging,

sondern mußte dem modernen Zeitalter angehören. Die beiden einander entgegengesetzten Pole des Heidentums und des Christentums sind in der Kunst die Plastik und die Musik. Das Christentum vernichtete jene und schuf diese sowie die ihr zunächst stehende Malerei. In der Malerei kannten die Alten weder Perspektive noch Kolorit, in der Musik weder Melodie noch Harmonie. Melodie nehme ich im höhern Sinn als Ausdruck des inneren Affekts, ohne Rücksicht auf Worte und ihren rhythmischen Verhält. Aber es ist nicht diese Mangelhaftigkeit, die etwa nur die geringere Stufe, auf der damals Musik und Malerei standen, bezeichnet. sondern, wie in unfruchtbarem Boden ruhend, nicht entfalten konnte sich der Keim dieser Künste, der im Christentum herrlich aufging und Blüten und Früchte trug in üppiger Fülle. Beide Künste, Musik und Malerei, behaupteten in der antiken Welt nur scheinbar ihren Platz: sie wurden von der Gewalt der Plastik erdrückt, oder vielmehr, in den gewaltigen Massen der Plastik konnten sie keine Gestalt gewinnen; beide Künste waren nicht im mindesten das, was wir jetzt Malerei und Musik nennen, so wie die Plastik durch die jeder Verleiblichung entgegenstrebende Tendenz der christlichen Welt, gleichsam zum Geistigen verflüchtigt, aus dem körperlichen Leben entwich. Aber selbst der erste Keim der heutigen Musik, in dem das heilige, nur der christlichen Welt auflösbare Geheimnis verschlossen, konnte schon der antiken Welt nur nach seiner eigentümlichsten Bestimmung, das heißt zum religiösen Kultus, dienen. Denn nichts anders als dieser waren ja selbst in der frühsten Zeit ihre Dramen, welche Festdarstellungen der Leiden und Freuden eines Gottes enthielten. Die Deklamation wurde von Instrumentisten unterstützt, und schon dieses beweiset, daß die Musik der Alten rein rhythmisch war, wenn sich nicht auch anderweitig dartun ließe, daß, wie ich schon vorhin sagte, Melodie und Harmonie, die beiden Angeln, in denen sich unsere Musik bewegt, der antiken Welt unbekannt blieben. Mag es daher sein, daß Ambrosius und später Gregor um das Jahr fünfhundertundeinundneunzig antike Hymnen den christlichen Hymnen zum Grunde legten und daß wir die Spuren jenes bloß rhythmischen Gesanges noch in dem sogenannten Canto fermo, in den Antiphonien, antreffen, so heißt das doch nichts anders, als daß sie den Keim, der ihnen überkommen, benutzten, und es bleibt gewiß, daß das tiefere Beachten jener antiken Musik nur für den forschenden Antiquar Interesse haben kann, dem ausübenden praktischen Komponisten ging aber die heiligste Tiefe seiner herrlichen, echt christlichen Kunst erst da auf, als in Italien das Christentum in seiner höchsten Glorie strahlte und die hohen Meister in der Weihe göttlicher Begeisterung das heiligste Geheimnis der Religion in herrlichen, nie gehörten Tönen verkündeten. —Merkwürdig ist es, daß bald nachher, als Guido von Arezzo tiefer in die Geheimnisse der Tonkunst eingedrungen, diese den Unverständigen ein Gegenstand mathematischer Spekulationen und so ihr eigentümliches inneres Wesen, als es kaum begonnen, sich zu entfalten, verkannt wurde. Die wunderbaren Laute der Geistersprache waren erwacht und hallten hin über die Erde; schon war es gelungen, sie festzubannen, die Hieroglyphe des Tons in seiner melodischen und harmonischen Verkettung war gefunden. Ich meine die Musikschrift der Noten. Aber nun galt die Bezeichnung für das Bezeichnete selbst; die Meister vertieften sich in harmonische Künsteleien, und auf diese Weise hätte die Musik, zur spekulativen Wissenschaft entstellt, aufhören müssen, Musik zu sein. Der Kultus wurde, als endlich jene Künsteleien aufs höchste gestiegen waren, durch das, was sie ihm als Musik aufdrang, entweiht, und doch war dem von der heiligen Kunst durchdrungenen Gemüt nur die Musik wahrer Kultus. So konnte es also nur ein kurzer Kampf sein, der mit dem glorreichen Siege der ewigen Wahrheit über das Unwahre endete. Ausgesöhnt mit der Kunst wurde der Papst Marcellus der Zweite, der im Begriff stand, alle Musik aus den Kirchen zu verbannen, so aber dem Kultus den herrlichsten Glanz zu rauben, als der hohe Meister Palestrina ihm die heiligen Wunder der Tonkunst in ihrem eigentümlichsten Wesen erschloß. Auf immer wurde nun die Musik der eigentlichste Kultus der katholischen Kirche, und so war damals die tiefste Erkenntnis jenes innern Wesens der Tonkunst in dem frommen Gemüt der Meister aufgegangen, und in wahrhaftiger heiliger Begeisterung strömten aus ihrem Innern ihre unsterblichen unnachahmlichen Gesänge. Du weißt, Theodor, daß die sechsstimmige Messe, die Palestrina damals (es war ja wohl im Jahr 1555?) komponierte, um dem erzürnten Papst wahre Musik hören zu lassen, unter dem Namen ,Missa Papae Marcelli' sehr bekannt geworden ist. Mit Palestrina hob unstreitig die herrlichste Periode der Kirchenmusik, mithin der Musik überhaupt, an, die sich beinahe zweihundert Jahre bei immer zunehmendem Reichtum in ihrer frommen Würde und Kraft erhielt, wiewohl nicht zu leugnen ist, daß schon in dem ersten Jahrhundert nach Palestrina jene hohe unnachahmliche Einfachheit und Würde sich in eine gewisse Eleganz verlor, um die sich die Komponisten bemühten. Welch ein Meister ist Palestrina! — Ohne allen Schmuck, ohne melodischen Schwung folgen in seinen Werken meistens vollkommen konsonierende Akkorde aufeinander, von deren Stärke und Kühnheit das Gemüt mit unnennbarer Gewalt ergriffen und zum Höchsten erhoben wird. —Die Liebe, der Einklang alles Geistigen in der Natur, wie er dem Christen verheißen, spricht sich aus im Akkord, der daher auch erst im Christentum zum Leben erwachte, und so wird der Akkord, die Harmonie, Bild und Ausdruck der Geistergemeinschaft, der Vereinigung mit dem Ewigen, dem Idealen, das über uns thront und doch uns einschließt. Am reinsten, heiligsten, kirchlichsten muß daher die Musik sein, welche nur als Ausdruck jener Liebe aus dem Innern aufgeht, alles Weltliche nicht beachtend und verschmähend. So sind aber Palestrinas einfache, würdevolle Werke, die, in der höchsten Kraft der Frömmigkeit und Liebe empfangen, das Göttliche verkünden mit Macht und Herrlichkeit. Auf seine Musik paßt eigentlich das, womit die Italiener das Werk manches gegen ihn seichten, ärmlichen Komponisten bezeichneten; es ist wahrhafte Musik aus der andern Welt - Musica del'altro mondo.

Die Folge konsonierender, vollkommener Dreiklänge ist uns jetzt in unserer Verweichlichung so fremd geworden, daß mancher, dessen Gemüt dem Heiligen ganz verschlossen, darin nur die Unbehülflichkeit der technischen Struktur erblickt. Indessen, auch selbst von jeder höheren Ansicht abgesehen, nur das beachtend, was man im Kreise des Gemeinen Wirkung zu nennen pflegt, liegt es am Tage, daß, wie du schon erst bemerktest, Theodor! in der Kirche, in dem großen weithallenden Gebäude, gerade alles Verschmelzen durch Übergänge, durch kleine Zwischennoten die Kraft des Gesanges bricht. In Palestrinas Musik trifft jeder Akkord den Zuhörer mit der ganzen Gewalt, und die künstlichsten Modulationen werden nie so wie ebenjene kühnen, gewaltigen, wie blendende Strahlen hereinbrechenden Akkorde auf das Gemüt zu wirken vermögen. Palestrina ist einfach, wahrhaft, kindlich fromm, stark und mächtig, echt christlich in seinen Werken wie in der Malerei Pietro von Cortona und unser Albrecht Dürer. Sein Komponieren war Religionsübung. Doch will ich auch nicht der hohen Meister Caldara, Bernabei, Scarlatti, Marcello, Lotti, Porpora, Bernardo, Leo, Vallotti und anderer vergessen, die alle sich einfach, würdig und kräftig erhielten. — Lebhaft geht in diesem Augenblick die Erinnerung an die siebenstimmige, alla cappella gesetzte Messe des Alessandro Scarlatti in mir auf, die du einmal, Theodor, unter deiner Leitung von deinen guten Schülern und Schülerinnen singen ließest. Dies Hochamt ist ein Muster des wahren mächtigen Kirchenstils, unerachtet es schon den melodischen Schwung, den die Musik zu der Zeit (1705) gewonnen, in sich hat."

"Und", sprach Theodor, "des mächtigen Händel, des unnachahmlichen Hasse, des tiefsinnigen Sebastian Bach gedenkst du gar nicht?"

"Ei", erwiderte Cyprian, "diese rechne ich eben noch ganz zu der heiligen Schar, deren Inneres die Kraft des Glaubens stärkte und der Liebe. Ebendiese Kraft schuf die Begeisterung, in der sie in Gemeinschaft traten mit dem Höheren und entflammt wurden zu den Werken, die nicht weltlicher Absicht dienen, sondern nur Lob und Preis der Religion, des höchsten Wesens sein sollten. Daher tragen jene Werke das Gepräge der Wahrhaftigkeit, und kein ängstliches Streben nach sogenannter Wirkung, keine gesuchte Spielerei und Nachäffung entweiht das rein vom Himmel Empfangene, daher kommt nichts vor von den sogenannten frappierenden Modulationen, von den bunten Figuren, von den weichlichen Melodien, von dem kraftlosen verwirrenden Geräusch der Instrumente, das den Zuhörer betäuben soll, damit er die innere Leere nicht bemerke, und daher wird nur von den Werken dieser Meister und der wenigen, die noch in neuerer Zeit treue Diener der von der Erde verschwundenen Kirche blieben, das fromme Gemüt wahrhaft erhoben und erbaut. Ich will auch hier des herrlichen Meisters Fasch gedenken, der der alten frommen Zeit angehört und dessen tiefsinnige Werke nach seinem Tode von der leichtsinnigen Menge so wenig beachtet wurden, daß die Herausgabe seiner sechszehnstimmigen Messe aus Mangel an Unterstützung nicht einmal zustande kam.

Sehr unrecht tust du mir, Theodor! wenn du glaubst, daß mein Sinn verschlossen ist für die neuere Musik. Haydn, Mozart, Beethoven entfalteten in der Tat eine neue Kunst, deren Keim sich wohl eben erst in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zeigte. Daß der Leichtsinn, der Unverstand mit dem erworbenen Reichtum übel haushaltete, daß endlich Falschmünzer ihrem Rauschgolde das Ansehen der Gediegenheit geben wollten, war nicht die Schuld jener Meister, in denen sich der Geist herrlich offenbarte. Wahr ist es, daß beinahe in ebendem Grade, als die Instrumentalmusik stieg, der Gesang vernachlässigt wurde und daß mit dieser Vernachlässigung jenes völlige Ausgehn der guten Chöre, das

von mancher kirchlichen Einrichtung (Aufhebung der Klöster und so weiter) herrührte, gleichen Schritt hielt; daß es unmöglich ist, jetzt zu Palestrinas Einfachheit und Größe zurückzukehren, bleibt ausgemacht, inwiefern aber der neu erworbene Reichtum ohne Ostentation in die Kirche getragen werden darf, das fragt sich noch. — Nun! — immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht vernommen wurden sie im brausenden tosenden Geräusch des ausgelassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre Seraphsschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die unruhvolle Brust des Menschen hinabstrahlt!"

Cyprian sprach die letzten Worte mit einer Salbung, die deutlich erkennen ließ, daß alles wahrhaft aus seinem Innern strömte. Von seiner Rede tief ergriffen, schwiegen die Freunde einige Augenblicke, dann begann Sylvester: "In der Tat, ohne Musiker zu sein, wie ihr, Theodor und Cyprian, es seid, habe ich doch alles, was ihr über Beethovens Messe und über Kirchenmusik überhaupt gesagt, sehr gut verstanden. So wie du, Cyprian, aber klagst, daß es beinahe gar keinen eigentlichen Kirchenkomponisten mehr gibt, so möcht ich behaupten, daß jetzt schwer ein Dichter zu finden sein möchte, der einen würdigen Kirchentext schreibt."

"Sehr wahr", nahm Theodor das Wort, "und eben der deutsche Text, den man der Beethovenschen Messe untergelegt hat, beweiset dieses nur zu sehr. Die drei Hauptteile des Hochamts sind bekanntlich das ,Kyrie', das ,Credo' und das

,Sanctus'. Zwischen dem ersten und zweiten tritt das ,Graduale' (meistens eine Kirchensymphonie), zwischen dem zweiten und dritten das ,Offertorium' (gewöhnlich als Kirchenarie behandelt) ein.

So ist, wahrscheinlich um der herrlichen Musik auch in protestantischen Kirchen, ja wohl sogar in Konzertsälen Eingang zu verschaffen, auch in der deutschen Bearbeitung das Ganze in drei Hymnen geteilt. Was aber die Worte betrifft, so mußten sie, um den Sinn, die Bedeutung des Ganzen nicht zu verletzen, so einfach als möglich, und zwar am besten und kräftigsten rein biblisch sein. Händel ließ bekanntlich dem Bischof, der sich erbot, ihm den Text zum ,Messias' zu dichten, sagen, ob die Eminenz denn sich getraue, bessere Worte zu ersinnen, als er, Händel, sie in der Bibel finde. Richtiger wurde nie die wahre Tendenz der Kirchentexte ausgesprochen. Was ist in der Beethovenschen Messe aus dem einfachen ,Kyrie eleison, Christe eleison' geworden? —Da heißt es:

Tief im Staub anbeten wir
Dich, den ew'gen Weltenherrscher,
Dich, den Allgewaltigen.
Wer kann dich nennen,wer dich fassen?
Unendlicher! —Ach, unermessen,
Unnennbar ist deine Macht!
Wir stammeln nur mit Kindeslallen
Den Namen Gott! —"

"Das ist", rief Sylvester, "modern, gesucht preziös und weitschweifig zu gleicher Zeit. Überhaupt muß ich bekennen, daß mir das innere Wesen der alten lateinischen Hymnen ganz unerreichbar scheint und daß mir selbst die Übersetzungen, die vortreffliche Dichter versucht haben, keinesweges gnügen. Die treuste Übersetzung klingt oft wenigstens wunderlich, wie zum Beispiel ,Ave maris stella': ,Meerstern, ich dich grüße!"

"Ebendaher", sprach Theodor, "würd ich mich nie entschließen

können, hab ich es im Sinn, Kirchenmusik zu setzen, von jenen alten Hymnen abzulassen."

"Aber nun", rief Vinzenz, indem er vom Stuhle aufsprang, "nun verbanne ich, ein zweiter ergrimmter Papst Marcellus, alles fernere Gespräch über Musik aus der Kapelle des heiligen Serapion! — Ihr habt beide sehr schön gesprochen, du sowohl, Theodor, als du, Cyprian; aber dabei laßt es bewenden; kehren wir zur alten Ordnung zurück, auf die eben ich als Neuling ganz erstaunlich halte!"

"Vinzenz", nahm Lothar das Wort, "hat recht. Für musikalische Laien waren eure Abhandlungen eben nicht ganz genießbar, und daher ist es gut, daß wir sie abbrechen. Sylvester soll uns nun die Erzählung vorlesen, die er uns mitgebracht."

Die Freunde stimmten ein in Lothars Begehren, und Sylvester begann ohne weiteres in folgender Art:


Meister Martin der Küfner und seine Gesellen

Wohl mag dir auch, geliebter Leser! das Herz aufgehen in ahnungsvoller Wehmut, wenn du über eine Stätte wandelst. wo die herrlichen Denkmäler altdeutscher Kunst wie beredte Zeugen den Glanz, den frommen Fleiß, die Wahrhaftigkeit einer schönen vergangenen Zeit verkünden. Ist es nicht so, als trätest du in ein verlassenes Haus? — Noch liegt aufgeschlagen auf dem Tische das fromme Buch, in dem der Hausvater gelesen, noch ist das reiche bunte Gewebe aufgehängt, das die Hausfrau gefertigt; allerlei köstliche Gaben des Kunstfleißes, an Ehrentagen beschert, stehen umher in saubern Schränken. Es ist, als werde nun gleich einer von den Hausgenossen eintreten und mit treuherziger Gastlichkeit dich empfangen. Aber vergebens wartest du auf die, welche das ewig rollende Rad der Zeit fortriß, du magst dich denn überlassen dem süßen Traum, der dir die alten Meister zuführt,

die zu dir reden fromm und kräftig, daß es dir recht durch Mark und Bein dringt. Und nun verstehst du erst den tiefen Sinn ihrer Werke, denn du lebst in ihrer Zeit und hast die Zeit begriffen, welche Meister und Werk erzeugen konnte. Doch ach! geschieht es nicht, daß die holde Traumgestalt, eben als du sie zu umfangen gedachtest mit liebenden Armen, auf lichten Morgenwolken scheu enflieht vor dem polternden Treiben des Tages und du, brennende Tränen im Auge, dem immer mehr verbleichenden Schimmer nachschauest? — So erwachst du auch plötzlich, hart berührt von dem um dich wogenden Leben, aus dem schönen Traum, und nichts bleibt dir zurück als die tiefe Sehnsucht. welche mit süßen Schauern deine Brust durchbebt.

Solche Empfindungen erfüllten den, der für dich, geliebter Leser! diese Blätter schreibt, jedesmal, wenn ihn sein Weg durch die weltberühmte Stadt Nürnberg führte. Bald vor dem wundervollen Bau des Brunnens am Markte verweilend, bald das Grabmal in St. Sebald, das Sakramenthäuslein in St. Laurenz, bald auf der Burg, auf dem Rathause Albrecht Dürers tiefsinnige Meisterwerke betrachtend, gab er sich ganz hin der süßen Träumerei, die ihn mitten in alle Herrlichkeit der alten Reichsstadt versetzte. Er gedachte jener treuherzigen Verse des Paters Rosenplüt:

O Nürnberg, du edler Fleck,
Deiner Ehren Bolz steckt am  Zweck.
Den hat die Weisheit darangeschossen,
Die Wahrheit ist in dir entsprossen.

Manches Bild des tüchtigen Bürgerlebens zu jener Zeit, wo Kunst und Handwerk sich in wackerm Treiben die Hände boten, stieg hell empor und prägte sich ein dem Gemüt mit besonderer Lust und Heiterkeit. Laß es dir nun gefallen, geliebter Leser! daß eins dieser Bilder vor dir aufgestellt werde. Vielleicht magst du es mit Behaglichkeit, ja wohl mit gemütlichem Lächeln anschauen, vielleicht wirst du selbst heimisch in Meister Martins Hause und verweilst

gern bei seinen Kufen und Kannen. Nun! — dann geschähe ja das wirklich, was der Schreiber dieser Blätter so recht aus Grund des Herzens wünscht.

Wie Herr Martin zum Kerzenmeister erwählt wurde und sich dafür bedankte

Am ersten Mai des Jahres eintausendfünfhundertundachtzig hielt die ehrsame Zunft der Böttcher, Küper oder Küfner in der Freien Reichsstadt Nürnberg, alter Sitte und Gewohnheit gemäß, ihre feierliche Gewerksversammlung. Kurze Zeit vorher war einer der Vorsteher oder sogenannten Kerzenmeister zu Grabe getragen worden, deshalb mußte ein neuer gewählt werden. Die Wahl fiel auf den Meister Martin. In der Tat mochte es beinahe keiner ihm gleichtun an festem und zierlichern Bau der Fässer, keiner verstand sich so wie er auf die Weinwirtschaft im Keller, weshalb er denn die vornehmsten Herren unter seinen Kunden hatte und in dem blühendsten Wohlstande, ja wohl in vollem Reichtum lebte. Deshalb sprach, als Meister Martin gewählt worden, der würdige Ratsherr Jakobus Paumgartner. der der Zunft als Handwerksherr vorstand: "Ihr habt sehr wohl getan, meine Freunde! den Meister Martin zu euerm Vorsteher zu erkiesen, denn in bessern Händen kann sich gar nicht das Amt befinden. Meister Martin ist hochgeachtet von allen, die ihn kennen, ob seiner großen Geschicklichkeit und seiner tiefen Erfahrnis in der Kunst, den edlen Wein zu hegen und zu pflegen. Sein wackrer Fleiß, sein frommes Leben, trotz alles Reichtums, den er erworben, mag euch allen zum Vorbilde dienen. So seid denn, mein lieber Meister Martin, vieltausendmal begrüßt als unser würdiger Vorsteher!" Mit diesen Worten stand Paumgartner von seinem Sitze auf und trat einige Schritte vor mit offnen Armen, erwartend, daß Meister Martin ihm entgegenkommen werde. Dieser stemmte denn auch alsbald beide Arme auf die Stuhllehnen und erhob sich langsam und schwerfällig, wie es

sein wohlgenährter Körper nur zulassen wollte. Dann schritt er ebenso langsam hinein in Paumgartners herzliche Umarmung, die er kaum erwiderte. "Nun", sprach Paumgartner, darob etwas befremdet, "nun, Meister Martin, ist's Euch etwa nicht recht, daß wir Euch zu unserm Kerzenmeister erwählet?" — Meister Martin warf, wie es seine Gewohnheit war, den Kopf in den Nacken, fingerte mit beiden Händen auf dem dicken Bauche und schaute mit weit aufgerissenen Augen, die Unterlippe vorgekniffen, in der Versammlung umher. Dann fing er, zu Paumgartner gewendet, also an: "Ei, mein lieber würdiger Herr, wie sollt es mir denn nicht recht sein, daß ich empfange, was mir gebührt. Wer verschmäht es, den Lohn zu nehmen für wackere Arbeit, wer weiset den bösen Schuldner von der Schwelle, der endlich kömmt, das Geld zu zahlen, das er seit langer Zeit geborgt. Ei, ihr lieben Männer" (so wandte sich Martin zu den Meistern, die ringsumher saßen), "ei, ihr lieben Männer, ist's euch denn nun endlich eingefallen, daß ich - ich der Vorsteher unserer ehrbaren Zunft sein muß? — Was verlangt ihr vom Vorsteher? — Soll er der Geschickteste sein im Handwerk? Geht hin und schaut mein zweifudriges Faß, ohne Feuer getrieben, mein wackres Meisterstück an, und dann sagt, ob sich einer von euch rühmen darf, was Stärke und Zierlichkeit der Arbeit betrifft, Ähnliches geliefert zu haben. Wollt ihr, daß der Vorsteher Geld und Gut besitze? Kommt in mein Haus, da will ich meine Kisten und Kasten aufschließen, und ihr sollt euch erfreuen an dem Glanz des funkelnden Goldes und Silbers. Soll der Vorsteher geehrt sein von Großen und Niedern? — Fragt doch nur unsere ehrsamen Herren des Rats, fragt Fürsten und Herren rings um unsere gute Stadt Nürnberg her, fragt den hochwürdigen Bischof von Bamberg, fragt, was die alle von dem Meister Martin halten. Nun! — ich denke, ihr sollt nichts Arges vernehmen — Dabei klopfte sich Herr Martin recht behaglich auf den dicken Bauch, schmunzelte mit halbgeschlossenen Augen und fuhr dann, da alles schwieg und nur hin und wieder ein bedenkliches Räuspern laut wurde, also fort: "Aber ich merk es, ich weiß es wohl, daß ich mich nun noch schönstens bedanken soll dafür, daß der Herr endlich bei der Wahl eure Köpfe erleuchtet hat. — Nun! — wenn ich den Lohn empfange für die Arbeit, wenn der Schuldner mir das geborgte Geld bezahlt, da schreib ich wohl unter die Rechnung, unter den Schein: ,Zu Dank bezahlt, Thomas Martin, Küpermeister allhier!' — So seid denn alle von Herzen bedankt dafür, daß ihr mir, indem ihr mich zu euerm Vorsteher und Kerzenherrn wählet, eine alte Schuld abtruget. Übrigens verspreche ich euch, daß ich mein Amt mit aller Treue und Frömmigkeit verwalten werde. Der Zunft, jedem von euch, stehe ich, wenn es not tut, bei mit Rat und Tat, wie ich es nur vermag mit allen meinen Kräften. Mir soll es recht anliegen, unser berühmtes Gewerk in vollen Ehren und Würden, wie es jetzt besteht, zu erhalten. Ich lade Euch, mein würdiger Handwerksherr, euch alle, ihr lieben Freunde und Meister, zu einem frohen Male auf künftigen Sonntag ein. Da laßt uns frohen Muts bei einem tüchtigen Glase Hochheimer, Johannisberger, oder was ihr sonst an edlen Weinen aus meinem reichen Keller trinken möget, überlegen, was jetzt fordersamst zu tun ist für unser aller Bestes! —Seid nochmals alle herzlichst eingeladen."

Die Gesichter der ehrsamen Meister, die sich bei Martins stolzer Rede merklich verfinstert hatten, heiterten sich nun auf, und dem dumpfen Schweigen folgte ein fröhliches Geplapper, worin vieles von Herrn Martins hohen Verdiensten und seinem auserlesenen Keller vorkam. Alle versprachen, am Sonntag zu erscheinen, und reichten dem neuerwählten Kerzenmeister die Hände, der sie treuherzig schüttelte und auch wohl diesen, jenen Meister ein klein wenig an seinen Bauch drückte, als woll er ihn umarmen. Man schied fröhlich und guter Dinge.


Was sich darauf weiter in Meister Martins Hause begab

Es traf sich, daß der Ratsherr Jakobus Paumgartner, um zu seiner Behausung zu gelangen, bei Meister Martins Hause vorübergehen mußte. Als beide, Paumgartner und Martin, nun vor der Türe dieses Hauses standen und Paumgartner weiter fortschreiten wollte, zog Meister Martin sein Mützlein vom Kopf, und sich ehrfurchtsvoll so tief neigend, als er es nur vermochte, sprach er zu dem Ratsherrn: "Oh, wenn Ihr es doch nicht verschmähen wolltet, in mein schlechtes Haus auf ein Stündchen einzutreten, mein lieber würdiger Herr! — Laßt es Euch gefallen, daß ich mich an Euern weisen Reden ergötze und erbaue." — "Ei, lieber Meister Martin", erwiderte Paumgartner lächelnd, "gern mag ich bei Euch verweilen, aber warum nennt Ihr Euer Haus ein schlechtes? Ich weiß es ja, daß an Schmuck und köstlicher Gerätschaff es keiner der reichsten Bürger Euch zuvortut! Habt Ihr nicht erst vor kurzer Zeit den schönen Bau vollendet, der Euer Haus zur Zierde unserer berühmten Reichsstadt macht, und von der inneren Einrichtung mag ich gar nicht reden, denn deren dürft sich ja kein Patrizier schämen."

Der alte Paumgartner hatte recht, denn sowie man die hell gebohnte, mit reichem Messingwerk verzierte Tür geöffnet hatte, war der geräumige Flur mit sauber ausgelegtem Fußboden, mit schönen Bildern an den Wänden, mit kunstvoll gearbeiteten Schränken und Stühlen beinahe anzusehen wie ein Prunksaal. Da folgte denn auch jeder gern der Weisung, die, alter Sitte gemäß, ein Täfelchen, das gleich neben der Türe hing, in den Versen gab:

Wer tretten wil die Stiegen hinein,
Dem sollen die Schue fein sauber sein
Oder vorhero streifen ab,
Daß man fit drüber zu klagen hab.
Ein Verständiger weiß das vorhin,
Wie er sich halten soll darinn.

Der Tag war heiß, die Luft in den Stuben jetzt, da die Abenddämmerung einbrach, schwül und dunstig, deshalb führte Meister Martin seinen edlen Gast in die geräumige kühle Prangkuchen. So hieß zu jener Zeit der Platz in den Häusern der reichen Bürger, der zwar wie eine Küche eingerichtet, aber nicht zum Gebrauch, sondern nur zur Schau mit allerlei köstlichen Gerätschaften des Hausbedarfs ausgeschmückt war. Kaum eingetreten, rief Meister Martin mit lauter Stimme: ..Rosa - Rosa — alsbald öffnete sich denn auch die Tür, und Rosa, Meister Martins einzige Tochter, kam hineingegangen.

Möchtest du, vielgeliebter Leser! in diesem Augenblick doch recht lebhaft dich der Meisterwerke unseres großen Albrecht Dürers erinnern. Möchten dir doch die herrlichen Jungfrauengestalten voll hoher Anmut, voll süßer Milde und Frömmigkeit, wie sie dort zu finden, recht lebendig aufgehen. Denk an den edlen zarten Wuchs, an die schön gewölbte, lilienweiße Stirn, an das Inkarnat, das wie Rosenhauch die Wangen überfliegt, an die feinen kirschrot brennenden Lippen, an das in frommer Sehnsucht hinschauende Auge, von dunkler Wimper halb verhängt wie Mondesstrahl von düsterm Laube - denk an das seidne Haar. in zierlichen Flechten kunstreich aufgenestelt - denk an alle Himmelsschönheit jener Jungfrauen, und du schauest die holde Rosa. Wie vermöchte auch sonst der Erzähler dieser Geschichte dir das liebe Himmeiskind zu schildern? — Doch sei es erlaubt, hier noch eines wackern jungen Künstlers zu gedenken, in dessen Brust einleuchtender Strahl aus jener schönen alten Zeit gedrungen. Es inder deutsche Maler Cornelius in Rom gemeint. — "Bin weder Fräulein noch schön!" — So wie in Cornelius' Zeichnungen zu Goethes gewaltigem "Faust" Margarete anzuschauen ist, als sie diese Worte spricht, so mochte auch wohl Rosa anzusehen sein, wenn sie in frommer züchtiger Scheu übermütigen Bewerbungen auszuweichen sich gedrungen fühlte.

Rosa verneigte sich in kindlicher Demut vor Paumgartner,

ergriff seine Hand und drückte sie an ihre Lippen. Die blassen Wangen des alten Herrn färbten sich hochrot, und wie der Abendschein, im Versinken noch einmal aufflackernd, das schwarze Laub plötzlich vergoldet, so blitzte das Feuer längst vergangener Jugend auf in seinen Augen. "Ei", rief er mit heller Stimme, "ei, mein lieber Meister Martin, Ihr seid ein wohlhabender, ein reicher Mann, aber die schönste Himmelsgabe, die Euch der Herr beschert hat, ist doch Eure holde Tochter Rosa. Geht uns alten Herren. wie wir alle im Rat sitzen, das Herz auf, und können wir nicht die blöden Augen wegwenden, wenn wir das liebe Kind schauen, wer mag's denn den jungen Leuten verargen, daß sie versteinert und erstarrt stehenbleiben, wenn sie auf der Straße Eurer Tochter begegnen, daß sie in der Kirche Eure Tochter sehen, aber nicht den geistlichen Herrn, daß sie auf der Allerwiese, oder wo es sonst ein Fest gibt, zum Verdruß aller Mägdlein nur hinter Eurer Tochter her sind mit Seufzern, Liebesblicken und honigsüßen Reden. — Nun, Meister Martin, Ihr möget Euch Euren Eidam wählen unter unsern jungen Patriziern, oder wo Ihr sonst wollet."

Meister Martins Gesicht verzog sich in finstre Falten, er gebot der Tochter, edlen alten Wein herzubringen, und sprach, als sie, über und über glühend im Gesicht, den Blick zu Boden gesenkt, fortgegangen, zu dem alten Paumgartner: "Ei, mein lieber Herr, es ist zwar in der Wahrheit, daß mein Kind geschmückt ist mit ausnehmender Schönheit und daß auch hierin mich der Himmel reich gemacht hat, aber wie mögt Ihr denn davon sprechen in des Mägdleins Gegenwart, und mit dem Eidam Patrizier ist es nun ganz und gar nichts." — "Schweigt", erwiderte Paumgartner lachend, "schweigt, Meister Martin, wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über! —glaubt Ihr denn nicht, daß mir auch das träge Blut im alten Herzen zu hüpfen beginnt, wenn ich Rosa sehe, und wenn ich dann treuherzig heraussage, was sie ja selbst recht gut wissen muß, daraus wird kein Arges entstehen."

Rosa brachte den Wein und zwei stattliche Trinkgläser

herbei. Martin rückte dagegen den schweren, mit wunderlichem Schnitzwerk verzierten Tisch in die Mitte. Kaum hatten die alten Herren indessen Platz genommen, kaum hatte Meister Martin die Gläser vollgeschenkt, als sich ein Pferdegetrappel vor dem Hause vernehmen ließ. Es war, als hielte ein Reuter an, dessen Stimme im Flur laut wurde; Rosa eilte hinab und kam bald mit der Nachricht zurück, der alte Junker Heinrich von Spangenberg sei da und wünsche bei dem Meister Martin einzusprechen. "Nun", rief Martin, "so ist das heute ein schöner glücklicher Abend, da mein wackerer ältester Kundmann bei mir einkehrt. Gewiß neue Bestellungen, gewiß soll ich neu auflagern." — Und damit eilte er, so schnell, als es gehen wollte, dem willkommnen Gast entgegen.

Wie Meister Martin sein Handwerk über alle andere erhob

Der Hochheimer pente in den schmucken geschliffenen Trinkgläsern und erschloß den drei Alten Zunge und Herz. Zumal wußte der alte Spangenberg, bei hohen Jahren noch von frischem Lebensmut durchdrungen, manchen lustigen Schwank aus froher Jugcndzeit aufzutischen, so daß Meister Martins Bauch weidlich wackelte und er vor ausgelassenem Lachen sich ein Mal über das andere die Tränen aus den Augen wischen mußte. Auch Herr Paumgartner vergaß mehr als sonst den ratsherrlichen Ernst und tat sich gütlich mit dem edlen Getränk und dem lustigen Gespräch. Als nun aber Rosa wieder eintrat, den saubern Handkorb unter dem Arm, aus dem sie Tischzeug langte, blendend weiß wie frischgefallener Schnee; als sie, mit häuslicher Geschäftigkeit hin und her trippelnd, den Tisch deckte und ihn mit allerlei würzreichen Speisen besetzte, als sie mit holdem Lächeln die Herren einlud, nun auch nicht zu verschmähen, was in der Eil bereitet worden, da schwieg Gespräch und Gelächter. Beide, Paumgartner und Spangenberg, wandten die leuchtenden Blicke nicht ab von der lieblichen Jungfrau, und selbst

Meister Martin schaute, zurückgelehnt in den Sessel, die Hände zusammengefaltet, ihrem wirtlichen Treiben zu mit behaglichem Lächeln. Rosa wollte sich entfernen, da sprang aber der alte Spangenberg rasch auf wie ein Jüngling, faßte das Mädchen bei beiden Schultern und rief, indem die heilen Tränen ihm aus den Augen rannen, ein Mal über das andere: "0 du frommes holdes Engeiskind -du herziges liebes Mägdlein" — dann küßte er sie zwei-, dreimal auf die Stirne und kehrte wie in tiefem Sinnen auf seinen Platz zurück. Paumgartner brachte Rosas Gesundheit aus. — "Ja", fing Spangenberg an, als Rosa hinausgegangen, "ja, Meister Martin, der Himmel hat Euch in Eurer Tochter ein Kleinod beschert, das Ihr gar nicht hoch genug schätzen könnet. Sie bringt Euch noch zu hohen Ehren, wer, sei es aus welchem Stande es wolle, möchte nicht Euer Eidam werden?" —"Seht Ihr wohl", fiel Paumgartner ein, "seht Ihr wohl, Meister Martin, daß der edle Herr von Spangenberg ganz so denkt wie ich? — Ich sehe schon meine liebe Rosa als Patrizierbraut mit dem reichen Perlenschmuck in den schönen blonden Haaren." —"Liebe Herren", fing Meister Martin ganz verdrießlich an, "liebe Herren, wie möget ihr denn nur immer von einer Sache reden, an die ich zur Zeit noch gar nicht denke. Meine Rosa hat nun das achtzehnte Jahr erreicht, und solch ein blutjunges Ding darf noch nicht ausschauen nach dem Bräutigam. Wie es sich künftig fügen mag, überlasse ich ganz dem Willen des Herrn, aber soviel ist gewiß, daß weder ein Patrizier noch ein anderer meiner Tochter Hand berühren wird als der Küper, der sich mir als den tüchtigsten, geschicktesten Meister bewährt hat. Vorausgesetzt, daß ihn meine Tochter mag, denn zwingen werde ich mein liebes Kind zu nichts in der Welt, am wenigsten zu einer Heirat, die ihr nicht ansteht."Spangenberg und Paumgartner schauten sich an, voll Erstaunen über diesen seltsamen Ausspruch des Meisters. Endlich nach einigem Räuspern fing Spangenberg an: "Also aus Euerm Stande heraus soll Eure Tochter nicht freien?" — "Gott. soll sie dafür bewahren", erwiderte Martin. "Aber", fuhr Spangenberg fort, "wenn nun ein junger, tüchtiger Meister aus einem edlen Handwerk, vielleicht ein Goldschmied oder gar ein junger wackrer Künstler um Eure Rosa freite und ihr ganz ausnehmend gefiele vor allen andern jungen Gesellen, wie dann?" —"Zeigt mir", erwiderte Martin, indem er den Kopf warf, "zeigt mir, lieber junger Gesch, würde ich sprechen, das schöne zweifudrige Faß, welches Ihr als Meisterstück gebaut habt, und wenn er das nicht könnte, würd ich freundlich die Tür öffnen und ihn höflichst bitten, doch sich anderswo zu versuchen." — "Wenn aber", sprach Spangenberg weiter, "wenn aber der junge Gesell spräche: ,Solch einen kleinen Bau kann ich Euch nicht zeigen, aber kommt mit mir auf den Markt, schaut jenes stattliche Haus, das die schlanken Gipfel kühn emporstreckt in die hohen Lüfle - das ist mein Meisterbau." — "Ach, lieber Herr", unterbrach Meister Martin ungeduldig Spangenbergs Rede, "ach, lieber Herr, was gebt Ihr Euch denn für Mühe, mich eines andern zu überzeugen. Aus meinem Handwerk soll nun einmal mein Eidam sein, denn mein Handwerk halt ich für das herrlichste, was es auf der Welt geben kann. Glaubt Ihr denn, daß es genug ist, die Bände aufzutreiben auf die Dauben, damit das Faß zusammenhalte? Ei, ist es nicht schon herrlich und schön, daß unser Handwerk den Verstand voraussetzt, wie man die schöne Himmelsgabe, den edlen Wein, hegen und pflegen muß, damit er gedeihe und mit aller Kraft und Süßigkeit, wie ein wahrer, glühender Lebensgeist, uns durchdringe? Aber dann der Bau der Fässer selbst. Müssen wir, soll der Bau gelingen, nicht erst alles fein abzirkeln und abmessen? Wir müssen Rechenmeister und Meßkünstler sein, denn wie möchten wir sonst Proportion und Gehalt der Gefäße einsehen. Ei, Herr, mir lacht das Herz im Leibe, wenn ich solch ein tüchtig Faß auf den Endstuhl bringe, nachdem die Stäbe mit dem Klöbeisen und dem Lenkbeil tüchtig bereitet, wenn dann die Gesellen die Schlägel schwingen und klipp, klapp - klipp, klapp es niederfällt auf die Treiber, hei! das ist lustige Musik. Da steht nun das wohlgeratene Gebäude, und wohl mag ich ein wenig stolz umschauen. wenn ich den Reißer zur Hand nehme und mein Handwerkszeichen, gekannt und geehrt von allen wackern Weinmeistern, in des Fasses Boden einreiße. — Ihr spracht von Baumeistern, lieber Herr! ei nun, solch ein stattliches Haus ist wohl ein herrliches Werk, aber wär ich ein Baumeister, ginge ich vor meinem Werke vorüber und oben vom Erker schaute irgendein unsaubrer Geist, ein nichtsnutziger schuftiger Geselle, der das Haus erworben, auf mich herab, ich würde mich schämen ins Innerste hinein, mir würde vor lauter Ärger und Verdruß die Lust ankommen, mein eignes Werk zu zerstören. Doch so etwas kann mir nicht geschehen mit meinen Gebäuden. Da drinnen wohnt ein für allemal nur der sauberste Geist auf Erden, der edle Wein. — Gott lobe mir mein Handwerk."— "Eure Lobrede", sprach Spangenberg, "war recht tüchtig und wacker gemeint. Es macht Euch Ehre. wenn Ihr Euer Handwerk recht hochhaltet, aber werdet nur nicht ungeduldig, wenn ich Euch noch nicht loslassen kann. Wenn nun doch wirklich ein Patrizier käme und um Eure Tochter anhielte? — Wenn das Leben einem so recht auf den Hals tritt, da gestaltet sich denn wohl manches ganz anders, als wie man es geglaubt." —"Ach", rief Meister Martin ziemlich heftig, "ach, wie könnt ich denn anders tun, als mich höflich neigen und sprechen: ,Lieber Herr! wäret Ihr ein tüchtiger Küper, aber so -" — "Hört weiter", fiel ihm Spangenberg indic Rede, "wenn aber nun gar an einem schönen Tage ein schmucker Junker auf stolzem Pferde, mit glänzendem Gefolge, in prächtigen Kleidern angetan, vor Euerm Hause hielte und begehrte Eure Rosa zur Hausfrau?" — "Hei, hei", rief Meister Martin noch heftiger als vorher, "hei, hei, wie würd ich hastig, wie ich nur könnte, rennen und die Haustür versperren mit Schlössern und Riegeln - wie würd ich rufen und schreien: ,Reitet weiter! reitet weiter, gestrenger Herr Junker, solche Rosen wie die meinige blühen nicht für Euch, ei, mein Weinkeller, meine Goldbatzen mögen Euch anstehen, das Mägdlein nehmt Ihr in den Kauf - aber reitet weiter! reitet weiter!" — Der alte Spangenberg erhob sich, blutrot im ganzen Gesicht, er stemmte beide Hände auf den Tisch und schaute vor sich nieder. "Nun", fing er nach einer Weile an, "nun noch die letzte Frage, Meister Martin. Wenn der Junker vor Euerm Hause mein eigner Sohn wäre, wenn ich selbst mit ihm vor Euerm Hause hielte, würdet Ihr da auch die Tür verschließen, würdet Ihr da auch glauben, wir wären nur gekommen Eures Weinkellers, Eurer Goldbatzen wegen?" — "Mitnichten", erwiderte Meister Martin, "mitnichten, mein lieber gnädiger Herr, ich würde Euch freundlich die Tür öffnen, alles in meinem Hause sollte zu Euerm und Euers Herrn Sohns Befehl sein, aber was meine Rosa betrifft, da würde ich sprechen: ,Möchte es doch der Himmel gefügt haben, daß Euer wackrer Herr Junker ein tüchtiger Küper hätte werden können, keiner auf Erden sollte mir dann solch ein willkommner Eidam sein als er, aber jetzt!' — Doch, lieber würdiger Herr, warum neckt und quält Ihr mich denn mit solchen wunderlichen Fragen? — Seht nur, wie unser lustiges Gespräch ganz und gar ein Ende genommen, wie die Gläser gefüllt stehenbleiben. Lassen wir doch den Eidam und Rosas Hochzeit ganz beiseite, ich bringe Euch die Gesundheit Euers Junkers zu, der, wie ich höre, ein schmucker Herr sein soll." Meister Martin ergriff sein Trinkglas, Paumgartner folgte seinem Beispiel, indem er rief: "Alles verfängliche Gespräch soll ein Ende haben und Euer wackrer Junker hochleben!" — Spangenberg stieß an und sprach dann mit erzwungenem Lächeln: "Ihr könnet denken, daß ich im Scherze zu Euch sprach, denn nur frecher Liebeswahnsinn könnte wohl meinen Sohn, der unter den edelsten Geschlechtern seine Hausfrau erkiesen darf, dazu treiben, Rang und Geburt nicht achtend, um Eure Tochter zu freien. Aber etwas freundlicher hättet Ihr mir doch antworten können." — "Ach, lieber Herr". erwiderte Meister Martin. "auch im Scherz konnt ich nicht anders reden, als wie ich es tun würde, wenn solch wunderliches Zeug, wie Ihr es fabeltet, wirklich geschähe. Laßt mir übrigens meinen Stolz, denn Ihr selbst müßt mir doch bezeugen, daß ich der tüchtigste Küper bin auf weit und breit, daß ich mich auf den Wein verstehe, daß ich an unseres in Gott ruhenden Kaisers Maximilian tüchtige Weinordnung fest und getreulich halte, daß ich alle Gottlosigkeit als ein frommer Mann verschmähe, daß ich in mein zweifudriges Faß niemals mehr verdampfe als ein Lötlein lautem Schwefels, welches not tut zur Erhaltung, das alles, ihr lieben würdigen Herrn, werdet ihr wohl genüglich kosten an meinem Wein." — Spangenberg versuchte, indem er wieder seinen Platz einnahm, ein heitres Gesicht anzunehmen, und Paumgartner brachte andere Dinge aufs Tapet. Aber wie es geschieht, daß die einmal verstimmten Saiten eines Instruments sich immer wieder verziehn und der Meister sich vergebens müht, die wohltönenden Akkorde, wie sie erst erklangen, aufs neue hervorzurufen, so wollte auch unter den drei Alten nun keine Rede, kein Wort mehr zusammenpassen. Spangenberg rief nach seinen Knechten und verließ ganz mißmutig Meister Martins Haus, in das er fröhlich und guter Dinge getreten.

Die Weissagung der alten Großmutter

Meister Martin war über das unmutige Scheiden seines alten wackern Kundmanns ein wenig betreten und sprach zu Paumgartner, der eben das letzte Glas ausgetrunken hatte und nun auch scheiden wollte: "Ich weiß doch nun aber gar nicht, was der alte Herr wollte mit seinen Reden und wie er darüber am Ende noch verdrüßlich werden konnte." — "Lieber Meister Martin", begann Paumgartner, "Ihr seid ein tüchtiger frommer Mann, und wohl mag der was halten darauf, was er mit Gottes Hülfe wacker treibt und was ihm Reichtum und Ehre gebracht hat. Nur darf dies nicht ausarten in prahlerischen Stolz, das streitet gegen allen christlichen Sinn. Schon in der Gewerksversammlung heute war es nicht recht

von Euch, daß Ihr Euch selbst über alle übrige Meister setztet: möget Ihr doch wirklich mehr verstehen von Eurer Kunst als die anderen, aber daß Ihr das geradezu ihnen an den Hals werfet, das kann ja nur Ärger und Mißmut erregen. Und nun vollends heute abend! — So verblendet konntet Ihr doch wohl nicht sein, in Spangenbergs Reden etwas anders zu suchen als die scherzhafte Prüfung, wie weit Ihr es wohl treiben würdet mit Euerm starrsinnigen Stolz. Schwer mußte es ja den würdigen Herrn verletzen, als Ihr in der Bewerbung jedes Junkers um Eure Tochter nur niedrige Habsucht finden wolltet. Und noch wäre alles gut gegangen, wenn Ihr eingelenkt hättet, als Spangenberg von seinem Sohne zu reden begann. Wie, wenn Ihr spracht: ,Ja, mein lieber würdiger Herr, wenn Ihr selbst kämt als Brautwerber mit Euerm Sohne, ja auf solche hohe Ehre wär ich nimmer gefaßt, da würd ich wanken in meinen festesten Entschlüssen.' Ja! wenn Ihr so spracht, was wäre dann davon anders die Folge gewesen, als daß der alte Spangenberg, die vorige Unbill ganz vergessend, heiter gelächelt und guter Dinge geworden wie vorher." — "Scheltet mich nur", sprach Meister Martin. "scheltet mich nur wacker aus, ich hab es wohl verdient, aber als der Alte solch abgeschmacktes Zeug redete, es schnürte mir die Kehle zu, ich konnte nicht anders antworten." — "Und dann", fuhr Paumgartner fort, "und dann der tolle Vorsatz selbst. Eure Tochter durchaus nur einem Küper geben zu wollen. Dem Himmel, spracht Ihr, soll Eurer Tochter Schicksal anheimgestellt sein, und doch greift Ihr mit irdischer Blödsinnigkeit dem Ratschluß der ewigen Macht vor, indem Ihr eigensinnig vorher festsetzt, aus welchem kleinen Kreise Ihr den Eidam nehmen wollt. Das kann Euch und Eure Rosa ins Verderben stürzen. Laßt ab, Meister Martin, laßt ab von solcher unchristlicher kindischer Torheit, laßt die ewige Macht gebieten, die in Eurer Tochter frommes Herz schon den richtigen Ausspruch legen wird." —"Ach, mein würdiger Herr", sprach Meister Martin ganz kleinmütig, "nun erst sehe ich ein, wie übel ich daran tat, nicht gleich alles herauszusagen. Ihr meint, nur die Hochschätzung meines Handwerks habe mich zu dem unabänderlichen Entschluß gebracht, Rosa nur an einen Küpermeister zu verheiraten, es ist dem aber nicht so, noch ein anderer. gar wunderbarer geheimnisvoller Grund dazu ist vorhanden. — Ich kann Euch nicht fortlassen, ohne daß Ihr alles erfahren habt, Ihr sollt nicht über Nacht auf mich grollen. Setzt Euch, ich bitte gar herzlich darum, verweilt noch einige Augenblicke. Seht, hier steht noch eine Flasche des ältesten Weins, den der mißmutige Junker verschmäht hat, laßt es Euch noch bei mir gefallen." Paumgartner erstaunte über Meister Martins zutrauliches Eindringen, das sonst gar nicht in seiner Natur lag, es war, als laste dem Mann etwas gar schwer auf dem Herzen, das er los sein wollte. Als nun Paumgartner sich gesetzt und ein Glas Wein getrunken hatte, fing Meister Martin auf folgende Weise an: "Ihr wißt, mein lieber würdiger Herr, daß meine brave Hausfrau, bald nachdem Rosa geboren, an den Folgen des schweren Kindbettes starb. Damals lebte meine uralte Großmutter noch, wenn stocktaub und blind, kaum der Sprache fähig, gelähmt an allen Gliedern, im Bette liegen Tag und Nacht anders leben genannt zu werden verdient. Meine Rosa war getauft worden, und die Amme saß mit dem Kinde in der Stube, wo die Großmutter lag. Mir war es so traurig und, wenn ich das schöne Kind anblickte, so wunderbar freudig und wehmütig zu Sinn, ich war so tief bewegt, daß ich zu jeder Arbeit mich untauglich fühlte und still, in mich gekehrt, neben dem Bett der alten Großmutter stand, die ich glücklich pries, da ihr schon jetzt aller irdische Schmerz entnommen. Und als ich ihr nun so ins bleiche Antlitz schaue, da fängt sie mit einemmal an seltsam zu lächeln, es ist, als glätteten sich die verschrumpften Züge aus, als färbten sich die blassen Wangen. — Sie richtet sich empor, sie streckt, wie plötzlich beseelt von wunderbarer Kraft, die gelähmten Arme aus, wie sie es sonst nicht vermochte, sie ruft vernehmlich mit leiser lieblicher Stimme: ,Rosa - meine liebe Rosa!' — Die Amme steht auf und bringt ihr das Kind, das sie in den Armen auf und nieder wiegt. Aber nun, mein würdiger Herr, nun denkt Euch mein Erstaunen, ja meinen Schreck, als die Alte mit heller kräftiger Stimme ein Lied in der hohen fröhlichen Lobeweis Herrn Hans Berchlers, Gastgebers ,Zum Geist' in Straßburg, zu singen beginnt, das also lautet:
Mägdlein zart mit roten Wangen,
Rosa, hör das Gebot.
Magst dich wahren vor Not und Bangen.
Halt im Herzen nur Gott.
Treib keinen Spott,
Heg kein töricht Verlangen.
Ein glänzend Häuslein wird 
   er bringen,
Würzige Fluten treiben drin,
Blanke Englein gar lustig singen,
Mit frommen Sinn
Horch treuster Minn,
Ha! lieblichem Liebesklingen.
Das Häuslein mit güldnem Prangen,
Der hat's ins Haus getragn,
Den wirst du süß umfangen,
Darfst nicht den Vater fragn,
Ist dein Bräut'gam minniglich.
Ins Haus das Häuslein bringt 
   allwegen
Reichtum. Glück, Heil und Hort,
Jungfräulein! —Augen klar!
Öhrlein auf vor treuem Wort,
Magst wohl hinfort
Blühen in Gottes Segen!'

Und als sie dies Lied ausgesungen hat, legt sie das Kind leise und behutsam auf das Deckbette nieder, und die welke zitternde Hand auf seine Stirn gelegt, lispelt sie unverständliche Worte, aber das ganz verklärte Antlitz der Alten zeigt wohl, daß sie Gebete spricht. Nun sinkt sie nieder mit dem Kopfe auf das Bettkissen, und in dem Augenblick, als die

Amme das Kind fortträgt, seufzt sie tief auf. Sie ist gestorben!" — "Das ist", sprach Paumgartner, als Meister Martin schwieg, "das Ist eine wunderbare Geschichte, aber doch sehe ich gar nicht ein, wie das weissagende Lied der alten Großmutter mit Euerm starrsinnigen Vorsatz, Rosa nur einem Küpermeister geben zu wollen, zusammenhängen kann." —"Ach", erwiderte Meister Martin, "was kann denn klarer sein, als daß die Alte, in dem letzten Augenblick ihres Lebens von dem Herrn ganz besonders erleuchtet, mit weissagender Stimme verkündete, wie es mit Rosa, sollte sie glücklich sein, sich fügen müsse. Der Bräutigam, der mit dem blanken Häuslein Reichtum, Glück, Heil und Hort ins Haus bringt: wer kann das anders sein als der tüchtige Küper, der bei mir sein Meisterstück, sein blankes Häuslein, gefertigt hat? In welchem andern Häuslein treiben würzige Fluten als in dem Weinfaß? Und wenn der Wein arbeitet, dann rauscht und summt es wohl auch und plätschert, das sind die lieben Englein, die in den Fluten auf und ab fahren und lustige Liedlein singen. Ja, ja! — keinen andern Bräutigam hat die alte Großmutter gemeint als den Küpermeister, und dabei soll es denn auch bleiben." — "Ihr erklärt", sprach Paumgartner, "Ihr erklärt, lieber Meister Martin, die Worte der alten Großmutter nun einmal nach Eurer Weise. Mir will Eure Deutung gar nicht recht zu Sinn, und ich bleibe dabei, daß Ihr alles der Fügung des Himmels und dem Herzen Eurer Tochter, in dem gewiß der richtige Ausspruch verborgen liegt, lediglich überlassen sollt." — "Und ich", fiel Martin ungeduldig ein, "ich bleibe dabei, daß mein Eidam nun ein für allemal kein anderer sein soll als ein tüchtiger Küper!" Paumgartner wäre beinahe zornig geworden über Martins Eigensinn, doch hielt er an sich und stand auf vom Sitze, indem er sprach: "Es ist spät geworden, Meister Martin, laßt uns jetzt aufhören mit Trinken und Reden, beides scheint uns nicht mehr dienlich zu sein." — Als sie nun hinaustraten auf den Flur, stand ein junges Weib da mit fünf Knaben, von denen der älteste kaum acht, der jüngste kaum ein halbes Jahr alt sein mochte. Das Weib jammerte und schluchzte. Rosa eilte den Eintretenden entgegen und sprach: "Ach Gott im Himmel, Valentin ist nun doch gestorben, dort steht sein Weib mit den Kindern." — "Was? — Valentin gestorben?" rief Meister Martin ganz bestürzt - "ei, über das Unglück - über das Unglück! — Denkt Euch", wandte er sich dann zu Paumgartner, "denkt Euch, mein würdiger Herr! Valentin war der geschickteste Geselle, den ich in der Arbeit hatte, und dabei fleißig und fromm. Vor einiger Zeit verwundete er sich bei dem Bau eines großen Fasses gefährlich mit dem Lenkbeil, die Wunde wurde schlimmer und schlimmer, er verfiel in ein heftiges Fieber und hat nun gar sterben müssen in seinen blühendsten Jahren."Darauf schritt Meister Martin zu auf das trostlose Weib, die, in Tränen gebadet, klagte, daß sie nun wohl verderben werde in Not und Elend. "Was", sprach Martin, "was denkt Ihr denn von mir, in meiner Arbeit brachte sich Euer Mann die gefährliche Wunde bei, und ich sollte Euch verlassen in Eurer Not? — Nein, ihr alle gehört fortan zu meinem Hause. Morgen, oder wenn Ihr wollt, begraben wir Euern armen Mann, und dann zieht Ihr mit Euern Knaben auf meinen Meierhof vor dem Frauentor, wo ich meine schöne offne Werkstatt habe und täglich mit meinen Gesellen arbeite. Da könnt Ihr dann meiner Hauswirtschaft vorstehen, und Eure tüchtigen Knaben will ich erziehen, als wären es meine eigenen Söhne. Und daß Ihr's nur wißt, Euern alten Vater nehme ich auch in mein Haus. Das war sonst ein tüchtiger Küpergeselle, als er noch Kraft in den Armen hatte. Nun! — wenn er auch nicht mehr Schlägel, Kimmkeule oder Bandhake regieren oder auf der Fügbank arbeiten kann, so ist er doch wohl noch des Degsels mächtig oder schabt mir mit dem Krummesser die Bände aus. Genug, er soll mit Euch zusammen in meinem Hause aufgenommen sein." Hätte Meister Martin das Weib nicht erfaßt, sie wäre ihm vor Schmerz und tiefer Rührung beinahe entseelt zu Füßen gesunken. Die ältesten Jungen hingen sich an sein Wams, und die beiden jüngsten, die Rosa auf den Arm genommen, streckten die Händchen nach ihm aus, als hätten sie alles verstanden. Der alte Paumgartner sprach lächelnd, indem ihm die hellen Tränen in den Augen standen: "Meister Martin, man kann Euch nicht gram werden", und begab sich dann nach seiner Behausung.

Wie die beiden jungen Gesellen, Friedrich und Reinhold, miteinander bekannt wurden

Auf einer schönen grasichten, von hohen Bäumen beschatteten Anhöhe lag ein junger Gesell von stattlichem Ansehen, Friedrich geheißen. Die Sonne war schon herabgesunken, und rosige Flammen leuchteten auf aus dem tiefen Himmelsgrunde. Ganz deutlich konnte man in der Ferne die berühmte Reichsstadt Nürnberg sehen, die sich im Tale ausbreitete und ihre stolzen Türme kühn in das Abendrot hinaufstreckte,. das sein Gold ausströmte auf ihre Spitzen. Der junge Gesell hatte den Arm gestützt auf das Reisebündel, das neben ihm lag, und schaute mit sehnsuchtsvollen Blicken herab in das Tal. Dann pflückte er einige Blumen, die um ihn her in dem Grase standen, und warf sie in die Lüfle dem Abendrot zu, dann sah er wieder traurig vor sich hin, und heiße Tränen perlten in seinen Augen. Endlich erhob er den Kopf, breitete beide Arme aus, als wolle er eine geliebte Gestalt umfangen, und sang mit heller, gar lieblicher Stimme folgendes Lied:

"Schau ich dich wieder,
O Heimat süß.
Nicht von dir ließ
Mein Herz getreu und bieder.
O rosiges Rot, geh mir auf,
Mag nur schauen Rosen,
Blühnde Liebesblüt,
Neig dem Gemüt
Dich zu mit wonnigem Kosen,
Willst du springen, o schwellende Brust? Halt dich fest in Schmerz und süßer Lust. O goldnes Abendrot! Schöner Strahl, sei mein frommer Bot, Seufzer -Tränen mußt Treulich zu ihr tragen. Und stürb ich nun, Möchten Röslein dich fragen, Sprich: —,In Lieb verging sein Herz."

Nachdem Friedrich dies Lied gesungen, zog er aus seinem Reisebündel ein Stücklein Wachs hervor, erwärmte es an seiner Brust und begann eine schöne Rose mit hundert feinen Blättern sauber und kunstvoll auszukneten. Während der Arbeit summte er einzelne Strophen aus dem Liede vor sich hin, das er gesungen, und so ganz in sich selbst vertieft, bemerkte er nicht den hübschen Jüngling, der schon lange hinter ihm stand und emsig seiner Arbeit zuschaute. "Ei, mein Freund", fing nun der Jüngling an, "ei, mein Freund, das ist ein sauberes Stück, was Ihr da formt."Friedrich schaute ganz erschrocken um sich, als er aber dem fremden Jüngling in die dunklen freundlichen Augen sah, war es ihm, als kenne er ihn schon lange; lächelnd erwiderte er: "Ach, lieber Herr, wie möget Ihr nur eine Spielerei beachten, die mir zum Zeitvertreibe dient auf der Reise." — "Nun", fuhr der fremde Jüngling fort, "nun, wenn Ihr die so getreulich nach der Natur zart geformte Blume eine Spielerei nennt, so müßt Ihr ein gar wackrer geübter Bildner sein. Ihr ergötzt mich auf doppelte Art. Erst drang mir Euer Lied, das Ihr nach der zarten Buchstabenweis Martin Häschers so lieblich absanget, recht durch die Brust, und jetzt muß ich Eure Kunstfertigkeit im Formen hoch bewundern. Wo gedenkt Ihr denn noch heute hinzuwandern?" — "Das Ziel", erwiderte Friedrich, "das Ziel meiner Reise liegt dort uns vor Augen. Ich will hin nach meiner Heimat, nach der berühmten Reichsstadt Nürnberg. Doch die Sonne ist schon tief hinabgesunken,

deshalb will ich unten im Dorfe übernachten, morgen in aller Frühe geht's dann fort, und zu Mittag kann ich in Nürnberg sein." — "Ei", rief der Jüngling freudig, "ei, wie sich das so schön trifft, wir haben denselben Weg, auch ich will nach Nürnberg. Mit Euch übernachte ich auch hier im Dorfe, und dann ziehen wir morgen weiter. Nun laßt uns noch eins plaudern." Der Jüngling, Reinhold geheißen, warf sich neben Friedrich ins Gras und fuhr dann fort: "Nicht wahr, ich irre mich nicht, Ihr seid ein tüchtiger Gießkünstler, das merk ich an der Art zu modellieren, oder Ihr arbeitet in Gold und Silber?" Friedrich sah ganz traurig vor sich nieder und fing dann kleinmütig an: "Ach, lieber Herr, Ihr haltet mich für etwas viel Besseres und Höheres, als ich wirklich bin. Ich will es Euch nur geradehin sagen, daß ich die Küperprofession erlernt habe und nach Nürnberg zu einem bekannten Meister in die Arbeit gehen will. Ihr werdet mich nun wohl verachten, da ich nicht herrliche Bilder zu modellieren und zu gießen vermag, sondern nur Reife um Fässer und Kufen schlage." Reinhold lachte laut auf und rief: "Nun, das ist in der Tat lustig. Ich soll Euch verachten, weil Ihr ein Küper seid, und ich - ich bin ja selbst gar nichts anderes als das." Friedrich blickte ihn starr an, er wußte nicht, was er glauben sollte, denn Reinholds Aufzug paßte freilich zu nichts weniger als zu einem reisenden Küpergesellen. Das Wams von feinem schwarzen Tuch, mit gerissenem Samt besetzt, die zierliche Halskrause, das kurze breite Schwert, das Barett mit einer langen herabhängenden Feder ließen eher auf einen wohlbegüterten Handelsmann schließen, und doch lag wieder in dem Antlitz, in der ganzen Gestalt des Jünglings ein wunderbares Etwas, das dem Gedanken an den Handelsmann nicht Raum gab. Reinhold merkte Friedrichs Zweifel, er riß sein Reisebündel auf, holte das Küperschurzfell, sein Messerbesteck hervor und rief: "Schau doch her, mein Freund, schau doch nur her! — zweifelst du noch daran, daß ich dein Kamerad bin? — Ich weiß. dir ist mein Anzug befremdlich, aber ich komme von Straßburg, da gehen die Küper stattlich einher wie Edelleute. Freilich hatte ich sonst, gleich dir, auch wohl Lust zu etwas anderm, aber nun geht mir das Küperhandwerk über alles, und ich habe manch schöne Lebenshoffnung darauf gestellt. Geht's dir nicht auch so, Kamerad? — Aber beinahe scheint es mir, als habe sich unversehens ein düstrer Wolkenschatten in dein heiteres Jugendleben hineingehängt, vor dem du nicht fröhlich um dich zu blicken vermagst. Das Lied, das du vorhin sangst, war voll Liebessehnsucht und Schmerz, aber es kamen Klänge darin vor, die wie aus meiner eignen Brust hervorleuchteten, und es ist mir, als wisse ich schon alles, was in dir verschlossen. Um so mehr magst du mir alles vertrauen, werden wir denn nicht ohnedies in Nürnberg wackre Kumpane sein und bleiben?" Reinhold schlang einen Arm um den Friedrich und sah ihm freundlich ins Auge. Darauf sprach Friedrich: "Je mehr ich dich anschaue, frommer Geselle, desto stärker zieht es mich zu dir hin, ich vernehme deutlich die wunderbare Stimme in meinem Innern, die wie ein treues Echo widerklingt vom Ruf des befreundeten Geistes. Ich muß dir alles sagen! — Nicht als ob ich armer Mensch dir wichtige Geheimnisse zu vertrauen hätte, aber weil nur die Brust des treuesten Freundes Raum gibt dem fremden Schmerz und ich in den ersten Augenblicken unsrer jungen Bekanntschaft dich eben für meinen treuesten Freund halte. — Ich bin nun ein Küper worden und darf mich rühmen, mein Handwerk zu verstehen, aber einer andern wohl schönern Kunst war mein ganzer Sinn zugewandt von Kindheit auf. Ich wollte ein großer Meister im Bildergießen und in der Silberarbeit werden wie Peter Vischer oder der italische Benvenuto Cellini. Mit glühendem Eifer arbeitete ich beim Herrn Johannes Holzschuer, dem berühmten Silberarbeiter in meiner Heimat, der, ohne gerade selbst Bilder zu gießen, mir doch alle Anleitung dazu zu geben wußte. In Herrn Holzschuers Haus kam nicht selten Herr Tobias Martin, der Küpermeister, mit seiner Tochter, der holdseligen Rosa. Ohne daß ich es selbst ahnete, kam ich in Liebe. Ich verließ die Heinat und ging nach Augsburg, um die Bildergießerei recht zu erlernen, aber nun schlugen erst recht die hellen Liebesflammen in meinem Innern auf. Ich sah und hörte nur Rosa; alles Streben, alles Mühen. das mich nicht zu ihrem Besitz führte, ekelte mich an. Den einzigen Weg dazu schlug ich ein. Meister Martin gibt seine Tochter nur dem Küper, der in seinem Hause das tüchtigste Meisterstück macht und übrigens der Tochter wohl ansteht. Ich warf meine Kunst beiseite und erlernte das Küperhandwerk. Ich will hin nach Nürnberg und bei Meister Martin in Arbeit gehen. Aber nun die Heimat vor mir liegt und Rosas Bild recht in lebendigem Glühen mir vor Augen steht, nun möcht ich vergehen in Zagen, Angst und Not. Nun seh ich klar das Törichte meines Beginnens. Weiß ich's denn, ob Rosa mich liebt, ob sie mich jemals lieben wird?" — Reinhold hatte Friedrichs Geschichte mit steigender Aufmerksamkeit angehört. Jetzt stützte er den Kopf auf den Arm, und indem er die flache Hand vor die Augen hielt, fragte er dumpf und düster: "Hat Rosa Euch denn niemals Zeichen der Liebe gegeben?" — "Ach", erwiderte Friedrich, "ach, Rosa war, als ich Nürnberg verließ, mehr Kind als Jungfrau. Sie mochte mich zwar gern leiden, sie lächelte mich gar holdselig an, wenn ich in Herrn Holzschuers Garten unermüdlich mit ihr Blumen pflückte und Kränze wand, aber -" —"Nun, so ist ja noch gar keine Hoffnung verloren", rief auf einmal Reinhold so heftig und mit solch widrig gehender Stimme, daß Friedrich sich fast entsetzte. Dabei raffte er sich auf, das Schwert klirrte an seiner Seite, und als er nun hoch aufgerichtet dastand, fielen die tiefen Nachtschatten auf sein verblaßtes Antlitz und verzerrten die milden Züge des Jünglings auf recht häßliche Weise, so daß Friedrich ganz ängstlich rief: "Was ist dir denn nun auf einmal geschehen?" — dabei trat er ein paar Schritte zurück und stieß mit dem Fuß an Reinholds Reisebündel. Da rauschte aber ein Saitenklang auf, und Reinhold rief zornig: "Du böser Geselle, zerbrich mir nicht meine Laute." Das Instrument war an dem Reisebündel befestigt, Reinhold schnallte es los und griff stürmisch hinein, als wolle er alle Saiten zersprengen. Bald wurde aber das Spiel sanft und melodisch. "Laß uns", sprach er ganz in dem milden Ton wie zuvor, "laß uns, lieber Bruder, nun hinabgehen in das Dorf. Hier trage ich ein gutes Mittel in den Händen, die bösen Geister zu bannen, die uns etwa in den Weg treten und vorzüglich mir was anhaben könnten." — "Ei, lieber Bruder", erwiderte Friedrich, "was sollten uns denn auf unserm Wege böse Geister anhaben? Aber dein Spiel ist gar lieblich, fahr nur damit fort." — Die goldnen Sterne waren hinaufgezogen an des Himmels dunklem Azur. Der Nachtwind strich im dumpfen Gesäusel über die duftenden Wiesen. Lauter murmelten die Bäche, ringsumher rauschten die düstern Bäume des fernen Waldes. Da zogen Friedrich und Reinhold hinab, spielend und singend, und hell und klar wie auf leuchtenden Schwingen wogten die süßen Töne ihrer sehnsüchtigen Lieder durch die Lüfte. Im Nachtlager angekommen, warf Reinhold Laute und Reisebündel schnell ab und drückte Friedrich stürmisch an seine Brust, der auf seinen Wangen die brennenden Tränen fühlte, die Reinhold vergossen.

Wie die beiden jungen Gesellen, Reinhold und Friedrich, in Meister Martins Hause aufgenommen wurden

Als am andern Morgen Friedrich erwachte, vermißte er den neuerworbnen Freund, der ihm zur Seite sich auf das Strohlager geworfen hatte, und da er auch Laute und Reisebündel nicht mehr sah, so glaubte er nicht anders, als daß Reinhold aus ihm unbekannten Ursachen ihn verlassen und einen andern Weg eingeschlagen habe. Kaum trat Friedrich aber zum Hause heraus, als ihm Reinhold, Reisebündel auf dem Rücken, Laute unterm Arm, ganz anders gekleidet als gestern, entgegentrat. Er hatte die Feder vom Barett genommen, das Schwert abgelegt und statt des zierlichen Wamses

mit dem Samtbesatz ein schlichtes Bürgerwams von unscheinbarer Farbe angezogen. "Nun", rief er fröhlich lachend dem verwunderten Freunde entgegen, "nun, Bruder, hältst du mich doch gewiß für deinen wahren Kumpan und wackern Kameraden. — Aber höre, für einen, der in Liebe ist, hast du tüchtig genug geschlafen. Sieh nur, wie hoch schon die Sonne steht. Laß uns nur gleich fortwandern." — Friedrich war still und in sich gekehrt, er antwortete kaum auf Reinholds Fragen, achtete kaum auf seine Scherze. Ganz ausgelassen sprang Reinhold hin und her, jauchzte und schwenkte das Barett in den Lüften. Doch auch er wurde stiller und stiller, je näher sie der Stadt kamen. "Ich kann vor Angst, vor Beklommenheit, vor süßem Weh nicht weiter, laß uns hier unter diesen Bäumen ein wenig ruhen." So sprach Friedrich, als sie schon beinahe das Tor von Nürnberg erreicht hatten, und warf sich ganz erschöpft nieder in das Gras. Reinhold setzte sich zu ihm und fing nach einer Weile an: "Ich muß dir, mein herziger Bruder, gestern abend recht verwunderlich vorgekommen sein. Aber als du mir von deiner Liebe erzähltest, als du so trostlos warst, da ging mir allerlei einfältiges Zeug durch den Kopf, welches mich verwirrte und am Ende hätte toll machen können, vertrieb nicht dein schöner Gesang und meine Laute die bösen Geister. Heute, als mich der erste Strahl der Morgensonne weckte, war nun vollends, da schon von Abend der schlimme Spuk gewichen, alle Lebenslust in mein Gemüt zurückgekehrt. Ich lief hinaus, und, im Gebüsch umherkreuzend, kamen mir allerlei herrliche Dinge in den Sinn. Wie ich dich so gefunden, wie mein ganzes Gemüt sich dir zugewandt! — Eine anmutige Geschichte, die sich vor einiger Zeit in Italien zutrug, eben als ich dort war, fiel mir ein, ich will sie dir erzählen, da sie recht lebendig zeigt, was wahre Freundschaft vermag. Es begab sich, daß ein edler Fürst, eifriger Freund und Beschützer der schönen Künste, einen sehr hohen Preis ausgesetzt hatte für ein Gemälde, dessen herrlicher, aber gar schwer zu behandelnder Gegenstand genau bestimmt war. Zwei junge Maler, die, durch das engste Freundschaftsband verbunden, zusammen zuarbeiten pflegten, beschlossen, um den Preis zu ringen. Sie teilten sich ihre Entwürfe mit und sprachen viel darüber, wie die Schwierigkeit des Gegenstandes zu überwinden. Der Ältere, im Zeichnen, im Ordnen der Gruppen erfahrner, hatte bald das Bild erfaßt und entworfen und stand nun bei dem Jüngern, der, schon im Entwurf ganz verzagt, von dem Bilde abgelassen, hätte der Ältere ihn nicht unablässig ermuntert und guten Rat erteilt. Als sie nun zu malen begannen, wußte der Jüngere, ein Meister in der Kunst der Farbe, dagegen dem Altern manchen Wink zu geben, den dieser mit tüchtigem Erfolg benutzte, so daß der Jüngere nie ein Bild besser gezeichnet, der Ältere nie ein Bild besser gefärbt hatte. Als die Gemälde vollendet waren, fielen sich beide Meister in die Arme, jeder war innig erfreut - entzückt über die Arbeit des andern, jeder dem andern den wacker verdienten Preis zuerkennend. Es begab sich aber, daß der Jüngere den Preis erhielt, da rief er ganz beschämt: ,0 wie konnte ich denn den Preis erringen, was ist mein Verdienst gegen das meines Freundes, wie hätte ich denn nur ohne seinen Rat, ohne seinen wackern Beistand etwas Tüchtiges hervorbringen können?' Da sprach aber der Ältere: ,Und hast du mir denn nicht auch beigestanden mit tüchtigem Rat? Mein Gemälde ist wohl auch nichts Schlechtes, aber du hast den Preis davongetragen, wie sich's gebührt. Nach gleichem Ziel zu streben, wacker und offen, das ist recht Freundes Sache, der Lorbeer, den der Sieger erhält, ehrt auch den Besiegten; ich liebe dich nun noch mehr, da du so tapfer gerungen und mit deinem Siege mir auch Ruhm und Ehre gebracht hast.' — Nicht wahr, Friedrich, der Maler hatte recht? —Wacker, ohne allen tückischen Hinterhalt um gleichen Preis ringen, sollte das wahre Freunde nicht noch mehr, recht aus der Tiefe des Herzens einigen, statt sie zu entzweien? sollte in edlen Gemütern wohl kleinlicher Neid oder gar hämischer Haß Raum finden können?" — "Niemals", erwiderte Friedrich, "gewiß niemals. Wir sind nun recht liebende Brüder geworden, in kurzer Zeit fertigen wir beide wohl das Nürnberger Meisterstück, ein tüchtiges zweifudriges Faß, ohne Feuer getrieben, aber der Himmel mag mich davor bewahren, daß ich auch nur den kleinsten Neid spüren sollte, wenn das deinige, lieber Bruder Reinhold, besser gerät als das meinige." — "Ha, ha, ha", lachte Reinhold laut auf, "geh mir mit deinem Meisterstück, das wirst du schon fertigen, zur Lust aller tüchtigen Küper. Und daß du's nur weißt, was das Berechnen der Größe, der Proportion, das Abzirkeln der hübschen Rundung betrifft, da findest du an mir deinen Mann. Und auch in Ansehung des Holzes kannst du dich auf mich verlassen. Stabholz von im Winter gefällten Steineichen, ohne Wurmstich, ohne weiße oder rote Streifen, ohne Flammen, das suchen wir aus, du kannst meinem Auge trauen. Ich steh dir in allem bei mit Rat und Tat. Und darum soll mein Meisterstück nicht geringer ausfallen." — "Aber, du Herr im Hirn-' unterbrach hier Friedrich den Freund, "was schwatzen wir denn davon, wer das beste Meisterstück machen soll? — Sind wir denn im Streit deshalb? Das beste Meisterstück - um Rosa zu verdienen! — Wie kommen wir denn darauf! — mir schwindelt's im Kopfe - " — "Ei, Bruder", rief Reinhold, immer noch lachend, "an Rosa war ja gar nicht gedacht. Du bist ein Träumer. Komm nur, daß wir endlich die Stadt erreichen." Friedrich raffte sich auf und wanderte ganz verwirrten Sinnes weiter. Als sie im Wirtshause sich wuschen und abstäubten, sprach Reinhold zu Friedrich: "Eigentlich weiß ich für mein Teil gar nicht, bei welchem Meister ich in Arbeit gehen soll, es fehlt mir hier an aller Bekanntschaft, und da dächt ich, du nähmst mich nur gleich mit zum Meister Martin, lieber Bruder! Vielleicht gelingt es mir, bei ihm anzukommen." — "Du nimmst mir", erwiderte Friedrich, "eine schwere Last vom Herzen, denn, wenn du bei mir bleibst, wird es mir leichter werden, meine Angst, meine Beklommenheit zu besiegen." So schritten nun beide junge Gesellen rüstig fort nach dem Hause des berühmten Küpers, Meister Martin. — Es war gerade der Sonntag, an dem Meister Martin seinen Kerzenmeisterschmaus gab, und hohe Mittagszeit. So kam es, daß, als Reinhold und Friedrich in Martins Haus hineintraten. ihnen Gläsergeklirr und das verwirrte Getöse einer lustigen Tischgesellschaft entgegenklang. "Ach", sprach Friedrich ganz kleinmütig, "da sind wir wohl zur unrechten Stunde gekommen." —"Ich denke", erwiderte Reinhold, "gerade zur rechten, denn beim frohen Mahl ist Meister Martin gewiß guter Dinge und aufgelegt, unsere Wünsche zu erfüllen." Bald trat auch Meister Martin, dem sie hatten sich ankündigen lassen, in festlichen Kleidern angetan, mit nicht geringer Glut auf Nas und Wange heraus auf den Flur. Sowie er Friedrich gewahrte, rief er laut: "Sieh da, Friedrich! guter Junge, bist du wieder heimgekommen? — Das, ist brav! — Und hast dich auch zu dem hochherrlichen Küperhandwerk gewandt! — Zwar zieht Herr Holzschuer, wenn von dir die Rede ist, verdammte Gesichter und meint, an dir sei nun gar ein großer Künstler verdorben und du hättest wohl solche hübsche Bildlein und Geländer gießen können, wie sie in St Sebald und an Fuggers Hause zu Augsburg zu sehen, aber das ist nur dummes Gewäsche, du hast recht getan, dich zu dem Rechten zu wenden. Sei mir vieltausendmal willkommen." Und damit faßte ihn Herr Martin bei den Schultern und drückte ihn an sich, wie er es zu tun pflegte in herzlicher Freude. Friedrich lebte ganz auf bei Meister Martins freundlichem Empfang, alle Beklommenheit war von ihm gewichen, und er trug frei und unverzagt dem Meister nicht allein sein Anliegen vor, sondern empfahl auch Reinhold zur Aufnahme. "Nun", sprach Meister Martin, "nun in der Tat, zu gelegnerer Zeit hättet ihr gar nicht kommen können, als eben jetzt, da sich die Arbeit häuft und es mir an Arbeitern gebricht. Seid mir beide herzlich willkommen. Legt nur eure Reisebündel ab und tretet hinein, die Mahlzeit ist zwar beinahe geendet, aber ihr könnt doch noch Platz nehmen an der Tafel, und Rosa soll für euch noch sorgen." Damit ging Herr Martin mit den beiden Gesellen hinein. Da saßen denn nun die ehrsamen Meister, obenan der würdige Handwerksherr Jakobus Paumgartner, mit glühenden Gesichtern. Der Nachtisch war eben aufgetragen, und ein edlerer Wein pente in den großen Trinkgläsern. Es war an dem, daß jeder Meister mit lauter Stimme von etwas anderm sprach und doch alle meinten, sich zu verstehen, und daß bald dieser oder jener laut auflachte, er wußte nicht warum. Aber wie nun der Meister Martin, beide Jünglinge an der Hand, laut verkündete, daß soeben sich ganz erwünscht die beiden, mit guten Handwerkszeugnissen versehenen Gesellen bei ihm eingefunden hätten, wurde alles still, und jeder betrachtete die schmucken Leute mit behaglichem Wohlgefallen. Reinhold schaute mit hellen Augen beinahe stolz umher, aber Friedrich schlug die Augen nieder und drehte das Barett in den Händen. Meister Martin wies den Jünglingen Plätze an dem untersten Ende der Tafel an, aber das waren wohl gerade die herrlichsten, die es nur gab, denn alsbald erschien Rosa, setzte sich zwischen beiden und bediente sie sorglich mit köstlichen Speisen und edlem Getränk. — Die holde Rosa, in hoher Anmut, in vollem Liebreiz prangend, zwischen den beiden bildschönen Jünglingen, mitten unter den alten bärtigen Meistern - das war gar lieblich anzuschauen, man mußte an ein leuchtendes Morgenwölklein denken, das einzeln am düstern Himmel heraufgezogen, oder es mochten auch wohl schöne Frühlingsblumen sein, die ihre glänzenden Häupter aus trübem, farblosen Grase erhoben. Friedrich vermochte vor lauter Wonne und Seligkeit kaum zu atmen, nur verstohlen blickte er dann und wann nach der, die sein ganzes Gemüt erfüllte: er starrte vor sich hin auf den Teller - wie wär es ihm möglich gewesen, nur einen Bissen herunterzubringen. Reinhold dagegen wandte die Augen, aus denen funkelnde Blitze strahlten, nicht ab von der lieblichen Jungfrau. Er fing an von seinen weiten Reisen zu erzählen auf solch wunderbare Art, wie es Rosa noch niemals gehört hatte. Es war ihr, als wenn alles, wovon Reinhold nur sprach, lebendig aufginge in tausend stets wechselnden Gestalten. Sie war ganz Aug, ganz Ohr, sie wußte nicht, wie ihr geschah, wenn Reinhold in vollem Feuer der Rede ihre Hand ergriff und sie an seine Brust drückte. "Aber", brach Reinhold plötzlich ab, "aber Friedrich. was sitzest du da stumm und starr. Ist dir die Rede vergangen? Komm! — laß uns anstoßen auf das Wohl der lieben holden Jungfrau, die uns so gastlich bewirtet." Friedrich ergriff mit zitternder Hand das große Trinkglas, das Reinhold bis an den Rand gefüllt hatte und das er (Reinhold ließ nicht nach) bis auf den letzten Tropfen leeren mußte. "Nun soll unser brave Meister leben", rief Reinhold, schenkte wieder ein, und abermals mußte Friedrich das Glas austrinken. Da fuhren die Feuergeister des Weins durch sein Inneres und regten das stockende Blut an, daß es siedend in allen Pulsen und Adern hüpfte. "Ach, mir ist so unbeschreiblich wohl", lispelte er, indem glühende Röte in sein Antlitz stieg, "ach, so gut ist es mir auch ja noch nicht geworden." Rosa, die seine Worte wohl ganz anders deuten mochte, lächelte ihn an mit unbeschreiblicher Milde. Da sprach Friedrich, befreit von aller Bangigkeit: "Liebe Rosa, Ihr möget Euch meiner wohl gar nicht mehr erinnern?" — "Ei, lieber Friedrich", erwiderte Rosa mit niedergeschlagenen Augen, "ei, wie wär's denn möglich, daß ich Euch vergessen haben sollte in so kurzer Zeit. Bei dem alten Herrn Holzschuer - damals war ich zwar noch ein Kind, aber Ihr verschmähtet es nicht, mit mir zu spielen, und wußtet immer was Hübsches, was Artiges aufs Tapet zu bringen. Und das kleine allerliebste Körblein von feinem Silberdraht, das Ihr mir damals zu Weihnachten schenktet, das habe ich noch und verwahre es sorglich als ein teures Andenken." Tränen glänzten in den Augen des wonnetrunknen Jünglings, er wollte sprechen, aber nur wie ein tiefer Seufzer entquollen der Brust die Worte: "0 Rosa - liebe, liebe - Rosa!" — "Immer", fuhr Rosa fort, "immer hab ich recht herzlich gewünscht, Euch wiederzusehen, aber daß Ihr zum Küperhandwerk übergehen würdet, das hab ich nimmermehr geglaubt. Ach, wenn ich an die schönen Sachen denke, die Ihr damals bei dem Meister Holzschuer verfertigtet, es ist doch schade, daß Ihr nicht bei Eurer Kunst geblieben seid." — "Ach, Rosa", sprach Friedrich, "nur um Euretwillen wurde ich ja untreu meiner lieben Kunst." — Kaum waren diese Worte heraus, als Friedrich hätte in die Erde sinken mögen vor Angst und Scham! — Das unbesonnenste Geständnis war auf seine Lippen gekommen. Rosa, wie alles ahnend, wandte das Gesicht von ihm weg, er rang vergebens nach Worten. Da schlug Herr Paumgartner mit dem Messer hart auf den Tisch und verkündete der Gesellschaft, daß Herr Vollrad, ein würdiger Meistersinger, ein Lied anstimmen werde. Herr Vollrad stand denn auch alsbald auf, räusperte sich und sang solch ein schönes Lied in der güldnen Tonweis Hanns Vogelgesangs, daß allen das Herz vor Freuden hüpfte und selbst Friedrich sich wieder erholte von seiner schlimmen Bedrängnis. Nachdem Herr Vollrad noch mehrere schöne Lieder in andern herrlichen Weisen, als da ist: der süße Ton, die Krummzinkenweis, die geblümte Paradiesweis, die frisch Pomeranzenweis und andere, gesungen, sprach er, daß, wenn jemand an der Tafel was von der holdseligen Kunst der Meistersinger verstehe, er nun auch ein Lied anstimmen möge. Da stand Reinhold auf und sprach, wenn es ihm erlaubt sei, sich auf italische Weise mit der Laute zu begleiten, so wolle er wohl auch ein Lied anstimmen und dabei die deutsche Weis ganz beibehalten. Er holte, als niemand etwas dagegen hatte, sein Instrument herbei und hub, nachdem er in gar lieblichen Klängen präludiert hatte, folgendes Lied an:
"Wo steht das Brünnelein,
Was sprudelt würzigen Wein?
Im tiefen Grund,
Da kunt
Ihr fröhlich schaun
Sein lieblich golden Rinnen, Das schöne Brünnelein, Drin sprudelt goldner Wein, Wer hat's gemacht, Bedacht Mit hoher Kunst Und wackrem Fleiß daneben? Das lust'ge Brünnelein Mit hoher Kunst gar fein, Allein Tät es der Küper machen. Erglüht von edlem Wein, Im Herzen Liebe rein, Jung Küpers Art, Gar zart Ist das in allen Sachen."

Das Lied gehe! allen über die Maßen wohl, aber keinem so sehr als dem Meister Martin, dem die Augen vor Freude und Entzücken glänzten. Ohne auf Vollrad zu achten, der beinahe zu viel von der stumpfen Schoßweis Hans Müllers sprach, die der Geselle gut genug getroffen - ohne auf ihn zu achten, stand Meister Martin auf von seinem Sitze und schrie, indem er sein Paßglas in die Höhe hob: "Komm her — du wackrer Küper und Meistersinger - komm her, mit mir, mit deinem Meister Martin, sollst du dies Glas leeren!" Reinhold mußte tun, wie ihm geboten. Als er zu seinem Platz zurückkehrte, raunte er dem tiefsinnigen Friedrich ins Ohr: "Nun mußt du singen - sing das Lied von gestern abend." — "Bist du rasend", erwiderte Friedrich ganz erzürnt. Da sprach Reinhold mit lauter Stimme zur Gesellschaft: "Ihr ehrbaren Herren und Meister! hier mein lieber Bruder Friedrich ist noch viel schönerer Lieder mächtig und hat eine viel lieblichere Stimme als ich, aber die Kehle ist ihm verstaubt von der Reise, und da wird er ein andermal seine Lieder in den herrlichsten Weisen euch auftischen!" —

Nun fielen alle mit Lobeserhebungen über Friedrich her, als ob er schon gesungen hätte. Manche Meister meinten sogar endlich, daß seine Stimme in der Tat doch lieblicher sei als die des Gesellen Reinhold, so wie Herr Vollrad, nachdem er noch ein volles Glas geleert hatte, überzeugt war, daß Friedrich doch die deutschen schönen Weisen besser treffe als Reinhold, der gar zu viel Italisches an sich habe. Aber Meister Martin warf den Kopf in den Nacken, schlug sich auf den runden Bauch, daß es klatschte, und rief: "Das sind nun meine Gesellen -meine, sag ich, des Küpermeisters Tobias Martin zu Nürnberg, Gesellen!" — Und alle Meister nickten mit den Häuptern und sprachen, die letzten Tropfen aus den hohen Trinkgläsern nippend: "Ja, ja! —Eure, des Meister Martins, brave wackre Gesellen!" — Man begab sich endlich zur Ruhe. Reinhold und Friedrich, jedem wies Meister Martin eine schmucke helle Kammer in seinem Hause an.

Wie der dritte Gesch zum Meister Martin ins Haus kam und was sich darauf weiter begab

Als die beiden Gesellen Reinhold und Friedrich einige Wochen hindurch in Meister Martins Werkstatt gearbeitet hatten, bemerkte dieser, daß, was Messung mit Lineal und Zirkel, Berechnung und richtiges Augenmaß betraf, Reinhold wohl seinesgleichen suchte, doch anders war es bei der Arbeit auf der Fügbank, mit dem Lenkbeil oder mit dem Schlägel. Da ermattete Reinhold sehr bald, und das Werk förderte nicht, er mochte sich mühen, wie er wollte. Friedrich dagegen hobelte und hämmerte frisch darauf los, ohne sonderlich zu ermüden. Was sie aber miteinander gemein hatten, war ein sittiges Betragen, in das, vorzüglich auf Reinholds Anlaß, viel unbefangne Heiterkeit und gemütliche Lust kam. Dazu schonten sie in voller Arbeit. zumal wenn die holde Rosa zugegen war, nicht ihre Kehlen, sondern sangen mit ihren lieblichen Stimmen, die gar anmutig zusammengingen, manches herrliche Lied. Und wollte dann

auch Friedrich, indem er hinüberschielte nach Rosen, in den schwermütigen Ton verfallen, so stimmte Reinhold sogleich ein Spottlied an, das er ersonnen und das anfing: "Das Faß ist nicht die Zither, die Zither nicht das Faß", so daß der alte Herr Martin oft den Degsel, den er schon zum Schlage erhoben, wieder sinken ließ und sich den wackelnden Bauch hielt vor innigem Lachen. Überhaupt hatten die beiden Gesellen, vorzüglich aber Reinhold, sich ganz in Martins Gunst festgenistet, und wohl konnte man bemerken, daß Rosa auch manchen Vorwand suchte, um öfter und länger in der Werkstatt zu verweilen, als sonst wohl geschehen sein mochte.

Eines Tages trat Herr Martin ganz nachdenklich in seine offne Werkstatt vor dem Tore hinein, wo Sommer über gearbeitet wurde. Eben setzten Reinhold und Friedrich ein kleines Faß auf. Da stellte sich Meister Martin vor sie hin mit übereinandergeschlagenen Armen und sprach: "Ich kann euch gar nicht sagen, ihr lieben Gesellen, wie sehr ich mit euch zufrieden bin, aber nun komme ich doch in große Verlegenheit. Vom Rhein her schreiben sie, daß das heurige Jahr, was den Weinbau betrifft, gesegneter sein werde, als je eins gewesen. Ein weiser Mann hat gesagt, der Komet, der am Himmel heraufgezogen, befruchte mit seinen wunderbaren Strahlen die Erde, so daß sie aus den tiefsten Schachten alle Glut. die die edlen Metalle kocht, herausströmen und ausdünsten werde in die durstigen Reben, die in üppigem Gedeihen Traub auf Traube hervorarbeiten und das flüssige Feuer, von dem sie getränkt, hineinsprudeln würden in das Gewächs. Erst nach beinahe dreihundert Jahren werde solch günstige Konstellation wieder eintreten. — Da wird's nun Arbeit geben die Hülle und die Fülle. Und dazu kommt noch, daß auch der hochwürdige Herr Bischof von Bamberg an mich geschrieben und ein großes Faß bei mir bestellt hat. Damit können wir nicht fertig werden, und es tut not, daß ich mich noch nach einem tüchtigen Gesellen umschaue. Nun möcht ich aber auch nicht gleich diesen oder jenen von der Straße unter uns aufnehmen, und doch

brennt mir das Feuer auf den Nägeln. Wenn ihr einen wackern Gesellen irgendwo wißt, den ihr unter euch leiden möchtet, so sagt's nur, ich schaff ihn her, und sollt es mir auch ein gut Stück Geld kosten." Kaum hatte Meister Martin dies gesprochen, als ein junger Mensch von hohem kräftigen Bau mit starker Stimme hineinrief: "He da! ist das hier Meister Martins Werkstatt?" — "Freilich", erwiderte Meister Martin, indem er auf den jungen Gesellen losschritt, "freilich ist sie das, aber Ihr braucht gar nicht so mörderlich hineinzuschreien und hineinzutappen, so kommt man nicht zu den Leuten." — "Ha, ha, ha", lachte der junge Gesell, "Ihr seid wohl Meister Martin selbst, denn so mit dem dicken Bauche, mit dem stattlichen Unterkinn, mit den blinzelnden Augen, mit der roten Nase, gerade so ist er mir beschrieben worden. Seid mir schön gegrüßt, Meister Martin." — "Nun, was wollt Ihr denn vom Meister Martin?" fragte dieser ganz unmutig. "Ich bin", antwortete der junge Mensch, "ich bin ein Küpergesell und wollte nur fragen, ob. ich bei Euch in Arbeit kommen könnte."Meister Martin trat vor Verwunderung, daß gerade in dem Augenblick, als er gesonnen war, einen Gesellen zu suchen, sich einer meldete, ein paar Schritte zurück und maß den jungen Menschen von Kopf bis zum Fuße. Der schaute ihn aber keck an mit blitzenden Augen. Als nun Meister Martin die breite Brust, den starken Gliederbau, die kräftigen Fäuste des jungen Menschen bemerkte, dachte er bei sich selbst: Gerade solch einen tüchtigen Kerl brauche ich ja, und fragte ihn sogleich nach den Handwerkszeugnissen. "Die hab ich nicht zur Hand", erwiderte der junge Mensch, "aber ich werde sie beschaffen in kurzer Zeit und geb Euch jetzt mein Ehrenwort, daß ich treu und redlich arbeiten will, das muß Euch gnügen." Und damit, ohne Meister Martins Antwort abzuwarten, schritt der junge Gesell zur Werkstatt hinein, warf Barett und Reisebündel ab, zog das Wams herunter, band das Schurzfell vor und sprach: "Sagt nur gleich an, Meister Martin, was ich jetzt arbeiten soll." Meister Martin, ganz verdutzt über des fremden Jünglings keckes Betragen, mußte sich einen Augenblick besinnen, dann sprach er: "Nun, Geselle, beweiset einmal gleich, daß Ihr ein tüchtiger Küper seid, nehmt den Gargelkamm zur Hand und fertigt an dem Faß, das dort auf dem Endstuhl liegt, die Kröse." Der fremde Gesell vollführte das, was ihm geheißen, mit besonderer Stärke. Schnelle und Geschicklichkeit und rief dann, indem er hell auflachte: "Nun, Meister Martin, zweifelt Ihr noch daran, daß ich ein tüchtiger Küper bin? — Aber", fuhr er fort, indem er, in der Werkstatt auf und ab gehend, mit den Blicken Handwerkszeug und Holzvorrat musterte, "aber habt Ihr auch tüchtiges Gerät, und - was ist denn das für ein Schlägelchen dort, damit spielen wohl Eure Kinder? — und das Lenkbeilchen, hei! das ist wohl für die Lehrburschen?" — Und damit schwang er den großen schweren Schlägel, den Reinhold gar nicht regieren konnte und mit dem Friedrich nur mühsam hantierte, das wuchtige Lenkbeil, mit dem Meister Martin selbst arbeitete, hoch in den Lüften. Dann rollte er ein paar große Fässer wie leichte Bälle beiseite und ergriff eine von den dicken, noch nicht ausgearbeiteten Dauben. "Ei", rief er, "ei, Meister, das ist gutes Eichenstabholz, das muß springen wie Glas!" Und damit schlug er die Daube gegen den Schleifstein, daß sie mit lautem Schall glatt ab in zwei Stücke zerbrach. "0 wollt Ihr doch", sprach Meister Martin, "wollt Ihr doch, lieber Gesell, nicht etwa jenes zweifudrige Faß herausschmeißen oder gar die ganze Werkstatt zusammenschlagen. Zum Schlägel könnt Ihr ja den Balken dort brauchen, und damit Ihr auch ein Lenkbeil nach Eurem Sinn bekommt, will ich Euch das drei Ellen lange Rolandsschwert vom Rathause herunterholen." — "Das wär mir nun eben recht", rief der junge Mensch, indem ihm die Augen funkelten, aber sogleich schlug er den Blick nieder und sprach mit gesenkter Stimme: "Ich dachte nur, lieber Meister, daß Ihr zu Eurer großen Arbeit recht starke Gesellen nötig hättet, und da bin ich wohl mit meiner Leibeskraft etwas zu vorlaut, zu prahlerisch gewesen. Nehmt mich aber immerhin in Arbeit, ich will wacker schaffen, was Ihr von mir begehrt." Meister Martin sah dem Jüngling ins Gesicht und mußte sich gestehen, daß ihm wohl nie edlere und dabei grundehrlichere Züge vorgekommen. Ja, es war ihm, als rege sich bei dem Anblick des Jünglings die dunkle Erinnerung irgendeines Mannes auf, den er schon seit langer Zeit geliebt und hochverehrt, doch konnte er diese Erinnerung nicht ins klare bringen, wiewohl er deshalb des Jünglings Verlangen auf der Stelle erfüllte und ihm nur aufgab, sich nächstens durch glaubhafte Atteste zum Handwerk gehörig auszuweisen. Reinhold und Friedrich waren indessen mit dem Aufsetzen des Fasses fertig geworden und trieben nun die ersten Bände auf. Dabei pflegten sie immer ein Lied anzustimmen und taten es nun auch, indem sie ein feines Lied in der Stieglitzweis Adam Puschmanns begannen. Da schrie aber Konrad (so war der neue Gesell geheißen) von der Fügbank, an die ihn Meister Martin gestellt, herüber: "Ei, was ist denn das für ein Quinkelieren? Kommt es mir doch vor, als wenn die Mäuse pfeifen hier in der Werkstatt. Wollt ihr was singen, so singt so, daß es einem das Herz erfrischt und Lust macht zur Arbeit. Solches mag ich auch wohl bisweilen tun." Und damit begann er ein tolles Jagdlied mit Halloh und Hussah! und dabei ahmte er das Gebell der Hundekoppeln, die gellenden Rufe der Jäger mit solch durchdringender, schmetternder Stimme nach, daß die großen Fässer widerklangen und die ganze Werkstatt erdröhnte. Meister Martin verhielt sich mit beiden Händen die Ohren, und der Frau Marthe (Valentins Witwe) Knaben, die in der Werkstatt spielten, verkrochen sich furchtsam unters Stabholz. In dem Augenblick trat Rosa hinein, verwundert, erschrocken über das fürchterliche Geschrei, was gar nicht Singen zu nennen. Sowie Konrad Rosa gewahrte, schwieg er augenblicklich, stand von der Fügbank auf und nahte sich ihr, sie mit dem edelsten Anstande grüßend. Dann sprach er mit sanfter Stimme, leuchtendes Feuer in den hellen braunen Augen: "Mein holdes Fräulein, welch ein süßer Rosenschimmer ging denn auf in dieser schlechten Arbeitshütte, als Ihr eintratet, o wäre ich Euer doch nur früher ansichtig geworden, nicht Eure zarten Ohren hätt ich beleidigt mit meinem wilden Jagdliede! — Oh" (so tiefer, sich zu Meister Martin und den andern Gesellen wendend), "oh, hört doch nur auf mit euerm abscheulichen Geklapper! — Solange euch das liebe Fräulein ihres Anblicks würdigt, mögen Schlägel und Treiber ruhn. Nur ihre süße Stimme wollen wir hören und mit gebeugtem Haupt erlauschen, was sie gebietet uns demütigen Knechten." Reinhold und Friedrich schauten sich ganz verwundert an, aber Meister Martin lachte hell auf und rief: "Nun, Konrad! — nun ist's klar, daß Ihr der allernärrischte Kauz seid, der jemals ein Schurzfell vorgebunden. Erst kommt Ihr her und wollt mir wie ein ungeschlachter Riese alles zerschmeißen, dann brüllt Ihr dermaßen, daß uns allen die Ohren gellen, und zum würdigen Schluß aller Tollheit seht Ihr mein Töchterlein Rosa für ein Edelfräulein an und gebärdet Euch wie ein verliebter Junker!" — "Eure holde Tochter", erwiderte Konrad gelassen, "Eure holde Tochter kenne ich gar wohl, lieber Meister Martin, aber ich sage Euch, daß sie das hochherrlichste Fräulein ist, das auf Erden wandelt, und mag der Himmel verleihen, daß sie den edelsten Junker würdige, in treuer, ritterlicher Liebe ihr Paladin zu sein." Meister Martin hielt sich die Seiten. er wollte ersticken, bis er dem Lachen Luft gab durch Krächzen und Hüsteln. Kaum der Sprache mächtig, stotterte er dann: "Gut - sehr gut, mein allerliebster Junge, magst du meine Rosa immerhin für ein hochadlig Fräulein halten, ich gönn es dir - aber dem unbeschadet - sei so gut und gehe fein zurück an deine Fügbank!" Konrad blieb eingewurzelt stehen mit niedergeschlagenem Blick, rieb sich die Stirn, sprach leise: "Es ist ja wahr", und tat dann, wie ihm geheißen. Rosa setzte sich, wie sie immer in der Werkstatt zu tun pflegte, auf ein klein Fäßlein, das Reinhold sorglich abgestaubt und Friedrich herbeigeschoben hatte. Beide fingen, Meister Martin gebot es ihnen, nun aufs neue das schöne Lied an, in dem sie der wilde Konrad unterbrochen, der nun, still und ganz in sich versunken, an der Fügbank fortarbeitete.

Als das Lied geendet, sprach Meister Martin: "Euch hat der Himmel eine schöne Gabe verliehn, ihr lieben Gesellen! — ihr glaubt gar nicht, wie hoch ich die holdselige Singekunst achte. Wollt ich doch auch einmal ein Meistersinger werden, aber das ging nun ganz und gar nicht, ich mochte es auch anstellen, wie ich wollte. Mit aller meiner Mühe erntete ich nur Hohn und Spott ein. Beim Freisingen machte ich bald falsche Anhänge, bald Klebsilben, bald ein falsch Gebänd, bald falsche Blumen oder verfiel ganz und gar in falsche Melodei. — Nun, ihr werdet es besser machen, und es wird heißen, was der Meister nicht vermag, das tun doch seine Gesellen. Künftigen Sonntag ist zur gewöhnlichen Zeit nach der Mittagspredigt ein Meistersingen in der St.-Katharinen-Kirche, da könnt ihr beide, Reinhold und Friedrich, Lob und Ehre erlangen mit curer schönen Kunst, denn vor dem Hauptsingen wird ein Freisingen gehalten, woran ihr, so wie jeder Fremde, der der Singekunst mächtig, ungehindert teilnehmen könnet. Nun, Gesell Konrad" (so rief Meister Martin herüber zur Fügbank), "nun, Gesell Konrad, möcht Ihr nicht auch den Singstuhl besteigen und Euer schönes Jagdlied anstimmen?" —"Spottet nicht", erwiderte Konrad, ohne aufzublicken, "spottet nicht, lieber Meister! jedes an seinem Platze. Während Ihr Euch an dem Meistersingen erbaut, werde ich auf der Allerwiese meinem Vergnügen nachgehn."

Es kam so, wie Meister Martin wohl vermutet. Reinhold bestieg den Singestuhl und sang Lieder in unterschiedlichen Weisen, die alle Meistersinger erfreuten, wiewohl sie meinten, daß dem Sänger zwar kein Fehler, aber eine gewisse ausländische Art, selbst könnten sie nicht sagen, worin die eigentlich bestehe, vorzuwerfen sei. Bald darauf setzte sich Friedrich auf den Singestuhl, zog sein Barett ab und

begann, nachdem er einige Sekunden vor sich hin geschaut, dann aber einen Blick in die Versammlung geworfen, der wie ein glühender Pfeil der holden Rosa in die Brust traf, daß sie tief aufseufzen mußte, ein solches herrliches Lied im zarten Ton Heinrich Frauenlobs, daß alle Meister einmütiglich bekannten, keiner unter ihnen vermöge den jungen Gesellen zu übertreffen.

Als der Abend herangekommen und die Singschule geendigt, begab sich Meister Martin, um den Tag recht zu genießen, in heller Fröhlichkeit mit Rosa nach der Allerwiese. Die beiden Gesellen Reinhold und Friedrich durften mitgehen. Rosa schritt in ihrer Mitte. Friedrich, ganz verklärt von dem Lobe der Meister, in seliger Trunkenheit, wagte manches kühne Wort, das Rosa, die Augen verschämt niederschlagend, nicht vernehmen zu wollen schien. Sie wandte sich lieber zu Reinhold, der nach seiner Weise allerlei Lustiges schwatzte und sich nicht scheute, seinen Arm um Rosas Arm zu schlingen. Schon in der Ferne hörten sie das jauchzende Getöse auf der Allerwiese. An den Platz gekommen, wo die Jünglinge sich in allerlei, zum Teil ritterlichen Spielen ergötzten, vernahmen sie, wie das Volk ein Mal über das andere rief: "Gewonnen, gewonnen - er ist's wieder, der Starke! — ja, gegen den kommt niemand auf!" — Meister Martin gewahrte, als er sich durchs Volk gedrängt hatte, daß alles Lob, alles Jauchzen des Volks niemandem anders galt als seinem Gesellen Konrad. Der hatte im Wettrennen, im Faustkampf, im Wurfspießwerfen alle übrige übertroffen. Als Martin herankam, rief Konrad eben, ob es jemand mit ihm aufnehmen wolle im lustigen Kampfspiel mit stumpfen Schwertern. Mehrere wackre Patrizierjünglinge, solch. ritterlichen Spiels gewohnt, ließen sich ein auf die Forderung. sicht lange dauerte es aber, so hatte Konrad auch hier ohne alle große Mühe und Anstrengung sämtliche Gegner überwunden, so daß des Lobpreisens seiner Gewandtheit und Stärke gar kein Ende war.

Die Sonne war herabgesunken, das Abendrot erlöschte,

und die Dämmerung stieg mit Macht herauf. Meister Martin, Rosa und die beiden Gesellen hatten sich an einem plätschernden Springquell gelagert. Reinhold erzählte viel Herrliches von dem fernen Italien, aber Friedrich schaute still und selig der holden Rosa in die Augen. Da kam Konrad heran, leisen zögernden Schrittes, wie mit sich selbst uneins, ob er sich zu den andern lagern solle oder nicht. Meister Martin rief ihm entgegen: "Nun, Konrad, kommt nur immer heran, Ihr habt Euch tapfer gehalten auf der Wiese, so kann ich's wohl leiden an meinen Gesellen. so ziemt es ihnen auch. Scheut Euch nicht, Geselle! setzt Euch zu uns, ich erlaub es Euch!" Konrad warf einen durchbohrenden Blick auf den Meister, der ihm gnädig zunickte, und sprach dann mit dumpfer Stimme: "Vor Euch scheue ich mich nun ganz und gar nicht, hab Euch auch noch gar nicht nach der Erlaubnis gefragt, ob ich mich hier lagern darf oder nicht, komme überhaupt auch gar nicht zu Euch. Alle meine Gegner hab ich in den Sand gestreckt im lustigen Ritterspiel, und da wollt ich nur das holde Fräulein fragen, ob sie mir nicht auch-wie--zum--Preis-des--lustigen Spiels den schönen Strauß verehren wollte, den sie an der Brust trägt." Damit ließ sich Konrad vor Rosa auf ein Knie nieder, schaute mit seinen klaren braunen Augen ihr recht ehrlich ins Antlitz und bat: "Gebt mir immer den schönen Strauß als Siegespreis, holde Rosa, Ihr dürft mir das nun durchaus nicht abschlagen." Rosa nestelte auch gleich den Strauß los und gab ihn Konrad, indem sie lachend sprach: "Ei, ich weiß ja wohl, daß einem solchen tapfern Ritter, wie Ihr seid, solch ein Ehrenzeichen von einer Dame gebührt, und so nehmt immerhin meine welk gewordenen Blumen." Konrad küßte den ihm dargebotenen Strauß und steckte ihn dann an sein Barett, aber Meister Martin rief, indem er aufstand: "Nun seht mir einer die tollen Possen! — doch laßt uns nach Hause wandeln, die Nacht bricht ein." Herr Martin schritt vorauf, Konrad ergriff mit sittigem, zierlichern Anstande Rosas Arm, Reinhold und Friedrich schritten ganz unmutig hinterher. Die Leute, denen sie begegneten, blieben stehn und schauten ihnen nach, indem sie sprachen: "Ei, seht nur, seht, das ist der reiche Küper Thomas Martin mit seinem holden Töchterlein und seinen wackern Gesellen. Das nenn ich mir hübsche Leute

Wie Frau Marthe mit Rosa von den drei Gesellen sprach. Konrads Streit mit dem Meister Martin

Junge Mägdlein pflegen wohl alle Lust des Festtages erst am andern Morgen sich so recht durch Sinn und Gemüt gehen zu lassen, und diese Nachfeier dünkt ihnen dann beinahe noch schöner als das Fest selbst. So saß auch die holde Rosa am andern Morgen einsam in ihrem Gemach und ließ, die gefalteten Hände auf dem Schoß, das Köpfchen sinnend vor sich hingeneigt, Spindel und Nähterei ruhen. Wohl mocht es sein, daß sie bald Reinholds und Friedrichs Lieder hörte, bald den gewandten Konrad sah, wie er seine Gegner besiegte, wie er sich von ihr den Preis des Siegers holte, denn bald summte sie ein paar Zeilen irgendeines Liedleins, bald lispelte sie: "Meinen Strauß wollt Ihr?", und dann leuchtete höheres Rot auf ihren Wangen, schimmerten Blitze durch die niedergesenkten Wimpern, stahlen sich leise Seufzer fort aus der innersten Brust. Da trat Frau Marthe hinein, und Rosa freute sich nun, recht umständlich erzählen zu können, wie alles sich in der St-Katharinen-Kirche und auf der Allerwiese begeben. Als Rosa geendet, sprach Frau Marthe lächelnd: "Nun, liebe Rosa, nun werdet Ihr wohl bald unter drei schmucken Freiem wählen können." — "Um Gott", fuhr Rosa auf, ganz erschrocken und blutrot im Gesicht bis unter die Augen, "um Gott, Frau Marthe, wie meint Ihr denn das? — ich! — drei Freier?" — "Tut nur nicht so", sprach Frau Marthe weiter, "tut nur nicht so, liebe Rosa, als ob Ihr gar nichts wissen, nichts ahnen könntet. Man müßte ja wahrhaftig gar keine Augen haben, man müßte ganz verblendet sein, sollte man nicht schauen, daß unsere

Gesellen Reinhold, Friedrich und Konrad, ja daß alle drei in der heftigsten Liebe zu Euch sind." — "Was bildet Ihr Euch ein, Frau Marthe?" lispelte Rosa, indem sie die Hand vor die Augen hielt. "Ei", fuhr Frau Marthe fort, indem sie sich vor Rosa hinsetzte und sie mit einem Arm umschlang, "ei, du holdes, verschämtes Kind, die Hände weg, schau mir recht fest in die Augen, und dann leugne, daß du es längst gut gemerkt hast, wie die Gesellen dich in Herz und Sinn tragen, leugne das! — Siehst du wohl, daß du das nicht kannst? —Nun, es wär auch wirklich wunderbar, wenn eines Mägdleins Augen nicht so was gleich erschauen sollten. Wie die Blicke von der Arbeit weg dir zufliegen, wie ein rascherer Takt alles belebt, wenn du in die Werkstatt trittst. Wie Reinhold und Friedrich ihre schönsten Lieder anstimmen, wie selbst der wilde Konrad fromm und freundlich wird, wie jeder sich müht, dir zu nahen, wie flammendes Feuer aufflackert im Antlitz dessen, den du eines holden Blicks, eines freundlichen Worts würdigst! Ei, mein Töchterchen, ist es denn nicht schön, daß solche schmucke Leute um dich buhlen? — Ob du überhaupt einen und wen von den dreien du wählen wirst, das kann ich in der Tat gar nicht sagen, denn freundlich und gut bist du gegen alle, wiewohl ich - doch still, still davon. Kämst du nun zu mir und sprächst: ,Ratet mir, Frau Marthe, wem von diesen Jünglingen, die sich um mich mühen, soll ich Herz und Hand zuwenden?', da würd ich denn freilich antworten: ,Spricht dein Herz nicht ganz laut und vernehmlich: der ist es, dann laß sie nur alle drei laufen.' Sonst aber gefällt mir Reinhold sehr wohl, auch Friedrich, auch Konrad, und dann hab ich gegen alle drei auch manches einzuwenden. —Ja, in der Tat, liebe Rosa, wenn ich die jungen Gesellen so tapfer arbeiten sehe, gedenke ich immer meines lieben armen Valentins, und da muß ich doch sagen, sowenig er vielleicht noch bessere Arbeit schaffen mochte, so war doch in allem, was er förderte, solch ein ganz anderer Schwung, eine andere Manier. Man merkte, daß er bei dem Dinge war mit ganzer Seele, aber bei den jungen Gesellen ist es mir immer, als täten sie nur so und hätten ganz andere Sachen im Kopfe als ihre Arbeit, ja, als sei diese nur eine Bürde, die sie freiwillig sich aufgelastet und nun mit wackerm Mute trügen. Mit Friedrich kann ich mich nun am besten vertragen, das ist ein gar treues herziges Gemüt. Es ist, als gehöre der am mehrsten zu uns, ich verstehe alles, was er spricht, und daß er Euch so still, mit aller Schüchternheit eines frommen Kindes liebt, daß er kaum wagt, Euch anzublicken, daß er errötet, sowie Ihr ein Wort mit ihm redet, das ist's, was ich so sehr an dem lieben Jungen rühme." Es war, als trete eine Träne in Rosas Auge, als Frau Marthe dies sagte. Sie stand auf und sprach, zum Fenster gewendet: "Friedrich ist mir auch recht lieb, aber daß du mir ja nicht den Reinhold verachtest." — "Wie könnte ich denn das?" erwiderte Frau Marthe, "Reinhold ist nun offenbar der schönste von allen. Was für Augen! nein, wenn er einen so durch und durch blitzt mit den leuchtenden Blicken, man kann es gar nicht ertragen! — Aber dabei ist in seinem ganzen Wesen so etwas Verwunderliches, das mir ordentlich Schauer erregt und mich von ihm zurückschreckt. Ich denke, Herrn Martin müßte, wenn Reinhold in seiner Werkstatt arbeitet und er ihn dieses, jenes fördern heißt, so zumute sein, wie mir es sein würde, wenn jemand in meine Küche ein von Gold und Edelsteinen funkelndes Gerät hingestellt hätte, und das solle ich nun brauchen wie gewöhnliches schlechtes Hausgerät, da ich denn doch gar nicht wagen möchte, es nur anzurühren. Er erzählt und spricht und spricht, und das alles klingt wie süße Musik, und man wird ganz hingerissen davon, aber wenn ich nun ernstlich daran denke, was er gesprochen, so hab ich am Ende kein Wörtlein davon verstanden. Und wenn er denn auch wohl einmal nach unserer Weise scherzt und ich denke, nun ist er denn doch so wie wir, so sieht er mit einemmal so vornehm darein, daß ich ordentlich erschrecke. Und dabei kann ich gar nicht sagen, daß sein Ansehn der Art gliche, wie mancher Junker, mancher Patrizier sich bläht, nein, es ist etwas ganz anderes. Mit einem Wort, es kommt mir, Gott weiß es, so vor, als habe er Umgang mit höheren Geistern, als gehöre er überhaupt einer andern Welt an. Konrad ist ein wilder, übermütiger Geselle und hat dabei in seinem ganzen Wesen auch ganz etwas verdammt Vornehmes, was zum Schurzfell nicht recht passen will. Und dabei tut er so, als wenn nur er allein zu gebieten hätte und die andern ihm gehorchen müßten. Hat er es doch in der kurzen Zeit seines Hierseins dahin gebracht, daß Meister Martin, von Konrads schallender Stimme angedonnert, sich seinem Willen fügt. Aber dabei ist Konrad wieder so gutmütig und grundehrlich, daß man ihm gar nicht gram werden kann. Vielmehr muß ich sagen, daß er mir trotz seiner Wildheit beinahe lieber ist als Reinhold, denn zwar spricht er auch oft gewaltig hoch, aber man versteht's doch recht gut. Ich wette, der ist einmal, mag er sich auch stellen, wie er will, ein Kriegsmann gewesen. Deshalb versteht er sich noch so gut auf die Waffen und hat sogar was vom Ritterwesen angenommen, das ihm gar nicht übel steht. — Nun sagt mir nur ganz unverhohlen, liebe Rosa, wer von den drei Gesellen Euch am besten gefällt?" — "Fragt", erwiderte Rosa, "fragt mich nicht so verfänglich, liebe Frau Marthe. Doch soviel ist gewiß, daß es mir mit Reinhold gar nicht so geht wie Euch. Zwar ist es richtig, daß er ganz anderer Art ist als seinesgleichen, daß mir bei seinen Gesprächen zumute wird, als tue sich mir plötzlich ein schöner Garten auf voll herrlicher glänzender Blumen, Blüten und Früchte, wie sie auf Erden garnicht zu finden, aber ich schaue gern hinein. Seit Reinhold hier ist, kommen mir auch manche Dinge ganz anders vor, und manches, was sonst trübe und gestaltlos in meiner Seele lag, ist nun so hell und klar geworden, daß ich es ganz deutlich zu erkennen vermag." Frau Marthe stand auf, und im Davongehen Rosen mit dem Finger drohend, sprach sie: "Ei, ei, Rosa, also wird wohl Reinhold dein Auserwählter sein. Das hatte ich nicht vermutet. nicht geahnet!" — "Ich bitte Euch", erwiderte Rosa, sie zur Türe geleitend, "ich bitte Euch, liebe Frau Marthe, vermutet, ahnet gar nichts, sondern überlässet alles den kommenden Tagen. Was die bringen, ist Fügung des Himmels, der sich jeder schicken muß in Frömmigkeit und Demut." — In Meister Martins Werkstatt war es indessen sehr lebhaft worden. Um alles Bestellte fördern zu können, hatte er noch Handlanger und Lehrburschen angenommen, und nun wurde gehämmert und gepocht, daß man es weit und breit hören konnte. Reinhold war mit der Messung des großen Fasses, das für den Bischof von Bamberg gebaut werden sollte, fertig worden und hatte es mit Friedrich und Konrad so geschickt aufgesetzt, daß dem Meister Martin das Herz im Leibe lachte under ein Mal über das andere rief: "Das nenn ich mir ein Stück Arbeit, das wird ein Fäßlein, wie ich noch keines gefertigt, mein Meisterstück ausgenommen." — Da standen nun die drei Gesellen und trieben die Bände auf die gefügten Dauben, daß alles vom lauten Getöse der Schlägel widerhallte. Der alte Valentin schabte emsig mit dem Krummesser, und Frau Marthe, die beiden kleinsten Kinder auf dem Schoße, saß dicht hinter Konrad, während die andern muntern Buben schreiend und lärmend sich mit den Reifen herumtummelten und jagten. Das gab eine lustige Wirtschaft, so daß man kaum den alten Herrn Johannes Holzschuer bemerkte, der zur Werkstatt hineintrat. Meister Martin schritt ihm entgegen und fragte höflich nach seinem Begehren. "Ei", erwiderte Holzschuer, "ich wollte einmal meinen lieben Friedrich wiederschauen, der dort so wacker arbeitet. Aber dann, lieber Meister Martin, tut in meinem Weinkeller ein tüchtiges Faß not, um dessen Fertigung ich Euch bitten wollte. — Seht nur, dort wird ja eben solch ein Faß errichtet, wie ich es brauche, das könnt Ihr mir ja überlassen, Ihr dürft mir nur den Preis sagen." Reinhold, der ermüdet einige Minuten in der Werkstatt geruht hatte und nun wieder zum Gerüst heraufsteigen wollte, hörte Holzschuers Worte und sprach, den Kopf nach ihm wendend: "Ei, lieber Herr Holzschuer, die Lust nach unserm Fäßlein laßt Euch nur vergehen, das arbeiten wir für den hochwürdigen Herrn Bischof von Bamberg!" — Meister Martin, die Arme über den Rücken zusammengeschlagen, den linken Fuß vorgesetzt, den Kopf in den Nacken geworfen, blinzelte nachdem Faß .hinund sprach dann mit stolzem Ton: "Mein lieber Meister, schon an dem ausgesuchten Holz, an der Sauberkeit der Arbeit hättet Ihr bemerken können, daß solch ein Meisterstück nur dem fürstlichen Keller ziemt. Mein Geselle Reinhold hat richtig gesprochen, nach solchem Werk laßt Euch die Lust vergehn, wenn die Weinlese vorüber, werd ich Euch ein tüchtiges schlichtes Fäßlein fertigen lassen, wie es sich für Euern Keller schickt." Der alte Holzschuer, aufgebracht über Meister Martins Stolz, meinte dagegen, daß seine Goldstücke geradesoviel wögen als die des Bischofs von Bamberg und daß er anderswo auch wohl für sein bares Geld gute Arbeit zu bekommen hoffe. Meister Martin, überwallt von Zorn, hielt mühsam an sich, er durfte den alten, vom Rat, von allen Bürgern hochverehrten Herrn. Holzschuer wohl nicht beleidigen. Aber in dem Augenblick schlug Konrad immer gewaltiger mit dem Schlägel zu, daß alles dröhnte und krachte, da sprudelte Meister Martin den innern Zorn aus und schrie mit heftiger Stimme: "Konrad — du Tölpel, was schlägst du so blind und toll zu, willst du mir das Faß zerschlagen?" — "Ho, ho", rief Konrad, indem er mit trotzigem Blick sich umschaute nach dem Meister; "ho, ho, du komisches Meisterlein, warum denn nicht?" Und damit schlug er so entsetzlich auf das Faß los, daß klirrend der stärkste Band des Fasses sprang und den Reinhold hinabwarf vom schmalen Brette des Gerüstes, während man am hohlen Nachklange wohl vernahm, daß auch eine Daube gesprungen sein müßte. Übermannt von Zorn und Wut, sprang Meister Martin hinzu, riß dem Valentin den Stab, an dem er schabte, aus der Hand und versetzte, laut schreiend: "Verfluchter Hund !", dem Konrad einen tüchtigen Schlag über den Rücken. Sowie Konrad den Schlag fühlte, drehte er sich rasch um und stand da einen Augenblick wie sinnlos, dann aber flammten die Augen vor wilder Wut, er knirschte mit den Zähnen, er heulte: "Geschlagen?" Dann war er mit einem Sprunge herab vom Gerüst, hatte schnell das auf dem Boden liegende Lenkbeil ergriffen und führte einen gewaltigen Schlag gegen den Meister, der ihm den Kopf gespalten haben würde, hätte Friedrich nicht den Meister beiseite gerissen, so daß das Beil nur den Arm streifte, aus dem aber das Blut sogleich hinausströmte. Martin, dick und unbeholfen, wie er war, verlor das Gleichgewicht und stürzte über die Fügbank, wo eben der Lehrbursche arbeitete, nieder zur Erde. Alles warf sich nun dem wütenden Konrad entgegen, der das blutige Lenkbeil in den Lüften schwang und mit entsetzlicher Stimme heulte und kreischte: "Zur Hölle mußer fahren - zur Hölle!" Mit Riesenkraft schleuderte er alle von sich, er holte aus zum zweiten Schlage, der ohne Zweifel dem armen Meister, der auf dem Boden keuchte und stöhnte, das Garaus gemacht haben würde, da erschien aber, vor Schrecken bleich wie der Tod, Rosa in der Tür der Werkstatt. Sowie Konrad Rosa gewahrte, blieb er mit dem hochgeschwungnen Beil stehen, wie zur toten Bildsäule erstarrt. Dann warf er das Beil weit von sich, schlug die beiden Hände zusammen vor der Brust, rief mit einer Stimme, die jedem durch das Innerste drang: "0 du gerechter Gott im Himmel, was habe ich denn getan !", und stürzte aus der Werkstatt heraus ins Freie. Niemand gedachte ihn zu verfolgen.

Nun wurde der arme Meister Martin mit vieler Mühe aufgerichtet, es fand sich indessen gleich, daß das Beil nur ins dicke Fleisch des Arms gedrungen und die Wunde durchaus, nicht bedeutend zu nennen war. Den alten Herrn Holzschuer, den Martin im Fall niedergerissen, zog man nun auch unter den Holzspänen hervor und beruhigte soviel möglich der Frau Marthe Kinder, die unaufhörlich um den guten Vater Martin schrien und heulten. Der war ganz verblüfft und meinte, hätte der Teufel von bösem Gesellen nur nicht das schöne Faß verdorben, aus der Wunde mache er sich nicht so viel.

Man brachte Tragsessel herbei für die alten Herren, denn auch Holzschuer hatte sich im Fall ziemlich zerschlagen. Er schmälte auf ein Handwerk, dem solche Mordinstrumente zu Gebote ständen, und beschwor Friedrich, je eher desto lieber sich wieder zu der schönen Bildgießerei, zu den edlen Metallen zu wenden.

Friedrich und mit ihm Reinhold, den der Reif hart getroffen und der sich an allen Gliedern wie gelähmt fühlte, schlichen, als schon tiefe Dämmerung den Himmel umzog, unmutig nach der Stadt zurück. Da hörten sie hinter einer Hecke ein leises Ächzen und Seufzen. Sie blieben stehen, und es erhob sich alsbald eine lange Gestalt vom Boden, die sie augenblicklich für Konrad erkannten und scheu zurückprallten. "Ach, ihr lieben Gesellen", rief Konrad mit weinerlicher Stimme, "entsetzet euch doch nur nicht so sehr vor mir! —ihr haltet mich für einen teuflischen Mordhund! —ach, ich bin es ja nicht, ich bin es ja nicht - ich konnte nicht anders! ich mußte den dicken Meister totschlagen, eigentlich müßt ich mit euch gehen und es noch tun, wie es nur möglich wäre! — Aber nein -nein, es ist alles aus, ihr seht mich nicht wieder! — grüßt die holde Rosa, die ich so über die Maßen liebe! — sagt ihr, daß ich ihre Blumen zeitlebens auf dem Herzen tragen, mich damit schmücken werde, wenn ich —doch sie wird vielleicht künftig von mir hören! —lebt wohl, lebt wohl, ihr meine lieben wackern Gesellen!" — Damit rannte Konrad unaufhaltsam fort über das Feld.

Reinhold sprach: "Es ist was Besonderes mit diesem Jüngling, wir können seine Tat gar nicht abwägen oder abmessen nach gewöhnlichem Maßstab. Vielleicht erschließt sich künftig das Geheimnis, das auf seiner Brust lastete."


Reinhold verläßt Meister Martins Haus

So lustig es sonst in Meister Martins Werkstatt herging, so traurig war es jetzt geworden. Reinhold, zur Arbeit unfähig, blieb in seiner Kammer eingeschlossen; Martin, den wunden

Arm in der Binde, schimpfte und schmälte unaufhörlich auf den Ungeschick des bösen fremden Gesellen. Rosa, selbst Frau Marthe mit ihren Knaben scheuten den Tummelplatz des tollen Beginnens, und so tönte dumpf und hohl, wie im einsamen Walde zur Winterszeit der Holzschlag, Friedrichs Arbeit, der nun das große Faß allein mühsam genug fördern mußte.

Tiefe Traurigkeit erfüllte bald Friedrichs ganzes Gemüt, denn nun glaubte er deutlich zu gewahren, was er längst gefürchtet. Er trug keinen Zweifel, daß Rosa Reinhold liebe. Nicht allein, daß alle Freundlichkeit, manches süße Wort schon sonst Reinhold allein zugewendet wurde, so war es jetzt ja schon Beweises genug, daß Rosa, da Reinhold nicht hinauskonnte zur Werkstatt, ebenfalls nicht mehr daran dachte herauszugehen und lieber im Hause blieb, wohl gar um den Geliebten recht sorglich zu hegen und zu pflegen. Sonntags, als alles lustig hinauszog, als Meister Martin, von seiner Wunde ziemlich genesen, ihn einlud, mit ihm und Rosa nach der Allerwiese zu wandeln, da lief er, die Einladung ablehnend, ganz vernichtet von Schmerz und banger Liebesnot, einsam heraus nach dem Dorfe, nach dem Hügel, wo er zuerst mit Reinhold zusammengetroffen. Er warf sich nieder in das hohe blumichte Gras, und alser. gedachte, wie der schöne Hoffnungsstern, der ihm vorgeleuchtet auf seinem ganzen Wege nach der Heimat, nun am Ziel plötzlich in tiefer Nacht verschwunden, wie nun sein ganzes Beginnen dem trostlosen Mühen des Träumers gleiche, der die sehnsüchtigen Arme ausstrecke nach leeren Luftgebilden, da stürzten ihm die Tränen aus den Augen und herab auf die Blumen, die ihre kleinen Häupter neigten, wie klagend um des jungen Gesellen herbes Leid. Selbst wußte Friedrich nicht, wie es geschah, daß die tiefen Seufzer, die der gedrückten Brust entquollen, zu Worten, zu Tönen wurden. Er sang folgendes Lied:

"Wo bist du hin,
Mein Hoffnungestern?
Ach, mir so fern,
Bist mit süßem Prangen
Andern aufgegangen!
Erhebt euch, rauschende 
   Abendwinde,
Schlagt an die Brust,
Weckt alle tötende Lust,
Allen Todesschmerz,
Daß das Herz,
Getränkt von blut'gen Tränen,
Brech in trostlosem Sehnen.
Was lispelt ihr so linde,
So traulich, ihr dunklen Bäume?
Was blickt ihr goldne 
   Himmelssäume
So freundlich hinab?
Zeigt mir mein Grab!
Das ist mein Hoffnungshafen,
Werd unten ruhig schlafen."

Wie es sich denn wohl begibt, daß die tiefste Traurigkeit, findet sie nur Tränen und Worte, sich auflöst in mildes schmerzliches Weh, ja daß dann wohl ein linder Hoffnungsschimmer durch die Seele leuchtet, so fühlte sich auch Friedrich, als er das Lied gesungen, wunderbar gestärkt und aufgerichtet. Die Abendwinde, die dunklen Bäume, die er im Liede angerufen, rauschten und lispelten wie mit tröstenden Stimmen, und wie süße Träume von ferner Herrlichkeit, von fernem Glück, zogen goldne Streifen herauf am düstern Himmel. Friedrich erhob sich und stieg den Hügel herab nach dem Dorfe zu. Da war es, als schritte Reinhold wie damals, als er ihn zuerst gefunden, neben ihm her. Alle Worte, die Reinhold gesprochen, kamen ihm wieder in den Sinn. Als er nun aber der Erzählung Reinholds von dem Wettkampf der beiden befreundeten Maler gedachte, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es war ja ganz gewiß,

daß Reinhold Rosa schon früher gesehen und geliebt haben mußte. Nur diese Liebe trieb ihn nach Nürnberg in Meister Martins Haus, und mit dem Wettstreit der beiden Maler meinte er nichts anders als beider. Reinholds und Friedrichs, Bewerbung um die schöne Rosa. — Friedrich hörte aufs neue die Worte, die Reinhold damals sprach: "Wacker ohne allen tückischen Hinterhalt um gleichen Preis ringen, muß wahre Freunde recht aus der Tiefe des Herzens einigen, statt sie zu entzweien, in edlen Gemütern kann niemals kleinlicher Neid, hämischer Haß stattfinden." —"Ja", rief Friedrich laut, "ja, du Herzensfreund, an dich selbst will ich mich wenden ohne allen Rückhalt, du selbst sollst mir es sagen, ob jede Hoffnung für mich verschwunden ist." — Es war schon hoher Morgen, als Friedrich an Reinholds Kammer klopfte. Da alles still drinnen blieb, drückte er die Tür, die nicht wie sonst verschlossen war, auf und trat hinein. Aber in demselben Augenblick erstarrte er auch zur Bildsäule. Rosa, in vollem Glanz aller Anmut, alles Liebreizes, ein herrliches lebensgroßes Bild, stand vor ihm aufgerichtet auf der Staffelei, wunderbar beleuchtet von den Strahlen der Morgensonne. Der auf den Tisch geworfene Malerstock, die nassen Farben auf der Palette zeigten, daß eben an dem Bilde gemalt worden. "0 Rosa - Rosa - o du Herr des Himmels". seufzte Friedrich, da klopfte ihm Reinhold, der hinter ihm hineingetreten, auf die Schulter und fragte lächelnd: "Nun, Friedrich, was sagst du zu meinem Bilde?" Da drückte ihn Friedrich an seine Brust und rief: "0 du herrlicher Mensch - du hoher Künstler! ja, nun ist mir alles klar! du, du hast den Preis gewonnen, um den zu ringen ich Ärmster keck genug war! — was bin ich denn gegen dich, was ist meine Kunst gegen die deinige? —Ach, ich trug auch wohl manches im Sinn! — lache mich nur nicht aus, lieber Reinhold! — sieh, ich dachte, wie herrlich müßt es sein, Rosas liebliche Gestalt zu formen und zu gießen im feinsten Silber, aber das ist ja ein kindisches Beginnen, doch du! — du! — wie sie so hold, so in süßem Prangen aller Schönheit dich anlächelt! — ach, Reinhold - Reinhold, du überglücklicher Mensch! — ja, wie du damals es aussprachst, so begibt es sich nun wirklich! wir haben beide gerungen, du hast gesiegt, du mußtest siegen, aber ich bleibe dein mit ganzer Seele! Doch verlassen muß ich das Haus, die Heimat, ich kann es ja nicht ertragen, ich müßte ja vergehen, wenn ich nun Rosa wiedersehen sollte. Verzeih das mir, mein lieber, lieber hochherrlicher Freund. Noch heute - in diesem Augenblick fliehe ich fort - fort in die weite Welt, wohin mein Liebesgram, mein trostloses Elend mich treibt!" — Damit wollte Friedrich zur Stube hinaus, aber Reinhold hielt ihn fest, indem er sanft sprach:•"Du sollst nicht von hinnen, denn ganz anders, wie du meinst, kann sich alles noch fügen. Es ist nun an der Zeit, daß ich dir alles sage, was ich bis jetzt verschwieg. Daß ich kein Küper, sondern ein Maler bin, wirst du nun wohl wissen und, wie ich hoffe, an dem Bilde gewahren, daß ich mich nicht zu den geringen Künstlern rechnen darf. In früher Jugend bin ich nach Italien gezogen, dem Lande der Kunst, dort gelang es mir, daß hohe Meister sich meiner annahmen und den Funken. der in mir glühte, nährten mit lebendigem Feuer. So kam es, daß ich mich bald aufschwang, daß meine Bilder berühmt wurden in ganz Italien und der mächtige Herzog von Florenz mich an seinen Hof zog. Damals wollte ich nichts wissen von deutscher Kunst und schwatzte, ohne eure Bilder gesehen zu haben, viel von der Trockenheit, von der schlechten Zeichnung, von der Härte curer Dürer, curer Cranache. Da brachte aber einst ein Bilderhändler ein Madonnenbildchen von dem alten Albrecht in die Galerie des Herzogs, welches auf wunderbare Weise mein Innerstes durchdrang, so daß ich meinen Sinn ganz abwandte von der Üppigkeit der italischen Bilder und zur Stunde beschloß, in dem heimatlichen Deutschland selbst die Meisterwerke zu schauen, auf die nun mein ganzes Trachten ging. Ich kam hieher nach Nürnberg, und als ich Rosa erblickte, war es mir, als wandle jene Maria, die so wunderbar in mein Inneres geleuchtet, leibhaftig auf Erden. Mir ging es so wie dir, lieber Friedrich, mein ganzes Wesen loderte auf in hellen Liebesflammen. Nur Rosa schauen, dachte ich, alles übrige war aus meinem Sinn verschwunden und selbst die Kunst mir nur deshalb was wert, weil ich hundertmal immer wieder und wieder Rosa zeichnen, malen konnte. Ich gedachte mich der Jungfrau zu nahen nach kecker italischer Weise, all mein Mühen deshalb blieb aber vergebens. Es gab kein Mittel, sich in Meister Martins Hause bekannt zu machen auf unverfängliche Weise. Ich gedachte endlich geradezu mich um Rosa als Freier zu bewerben, da vernahm ich, daß Meister Martin beschlossen, seine Tochter nur einem tüchtigen Küpermeister zu geben. Da faßte ich den abenteuerlichen Entschluß, in Straßburg das Küperhandwerk zu erlernen und mich dann in Meister Martins Werkstatt zu begeben. Das übrige überließ ich der Fügung des Himmels. Wie ich meinen Entschluß ausgeführt, weißt du, aber erfahren mußt du noch, daß Meister Martin mir vor einigen Tagen gesagt hat, ich würd ein tüchtiger Küper werden und solle ihm als Eidam recht lieb und wert sein, denn er merke wohl, daß ich mich um Rosas Gunst bemühe und sie mich gern habe." — "Kann es denn wohl anders sein", rief Friedrich in heftigem Schmerz, "ja, ja, dein wird Rosa werden, wie konnte auch ich Ärmster auf solch ein Glück nur hoffen." — "Du vergissest", sprach Reinhold weiter, "du vergissest, mein Bruder, daß Rosa selbst noch gar nicht das bestätigt hat, was der schlaue Meister Martin bemerkt haben will. Es ist wahr, daß Rosa sich bis jetzt gar anmutig und freundlich betrug, aber anders verrät sich ein hebend Herz! — Versprich mir, mein Bruder, dich noch drei Tage ruhig zu verhalten und in der Werkstatt zu arbeiten wie sonst. Ich könnte nun schon auch wieder arbeiten, aber seit ich emsiger an diesem Bilde gemalt, ekelt mich das schnöde Handwerk da draußen unbeschreiblich an. Ich kann fürder keinen Schlägel mehr in die Faust nehmen, mag es auch nun kommen, wie es will. Am dritten Tage will ich dir offen sagen, wie es mit mir und Rosa steht. Sollte ich wirklich der Glückliche sein, dem Rosa in Liebe sich zugewandt, so magst du fortziehen und erfahren, daß die Zeit auch die tiefsten Wunden heut — Friedrich versprach, sein Schicksal abzuwarten.

Am dritten Tage (sorglich hatte Friedrich Rosas Anblick vermieden) bebte ihm das Herz vor Furcht und banger Erwartung. Er schlich wie träumend in der Werkstatt umher, und wohl mochte sein Ungeschick dem Meister Martin gerechten Anlaß geben, mürrisch zu schelten, wie es sonst gar nicht seine Art war. Überhaupt schien dem Meister etwas begegnet zu sein, das ihm alle Lust benommen. Er sprach viel von schnöder List und Undankbarkeit, ohne sich deutlicher zu erklären, was er damit meine. Als es endlich Abend geworden und Friedrich zurückging nach der Stadt, kam ihm unfern des Tors ein Reiter entgegen, den er für Reinhold erkannte. Sowie Reinhold Friedrich ansichtig wurde, rief er: "Ha, da treffe ich dich ja, wie ich wollte." Darauf sprang er vom Pferde herab, schlang die Zügel um den Arm und faßte den Freund bei der Hand. "Laß uns", sprach er, "laß uns eine Strecke miteinander fortwandeln. Nun kann ich dir sagen, wie es mit meiner Liebe sich gewandt hat." Friedrich bemerkte, daß Reinhold dieselben Kleider, die er beim ersten Zusammentreffen trug, angelegt und das Pferd mit einem Mantelsack bepackt hatte. Er sah blaß und verstört aus. "Glück auf", rief Reinhold etwas wild, "Glück auf, Bruderherz, du kannst nun tüchtig loshämmern auf deine Fässer, ich räume dir den Platz, eben hab ich Abschied genommen von der schönen Rosa und dem würdigen Meister Martin." — "Wie", sprach Friedrich, dem es durch alle Glieder fuhr wie ein elektrischer Strahl, "wie, du willst fort, da Martin dich zum Eidam haben will und Rosa dich liebt?" — "Das. lieber Bruder", erwiderte Reinhold, "hat dir deine Eifersucht nur vorgeblendet. Es liegt nun am Tage, daß Rosa mich genommen hätte zum Mann aus lauter Frömmigkeit und Gehorsam, aber kein Funke von Liebe glüht in ihrem, eiskalten Herzen. Ha, ha! — ich hätte ein tüchtiger Küper werden

können. Wochentags mit den Jungen Bände geschabt und Dauben behobelt, sonntags mit der ehrbaren Hausfrau nach St. Katharina oder St. Sebald und abends auf die Allerwiese gewandelt, jahraus, jahrein." — "Spotte nicht", unterbrach Friedrich den laut auflachenden Reinhold, "spotte nicht über das einfache harmlose Leben des tüchtigen Bürgers. Liebt dich Rosa wirklich nicht, so ist es ja nicht ihre Schuld, du bist aber so zornig, so wild." — "Du hast recht", sprach Reinhold, "es ist auch nur meine dumme Art, daß ich, fühle ich mich verletzt, lärme wie ein verzogenes Kind. Du kannst denken, daß ich mit Rosa von meiner Liebe und von dem guten Willen des Vaters sprach. Da stürzten ihr die Tränen aus den Augen, ihre Hand zitterte in der meinigen. Mit abgewandtem Gesicht lispelte sie: ,Ich muß mich ja in des Vaters Willen fügen!' — ich hatte genug. — Mein seltsamer Ärger muß dich, lieber Friedrich, recht in mein Inneres blicken lassen, du mußt gewahren, daß das Ringen nach Rosas Besitz eine Täuschung war, die mein irrer Sinn sich bereitet. Als ich Rosas Bild vollendet, ward es in meinem Innern ruhig, und oft war freilich auf ganz verwunderliche Art mir so zumute, als sei Rosa nun das Bild. das Bild aber die wirkliche Rosa geworden. Das schnöde Handwerk wurde mir abscheulich, und wie mir das gemeine Leben so recht auf den Hals trat mit Meisterwerden und Heirat, da kam es mir vor, als solle ich ins Gefängnis gesperrt und an den Block festgekettet werden. Wie kann auch nur das Himmelskind, wie ich es im Herzen trage, mein Weib werden? Nein! in ewiger Jugend, Anmut und Schönheit soll sie in Meisterwerken prangen, die mein reger Geist schaffen wird. Ha, wie sehne ich mich darnach! wie konnt ich auch nur der göttlichen Kunst abtrünnig werden! — bald werd ich mich wieder baden in deinen glühenden Düften, herrliches Land, du Heimat aller Kunst!" — Die Freunde waren an den Ort gekommen, wo der Weg, den Reinhold zu nehmen gedachte, links sich abschied. "Hier wollen wir uns trennen", rief Reinhold, drückte Friedrich heftig und lange an seine Brust, schwang sich aufs Pferd und jagte davon. Sprachlos starrte ihm Friedrich nach und schlich dann, von den seltsamsten Gefühlen bestürmt, nach Hause.

Wie Friedrich vom Meister Martin aus der Werkstatt fortgejagt wurde

Andern Tages arbeitete Meister Martin in mürrischem Stillschweigen an dem großen Fasse für den Bischof von Bamberg, und auch Friedrich, der nun erst Reinholds Scheiden recht bitter fühlte, vermochte kein Wort, viel weniger ein Lied herauszubringen. Endlich warf Martin den Schlägel beiseite, schlug die Arme übereinander und sprach mit gesenkter Stimme: "Der Reinhold ist nun auch fort - es war ein vornehmer Maler und hat mich zum Narren gehalten mit seiner Küperei. — Hätt ich das nur ahnen können, als er mit dir in mein Haus kam und so anstellig tat, wie hätte ich ihm die Tür weisen wollen. Solch ein offnes ehrliches Gesicht und voll Lug und Trug im Innern! — Nun, er ist fort, und nun wirst du mit Treue und Redlichkeit an mir und am Handwerk halten. Wer weiß, auf welche Weise du mir noch nähertrittst. Wenn du ein tüchtiger Meister geworden und Rosa dich mag - nun, du verstehst mich und darfst dich mühen um Rosas Gunst." — Damit nahm er den Schlägel wieder zur Hand und arbeitete emsig weiter. Selbst wußte Friedrich nicht, wie es kam, daß Martins Worte seine Brust zerschnitten, daß eine seltsame Angst in ihm aufstieg und jeden Hoffnungsschimmer verdüsterte. Rosa erschien nach langer Zeit zum erstenmal wieder in der Werkstatt, aber tief in sich gekehrt und, wie Friedrich zu seinem Gram bemerkte, mit rotverweinten Augen. Sie hat um ihn geweint, sie liebt ihn doch wohl, so sprach es in seinem Innern, und er vermochte nicht den Blick aufzuheben zu der, die er so unaussprechlich liebte.

Das große Faß war fertig geworden, und nun erst wurde Meister Martin, als er das wohlgelungene Stück Arbeit betrachtete,

wieder lustig und guter Dinge. "Ja, mein Sohn", sprach er, indem er Friedrich auf die Schulter klopfte, "ja, mein Sohn, es bleibt dabei, gelingt es dir, Rosas Gunst zu erwerben, und fertigst du ein tüchtiges Meisterstück, so wirst du mein Eidam. Und zur edlen Zunft der Meistersinger kannst du dann auch treten und dir große Ehre gewinnen."

Meister Martins Arbeit häufte sich nun über alle Maßen, so daß er zwei Gesellen annehmen mußte, tüchtige Arbeiter, aber rohe Bursche, ganz entartet auf langer Wanderschaft. Statt manches anmutig lustigen Gesprächs hörte man jetzt in Meister Martins Werkstatt gemeine Späße, statt der lieblichen Gesänge Reinholds und Friedrichs häßliche Zotenlieder. Rosa vermied die Werkstatt, so daß Friedrich sie nur selten und flüchtig sah. Wenn er dann in trüber Sehnsucht sie anschaute, wenn er seufzte: "Ach, liebe Rosa, wenn ich doch nur wieder mit Euch reden könnte, wenn Ihr wieder so freundlich wäret als zu der Zeit, da Reinhold noch bei uns war", da schlug sie verschämt die Augen nieder und lispelte: "Habt Ihr mir denn was zu sagen, lieber Friedrich?" — Starr, keines Wortes mächtig, stand Friedrich dann da, und der schöne Augenblick war schnell entflohn wie ein Blitz, der aufleuchtet im Abendrot und verschwindet, als man ihn kaum gewahrt.

Meister Martin bestand nun darauf, daß Friedrich sein Meisterstück beginnen sollte. Er hatte selbst das schönste reinste Eichenholz, ohne die mindesten Adern und Streifen, das schon über fünf Jahre im Holzvorrat gelegen, ausgesucht, und niemand sollte Friedrichen bei der Arbeit zur Hand gehen als der alte Valentin. War indessen dem armen Friedrich durch die Schuld der rohen Gesellen das Handwerk immer mehr und mehr verleidet worden, so schnürte es ihm jetzt die Kehle zu, wenn er daran dachte, daß nun das Meisterstück auf immer über sein Leben entscheiden solle. Jene seltsame Angst, die in ihm aufstieg, als Meister Martin seine treue Anhänglichkeit an das Handwerk rühmte, gestaltete sich nun auf furchtbare Weise immer deutlicher und deutlicher.

Er wußte es nun, daß er untergehen werde in Schmach bei einem Handwerk, das seinem von der Kunst ganz erfüllten Gemüt von Grund aus widerstrebte. Reinhold, Rosas Gemälde kam ihm nicht aus dem Sinn. Aber seine Kunst erschien ihm auch wieder in voller Glorie. Oft, wenn das zerreißende Gefühl seines erbärmlichen Treibens ihn während der Arbeit übermannen wollte, rannte er, Krankheit vorschützend, fort und hin nach St. Sebald. Da betrachtete er stundenlang Peter Vischers wundervolles Monument und rief dann wie verzückt: "0 Gott im Himmel. solch ein Werk zu denken -auszuführen, gibt es denn auf Erden Herrlicheres noch?" Und wenn er nun zurückkehren mußte zu seinen Dauben und Bänden und daran dachte, daß nur so Rosa zu erwerben, dann war es, als griffen glühende Krallen hinein in sein blutendes Herz und er müsse trostlos vergehen in der ungeheuern Qual. In Träumen kam oft Reinhold und brachte ihm seltsame Zeichnungen zu künstlicher Bildereiarbeit, in der Rosas Gestalt auf wunderbare Weise, bald als Blume, bald als Engel mit Flügelein, verflochten war. Aber es fehlte was daran, und er erschaute, daß Reinhold in Rosas Gestaltung das Herz vergessen, welches er nun hinzuzeichnete. Dann war es, als rührten sich alle Blumen und Blätter des Werks, singend und süße Düfte aushauchend, und die edlen Metalle zeigten ihm in funkelndem Spiegel Rosas Bildnis; als strecke er die Arme sehnsüchtig aus nach der Geliebten, als verschwände das Bildnis wie in düsterm Nebel: und sie selbst, die holde Rosa, drücke ihn voll seligen Verlangens an die liebende Brust. —Tötender und tötender wurde sein Zustand bei der heillosen Böttcherarbeit, da suchte er Trost und Hülfe bei seinem alten Meister Johannes Holzschuer. Der erlaubte, daß Friedrich in seiner Werkstatt ein Werklein beginnen durfte, das er erdacht und wozu er seit langer Zeit den Lohn des Meister Martin erspart hatte, um das dazu nötige Silber und Gold anschaffen zu können. So geschah es, daß Friedrich, dessen totenbleiches Gesicht das Vorgeben, wie er von einer zehrenden Krankheit befallen, glaublich machte, beinahe gar nicht in der Werkstatt arbeitete und Monate vergingen, ohne daß er sein Meisterstück, das große zweifudrige Faß, nur im mindesten förderte. Meister Martin setzte ihm hart zu, daß er doch wenigstens so viel, als es seine Kräfte erlauben wollten, arbeiten möge, und Friedrich war freilich gezwungen, wieder einmal an den verhaßten Haublock zu gehen und das Lenkbeil zur Hand zunehmen. Indem er arbeitete, trat Meister Martin hinzu und betrachtete die bearbeiteten Stäbe, da wurde er aber ganz rot im Gesicht und rief: "Was ist das? — Friedrich, welche Arbeit! hat die Stäbe ein Geselle gelenkt, der Meister werden will, oder ein einfältiger Lehrbursche, der vor drei Tagen in die Werkstatt hineingerochen? — Friedrich, besinne dich, welch ein Teufel ist in dich gefahren und hudelt dich? — mein schönes Eichenholz. das Meisterstück! ei, du ungeschickter, unbesonnener Bursche." Überwältigt von allen Qualen der Hölle, die in ihm brannten, konnte Friedrich nicht länger an sich halten, er warf das Lenkbeil weit von sich und rief: "Meister! — es ist nun alles aus -nein, und wenn es mir das Leben kostet, wenn ich vergehen soll in namenlosem Elend - ich kann nicht mehr - nicht mehr arbeiten im schnöden Handwerk, da es mich hinzieht zu meiner herrlichen Kunst mit unwiderstehlicher Gewalt. Ach, ich liebe Eure Rosa unaussprechlich, wie sonst keiner auf Erden es vermag - nur um ihretwillen habe ich ja hier die gehässige Arbeit getrieben - ich habe sie nun verloren, ich weiß es, ich werde auch bald dem Gram um sie erliegen, aber es ist nicht anders, ich kehre zurück zu meiner herrlichen Kunst, zu meinem würdigen alten Meister Johannes Holzschuer, den ich schändlich verlassen." Meister Martins Augen funkelten wie flammende Kerzen. Kaum der Worte mächtig vor Wut, stotterte er: "Was? — auch du? — Lug und Trug? mich hintergangen - schnödes Handwerk? —Küperei? —fort aus meinen Augen, schändlicher Bursche - fort mit dir!" — Und damit packte Meister Martin den armen Friedrich bei den Schultern und warf ihn zur Werkstatt hinaus. Das Hohngelächter der rohen Gesellen und der Lehrburschen folgte ihm nach. Nur der alte Valentin faltete die Hände, sah gedankenvoll vor sich hin und sprach: "Gemerkt hab ich wohl, daß der gute Gesell Höheres im Sinn trug als unsre Fässer." Frau Marthe weinte sehr, und ihre Buben schrien und jammerten um Friedrich, der mit ihnen freundlich gespielt und manches gute Stück Backwerk ihnen zugetragen hatte.

Beschluß

So zornig nun auch Meister Martin auf Reinhold und Friedrich sein mochte, gestehen mußte er doch sich selbst, daß mit ihnen alle Freude, alle Lust aus der Werkstatt gewichen. Von den neuen Gesellen erfuhr er täglich nichts als Ärgernis und Verdruß. Um jede Kleinigkeit mußte er sich kümmern und hatte Mühe und Not, daß nur die geringste Arbeit gefördert wurde nach seinem Sinn. Ganz erdrückt von den Sorgen des Tages, seufzte er dann oft: "Ach, Reinhold, ach, Friedrich, hättet ihr doch mich nicht so schändlich hintergangen, wäret ihr doch nur tüchtige Küper geblieben!" Es kam so weit, daß er oft mit dem Gedanken kämpfte, alle Arbeit gänzlich aufzugeben.

In solch düsterer Stimmung saß er einst am Abend in seinem Hause, als Herr Jakobus Paumgartner und mit ihm Meister Johannes Holzschuer ganz unvermutet eintraten. Er merkte wohl, daß nun von Friedrich die Rede sein würde, und in der Tat lenkte Herr Paumgartner sehr bald das Gespräch auf ihn, und Meister Holzschuer fing denn nun gleich an, den Jüngling auf alle nur mögliche Art zu preisen. Er meinte, gewiß sei es, daß bei solchem Fleiß, bei solchen Gaben Friedrich nicht allein ein trefflicher Goldschmied werden, sondern auch als herrlicher Bildgießer geradezu in Peter Vischers Fußtapfen treten müßte. Nun begann Herr Paumgartner heftig über das unwürdige Betragen zu schelten, das der arme Gesell von Meister Martin erlitten, und beide drangen darauf, daß, wenn Friedrich ein tüchtiger

Goldschmied und Bildgießer geworden, er ihm Rosa, falls nämlich diese dem von Liebe ganz durchdrungenen Friedrich hold sei, zur Hausfrau geben solle. Meister Martin ließ beide ausreden, dann zog er sein Käpplein ab und sprach lächelnd: "Ihr lieben Herren nehmt euch des Gesellen wakker an, der mich auf schändliche Weise hintergangen hat. Doch will ich ihm das verzeihen, verlangt indessen nicht, daß ich um seinetwillen meinen festen Entschluß ändere, mit Rosa ist es nun einmal ganz und gar nichts." In diesem Augenblick trat Rosa hinein, leichenblaß, mit verweinten Augen, und setzte schweigend Trinkgläser und Wein auf den Tisch. "Nun", begann Herr Holzschuer, "nun, so muß ich denn wohl dem armen Friedrich nachgeben, der seine Heimat verlassen will auf immer. Er hat ein schönes Stück Arbeit gemacht bei mir, das will er, wenn Ihr es, lieber Meister. erlaubt, Eurer Rosa verehren zum Gedächtnis, schaut es nur an." Damit holte Meister Holzschuer einen kleinen, überaus künstlich gearbeiteten silbernen Pokal hervor und reichte ihn dem Meister Martin hin, der, großer Freund von köstlicher Gerätschaft, ihn nahm und wohlgefällig von allen Seiten beäugelte. In der Tat konnte man auch kaum herrlichere Silberarbeit sehen als ebendies kleine Gefäß. Zierliche Ranken von Weinblättern und Rosen schlangen sich ringsherum, und aus den Rosen, aus den brechenden Knospen schauten liebliche Engel, so wie inwendig auf dem vergoldeten Boden sich anmutig liebkosende Engel graviert waren. Goß man nun hellen Wein in den Pokal, so war es, als tauchten die Engelein auf und nieder in lieblichem Spiel. "Das Gerät", sprach Meister Martin, "ist in der Tat gar zierlich gearbeitet, und ich will es behalten, wenn Friedrich in guten Goldstücken den zwiefachen Wert von mir annimmt." Dies sprechend, füllte Meister Martin den Pokal und setzte ihn an den Mund. In demselben Augenblick öffnete sich leise die Tür, und Friedrich, den tötenden Schmerz ewiger Trennung von dem Liebsten auf Erden im leichenblassen Antlitz, trat in dieselbe. Sowie Rosa ihn gewahrte, schrie sie laut auf mit schneidendem Ton: "0 mein liebster Friedrich!" und stürzte ihm halb entseelt an die Brust. Meister Martin setzte den Pokal ab, und als er Rosa in Friedrichs Armen erblickte, riß er die Augen weit auf, als säh er Gespenster. Dann nahm er sprachlos den Pokal wieder und schaute hinein. Dann raffte er sich vom Stuhl in die Höhe und rief mit starker Stimme: "Rosa - Rosa, liebst du den Friedrich?" — "Ach", lispelte Rosa, "ach, ich kann es ja nicht länger verhehlen, ich liebe ihn wie mein Leben, das Herz wollte mir ja brechen, als Ihr ihn verstießet." — "So umarme deine Braut, Friedrich - ja, ja, deine Braut", rief Meister Martin. Paumgartner und Holzschuer schauten sich, ganz verwirrt vor Erstaunen, an, aber Meister Martin sprach weiter, den Pokal in den Händen: "0 du Herr des Himmels. ist denn nicht alles so gekommen, wie die Alte es geweissagt? ,Ein glänzend Häuslein wird er bringen, würz'ge Fluten treiben drin, blanke Englein gar lustig singen - das Häuslein mit güldnem Prangen, der hat's ins Haus getragn, den wirst du süß umfangen, darfst nicht den Vater fragn, ist dein Bräut'gam minniglich!' —- Oh, ich blöder Tor. — Da ist das glänzende Häuslein, die Engel - der Bräut'gam - hei, hei, ihr Herren, nun ist alles gut, alles gut, der Eidam ist gefunden

Wessen Sinn jemals ein böser Traum verwirrte, daß er glaubte in tiefer schwarzer Grabesnacht zu liegen, und nun erwacht er plötzlich im hellen Frühling voll Duft, Sonnenglanz und Gesang, und die, die ihm die Liebste auf Erden, ist gekommen und hat ihn umschlungen, und er schaut in den Himmel ihres holden Antlitzes, wem das jemals geschah, der begreift es, wie Friedrich zumute war, der faßt seine überschwengliche Seligkeit. Keines Wortes mächtig, hielt er Rosa fest in seinen Armen, als wolle er sie nimmer lassen, bis sie sich sanft von ihm loswand und ihn hinführte zum Vater. Da rief er: "0 mein lieber Meister, ist es denn auch wirklich so? Rosa gebt Ihr mir zur Hausfrau, und ich darf zurückkehren zu meiner Kunst?" —"Ja, ja", sprach Meister Martin, "glaube es doch nur, kann ich denn anders tun,

da du die Weissagung der alten Großmutter erfüllt hast? — Dein Meisterstück bleibt nun liegen." Da lächelte Friedrich, ganz verklärt von Wonne, und sprach: "Nein, lieber Meister, ist es Euch recht, so vollende ich nun mit Lust und Mut mein tüchtiges Faß als meine letzte Küperarbeit und kehre dann zurück zum Schmelzofen." — "0 du mein guter braver Sohn", rief Meister Martin, dem die Augen funkelten vor Freude, "ja, dein Meisterstück fertige, und dann gibt's Hochzeit."

Friedrich hielt redlich sein Wort, er vollendete das zweifudrige Faß, und alle Meister erklärten, ein schöneres Stück Arbeit sei nicht leicht gefertigt worden, worüber dann Meister Martin gar innig sich freute und überhaupt meinte, einen trefflicheren Eidam hätte ihm die Fügung des Himmels gar nicht zuführen können.

Der Hochzeitstag war endlich herangekommen, Friedrichs Meisterfaß, mit edlem Wein gefüllt und mit Blumen bekränzt, stand auf dem Flur des Hauses aufgerichtet, die Meister des Gewerks, den Ratsherrn Jakobus Paumgartner an der Spitze, fanden sich ein mit ihren Hausfrauen, denen die Meister Goldschmiede folgten. Eben wollte sich der Zug nach der St.-Sebaldus-Kirche begeben, wo das Paar getraut werden sollte, als Trompetenschall auf der Straße erklang und vor Martins Hause Pferde wieherten und stampften. Meister Martin eilte an das Erkerfenster. Da hielt vordem Hause Herr Heinrich von Spangenberg in glänzenden Festkleidern und einige Schritte hinter ihm auf einem mutigen Rosse ein junger hochherrlicher Ritter, das funkelnde Schwert an der Seite, hohe bunte Federn auf dem mit strahlenden Steinen besetzten Barett. Neben dem Ritter erblickte Herr Martin eine wunderschöne Dame, ebenfalls herrlich gekleidet, auf einem Zelter, dessen Farbe frisch gefallner Schnee war. Pagen und Diener in bunten glänzenden Röcken bildeten einen Kreis ringsumher. Die Trompeten schwiegen, und der alte Herr von Spangenberg rief herauf: "Hei, hei, Meister Martin, nicht Eures Weinkellers, nicht

Eurer Goldbatzen halber komme ich her, nur weil Rosas Hochzeit ist: wollt Ihr mich einlassen, lieber Meister?" — Meister Martin erinnerte sich wohl seiner Worte, schämte sich ein wenig und eilte herab, den Junker zu empfangen. Der alte Herr stieg vom Pferde und trat grüßend ins Haus. Pagen sprangen herbei, auf deren Armen die Dame herabglitt vom Pferde, der Ritter bot ihr die Hand und folgte dem alten Herrn. Aber sowie Meister Martin den jungen Ritter anblickte, prallte er drei Schritte zurück, schlug die Hände zusammen und rief: "0 Herr des Himmels! — Konrad!" — Der Ritter sprach lächelnd: "Ja wohl, lieber Meister, bin ich Euer Geselle Konrad. Verzeiht mir nur die Wunde, die ich Euch beigebracht. Eigentlich, lieber Meister, mußt ich Euch totschlagen, das werdet Ihr wohl einsehen, aber nun hat sich ja alles ganz anders gefügt." Meister Martin erwiderte ganz verwirrt, es sei doch besser, daller nicht totgeschlagen worden, aus dem bißchen Ritzen mit dem Lenkbeil habe er sich gar nichts gemacht. Als Martin nun mit den neuen Gästen eintrat in das Zimmer, wo die Brautleute mit den übrigen versammelt waren, geriet alles in ein frohes Erstaunen über die schöne Dame, die der holden Braut so auf ein Haar glich, als sei es ihre Zwillingsschwester. Der Ritter nahte sich mit edlem Anstande der Braut und sprach: "Erlaubt, holde Rosa, daß Konrad Euerm Ehrentag beiwohne. Nicht wahr, Ihr zürnt nicht mehr auf den wilden unbesonnenen Gesellen, der Euch beinahe großes Leid bereitet?" Als nun aber Braut und Bräutigam und der Meister Martin sich ganz verwundert und verwirrt anschauten, rief der alte Herr von Spangenberg: "Nun, nun, ich muß euch wohl aus dem Traum helfen. Das ist mein Sohn Konrad, und hier möget ihr seine liebe Hausfrau, so wie die holde Braut Rosa geheißen, schauen. Erinnert Euch, Meister Martin, unsers Gesprächs. Als ich Euch frug, ob Ihr auch meinem Sohne Eure Rosa verweigern würdet, das hatte wohl einen besonderen Grund. Ganz toll war der Junge in Eure Rosa verliebt, er brachte mich zu dem Entschluß, alle Rücksicht aufzugeben, ich wollte den Freiwerber machen. Als ich ihm aber sagte, wie schnöde Ihr mich abgefertigt, schlich er sich auf ganz unsinnige Weise bei Euch ein als Küper, um Rosas Gunst zu erwerben und sie Euch dann wohl gar zu entführen. Nun! — Ihr habt ihn geheilt mit dem tüchtigen Hiebe übern Rücken! — Habt Dank dafür, zumal er ein edles Fräulein fand, die wohl am Ende die Rosa sein mochte, die eigentlich in seinem Herzen war von Anfang an."

Die Dame hatte unterdessen mit anmutiger Milde die Braut begrüßt und ihr ein reiches Perlenhalsband als Hochzeitsgabe eingehängt. "Sieh, liebe Rosa", sprach sie dann, indem sie einen ganz verdorrten Strauß aus den blühenden Blumen, die an ihrer Brust prangten, hervorholte, "sieh, liebe Rosa, das sind die Blumen, die du einst meinem Konrad gabst als Kampfpreis, getreu hat er sie bewahrt, bis er mich sah, da wurd er dir untreu und hat sie mir verehrt, sei deshalb nicht böse!" Rosa, hohes Rot auf den Wangen, verschämt die Augen niederschlagend, sprach: "Ach, edle Frau, wie möget Ihr doch so sprechen, konnte denn wohl der Junker jemals mich armes Mägdlein lieben? Ihr allein wart seine Liebe, und weil ich nun eben auch Rosa heiße und Euch, wie sie hier sagen, etwas ähnlich sehen soll, warb er um mich, doch nur Euch meinend."

Zum zweitenmal wollte sich der Zug in Bewegung setzen, als ein Jüngling eintrat, auf italische Weise ganz in schwarzen, gerissenen Samt gekleidet, mit zierlichern Spitzenkragen, und reiche goldene Ehrenketten um den Hals gehängt. .0 Reinhold, mein Reinhold". schrie Friedrich und stürzte dem Jüngling an die Brust. Auch die Braut und Meister Martin riefen und jauchzten: "Reinhold, unser wackrer Reinhold ist gekommen." — "Hab ich's dir nicht gesagt", sprach Reinhold, die Umarmung feurig erwidernd, "hab ich's dir nicht gesagt, mein herzlieber Freund, daß sich noch alles gar herrlich für dich fügen könnte? —Laß mich deinen Hochzeitstag mit dir feiern, weit komm ich deshalb her, und zum ewigen Gedächtnis häng das Gemälde in deinem Hause

auf, das ich für dich gemalt und dir mitgebracht." Damit rief er heraus, und zwei Diener brachten ein großes Bild in einem prächtigen goldnen Rahmen hinein, das den Meister Martin in seiner Werkstatt mit seinen Gesellen Reinhold, Friedrich und Konrad darstellte, wie sie an dem großen Faß. arbeiten und die holde Rosa eben hineinschreitet. Alles geriet in Erstaunen über die Wahrheit, über die Farbenpracht des Kunstwerks. "Ei", sprach Friedrich lächelnd, "das ist wohl dein Meisterstück als Küper, das meinige liegt dort unten im Flur, aber bald schaff ich ein anderes." — "Ich weiß alles", erwiderte Reinhold, "und preise dich glücklich; Halt nur fest an deiner Kunst, die auch wohl mehr Hauswesen und dergleichen leiden mag als die meinige."

Bei dem Hochzeitsmahl saß Friedrich zwischen den beiden Rosen, ihm gegenüber aber Meister Martin zwischen Konrad und Reinhold. Da füllte Herr Paumgartner Friedrichs Pokal bis an den Rand mit edlem Wein und trank auf das Wohl Meister Martins und seiner wackern Gesellen. Dann ging der Pokal herum, und zuerst der edle Junker Heinrich von Spangenberg, nach ihm aber alle ehrsamen Meister, wie sie zu Tische saßen, leerten ihn auf das Wohl Meister Martins und seiner wackern Gesellen.



Die Freunde waren, als Sylvester geendet, darüber einig, daß die Erzählung des Serapionsklubs würdig sei, und rühmten vorzüglich den gemütlichen Ton, der darin herrsche.

"Muß ich", sprach Lothar, "muß ich denn immer mäkeln? Aber es ist nicht anders, ich meine, daß der Meister Martin zu sehr seinen Ursprung verrät, nämlich daß er aus einem Bilde entstanden. Sylvester hat, angeregt durch das Gemälde unseres wackeren Kolbe, eine feine Galerie anderer Gemälde aufgestellt, zwar mit lebhaften Farben, aber es bleiben doch nur Bilder, die niemals Situationen in lebendiger Bewegung werden können, wie sie die Erzählung des Drama verlangt. Konrad mit seiner Rosa sowie Reinhold kommen

zuletzt doch nur lediglich hinzu, damit Friedrichs Hochzeittafel recht anmutig und glänzend anzuschauen sein möge. —. Überhaupt, was den Konrad betrifft, würd ich, kennt ich nicht dein unbefangenes Gemüt, Sylvester, hättest du nicht in deiner ganzen Erzählung dich mit gutem Erfolg bemüht, treu und ehrlich zu bleiben - ja! da würd ich glauben, du hättest mit deinem Konrad jene wunderlichen Personen ironieren wollen, die, ein Gemisch von Tölpelei, Galanterie, Barbarei und Empfindsamkeit, in manchen von unseren neuen Romanen Hauptrollen spielen. Leute, die sich Ritter nennen, von denen es aber, glaub ich, ebensowenig jemals ein Urbild gegeben als von jenen Bramarbassen, die sonst Veit Weber und seine Nachfolger alles ohne weiteres kurz und klein schlagen ließen." — "Die Berserkerwut", unterbrach Vinzenz den Freund, "hast du, o Sylvester! aber mit vielem Glück eintreten lassen, doch ist und bleibt es unverzeihlich, daß du wirklich einen adligen Rücken mit einem Tonnenreif zerbleuen lässest, ohne daß der abgebleuete Ritter dem schnöden Prügelanten den Kopf spaltet. Nachher hätte er den Verwundeten höflich um Verzeihung bitten oder ihn gar mit einem Arkanum bedienen können, das den Kopf augenblicklich zusammengezogen, woran er nachher merklichen Verstand gespürt! — Der einzige Mann, auf den du dich einigermaßen berufen kannst, ist der berühmte mannhafte Ritter Don Quixote, der, seiner Tapferkeit, Großmut, Galanterie unbeschadet, ungemein viel Prügel erhielt."

"Tadelt nur", rief Sylvester lachend, "tadelt nur frisch zu, ich gebe mich ganz in eure Hände, aber daß ihr's nur wißt, Trost finde ich bei den holden Frauen, denen ich meinen ,Meister Martin' mitteilte und die über die ganze Gestaltung recht inniges Wohlgefallen aussprachen und mich mit Lob überhäuften."

"Solches Lob", sprach Ottmar, "von schönen Lippen ist ganz unwiderstehlich und kann manchen Romantiker zu allerlei absonderlichen Torheiten und geschriebenen tollen Sprüngen verleiten. Doch irr ich nicht, so versprach Lothar,

unseren heutigen Abend mit irgendeinem Erzeugnis seiner phantastischen Träumerei zu beschließen."

"So ist es", erwiderte Lothar. "Erinnert euch, daß ich es unternehmen wollte, für die Kinder meiner Schwester ein zweites Märchen zu schreiben und weniger in phantastischem Übermut zu luxurieren, frömmer, kindlicher zu sein als im ,Nußknacker und Mausekönig'. Das Märchen ist fertig, ihr sollt es hören." Lothar las:


Das fremde Kind


Der Herr von Brakel auf Brakelheim

Es war einmal ein Edelmann, der hieß Thaddäus von Brakel und wohnte in dem kleinen Dörfchen Brakelheim, das er von seinem verstorbenen Vater, dem alten Herrn von Brakel, geerbt hatte und das mithin sein Eigentum war. Die vier Bauern, die außer ihm noch in dem Dörfchen wohnten, nannten ihn den gnädigen Herrn, unerachtet er wie sie mit schlicht ausgekämmten Haaren einherging und nur sonntags, wenn er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern, Felix und Christlieb geheißen, nach dem benachbarten großen Dorfe zur Kirche fuhr, statt der groben Tuchjacke, die er sonst trug, ein feines grünes Kleid und eine rote Weste mit goldenen Tressen anlegte, welches ihm recht gut stand. Ebendieselben Bauern pflegten auch, fragte man sie: "Wo komme ich denn hin zum Herrn von Brake!?", jedesmal zu antworten: "Nur immer vorwärts durch das Dorf den Hügel herauf, wo die Birken stehen, da ist des gnädigen Herrn sein Schloß!"Nun weiß doch aber jedermann, daß ein Schloß ein großes hohes Gebäude sein muß mit vielen Fenstern und Türen, ja wohl gar mit Türmen und funkelnden Windfahnen, von dem allen war aber auf dem Hügel mit den Birken gar nichts zu spüren, vielmehr stand da nur ein niedriges Häuschen mit wenigen kleinen Fenstern, das man

kaum früher, als dicht davor angekommen, erblicken konnte. Geschieht es aber wohl, daß man vor dem hohen Tor eines großen Schlosses plötzlich stillsteht und, angehaucht von der herausströmenden eiskalten Luft, angestarrt von den toten Augen der seltsamen Steinbilder, die wie grauliche Wächter sich an die Mauer lehnen, alle Lust verliert hineinzugehen, sondern lieber umkehrt, so war das bei dem kleinen Hause des Herrn Thaddäus von Brakel ganz und gar nicht der Fall. Hatten nämlich schon im Wäldchen die schönen schlanken Birken mit ihren belaubten Ästen wie mit zum Gruß ausgestreckten Armen uns freundlich zugewinkt, hatten sie im frohen Rauschen und Säuseln uns zugewispert: "Willkommen, willkommen unter uns!", so war es denn nun vollends bei dem Hause. als riefen holde Stimmen aus den spiegelhellen Fenstern, ja überall aus dem dunklen dicken Weinlaube, das die Mauern bis zum Dach herauf bekleidete, süßtönend heraus: "Komm doch nur herein, komm doch nur herein, du lieber müder Wanderer, hier ist es gar hübsch und gastlich!" Das bestätigten denn auch die Nest hinein, Nest hinaus lustig zwitschernden Schwalben, und der alte stattliche Storch schaute ernst und klug vom Rauchfange herab und sprach: "Ich wohne nun schon manches liebe Jahr hindurch zur Sommerszeit hier, aber ein besseres Logement finde ich nicht auf Erden, und könnte ich nur die mir angeborne Reiselust bezwingen, wär's nur nicht zur Winterszeit hier so kalt und das Holz so teuer, niemals rührt ich mich von der Stelle." — So anmutig und hübsch, wenn auch gleich gar kein Schloß, war das Haus des Herrn von Brakel.

Der vornehme Besuch

Die Frau von Brakel stand eines Morgens sehr früh auf und buk einen Kuchen, zu dem sie viel mehr Mandeln und Rosinen verbrauchte als selbst zum Osterkuchen, weshalb er auch viel herrlicher geriet als dieser. Währenddessen klopfte und bürstete der Herr von Brake! seinen grünen Rock und

seine rote Weste aus, und Felix und Christlieb wurden mit den besten Kleidern angetan, die sie nur besaßen. "Ihr dürft", so sprach dann der Herr von Brakel zu den Kindern, "ihr dürft heute nicht herauslaufen in den Wald wie sonst, sondern müßt in der Stube ruhig sitzen bleiben, damit ihr sauber und hübsch ausseht, wenn der gnädige Herr Onkel kommt!" — Die Sonne war hell und freundlich aufgetaucht aus dem Nebel und strahlte golden hinein in die Fenster, im Wäldchen sauste der Morgenwind, und Fink und Zeisig und Nachtigall jubilierten durcheinander und schmetterten die lustigsten Liedchen. Christlieb saß still und in sich gekehrt am Tische: bald zupfte sie die roten Bandschleifen an ihrem Kleidchen zurecht, bald versuchte sie emsig fortzustricken, welches heute nicht recht gehen wollte. Felix, dem der Papa ein schönes Bilderbuch in die Hände gegeben, schaute über die Bilder hinweg nach dem schönen Birkenwäldchen, in dem er sonst jeden Morgen ein paar Stunden nach Herzenslust herumspringen durfte. "Ach, draußen ist's so schön", seufzte er in sich hinein, doch als nun vollends der große Hofhund, Sultan geheißen, klaffend und knurrend vor dem Fenster herumsprang, eine Strecke nach dem Walde hinlief, wieder umkehrte und aufs neue knurrte und bellte, als wolle er dem kleinen Felix zurufen: "Kommst du denn nicht heraus in den Wald? was machst du denn in der dumpfigen Stube?", da konnte sich Felix gar nicht lassen vor Ungeduld. "Ach, liebe Mama, laß mich doch nur ein paar Schritte hinausgehen!" So rief er laut, aber die Frau von Brake! erwiderte: "Nein, nein, bleibe nur fein in der Stube. Ich weiß schon, wie es geht, sowie du hinausläufst, muß Christlieb hinterdrein, und dann husch, husch durch Busch und Dorn, hinauf auf die Bäume! Und dann kommt ihr zurück, erhitzt und beschmutzt, und der Onkel sagt: ,Was sind das für häßliche Bauernkinder, so dürfen keine Brakels aussehen, weder große noch kleine."Felix klappte voll Ungeduld das Bilderbuch zu und sprach, indem ihm die Tränen in die Augen traten, kleinlaut: "Wenn der gnädige Herr Onkel von häßlichen Bauernkindern redet, so hat er wohl nicht Vollrads Peter oder Hentschels Annliese oder alle unsere Kinder hier im Dorfe gesehen, denn ich wüßte doch nicht, wie es hübschere Kinder geben sollte als diese." —"Jawohl", rief Christlieb, wie plötzlich aus einem Traume erwacht. "und ist nicht auch des Schulzen Grete ein hübsches Kind, wiewohl sie lange nicht solche schöne rote Bandschleifen hat als ich?" —"Sprecht nicht solch dummes Zeug", rief die Mutter halb erzürnt, "ihr versteht das nicht, wie es der gnädige Onkel meint." — Alle weitere Vorstellungen, wie es grade heute gar zu herrlich im Wäldchen sei, halfen nichts, Felix und Christlieb mußten in der Stube bleiben, und das war um so peinlicher, als der Gastkuchen, der auf dem Tische stand, die süßesten Gerüche verbreitete und doch nicht früher angeschnitten werden durfte, bis der Onkel angekommen. "Ach, wenn er doch nur käme, wenn er doch nur endlich käme!" so riefen beide Kinder und weinten beinahe vor Ungeduld. Endlich ließ sich ein starkes Pferdegetrappel vernehmen, und eine Kutsche fuhr vor, die so blank und mit goldenen Zieraten reich geschmückt war, daß die Kinder in das größte Erstaunen gerieten, denn sie hatten dergleichen noch gar nicht gesehen. Ein großer hagerer Mann glitt an den Armen des Jägers, der den Kutschenschlag geöffnet, heraus in die Arme des Herrn von Brakel, an dessen Wange er zweimal sanft die seinige legte und leise lispelte: "Bon jour, mein lieber Vetter, nun gar keine Umstände, bitte ich." Unterdessen hatte der Jäger noch eine kleine dicke Dame mit sehr roten Backen und zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, aus der Kutsche zur Erde hinabgleiten lassen, welches er sehr geschickt zu machen wußte, so daß jeder auf die Füße zu stehen kam. Als sie nun alle standen, traten, wie es ihnen von Vater und Mutter eingeschärft worden, Felix und Christlieb hinzu, faßten jeder eine Hand des langen hagern Mannes und sprachen, dieselbe küssend: "Sein Sie uns recht schön willkommen, lieber gnädiger Herr Onkel !", dann machten sie es mit den Händen der kleinen dicken Dame ebenso und sprachen: "Sein Sie uns recht schön willkommen, liebe gnädige Frau Tante!", dann traten sie zu den Kindern, blieben aber ganz verblüfft stehen, denn solche Kinder hatten sie noch niemals gesehen. Der Knabe trug lange Pumphosen und ein Jäckchen von scharlachrotem Tuch, über und über mit goldenen Schnüren und Tressen besetzt, und einen kleinen blanken Säbel an der Seite, auf dem Kopf aber eine seltsame rote Mütze mit einer weißen Feder, unter der er mit seinem blaßgelben Gesichtchen und den trüben schläfrigen Augen blöd und scheu hervorguckte. Das Mädchen hatte zwar ein weißes Kleidchen an wie Christlieb, aber mit erschrecklich viel Bändern und Spitzen, auch waren ihre Haare ganz seltsam in Zöpfe geflochten und spitz in die Höhe heraufgewunden, oben funkelte aber ein blankes Krönchen. Christlieb faßte sich ein Herz und wollte die Kleine bei der Hand nehmen, die zog aber die Hand schnell zurück und zog solch ein verdrießliches weinerliches Gesicht, daß Christlieb ordentlich davor erschrak und von ihr abließ. Felix wollte auch nur des Knaben schönen Säbel ein bißchen näher besehen und faßte darnach, aber der Junge fing an zu schreien: "Mein Säbel, mein Säbel, er will mir den Säbel nehmen!" und lief zum hagern Mann, hinter den er sich versteckte. Felix wurde darüber rot im Gesicht und sprach ganz erzürnt: "Ich will dir ja deinen Säbel nicht nehmen - dummer Junge!" Die letzten Worte murmelte er nur so zwischen den Zähnen, aber der Herr von Brakel hatte wohl alles gehört und schien sehr verlegen darüber zu sein, denn er knöpfelte an der Weste hin und her und rief: "Ei, Felix!" Die dicke Dame sprach: "Adelgundchen, Herrmann, die Kinder tun euch ja nichts, seid doch nicht so blöde"; der hagere Herr lispelte aber: "Sie werden schon Bekanntschaft machen", ergriff die Frau von Brakel bei der Hand und führte sie ins Haus, ihr folgte Herr von Brakel mit der dicken Dame, an deren Schleppkleid sich Adelgundchen und Herrmann hingen. Christlieb und Felix gingen hinterdrein. "Jetzt wird der Kuchen angeschnitten", flüsterte Felix der Schwester ins Ohr. "Ach ja, ach ja", erwiderte diese voll Freude. "Und dann laufen wir auf und davon in den Wald", fuhr Felix fort, "und bekümmern uns um die fremden blöden Dinger nicht", setzte Christlieb hinzu. Felix machte einen Luftsprung, so kamen sie in die Stube. Adelgunde und Herrmann durften keinen Kuchen essen, weil sie, wie die Eltern sagten, das nicht vertragen könnten, sie erhielten dafür jeder einen kleinen Zwieback, den der Jäger aus einer mitgebrachten Schachtel herausnehmen mußte. Felix und Christlieb bissen tapfer in das derbe Stück Kuchen, das die gute Mutter jedem gereicht, und waren guter Dinge.

Wie es weiter bei dem vornehmen Besuche herging

Der hagere Mann, Cyprianus von Brake! geheißen, war zwar der leibliche Vetter des Herrn Thaddäus von Brake!, indessen weit vornehmer als dieser. Denn außer dem, daß er den Grafentitel führte, trug er auch auf jedem Rock, ja sogar auf dem Pudermantel einen großen silbernen Stern. Deshalb hatte, als er schon ein Jahr früher, jedoch ganz allein, ohne die dicke Dame, die seine Frau war, und ohne die Kinder, bei dem Herrn Thaddäus von Brakel, seinem Vetter, auf eine Stunde einsprach, Felix ihn auch gefragt: "Hör mal, gnädiger Herr Onkel, du bist wohl König geworden?" Felix hatte nämlich in seinem Bilderbuche einen abgemalten König, der einen dergleichen Stern auf der Brust trug, und so mußte er wohl glauben, daß der Onkel nun auch König geworden sei, weil er das Zeichen trug. Der Onkel hatte damals sehr über die Frage gelacht und geantwortet: "Nein, mein Söhnchen, König bin ich nicht, aber des Königs treuster Diener und Minister, der über viele Leute regiert. Gehörtest du zu der Gräflich von Brakelschen Linie, so könntest du vielleicht auch künftig solch einen Stern tragen wie ich, aber so bist du freilich nur ein simpler ,Von', aus dem nicht viel Rechtes werden wird." Felix hatte den Onkel

gar nicht verstanden, und Herr Thaddäus von Brakel meinte, das sei auch gar nicht vonnöten. —Jetzt erzählte der Onkel seiner dicken Frau, wie ihn Felix für den König gehalten, da rief sie: "0 süße liebe rührende Unschuld!" Und nun mußten beide, Felix und Christlieb, hervor aus dem Winkel. wo sie unter Kichern und Lachen den Kuchen verzehrt hatten. Die Mutter säuberte beiden sogleich den Mund von manchen Kuchenkrumen und Rosinenresten und übergab sie so dem gnädigen Onkel und der gnädigen Tante, die sie unter lauten Ausrufungen: "0 süße liebe Natur! o ländliche Unschuld!" küßten und ihnen große Tüten in die Hände drückten. Dem Herrn Thaddäus von Brakel und seiner Frau standen die Tränen in den Augen über die Güte der vornehmen Verwandten. Felix hatte indessen die Tüte geöffnet und Bonbons darin gefunden, auf die er tapfer zubiß, welches ihm Christlieb sogleich nachmachte. "Söhnchen, mein Söhnchen", rief der gnädige Onkel, "so geht das nicht, du verdirbst dir ja die Zähne, du mußt fein so lange an dem Zuckerwerke lutschen, bis es im Munde zergeht." Da lachte aber Felix beinahe laut auf und sprach: "Ei, lieber gnädiger Onkel, glaubst du denn, daß ich ein kleines Wickelkind bin und lutschen muß, weil ich noch keine tüchtige Zähne habe zum Beißen?" Und damit steckte er ein neues Bonbon in den Mund und biß so gewaltig zu, daß es knitterte und knatterte. "0 liebliche Naivität", rief die dicke Dame, der Onkel stimmte ein, aber dem Herrn Thaddäus standen die Schweißtropfen auf der Stirne; er war über Felixens Unart ganz beschämt, und die Mutter raunte ihm ins Ohr: "Knirsche nicht so mit den Zähnen, unartiger Junge!" Das machte den armen Felix, der nichts Übles zu tun glaubte, ganz bestürzt, er nahm das noch nicht ganz verzehrte Bonbon langsam aus dem Munde, legte es in die Tüte und reichte diese dem Onkel hin, indem er sprach: "Nimm nur deinen Zucker wieder mit, wenn ich ihn nicht essen soll!"Christlieb, gewohnt, in allem Felixens Beispiel zu folgen, tat mit ihrer Tüte dasselbe. Das war dem Herrn Thaddäus zu arg, er brach los: "Ach, mein geehrtester gnädiger Herr Vetter, halten Sie nur dem einfältigen Jungen die Tölpelei zugute, aber freilich auf dem Lande und in so beschränkten Verhältnissen - ach, wer nur solche gesittete Kinder erziehen könnte wie Sie!" — Der Graf Cyprianus lächelte selbstgefällig und vornehm, indem er auf Herrmann und Adelgunden hinblickte. Die hatten längst ihren Zwieback verzehrt und saßen nun stumm und still auf ihren Stühlen, ohne eine Miene zu verziehen, ohne sich zu rühren und zu regen. Die dicke Dame lächelte ebenfalls, indem sie lispelte: "Ja, lieber Herr Vetter, die Erziehung unserer lieben Kinder liegt uns mehr als alles am Herzen." Sie gab dem Grafen Cyprianus einen Wink, der sich alsbald an Herrmann und Adelgunden wandte und allerlei Fragen an sie richtete, die sie mit der größten Schnelligkeit beantworteten: Da war von vielen Städten, Flüssen und Bergen die Rede, die viele tausend Meilen ins Land hinein liegen sollten und die seltsamsten Namen trugen. Ebenso wußten beide ganz genau zu beschreiben, wie die Tiere aussähen, die in wilden Gegenden der entferntesten Himmelsstriche wohnen sollten. Dann sprachen sie von fremden Gebüschen, Bäumen und Früchten, als ob sie sie selbst gesehn, ja wohl die Früchte selbst gekostet hätten. Herrmann beschrieb ganz genau, wie es vor dreihundert Jahren in einer großen Schlacht zugegangen, und wußte alle Generale, die dabei zugegen gewesen, mit Namen zu nennen. Zuletzt sprach Adelgunde sogar von den Sternen und behauptete, am Himmel säßen allerlei seltsame Tiere und andere Figuren. Dem Felix wurde dabei ganz angst und bange, er näherte sich der Frau von Brakel und fragte leise ins Ohr: "Ach, Mama! liebe Mama! was ist denn das alles, was die dort schwatzen und plappern?" —"Halt's Maul, dummer Junge", raunte ihm die Mutter zu, "das sind die Wissenschaften." Felix verstummte. "Das ist erstaunlich, das ist unerhört! in dem zarten Alter!" so rief der Herr von Brakel ein Mal über das andere, die Frau von Brakel aber seufzete: "0 mein Herrjemine! o was sind das für Engel! o was soll denn aus unsern Kleinen werden hier auf dem öden Lande." Als nun der Herr von Brake! in die Klagen der Mutter mit einstimmte, tröstete beide der Graf Cyprianus, indem er versprach, binnen einiger Zeit ihnen einen gelehrten Mann zuzuschicken, der ganz umsonst den Unterricht der Kinder übernehmen werde. Unterdessen war die schöne Kutsche wieder vorgefahren. Der Jäger trat mit zwei großen Schachteln hinein, die nahmen Adelgunde und Herrmann und überreichten sie der Christlieb und dem Felix. "Lieben Sie Spielsachen, mon cher? Hier habe ich Ihnen welche mitgebracht von der feinsten Sorte", so sprach Herrmann, sich zierlich verbeugend. Felix hatte die Ohren hängen lassen, er ward traurig, selbst wußte er nicht warum. Er hielt die Schachtel gedankenlos in den Händen und murmelte: "Ich heiße nicht Mon schär, sondern Felix, und auch nicht Sie, sondern du." — Der Christlieb war auch das Weinen näher als das Lachen, unerachtet aus der Schachtel, die sie von Adelgunden erhalten, die süßesten Düfte strömten wie von allerlei schönen Näschereien. An der Türe sprang und bellte nach seiner Gewohnheit Sultan, Felixens getreuer Freund und Liebling, Herrmann entsetzte sich aber so sehr vor dem Hunde, daß er schnell in die Stube zurücklief und laut zu weinen anfing. "Er tut dir ja nichts", sprach Felix, "er tut dir ja nichts, warum heulst und schreist du so? es ist ja nur ein Hund, und du hast ja schon die schrecklichsten Tiere gesehn? Und wenn er auch auf dich zufahren wollte, du hast ja einen Säbel?" Felixens Zureden half gar nichts, Herrmann schrie immerfort, bis ihn der Jäger auf den Arm nehmen und in die Kutsche tragen mußte. Adelgunde, plötzlich von dem Schmerz des Bruders ergriffen, oder Gott weiß aus welcher andern Ursache, fing ebenfalls an, heftig zu heulen, welches die arme Christlieb so anregte, daß sie auch zu schluchzen und zu weinen begann. Unter diesem Geschrei und Gejammer der drei Kinder fuhr der Graf Cyprianus von Brake! ab von Brakelheim, und so endete der vornehme Besuch.

Die neuen Spielsachen

Sowie die Kutsche mit dem Grafen Cyprianus von Brake! und seiner Familie den Hügel herabgerollt war, warf der Herr Thaddäus schnell den grünen Rock und die rote Weste ab, und als er ebenso schnell die weite Tuchjacke angezogen und zwei- bis dreimal mit dem breiten Kamm die Haare durchfahren hatte, da holte er tief Atem, dehnte sich und rief: "Gott sei gedankt!" Auch die Kinder zogen schnell ihre Sonntagsröckchen aus und fühlten sich froh und leicht. "In den Wald, in den Wald!" rief Felix, indem er seine höchsten Luftsprünge versuchte. "Wollt ihr denn nicht erst sehen, was euch Herrmann und Adelgunde mitgebracht haben?" So sprach die Mutter, und Christlieb, die schon während des Ausziehens die Schachteln mit neugierigen Augen betrachtet hatte, meinte, daß das wohl erst geschehen könne, nachher sei es ja wohl noch Zeit genug, in den Wald zu laufen. Felix war sehr schwer zu überreden. Er sprach: "Was kann uns denn der alberne pumphosichte Junge mitsamt seiner bebänderten Schwester Großes mitgebracht haben? Was die Wissenschaften betrifft, j nun, die plappert er gut genug weg, aber erst schwatzt er von Löw und Bär und weiß, wie man die Elefanten fängt, und dann fürchtet er sich vor meinem Sultan, hat einen Säbel an der Seite und heult und schreit und kriecht unter den Tisch. Das mag mir ein schöner Jäger sein!" — "Ach, lieber guter Felix, laß uns doch nur ein ganzes kleines bißchen die Schachteln öffnen!" So bat Christlieb, und da ihr Felix alles nur mögliche zu Gefallen tat, so gab er das In-den-Wald-Laufen vorderhand auf und setzte sich mit Christlieb geduldig an den Tisch, auf dem die Schachteln standen. Sic wurden von der Mutter geöffnet, aber da - — Nun, o meine vielgeliebten Leser! Euch allen ist es gewiß schon so gut geworden, zur Zeit des fröhlichen Jahrmarkts oder doch gewiß zu Weihnachten von den Eltern oder andern lieben Freunden mit allerlei schmucken Sachen reichlich beschenkt zu werden. Denkt euch, wie

ihr vor Freude jauchztet, als blanke Soldaten, Männchen mit Drehorgeln, schön geputzte Puppen, zierliche Gerätschaften, herrliche bunte Bilderbücher und anderes mehr um euch lagen und standen! Solche große Freude wie ihr damals hatten jetzt Felix und Christlieb, denn eine ganz reiche Bescherung der niedlichsten glänzendsten Sachen ging aus den Schachteln hervor, und dabei gab es noch allerlei Naschwerk, so daß die Kinder ein Mal über das andere die Hände zusammenschlugen und ausriefen: "Ei, wie schön istdas!" Nur eine Tüte mit Bonbons legte Felix mit Verachtung beiseite, und als Christlieb bat, den gläsernen Zucker doch wenigstens nicht zum Fenster herauszuwerfen, wie er es eben tun wollte, ließ er zwar davon ab, öffnete aber die Tüte und warf einige Bonbons dem Sultan hin, der indessen hineingeschwänzelt war. Sultan roch daran und wandte dann unmutig die Schnauze weg. "Siehst du wohl, Christlieb", rief Felix nun triumphierend, "siehst du wohl, nicht einmal Sultan mag das garstige Zeug fressen."Übrigens machte dem Felix von den Spielsachen nichts mehr Freude als ein stattlicher Jägersmann, der, wenn man ein kleines Fädchen, das hinten unter seiner Jacke hervorragte, anzog, die Büchse anlegte und in ein Ziel schoß, das drei Spannen weit vor ihm angebracht war. Nächstdem schenkte er seine Liebe einem kleinen Männchen, das Komplimente zu machen verstand und auf einer Harfe quinkelierte, wenn man an einer Schraube drehte; vor allen Dingen gefiel ihm aber eine Flinte und ein Hirschfänger, beides von Holz und übersilbert, sowie eine stattliche Husarenmütze und eine Patrontasche. Christlieb hatte große Freude an einer sehr schön geputzten Puppe und einem saubern vollständigen Hausrat. Die Kinder vergaßen Wald und Flur und ergötzten sich an den Spielsachen bis in den späten Abend hinein. Dann gingen sie zu Bette.

Was sich mit den neuen Spielsachen im Walde zutrug

Tages darauf fingen die Kinder es wieder da an, wo sie es abends vorher gelassen hatten: das heißt, sie holten die Schachteln herbei, kramten ihre Spielsachen aus und ergötzten sich daran auf mancherlei Weise. Ebenso wie gestern schien die Sonne hell und freundlich in die Fenster hinein, wisperten und lispelten die vom sausenden Morgenwind begrüßten Birken, jubilierten Zeisig, Fink und Nachtigall in den schönsten lustigsten Liedlein. Da wurd es dem Felix bei seinem Jäger, seinem kleinen Männchen, seiner Flinte und Patrontasche ganz enge und wehmütig ums Herz. "Ach", rief er auf einmal. "ach, draußen ist's doch schöner, komm, Christlieb! laß uns in den Wald laufen." Christlieb hatte eben die große Puppe ausgezogen und war im Begriff, sie wieder anzukleiden, welches ihr viel Vergnügen machte, deshalb wollte sie nicht heraus, sondern bat: "Lieber Felix, wollen wir denn nicht noch hier ein bißchen spielen?" — "Weißt du was, Christlieb", sprach Felix, "wir nehmen das Beste von unsern Spielsachen mit hinaus. Ich schnalle meinen Hirschfänger um und hänge das Gewehr über die Schulter, da seh ich aus wie ein Jäger. Der kleine Jäger und Harfenmännlein können mich begleiten, du, Christlieb, kannst deine große Puppe und das Beste von deinen Gerätschaften mitnehmen. Komm nur, komm!" Christlieb zog hurtig die Puppe vollends an, und nun liefen beide Kinder mit ihren Spielsachen hinaus in den Wald, wo sie sich auf einem schönen grünen Plätzchen lagerten. Sie hatten eine Weile gespielt, und Felix ließ eben das Harfenmännlein sein Stückchen orgeln, als Christlieb anfing: "Weißt du wohl, lieber Felix, daß dein Harfenmann gar nicht hübsch spielt? Hör nur, wie das hier im Walde häßlich klingt, das ewige Ting-Ting-Ping-Ping, die Vögel kucken so neugierig aus den Büschen, ich glaube, sie halten sich ordentlich auf über den albernen Musikanten, der hier zu ihrem Gesange spielen will." Felix drehte stärker und stärker an der Schraube und

rief endlich: "Du hast recht, Christlieb! es klingt abscheulich, was der kleine Kerl spielt, was können mir seine Dienerchen helfen - ich schäme mich ordentlich vor dem Finken dort drüben, der mich mit solch schlauen Augen anblinzelt. — Aber der Kerl soll besser spielen - soll besser spielen!" — Und damit drehte Felix so stark an der Schraube, daß Krack-krack - der ganze Kasten in tausend Stücke zerbrach, auf dem das Harfenmännlein stand, und seine Arme zerbröckelt herabfielen. "Oh - oh!" rief Felix. "Ach, das Harfenmännlein!" rief Christlieb. Felix beschaute einen Augenblick das zerbrochene Spielwerk, sprach dann: "Es war ein dummer alberner Kerl, der schlechtes Zeug aufspielte und Gesichter und Diener machte wie Vetter Pumphose", und warf den Harfenmann weit fort in das tiefste Gebüsch. "Da lob ich mir meinen Jägersmann", sprach er weiter, "der schießt ein Mal über das andere ins Ziel." Nun ließ Felix den kleinen Jäger tüchtig exerzieren. Als das eine Weile gedauert, fing Felix an: "Dumm ist's doch, daß der kleine Kerl immer nur nach dem Ziele schießt, welches, wie Papa sagt, gar keine Sache für einen Jägersmann ist. Der muß im Walde schießen nach Hirschen - Reben - Hasen und sie treffen im vollen Lauf. — Der Kerl soll nicht mehr nach dem Ziele schießen." Damit brach Felix die Zielscheibe los, die vor dem Jäger angebracht war. "Nun schieß ins Freie", rief er, aber er mochte an dem Fädchen ziehn, soviel als er wollte, schlaff hingen die Arme des kleinen Jägers herab. Er legte nicht mehr die Büchse an, er schoß nicht mehr los. "Ha, ha", rief Felix, "nach dem Ziel, inder Stube, da konntest du schießen, aber im Walde, wo des Jägers Heimat ist, da geht's nicht. Fürchtest dich auch wohl vor Hunden und würdest, wenn einer käme, davonlaufen mitsamt deiner Büchse wie Vetter Pumphose mit seinem Säbel! —Ei, du einfältiger nichtsnutziger Bursche", damit schleuderte Felix den Jäger dem Harfenmännlein nach ins tiefe Gebüsch. "Komm! laß uns ein wenig laufen", sprach er dann zu Christlieb. "Ach ja, lieber Felix", erwiderte diese, "meine hübsche Puppe soll mitlaufen, das wird ein Spaß sein." Nun faßte jeder, Felix und Christlieb, die Puppe an einem Arm, und so ging's fort in vollem Laufe durchs Gebüsch den Hügel herab und fort und fort bis an den mit hohem Schilf umkränzten Teich, der noch zu dem Besitztum des Herrn Thaddäus von Brakel gehörte und wo er zuweilen wilde Enten zu schießen pflegte. Hier standen die Kinder still, und Felix sprach: "Laß uns ein wenig passen, ich habe ja nun eine Flinte. wer weiß, ob ich nicht im Röhricht eine Ente schießen kann, so gut wie der Vater." In dem Augenblick schrie aber Christlieb laut auf: "Ach, meine Puppe, was ist aus meiner schönen Puppe geworden!" Freilich sah das arme Ding ganz miserabel aus. Weder Christlieb noch Felix hatten im Laufen die Puppe beachtet, und so war es gekommen, daß sie sich an dem Gestrüpp die Kleider ganz und gar zerrissen, ja beide Beinchen gebrochen hatte. Von dem hübschen Wachsgesichtchen war auch beinahe keine Spur, so zerfetzt und häßlich sah es aus. "Ach, meine Puppe, meine schöne Puppe!"klagte Christlieb. "Da siehst du nun", sprach Felix, "was für dumme Dinger uns die fremden Kinder mitgebracht haben. Das ist ja eine ungeschickte einfältige Trine, deine Puppe, die nicht einmal mit uns laufen kann, ohne sich gleich alles zu zerreißen und zu zerfetzen - gib sie nur her." Christlieb reichte die verunstaltete Puppe traurig dem Bruder hin und konnte sich eines lauten Schreies: "Ach, ach!" nicht enthalten, als der sie ohne weiteres fortschleuderte in den Teich. "Gräme dich nur nicht", tröstete Felix die Schwester, "gräme dich nur ja nicht um das alberne Ding, schieße ich eine Ente, so sollst du die schönsten Federn bekommen, die sich nur in den bunten Flügeln finden wollen." Es rauschte im Röhricht, da legte stracks Felix seine hölzerne Flinte an, setzte sie aber in demselben Augenblick wieder ab und schaute nachdenklich vor sich hin. "Bin ich nicht auch selbst ein törichter Junge", fing er dann leise an, "gehört denn nicht zum Schießen Pulver und Blei, und habe ich denn beides? — Kann ich denn auch wohl Pulver in eine hölzerne Flinte laden? — Wozu ist überhaupt das dumme hölzerne Ding? — Und der Hirschfänger? — Auch von Holz! — der schneidet und sticht nicht - des Vetters Säbel war gewiß auch von Holz, deshalb mochte er ihn nicht ausziehn, als er sich vor dem Sultan fürchtete. Ich merke schon, Vetter Pumphose hat mich nur zum besten gehabt mit seinen Spielsachen, die was vorstellen wollen und nichtsnutziges Zeug sind." Damit schleuderte Felix Flinte, Hirschfänger und zuletzt noch die Patrontasche in den Teich. Christlieb war doch betrübt über den Verlust der Puppe, und auch Felix konnte sich des Unmuts nicht erwehren. So schlichen sie nach Hause, und als die Mutter frug: "Kinder, wo habt ihre eure Spielsachen?", erzählte Felix ganz treuherzig, wie schlimm er mit dem Jäger, mit dem Harfenmännlein, mit Flinte, Hirschfänger und Patrontasche, wie schlimm Christlieb mit der Puppe angeführt worden. "Ach", rief die Frau von Brakel halb erzürnt, "ihr einfältigen Kinder, ihr wißt nur nicht mit den schönen zierlichen Sachen umzugehen." Der Herr Thaddäus von Brakel, der Felixens Erzählung mit sichtbarem Wohlgefallen angehört hatte, sprach aber: "Lasse die Kinder nur gewähren, im Grunde genommen ist's mir recht lieb, daß sie die fremdartigen Spielsachen, die sie nur verwirrten und beängsteten, los sind." Weder die Frau von Brake! noch die Kinder wußten, was der Herr von Brakel mit diesen Worten eigentlich sagen wollte.

Das fremde Kind

Felix und Christlieb waren in aller Frühe nach dem Walde gelaufen. Die Mutter hatte es ihnen eingeschärft, ja recht bald wiederzukommen, weil sie nun viel mehr in der Stube sitzen und viel mehr schreiben und lesen mußten als sonst, damit sie sich nicht gar zu sehr zu schämen brauchten vor dem Hofmeister, der nun nächstens kommen werde, deshalb sprach Felix: "Laß uns nun das Stündchen über, das wir

draußen bleiben dürfen, recht tüchtig springen und laufen Sie begannen auch gleich sich als Hund und Häschen herumzujagen, aber so wie dieses Spiel erregten auch alle übrigen Spiele, die sie anfingen, nach wenigen Sekunden ihnen nur Überdruß und Langeweile. Sie wußten selbst gar nicht, wie es denn nur kam, daß ihnen gerade heute tausend ärgerliches Zeug geschehen mußte. Bald flatterte Felixens Mütze, vom Winde getrieben, ins Gebüsch, bald strauchelte er und fiel auf die Nase im besten Rennen, bald blieb Christlieb mit den Kleidern hängen am Dornstrauch oder stieß sich den Fuß am spitzen Stein, daß sie laut aufschreien mußte. Sie gaben bald alles Spielen auf und schlichen mißmutig durch den Wald. "Wir wollen nur in die Stube kriechen", sprach Felix, warf sich aber, statt weiterzugehen, in den Schatten eines schönen Baums. Christlieb folgte seinem Beispiel. Da saßen die Kinder nun voller Unmut und starrten stumm in den Boden hinein. "Ach", seufzete Christlieb endlich leise, "ach, hätten wir doch noch die schönen Spielsachen!" —"Die würden", murrte Felix, "die würden uns gar nichts nützen, wir müßten sie doch nur wieder zerbrechen und verderben. Höre, Christlieb! — die Mutter hat doch wohl recht - die Spielsachen waren gut, aber wir wußten nur nicht damit umzugehen, und das kommt daher, weil uns die Wissenschaften fehlen." —"Ach, lieber Felix", rief Christlieb, "du hast recht, könnten wir die Wissenschaften so hübsch auswendig wie der blanke Vetter und die geputzte Muhme, ach, da hättest du noch deinen Jäger, dein Harfenmännlein, da läg meine schöne Puppe nicht im Ententeich! — wir ungeschickten Dinger -ach, wir haben keine Wissenschaften!" Und damit fing Christlieb an, jämmerlich zu schluchzen und zu weinen, und Felix stimmte mit ein, und beide Kinder heulten und jammerten, daß es im Walde widertönte: "Wir armen Kinder, wir haben keine Wissenschaften Doch plötzlich hielten sie inne und fragten voll Erstaunen: "Siehst du's Christlieb?" —"Hörst du's, Felix?" — Aus dem tiefsten Schatten des dunkeln Gebüsches, das den Kindern gegenüber lag, blickte ein wundersamer Schein, der wie sanfter Mondesstrahl über die vor Wonne zitternden Blätter gaukelte, und durch das Säuseln des Waldes ging ein süßes Getön, wie wenn der Wind über Harfen hinstreift und im Liebkosen die schlummernden Akkorde weckt. Den Kindern wurde ganz seltsam zumute, aller Gram war von ihnen gewichen, aber die Tränen standen ihnen in den Augen vor süßem, nie gekanntem Weh. So wie lichter und lichter der Schein durch das Gebüsch strahlte, so wie lauter und lauter die wundervollen Töne erklangen, klopfte den Kindern höher das Herz, sie starrten hinein in den Glanz, und ach! sie gewahrten, daß es das von der Sonne hell erleuchtete holde Antlitz des lieblichsten Kindes war, welches ihnen aus dem Gebüsch zulächelte und zuwinkte. "0 komm doch nur zu uns - komm doch nur zu uns, du liebes Kind!" so riefen beide, Christlieb und Felix, indem sie aufsprangen und voll unbeschreiblicher Sehnsucht die Hände nach der holden Gestalt ausstreckten. "Ich komme - ich komme", rief es mit süßer Stimme aus dem Gebüsch, und leicht, wie vom säuselnden Morgenwinde getragen, schwebte das fremde Kind herüber zu Felix und Christlieb.

Wie das fremde Kind mit Felix und Christlieb spielte

"Ich hab euch wohl aus der Ferne weinen und klagen gehört", sprach das fremde Kind, "und da hat es mir recht leid um euch getan, was fehlt euch denn, liebe Kinder?" — "Ach, wir wußten es selbst nicht recht", erwiderte Felix, "aber nun ist es mir so, als wenn nur du uns gefehlt hättest." — "Das ist wahr", fiel Christlieb ein, "nun du bei uns bist, sind wir wieder froh! Warum bist du aber auch so lange ausgeblieben?" —Beiden Kindern war es in der Tat so, als ob sie schon lange das fremde Kind gekannt und mit ihm gespielt hätten und als ob ihr Unmut nur daher gerührt hätte, daß der liebe Spielkamerad sich nicht mehr blicken lassen. "Spielsachen", sprach Felix weiter, "haben

wir nun freilich gar nicht, denn ich einfältiger Junge habe gestern die schönsten, die Vetter Pumphose mir geschenkt hatte, schändlich verdorben und weggeschmissen, aber spielen wollen wir doch wohl." —"Ei, Felix", sprach das fremde Kind, indem es laut auflachte, "ei, wie magst du nur so sprechen. Das Zeug, das du weggeworfen hast, das hat gewiß nicht viel getaugt, du sowie Christlieb, ihr seid ja beide ganz umgeben von dem herrlichsten Spielzeuge, das man nur sehen kann." — "Wo denn? — Wo denn?" — riefen Christlieb und Felix. — "Schaut doch um euch", sprach das fremde Kind. — Und Felix und Christlieb gewahrten, wie aus dem dicken Grase, aus dem wolligen Moose allerlei herrliche Blumen wie mit glänzenden Augen hervorguckten, und dazwischen funkelten bunte Steine und kristallne Muscheln, und goldene Käferchen tanzten auf und nieder und summten leise Liedchen. — "Nun wollen wir einen Palast bauen, helft mir hübsch die Steine zusammentragen!" so rief das fremde Kind, indem es, zur Erde gebückt, bunte Steine aufzulesen begann. Christlieb und Felix halfen, und das fremde Kind wußte so geschickt die Steine zu fügen, daß sich bald hohe Säulen erhoben, die in der Sonne funkelten wie poliertes Metall, und darüber wölbte sich ein luftiges goldenes Dach. — Nun küßte das fremde Kind die Blumen, die aus dem Boden hervorguckten, da rankten sie im süßen Gelispel in die Höhe, und, sich in holder Liebe verschlingend, bildeten sie duftende Bogengänge, in denen die Kinder voll Wonne und Entzücken umhersprangen. Das fremde Kind klatschte in die Hände, da sumste das goldene Dach des Palastes - Goldkäferchen hatten es mit ihren Flügeldecken gewölbt - auseinander, und die Säulen zerflossen zum rieselnden Silberbach, an dessen Ufer sich die bunten Blumen lagerten und bald neugierig in seine Wellen kuckten, bald, ihre Häupter hin und her wiegend, auf sein kindisches Plaudern horchten. Nun pflückte das fremde Kind Grashalme und brach kleine Ästchen von den Bäumen, die es hinstreute vor Felix und Christlieb. Aber aus den Grashalmen wurden bald die schönsten Puppen, die man nur sehen konnte, und aus den Ästchen kleine allerliebste Jäger. Die Puppen tanzten um Christlieb herum und ließen sich von 'ihr auf den Schoß nehmen und lispelten mit feinen Stimmchen: "Sei uns gut, sei uns gut, liebe Christlieb." Die Jäger tummelten sich und klirrten mit den Büchsen und bliesen auf ihren Hörnern und riefen: "Hallo! — Hallo! zur Jagd, zur Jagd!" — Da sprangen Häschen aus den Büschen und Hunde ihnen nach, und die Jäger knallten hinterdrein! — Das war eine Lust. — Alles verlor sich wieder, Christlieb und Felix riefen: "Wo sind die Puppen, wo sind die Jäger?" Das fremde Kind sprach: "Oh! die stehen euch alle zu Gebote, die sind jeden Augenblick bei euch, wenn ihr nur wollt, aber möchtet ihr nicht lieber jetzt ein bißchen durch den Wald laufen?" — "Ach ja, ach ja!"riefen beide, Felix und Christlieb. Da faßte das fremde Kind sie bei den Händen und rief: "Kommt. kommt!", und damit ging es fort. Aber das war ja gar kein Laufen zu nennen! — Nein! Die Kinder schwebten im leichten Fluge durch Wald und Flur, und die bunten Vögel flatterten, laut singend und jubilierend, um sicher. Mit einemmal ging es hoch - hoch in die Lüfle. "Guten Morgen, Kinder! Guten Morgen, Gevatter Felix!" rief der Storch im Vorbeistreifen! "Tut mir nichts, tut mir nichts - ich freß euer Täublein nicht!" kreischte der Geier, sich in banger Scheu vor den Kindern durch die Lüfle schwingend. — Felix jauchzte laut, aber der Christlieb wurde bange. "Mir vergeht der Atem - ach, ich falle wohl!" so rief sie, und in demselben Augenblick ließ sich das fremde Kind mit den Gespielen nieder und sprach: "Nun singe ich euch das Waldlied zum Abschiede für heute, morgen komm ich wieder." Nun nahm das Kind ein kleines Waldhorn hervor, dessen goldne Windungen beinahe anzusehen waren wie leuchtende Blumenkränze, und begann darauf so herrlich zu blasen, daß der ganze Wald wundersam von den lieblichen Tönen widerhallte, und dazu sangen die Nachtigallen, die wie auf des Waldhorns Ruf herbeiflatterten und sich dicht neben dem Kinde in die Zweige setzten, ihre herrlichsten Lieder. Aber plötzlich verhallten die Töne mehr und mehr, und nur ein leises Säuseln quoi! aus den Gebüschen, in die das fremde Kind hingeschwunden. "Morgen - morgen kehr ich wieder!" so rief es aus weiter Ferne den Kindern zu, die nicht wußten, wie ihnen geschehen, denn solch innere Lust hatten sie nie empfunden. "Ach, wenn es doch nur schon wieder morgen wäre!" so sprachen beide, Felix und Christlieb, indem sie voller Hast zu Hause liefen, um den Eltern zu erzählen, was sich im Walde begeben.

Was der Herr von Brakel und die Frau von Brakel zu dem fremden Kinde sagten und was sich weiter mit demselben begab

"Beinahe möchte ich glauben, daß den Kindern das alles nur geträumt hat!" So sprach der Herr Thaddäus von Brakel zu seiner Gemahlin, als Felix und Christlieb, ganz erfüllt von dem fremden Kinde, nicht aufhören konnten, sein holdes Wesen, seinen anmutigen Gesang, seine wunderbaren Spiele zu preisen. "Denk ich aber wieder daran", fuhr Herr von Brakel fort, "daß beide doch nicht auf einmal und auf gleiche Weise geträumt haben können, so weiß ich am Ende selbst nicht, was ich von dem allen denken soll." — "Zerbrich dir den Kopf nicht, o mein Gemahl!" erwiderte die Frau von Brakel, "ich wette, das fremde Kind ist niemand anders als Schulmeisters Gottlieb aus dem benachbarten Dorfe. Der ist herübergelaufen und hat den Kindern allerlei tolles Zeug in den Kopf gesetzt, aber das soll er künftig bleibenlassen." Herr von Brakel war gar nicht der Meinung seiner Gemahlin, um indessen mehr hinter die eigentliche Bewandtnis der Sache zu kommen, wurden Felix und Christlieb herbeigerufen und aufgefordert, genau anzugeben, wie das Kind ausgesehen habe und wie es gekleidet gewesen sei. Rücksichts des Aussehens stimmten beide überein. daß das Kind ein lilienweißes Gesicht, rosenrote Wangen,

kirschrote Lippen, blauglänzende Augen und goldgelocktes Haar habe und so schön sei, wie sie es gar nicht aussprechen könnten; in Ansehung der Kleider wußten sie aber nur soviel, daß das Kind ganz gewiß nicht eine blaugestreifte Jacke, ebensolche Hosen und eine schwarzlederne Mütze trage wie Schulmeisters Gottlieb. Dagegen klang alles, was sie über den Anzug des Kindes ungefähr zu sagen vermochten, ganz fabelhaft und unklug. Christlieb behauptete nämlich, das Kind trage ein wunderschönes leichtes glänzendes Kleidchen von Rosenblättern; Felix meinte dagegen, das Kleid des Kindes funkle in hellem goldenen Grün wie Frühlingslaub im Sonnenschein. Daß das Kind, fuhr Felix weiter fort, irgendeinem Schulmeister angehören könne, daran sei gar nicht zu denken, denn zu gut verstehe sich der Knabe auf die Jägerei, stamme gewiß aus der Heimat aller Wald- und Jagdlust und werde der tüchtigste Jägersmann werden, den es wohl gebe. "Ei, Felix", unterbrach ihn Christlieb, "wie kannst du nur sagen, daß das kleine liebe Mädchen ein Jägersmann werden soll? Auf das Jagen mag sie sich auch wohl verstehen, aber gewiß noch viel besser auf die Wirtschaft im Hause, sonst hätte sie mir nicht so hübsch die Puppen angekleidet und so schöne Schüsseln bereitet!" So hielt Felix das fremde Kind für einen Knaben, Christlieb behauptete dagegen, es sei ein Mädchen, und beide konnten darüber nicht einig werden. — Die Frau von Brakel sagte: "Es lohnt gar nicht, daß man sich mit den Kindern auf solche Narrheiten einläßt", der Herr von Brakel meinte dagegen: "Ich dürfte ja nur den Kindern nachgehen in den Wald und erlauschen, was denn das für ein seltsames Wunderkind ist, das mit ihnen spielt, aber es ist mir so, als könnte ich den Kindern dadurch eine große Freude verderben, und deshalb will ich es nicht tun." Andern Tages, als Felix und Christlieb zu gewöhnlicher Zeit in den Wald liefen, wartete das fremde Kind schon auf sie, und wußte es gestern herrliche Spiele zu beginnen, so schuf es vollends heute die anmutigsten Wunder, so daß Felix und Christlieb ein Mal über das andere vor Freude und Entzücken laut aufjauchzten. Lustig und sehr hübsch zugleich war es, daß das fremde Kind während des Spielens so zierlich und gescheut mit den Bäumen, Gebüschen, Blumen, mit dem Waldbach zu sprechen wußte. Alle antworteten auch so vernehmlich, daß Felix und Christlieb alles verstanden. Das fremde Kind rief ins Erlengebüsch hinein: "Ihr schwatzhaftes Volk, was flüstert und wispert ihr wieder untereinander?" Da schüttelten stärker sich die Zweige und lachten und lispelten: "Ha - ha, ha - wir freuen uns über die artigen Dinge, die uns Freund Morgenwind heute zugeraunt hat, als er von den blauen Bergen vor den Sonnenstrahlen daherrauschte. Er brachte uns tausend Grüße und Küsse von der goldnen Königin und einige tüchtige Flügelschläge voll der süßesten Düfte." — "0 schweigt doch", so unterbrachen die Blumen das Geschwätz der Büsche, "o schweigt doch von dem Flatterhaften, der mit den Düften prahlt, die seine falschen Liebkosungen uns entlockten. Laßt die Gebüsche lispeln und säuseln, ihr Kinder, aber schaut uns an, horcht auf uns, wir lieben euch gar zu sehr und putzen uns heraus mit den schönsten glänzendsten Farben Tag für Tag, nur damit wir euch recht gefallen." — "Und lieben wir euch denn nicht auch, ihr holden Blumen?" So sprach das fremde Kind, aber Christlieb kniete zur Erde nieder und streckte beide Arme weit aus, als wollte sie all die herrlichen Blumen, die um sie her sproßten, umarmen, indem sie rief: "Ach, ich lieb euch ja allzumal!" — Felix sprach: "Auch mir gefallt ihr wohl in euren glänzenden Kleidern, ihr Blumen, aber doch halt ich es mit dem Grün, mit den Büschen, mit den Bäumen, mit dem Walde, er muß euch doch schützen und schirmen, ihr kleinen bunten Kindlein!" Da sauste es in den hohen schwarzen Tannen: "Das ist ein wahres Wort, du tüchtiger Junge, und du mußt dich nicht vor uns fürchten, wenn der Gevatter Sturm dahergezogen kommt und wir ein bißchen ungestüm mit dem groben Kerl zanken." — "Ei", rief Felix, "knarrt und stöhnt und sauset nur recht wacker, ihr grünen Riesen, dann geht ja dem tüchtigen Jägersmann erst das Herz recht auf." — "Da hast du ganz recht", so rauschte und plätscherte der Waldbach, "da hast du ganz recht, aber wozu immer jagen, immer rennen im Sturm und im wilden Gebraust — Kommt! setzt euch fein ins Moos und hört mir zu. Von fernen, fernen Landen, aus tiefem Schacht komm ich her - ich will euch schöne Märchen erzählen und immer was Neues, Weil auf Welle und immerfort und fort. Und die schönsten Bilder zeig ich euch, schaut mir nur recht ins blanke Spiegelantlitz - duftiges Himmelblau - goldenes Gewölk - Busch und Blum und Wald - euch selbst, ihr holden Kinder, zieh ich liebend hinein tief in meinen Busen!" — "Felix, Christlieb", so sprach das fremde Kind, indem es mit wundersamer Holdseligkeit um sich blickte, "Felix, Christlieb, o hört doch nur, wie alles uns liebt. Aber schon steigt das Abendrot auf hinter den Bergen, und Nachtigall ruft mich nach Hause." —"0 laß uns noch ein bißchen fliegen", bat Felix. "Aber nur nicht so sehr hoch, da schwindelt's mir gar zu sehr", sprach Christlieb. Da faßte wie gestern das fremde Kind beide, Felix und Christlieb, bei den Händen, und nun schwebten sie auf im goldenen Purpur des Abendrots, und das lustige Volk der bunten Vögel schwärmte und lärmte um sie her - das war ein Jauchzen und Jubeln! —In den glänzenden Wolken, wie in wogenden Flammen, erblickte Felix die herrlichsten Schlösser von lauter Rubinen und andern funkelnden Edelsteinen: "Schau, o schau doch, Christlieb", rief er voll Entzücken, "das sind prächtige, prächtige Häuser, nur tapfer laß uns fliegen, wir kommen gewiß hin." Christlieb gewahrte auch die Schlösser und vergaß alle Furcht, indem sie nicht mehr hinab, sondern unverwandt in die Ferne blickte. "Das sind meine lieben Luftschlösser", sprach das fremde Kind, "aber hin kommen wir heute wohl nicht mehr!" — Felix und Christlieb waren wie im Traume und wußten selbst nicht, wie es geschah, daß sie unversehens sich zu Hause bei Vater und Mutter befanden.

Von der Heimat des fremden Kindes

Das fremde Kind hatte auf dem anmutigsten Platz im Walde zwischen säuselndem Gebüsch, dem Bach unfern, ein überaus herrliches Gezelt von hohen schlanken Lilien, glühenden Rosen und bunten Tulipanen erbaut. Unter diesem Gezelt saßen mit dem fremden Kinde Felix und Christlieb und horchten darauf, was der Waldbach allerlei seltsames Zeug durcheinanderplauderte. "Recht verstehe ich doch nicht", fing Felix an, "was der dort unten erzählt, und es ist mir so, als wenn du selbst, mein lieber, lieber Junge, alles, was er nur so unverständlich murmelt, recht hübsch mir sagen könntest. Überhaupt möcht ich dich doch wohl fragen, wo du denn herkommst und wo du immer so schnell hinverschwindest, daß wir selbst niemals wissen, wie das geschieht?" — "Weißt du wohl, liebes Mädchen", fiel Christlieb ein, "daß Mutter glaubt, du seist Schulmeisters Gottlieb?" —"Schweig doch nur, dummes Ding", rief Felix, "Mutter hat den lieben Knaben niemals gesehen, sonst würde sie gar nicht von Schulmeisters Gottlieb gesprochen haben. — Aber nun sage mir geschwind, du lieber Junge, wo du wohnst, damit wir zu dir ins Haus kommen können zur Winterszeit, wenn es stürmt und schneit und im Walde nicht Steg, nicht Weg zu finden ist." —"Ach ja!"sprach Christlieb, "nun mußt du uns fein sagen, wo du zu Hause bist, wer deine Eltern sind und hauptsächlich, wie du denn eigentlich heißest." Das fremde Kind sah sehr ernst, beinahe traurig vor sich hin und seufzte recht aus tiefer Brust. Dann, nachdem es einige Augenblicke geschwiegen, fing es an: "Ach, lieben Kinder, warum fragt ihr nach meiner Heimat? Ist es denn nicht genug, daß ich tagtäglich zu euch komme und mit euch spiele? — Ich könnte euch sagen, daß ich dort hinter den blauen Bergen, die wie krauses, zackiges Nebelgewölk anzusehen sind, zu Hause bin, aber wenn ihr tagelang und immer fort und fort laufen wolltet, bis ihr auf den Bergen stündet, so würdet ihr wieder ebenso fern ein

neues Gebürge schauen, hinter dem ihr meine Heimat suchen müßtet, und wenn ihr auch dieses Gebürge erreicht hättet, würdet ihr wiederum ein neues erblicken, und so würde es euch immer fort und fort gehen, und ihr würdet niemals meine Heimat erreichen." — "Ach", rief Christlieb weinerlich aus, "ach, so wohnst du wohl viele hundert, hundert Meilen von uns und bist nur zum Besuch in unserer Gegend?" —"Sieh nur, liebe Christlieb!" fuhr das fremde Kind fort, "wenn du dich recht herzlich nach mir sehnst, so bin ich gleich bei dir und bringe dir alle Spiele, alle Wunder aus meiner Heimat mit, und ist denn das nicht ebensogut, als ob wir in meiner Heimat selbst zusammensäßen und miteinander spielten?" —"Das nun wohl eben nicht", sprach Felix, "denn ich glaube, daß deine Heimat ein gar herrlicher Ort sein muß, ganz voll von den herrlichen Dingen, die du uns mitbringst. Du magst mir nun die Reise dahin so schwierig vorstellen, wie du willst, sowie ich es nur vermag, mache ich mich doch auf den Weg. So durch Wälder streichen und auf ganz wilden verwachsenen Pfaden Gebürge erklettern, durch Bäche waten, über schroffes Gestein und dornicht Gestrüpp, das ist so recht Weidmanns Sache - ich werd's schon durchführen." — "Das wirst du auch", rief das fremde Kind, indem es freudig lachte, "und wenn du es dir so recht fest vornimmst, dann ist es so gut, als hättest du es schon wirklich ausgeführt. Das Land, in dem ich wohne, ist in der Tat so schön und herrlich, wie ich es gar nicht zu beschreiben vermag. Meine Mutter ist es, die als Königin über dieses Reich voller Glanz und Pracht herrscht." — "So bist du ja ein Prinz" — "So bist du ja eine Prinzessin" — riefen zu gleicher Zeit verwundert, ja beinahe erschrocken, Felix und Christlieb. "Allerdings", sprach das fremde Kind. "So wohnst du wohl in einem schönen Palast?" fragte Felix weiter. "Jawohl", erwiderte das fremde Kind, "noch viel schöner ist der Palast meiner Mutter als die glänzenden Schlösser, die du in den Wolken geschaut hast, denn seine schlanken Säulen aus purem Kristall erheben sich hoch - hoch hinein in das Himmelsblau, das auf ihnen ruht wie ein weites Gewölbe. Unter dem segelt glänzendes Gewölk mit goldnen Schwingen hin und her, und das purpurne Morgen- und Abendrot steigt auf und nieder, und in klingenden Kreisen tanzen die funkelnden Sterne. — Ihr habt, meine lieben Gespielen, ja wohl schon von Feen gehört, die, wie es sonst kein Mensch vermag, die herrlichsten Wunder hervorrufen können, und ihr werdet es auch wohl schon gemerkt haben, daß meine Mutter nichts anders ist als eine Fee. Ja! das ist sie wirklich, und zwar die mächtigste, die es gibt. Alles, was auf der Erde webt und lebt, hält sie mit treuer Liebe umfangen, doch zu ihrem innigen Schmerz wollen viele Menschen gar nichts von ihr wissen. Vor allen liebt meine Mutter aber die Kinder, und daher kommt es, daß die Feste, die sie in ihrem Reiche den Kindern bereitet, die schönsten und herrlichsten sind. Da geschieht es denn wohl, daß schmucke Geister aus dem Hofstaate meiner Mutter keck sich durch die Wolken schwingen und von einem Ende des Palastes bis zum andern einen in den schönsten Farben schimmernden Regenbogen spannen. Unter dem bauen sie den Thron meiner Mutter aus lauter Diamanten, die aber so anzusehen sind und so herrlich duften wie Lilien, Nelken und Rosen. Sowie meine Mutter den Thron besteigt, rühren die Geister ihre goldnen Harfen, ihre kristallenen Zimbeln, und dazu singen die Kammersänger meiner Mutter mit solch wunderbaren Stimmen, daß man vergehen möchte vor süßer Lust. Diese Sänger sind aber schöne Vögel, größer noch als Adler, mit ganz purpurnem Gefieder, wie ihr sie wohl noch nie gesehen habt. Aber sowie die Musik losgegangen, wird alles im Palast, im Walde, im Garten laut und lebendig. Viele tausend blank geputzte Kinder tummeln sich im Jauchzen und Jubeln umher. Bald jagen sie sich durchs Gebüsch und werfen sich neckend mit Blumen, bald klettern sie auf schlanke Bäumchen und lassen sich vom Winde hin und her schaukeln, bald pflücken sie goldglänzende Früchte, die so süß und herrlich schmecken wie sonst nichts auf der Erde, bald spielen sie mit zahmen Rehen - mit andern' schmucken Tieren, die ihnen aus dem Gebüsch entgegenspringen; bald rennen sie keck den Regenbogen auf und nieder oder besteigen gar als kühne Reuter die schönen Goldfasanen, die sich mit ihnen durch die glänzenden Wolken schwingen." — "Ach, das muß herrlich sein, ach, nimm uns mit in deine Heimat. wir wollen immer dort bleiben!" — So riefen Felix und Christlieb voll Entzücken, das fremde Kind sprach aber: "Mitnehmen nach meiner Heimat kann ich euch in der Tat nicht, es ist zu weit, ihr müßtet so gut und unermüdlich fliegen können wie ich selbst." Felix und Christlieb wurden ganz traurig und blickten schweigend zur Erde nieder.

Von dem bösen Minister am Hofe der Feenkönigin

"Überhaupt", fuhr das fremde Kind fort, "überhaupt möchtet ihr euch in meiner Heimat vielleicht gar nicht so gut befinden, als ihr es euch nach meiner Erzählung vorstellt. Ja, der Aufenthalt könnte euch sogar verderblich sein. Manche Kinder vermögen nicht den Gesang der purpurroten Vögel, so herrlich er auch ist, zu ertragen, so daß er ihnen das Herz zerreißt und sie augenblicklich sterben müssen. Andere, die gar zu keck auf den Regenbogen rennen, gleiten aus und stürzen herab, und manche sind sogar albern genug, im besten Fliegen dem Goldfasan, der sie trägt, weh zu tun. Das nimmt denn der sonst friedliche Vogel dem dummen Kinde übel und reißt ihm mit seinem scharfen Schnabel die Brust auf, so daß es blutend aus den Wolken herabfällt. Meine Mutter härmt sich gar sehr ab, wenn Kinder auf solche Weise, freilich durch ihre eigne Schuld, verunglücken. Gar zu gern wollte sie, daß alle Kinder auf ganzen Welt die Lust ihres Reichs genießen möchten, aber wenn viele auch tüchtig fliegen können, so sind sie nachher doch entweder zu keck oder zu furchtsam und verursachen ihr nur Sorge und Angst. Ebendeshalb erlaubt sie mir, daß ich hinausfliegen

aus meiner Heimat und tüchtigen Kindern allerlei schöne Spielsachen daraus mitbringen darf, wie ich es denn auch mit euch gemacht habe." — "Ach", rief Christlieb, "ich könnte gewiß keinem schönen Vogel Leides tun, aber auf dem Regenbogen rennen möchte ich doch nicht." — "Das wäre" — fiel ihr Felix ins Wort -, "das wäre nun gerade meine Sache, und ebendeshalb möchte ich zu deiner Mutter Königin. Kannst du nicht einmal den Regenbogen mitbringen?" —"Nein", erwiderte das fremde Kind, "das geht nicht an, und ich muß dir überhaupt sagen, daß ich mich nur ganz heimlich zu euch stehlen darf. Sonst war ich überall sicher, als sei ich bei meiner Mutter, und es war überhaupt so, als sei überall ihr schönes Reich ausgebreitet, seit der Zeit aber, daß ein arger Feind meiner Mutter, den sie aus ihrem Reiche verbannt hat, wild umherschwärmt, bin ich vor arger Nachstellung nicht geschützt." —"Nun", rief Felix, indem er aufsprang und den Dornenstock, den er sich geschnitzt, in der Luft schwenkte, "nun, den wollt ich denn doch sehen, der dir hier Leides zufügen sollte. Fürs erste hätt er es mit mir zu tun, und denn rief ich Papa zu Hülfe, der ließe den Kerl einfangen und in den Turm sperren." — "Ach", erwiderte das fremde Kind, "so wenig der arge Feind in meiner Heimat mir etwas antun kann, so gefährlich ist er mir außerhalb derselben, er ist gar mächtig, und wider ihn hilft nicht Stock, nicht Turm." — "Was ist denn das für ein garstig Ding, das dich so bange machen kann?" fragte Christlieb. "Ich habe euch gesagt", fing das fremde Kind an, "daß meine Mutter eine mächtige Königin ist, und ihr wißt, daß Königinnen sowie Könige einen Hofstaat und Minister um sich haben." — "Jawohl", sprach Felix, "der Onkel Graf ist selbst solch ein Minister und trägt einen Stern auf der Brust. Deiner Mutter Minister tragen auch wohl recht funkelnde Sterne?" — "Nein", erwiderte das fremde Kind, "nein, das eben nicht, denn die mehrsten sind selbst ganz und gar funkelnde Sterne, und andere tragen gar keine Röcke, worauf sich so etwas anbringen ließe. Daß ich's nur sage, alle Minister meiner Mutter sind mächtige Geister, die teils in der Luft schweben, teils in Feuerflammen, teils in den Gewässern wohnen und überall das ausführen, was meine Mutter ihnen gebietet. Es fand sich vor langer Zeit ein fremder Geist bei uns ein, der nannte sich Pepasilio und behauptete, er sei ein großer Gelehrter, er wisse mehr und würde größere Dinge bewirken als alle übrige. Meine Mutter nahm ihn in die Reihe ihrer Minister auf, aber bald entwickelte sich immer mehr seine innere Tücke. Außerdem daß er alles. was die übrigen Minister taten, zu vernichten strebte, so hatte er es vorzüglich darauf abgesehen, die frohen Feste der Kinder recht hämisch zu verderben. Er hatte der Königin vorgespiegelt, daß er die Kinder erst recht lustig und gescheut machen wollte, statt dessen hing er sich zentnerschwer an den Schweif der Fasanen, so daß sie sich nicht aufschwingen konnten, zog er die Kinder, wenn sie auf Rosenbüschen hinaufgeklettert, bei den Beinen herab, daß sie sich die Nasen blutig schlugen, zwang er die, welche lustig laufen und springen wollten, auf allen vieren mit zur Erde gebeugtem Haupte herumzukriechen. Den Sängern stopfte er allerlei schädliches Zeug in die Schnäbel, damit sie nur nicht singen sollten, denn Gesang konnte er nicht ausstehen, und die armen zahmen Tierchen wollte er, statt mit ihnen zu spielen, auffressen, denn nur dazu, meinte er, wären sie da. Das abscheulichste war aber wohl, daß er mit Hülfe seiner Gesellen die schönen funkelnden Edelsteine des Palastes, die bunt schimmernden Blumen, die Rosen und Lilienbüsche, ja selbst den glänzenden Regenbogen mit einem ekelhaften schwarzen Saft zu überziehen wußte, so daß alle Pracht verschwunden und alles tot und traurig anzusehen war. Und wie er dies vollbracht, erhob er ein schallendes Gelächter und schrie, nun sei erst alles so, wie es sein solle, denn er habe es beschrieben. Als er nun vollends erklärte, daß er meine Mutter nicht als Königin anerkenne, sondern daß ihm allein die Herrschaft gebühre, und sich in der Gestalt einer ungeheuren Fliege mit blitzenden Augen und vorgestrecktem scharfen Rüssel emporschwang in abscheulichem Summen und Brausen auf den Thron meiner Mutter, da erkannte sie sowie alle, daß der hämische Minister, der sich unter dem schönen Namen Pepasilio eingeschlichen, niemand anders war als der finstere mürrische Gnomenkönig Pepser. Der Törichte hatte aber die Kraft sowie die Tapferkeit seiner Gesellen viel zu hoch in Anschlag gebracht. Die Minister des Luftdepartements umgaben die Königin und fächelten ihr süße Düfte zu, indem die Minister des Feuerdepartements in Flammenwogen auf und nieder rauschten und die Sänger, deren Schnäbel gereinigt, die volltönendsten Gesänge anstimmten, so daß die Königin den häßlichen Pepser weder sah noch hörte, noch seinen vergifteten übelriechenden Atem spürte. In dem Augenblick auch faßte der Fasanenfürst den bösen Pepser mit dem leuchtenden Schnabel und drückte ihn so gewaltig zusammen. daß er vor Wut und Schmerz laut aufkreischte, dann ließ er ihn aus der Höhe von dreitausend Ellen zur Erde niederfallen. Er konnte sich nicht regen noch bewegen, bis auf sein wildes Geschrei seine Muhme, die große blaue Kröte. herbeikroch, ihn auf den Rücken nahm und nach Hause schleppte. Fünfhundert lustige kecke Kinder erhielten tüchtige Fliegenklatschen, mit denen sie Pepsers häßliche Gesellen. die noch umherschwärmten und die schönen Blumen verderben wollten, totschlugen. Sowie nun Pepser fort war, zerfloß der schwarze Saft, womit er alles überzogen, von selbst, und bald blühete und glänzte und strahlte alles so herrlich und schön wie zuvor. Ihr könnt denken, daß der garstige Pepser nun in meiner Mutter Reich nichts mehr vermag, aber er weiß, daß ich mich oft hinauswage, und verfolgt mich rastlos unter allerlei Gestalten, so daß ich ärmstes Kind oft auf der Flucht nicht weiß, wo ich mich hin verbergen soll, und darum, ihr lieben Gespielen, entfliehe ich oft so schnell, daß ihr nicht spürt, wo ich hingekommen. Dabei muß es denn auch bleiben, und wohl kann ich euch sagen, daß, sollte ich es auch unternehmen, mich mit euch in meine Heimat zu schwingen, Pepser uns gewiß aufpassen und uns totmachen würde." Christlieb weinte bitterlich über die Gefahr, in der das fremde Kind immer schweben mußte. Felix meinte aber: "Ist der garstige Pepser weiter nichts als eine große Fliege, so will ich ihm mit Papas großer Fliegenklatsche schon zu Leibe gehn, und habe ich ihm eins tüchtig auf die Nase versetzt, so mag Muhme Kröte zusehen, wie sie ihn nach Hause schleppt."

Wie der Hofmeister angekommen war und die Kinder sich vor ihm fürchteten

In vollem Sprunge eilten Felix und Christlieb nach Hause, indem sie unaufhörlich riefen: "Ach, das fremde Kind ist ein schöner Prinz!" —"Ach, das fremde Kind ist eine schöne Prinzessin!" Sie wollten das jauchzend den Eltern verkünden, aber wie zur Bildsäule erstarrt, blieben sie in der Haustüre stehen, als ihnen Herr Thaddäus von Brakel entgegentrat und an seiner Seite einen fremden verwunderlichen Mann hatte, der halb vernehmlich in sich hineinbrummte: "Das sind mir saubere Rangen!" — "Das ist der Herr Hofmeister", sprach Herr von Brakel, indem er den Mann bei der Hand ergriff, "das ist der Herr Hofmeister, den euch der gnädige Onkel geschickt hat. Grüßt ihn fein artig!" — Aber die Kinder sahen den Mann von der Seite an und konnten sich nicht regen und bewegen. Das kam daher, weil sie solch eine wunderliche Gestalt noch niemals geschaut. Der Mann mochte kaum mehr als einen halben Kopf höher sein als Felix, dabei war er aber untersetzt; nur stachen gegen den sehr starken breiten Leib die kleinen, ganz dünnen Spinnenbeinchen seltsam ab. Der unförmliche Kopf war beinahe viereckig zu nennen und das Gesicht fast gar zu häßlich, denn außer dem, daß zu den dicken braunroten Backen und dem breiten Maule die viel zu lange spitze Nase gar nicht passen wollte, so glänzten auch die kleinen hervorstehenden Glasaugen so graulich, daß man ihn gar nicht

gern ansehen mochte. Übrigens hatte der Mann eine pechschwarze Perücke auf den viereckichten Kopf gestülpt, war auch von Kopf bis zu Fuß pechschwarz gekleidet und hieß: Magister Tinte. Als nun die Kinder sich nicht rückten und rührten, wurde die Frau von Brakel böse und rief: "Potztausend, ihr Kinder, was ist denn das? Der Herr Magister wird euch für ganz ungeschliffene Bauernkinder halten müssen. — Fort! gebt dem Herrn Magister fein die Hand!" Die Kinder ermannten sich und taten, was die Mutter befohlen, sprangen aber, als der Magister ihre Hände faßte, mit dem lauten Schrei: "0 weh, o weh!" zurück. Der Magister lachte hell auf und zeigte eine heimlich in der Hand versteckte Nadel vor, womit er die Kinder, als sie ihm die Hände reichten, gestochen. Christlieb weinte, Felix aber grollte den Magister von der Seite an: "Versuche das nur noch einmal, kleiner Dickbauch." — "Warum taten Sie das, lieber Herr Magister Tinte?" fragte etwas mißmutig der Herr von Brakel. Der Magister erwiderte: "Das ist nun einmal so meine Art, ich kann davon gar nicht lassen."Und dabei stemmte er beide Hände in die Seite und lachte immerfort, welches aber zuletzt so widerlich klang wie der Ton einer verdorbenen Schnarre. "Sie scheinen ein spaßhafter Mann zu sein, lieber Herr Magister Tinte", sprach der Herr von Brakel, aber ihm sowohl als der Frau von Brakel, vorzüglich den Kindern wurde ganz unheimlich zumute. "Nun, nun", rief der Magister, "wie steht's denn mit den kleinen Krabben, schon tüchtig in den Wissenschaften vorgerückt? — Wollen doch gleich sehen." — Damit fing er an, den Felix und die Christlieb so zu fragen, wie es der Onkel Graf mit seinen Kindern getan. Als nun aber beide versicherten, daß sie die Wissenschaften noch gar nicht auswendig wüßten, da schlug der Magister Tinte die Hände über dem Kopf zusammen, daß es klatschte, und schrie wie besessen: "Das ist was Schönes! — keine Wissenschaften. — Das wird Arbeit geben! Wollen's aber schon kriegen!" Felix sowie Christlieb, beide schrieben eine saubere Handschrift und wußten aus manchen alten Büchern, die ihnen der Herr von Brakel in die Hände gab und die sie emsig lasen, manche schöne Geschichte zu erzählen, das achtete aber der Magister Tinte für gar nichts, sondern meinte, das alles wäre nur dummes Zeug. — Ach! nun war an kein In-den-Wald-Laufen mehr zu denken! — Statt dessen mußten die Kinder beinahe den ganzen Tag zwischen den vier Wänden sitzen und dem Magister Tinte Dinge nachplappern, die sie nicht verstanden. Es war ein wahres Herzeleid! — Mit welchen sehnsuchtsvollen Blicken schauten sie nach dem Walde! Oft war es ihnen, als hörten sie mitten unter den lustigen Liedern der Vögel, im Rauschen der Bäume des fremden Kindes süße Stimme rufen: "Wo seid ihr denn, Felix - Christlieb - ihr lieben Kinder! wo seid ihr denn! wollt ihr nicht mehr mit mir spielen! — Kommt doch nur! — ich habe euch einen schönen Blumenpalast gebaut - da setzen wir uns hinein, und ich schenk euch die herrlichsten buntesten Steine - und dann schwingen wir uns auf in die Wolken und bauen selbst funkelnde Luftschlösser! — Kommt doch! Kommt doch nur!" Darüber wurden die Kinder mit allen ihren Gedanken ganz hingezogen nach dem Walde und sahen und hörten nicht mehr auf den Magister. Der wurde aber denn ganz zornig, schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch und brummte und summte und schnarrte und knarrte: "Pim - sim - prr - srrr - knurr - krrr.— was ist das! aufgepaßt!" Felix hielt das aber nicht lange aus, er sprang auf und rief: "Laß mich los mit deinem dummen Zeuge, Herr Magister Tinte, fort will ich in den Wald - such dir den Vetter Pumphose, das ist was für den! — Komm, Christlieb, das fremde Kind wartet schon auf uns." — Damit ging es fort, aber der Magister Tinte sprang mit ungemeiner Behendigkeit hinterher und erfaßte die Kinder dicht vor der Haustüre. Felix wehrte sich tapfer, und der Magister Tinte war im Begriff zu unterliegen, da dem Felix der treue Sultan zu Hülfe geeilt war. Sultan, sonst ein frommer gesitteter Hund, hatte gleich vom ersten Augenblick an einen entschiedenen Abscheu gegen den Magister Tinte bewiesen. Sowie dieser ihm nur nahe kam, knurrte er und schlug mit dem Schweif so heftig um sich, daß er den Magister, den er geschickt an die dünnen Beinchen zu treffen wußte, beinahe umgeschmissen hätte. Sultan sprang hinzu und packte den Magister, der Felix bei beiden Schultern hielt, ohne Umstände beim Rockkragen. Der Magister Tinte erhob ein klägliches Geschrei, auf das Herr Thaddäus von Brakel schnell hinzueilte. Der Magister ließ ab von Felix, Sultan von dem Magister. "Ach, wir sollen nicht mehr in den Wald", klagte Christlieb, indem sie bitterlich weinte. Sosehr auch der Herr von Brakel den Felix ausschalt, taten ihm doch die Kinder leid, die nicht mehr in Flur und Hain herumschwärmen sollten. Der Magister Tinte mußte sich dazu verstehen, täglich mit den Kindern den Wald zu besuchen. Es ging ihm schwer ein. "Hätten Sie nur, Herr von Brake!", sprach er, "einen vernünftigen Garten mit Buchsbaum und Staketen am Hause, so könnte man in der Mittagsstunde mit den Kindern spazierengehen, was in aller Welt sollen wir aber in dem wilden Walde?" — Die Kinder waren auch ganz unzufrieden, und die sprachen nun wieder: "Was soll uns der Magister Tinte in unserm lieben Walde?"

Wie die Kinder mit dem Herrn Magister Tinte im Walde spazierengingen und was sich dabei zutrug

"Nun? —gefällt es dir nicht in unserm Walde, Herr Magister?" So fragte Felix den Magister Tinte, als sie daherzogen durch das rauschende Gebüsch. Der Magister Tinte zog aber ein saures Gesicht und rief: "Dummes Zeug, hier ist kein ordentlicher Steg und Weg, man zerreißt sich nur die Strümpfe und kann vor dem häßlichen Gekreisch der dummen Vögel gar kein vernünftiges Wort sprechen." —"Haha, Herr Magister", sprach Felix, "ich merk es schon, du verstehst dich nicht auf den Gesang und hörst es auch wohl gar nicht einmal, wenn der Morgenwind mit den Büschen plaudert und der alte Waldbach schöne Märchen erzählt." —

"Und", fiel Christlieb dem Felix ins Wort, "sag es nur, Herr Magister, du liebst auch wohl nicht die Blumen?" Da wurde der Herr Magister noch kirschbrauner im Antlitz, als er schon von Natur war, er schlug mit den Händen um sich und schrie ganz erbost: "Was sprecht ihr da für tolles albernes Zeug? — wer hat euch die Narrheiten in den Kopf gesetzt? Das fehlte noch, daß Wälder und Bäche dreist genug wären, sich in vernünftige Gespräche zu mischen, und mit dem Gesange der Vögel ist es auch nichts; Blumen lieb ich wohl, wenn sie fein in Töpfe gesteckt sind und in der Stube stehen, dann duften sie, und man erspart das Räucherwerk. Doch im Walde wachsen ja gar keine Blumen." — "Aber Herr Magister", rief Christlieb, "siehst du denn nicht die lieben Maiblümchen, die dich recht mit hellen freundlichen Augen ankucken?" — "Was, was", schrie der Magister - "Blumen? Augen? — ha, ha, ha - schöne Augen - schöne Augen! Die nichtsnutzigen Dinger riechen nicht einmal!" — Und damit bückte sich der Magister Tinte zur Erde nieder, riß einen ganzen Strauß Maiblümchen samt den Wurzeln heraus und warf ihn fort ins Gebüsch. Den Kindern war es. als ginge in dem Augenblick ein wehmütiger Klagelaut durch den Wald; Christlieb mußte bitterlich weinen, Felix biß unmutig die Zähne zusammen. Da geschah es, daß ein kleiner Zeisig dem Magister Tinte dicht bei der Nase vorbeiflatterte, sich dann auf einen Zweig setzte und ein lustiges Liedchen anstimmte. "Ich glaube gar", sprach der Magister, "ich glaube gar, das ist ein Spottvogel?" Und damit nahm er einen Stein von der Erde auf, warf ihn nach dem Zeisig und traf den armen Vogel, daß er, zum Tode verstummt, von dem grünen Zweige herabfiel. Nun konnte Felix sich gar nicht mehr halten. "Ei, du abscheulicher Herr Magister Tinte", rief er ganz erbost, "was hat dir der arme Vogel getan, daß du ihn totschmeißest? — Oh, wo bist du denn, du holdes fremdes Kind, o komm doch nur, laß uns weit, weit fortfliegen, ich mag nicht mehr bei dem garstigen Menschen sein; ich will fort nach deiner Heimat!" — Und mit vollem Schluchzen und Weinen stimmte Christlieb ein: "0 du liebes holdes Kind, komm doch nur, komm doch nur zu uns! Ach! Ach! — rette uns - rette uns, der Herr Magister Tinte macht uns ja tot wie die Blumen und Vögel!" — "Was ist das mit dem fremden Kinde", rief der Magister. Aber in dem Augenblick säuselte es stärker im Gebüsch, und in dem Säuseln erklangen wehmütige herzzerschneidende Töne wie von dumpfen, in weiter Ferne angeschlagenen Glocken. —meinem leuchtenden Gewölk, das sich herabließ, wurde das holde Antlitz des fremden Kindes sichtbar -dann schwebte es ganz hervor, aber es rang die kleinen Händchen, und Tränen rannen wie glänzende Perlen aus den holden Augen über die rosichten Wangen. "Ach", jammerte das fremde Kind, "ach, ihr lieben Gespielen, ich kann nicht mehr zu euch kommen - ihr werdet mich nicht wiedersehen - lebt wohl! lebt wohl! — Der Gnome Pepser hat sich eurer bemächtigt, o ihr armen Kinder, lebt wohl -lebt wohl!" —Und damit schwang sich das fremde Kind hoch in die Lüfte. Aber hinter den Kindern brummte und summte und knarrte und schnarrte es auf entsetzliche grausige Weise. Der Magister Tinte hatte sich umgestaltet in eine große scheußliche Fliege, und recht abscheulich war es, daß er dabei doch noch ein menschliches Gesicht und sogar auch einige Kleidungsstücke behalten. Er schwebte langsam und schwerfällig auf, offenbar um das fremde Kind zu verfolgen. Von Entsetzen und Graus erfaßt, rannte Felix und Christlieb fort aus dem Walde. Erst auf der Wiese wagten sie emporzuschauen. Sie wurden einen glänzenden Punkt in den Wolken gewahr, der wie ein Stern funkelte und herabzuschweben schien. "Das ist das fremde Kind", rief Christlieb. Immer größer wurde der Stern, und dabei hörten sie ein Klingen wie von schmetternden Trompeten. Bald konnten sie nun erkennen, daß der Stern ein schöner, in gleißendem Goldgefieder prangender Vogel war, der, die mächtigen Flügel schüttelnd und laut singend, sich auf den Wald herabsenkte. "Ha", schrie Felix, "das ist der Fasanenfürst, der beißt den Herrn Magister Tinte tot - ha, ha, das fremde Kind ist geborgen, und wir sind es auch! —Komm, Christlieb -schnell laß uns nach Hause laufen und dem Papa erzählen, was sich zugetragen."

Wie der Herr von Brakel den Magister Tinte fortjagte

Der Herr von Brake! und die Frau von Brake!. beide saßen vor der Türe ihres kleinen Hauses und schauten in das Abendrot, das schon hinter den blauen Bergen in goldenen Strahlen aufzuschimmern begann. Vor ihnen stand auf einem kleinen Tisch das Abendessen aufgetragen, das aus nichts anderem als einem tüchtigen Napf voll herrlicher Milch und einer Schüssel mit Butterbroten bestand. "Ich weiß nicht", fing Herr von Brakel an, "ich weiß nicht, wo der Magister Tinte so lange mit den Kindern ausbleibt. Erst hat er sich gesperrt und durchaus nicht in den Wald gehen wollen, und jetzt kommt er gar nicht wieder heraus. Überhaupt ist das ein ganz wunderlicher Mann, der Herr Magister Tinte, und es ist mir beinahe so, als sei es besser gewesen, er wäre ganz davongeblieben. Daß er gleich anfangs die Kinder so heimtückisch stach, das hat mir gar nicht gefallen, und mit seinen Wissenschaften mag es auch nicht weit her sein, denn allerlei seltsame Wörter und unverständliches Zeug plappert er her und weiß, was der Großmogul für Kamaschen trägt; kommt er aber heraus, so vermag er nicht die Linde vom Kastanienbaum zu unterscheiden und hat sich überhaupt ganz albern und abgeschmackt. Die Kinder können unmöglich Respekt vor ihm haben." —"Mir geht es", erwiderte die Frau von Brakel, "mir geht es ganz wie dir, lieber Mann! So sehr es mich freute, daß der Herr Vetter sich unserer Kinder annehmen wollte, so sehr bin ich jetzt davon überzeugt, daß das auf andere und bessere Weise hätte geschehen können, als daß er uns den Herrn Magister Tinte über den Hals schickte. Wie es mit seinen Wissenschaften stehen mag, das weiß ich nicht, aber soviel ist gewiß, daß das kleine schwarze dicke Männlein mit den

kleinen dünnen Beinchen mir immer mehr und mehr zuwider wird. Vorzüglich ist es garstig, daß der Magister so entsetzlich naschhaffig ist. Keine Neige Bier oder Milch kann er stehen sehen, ohne sich darüber herzumachen, merkt er nun vollends den geöffneten Zuckerkasten, so ist er gleich bei der Hand und schnuppert und nascht so lange an dem Zucker, bis ich ihm den Deckel vor der Nase zuschläge; dann ist er auf und davon und ärgert sich und brummt und summt ganz seltsam und fatal."Der Herr von Brake! wollte fortfahren im Gespräch, als Felix und Christlieb in vollem Rennen durch die Birken kamen. "Heisa! — heisa!" — schrie Felix unaufhörlich, "heisa, heisa! der Fasanenfürst hat den Herrn Magister Tinte totgebissen!" — "Ach - ach, Mama", rief Christlieb atemlos, "ach! — der Herr Magister Tinte ist kein Herr Magister, das ist der Gnomenkönig Pepser, eigentlich aber eine abscheuliche große Fliege, die eine Perücke trägt und Schuhe und Strümpfe." Die Eltern staunten die Kinder an, die nun ganz aufgeregt und erhitzt durcheinander von dem fremden Kinde, von seiner Mutter, der Feenkönigin, von dem Gnomenkönig Pepser und von dem Kampf des Fasanenfürsten mit ihm erzählten. "Wer hat euch denn die tollen Dinge in den Kopf gesetzt, habt ihr geträumt, oder was geschah sonst mit euch?" So fragte Herr von Brakel ein Mal über das andere; aber die Kinder blieben dabei, daß sich alles so zugetragen, wie sie es erzählten, und daß der häßliche Pepser, der sich für den Herrn Magister Tinte fälschlich ausgegeben, tot im Walde liegen müsse. Die Frau von Brake! schlug die Hände über den Kopf zusammen und rief ganz traurig: "Ach, Kinder, Kinder, was soll aus euch werden, wenn euch solche entsetzliche Dinge in den Sinn kommen und ihr euch davon nichts ausreden lassen wollt!" —Aber der Herr von Brake! wurde sehr nachdenklich und ernsthaft. "Felix", sprach er endlich, "Felix, du bist nun schon ein ganz verständiger Junge, und ich kann es dir wohl sagen, daß auch mir der Herr Magister Tinte von Anfang an ganz seltsam und verwunderlich vorgekommen ist. Ja, es schien mir oft, als habe es mit ihm eine besondere Bewandtnis und er sei gar nicht so wie andere Magister. Noch mehr! — ich sowohl als die Mutter, beide sind wir mit dem Herrn Magister Tinte nicht ganz zufrieden, die Mutter vorzüglich, weil er ein Naschmaul ist, alle Süßigkeiten beschnuppert und dabei so häßlich brummt und summt, er wird daher auch wohl nicht lange bei uns bleiben können. Aber nun, lieber Junge, besinne dich einmal, gesetzt auch, es gebe solche garstige Dinger, wie Gnomen sein sollen, wirklich in der Welt, besinne dich einmal, ob ein Herr Magister wohl eine Fliege sein kann?" — Felix schaute dem Herrn von Brakel mit seinen blauen klaren Augen ernsthaft ins Gesicht. Der Herr von Brakel wiederholte die Frage: "Sag, mein Junge! kann wohl ein Herr Magister eine Fliege sein?"Da sprach Felix: "Ich habe sonst nie daran gedacht und hätte es auch wohl nicht geglaubt, wenn mir es nicht das fremde Kind gesagt und ich es mit eigenen Augen gesehen hätte, daß Pepser eine garstige Fliege ist und sich nur für den Magister Tinte ausgegeben hat. — Und Vater", fuhr Felix weiter fort, als Herr von Brakel wie einer, der vor Verwunderung gar nicht weiß, watet sagen soll, stillschweigend den Kopf schüttelte, "und Vater, sage, hat dir der Herr Magister Tinte selbst nicht einmal entdeckt, daß er eine Fliege sei? —habe ich's denn nicht selbst gehört, daß er dir hier vor der Türe sagte, er sei auf der Schule eine muntre Fliege gewesen? Nun, was man einmal ist, das muß man, denk ich, auch bleiben. Und daß der Herr Magister, wie die Mutter zugesteht, so ein Naschmaul ist und an allem Süßen schnuppert, nun, Vater! wie machen's denn die Fliegen anders? und das häßliche Summen und Brummen?" — "Schweig", rief der Herr von Brakel ganz erzürnt, "mag der Herr Magister Tinte sein, was er will, aber soviel ist gewiß, daß der Fasanenfürst ihn nicht totgebissen hat, denn dort kommt er eben aus dem Walde!" Auf dieses Wort schrien die Kinder laut auf und flüchteten ins Haus hinein. In der Tat kam der Magister Tinte den Birkengang herauf, aber ganz verwildert, mit funkelnden Augen, zerzauster Perücke, im abscheulichen Sumsen und Brummen sprang er von einer Seite zur andern hoch auf und prallte mit dem Kopf gegen die Bäume an, daß man es krachen hörte. So herangekommen, stürzte er sich sofort in den Napf, daß die Milch überströmte, die er einschlürfte mit widrigem Rauschen. "Aber um tausend Gottes willen, Herr Magister Tinte, was treiben Sie?" rief die Frau von Brake!. "Sind Sie toll geworden, Herr Magister, plagt Sie der böse Feind?" schrie der Herr von Brakel. Aber alles nicht achtend, schwang sich der Magister aus dem Milchnapf, setzte sich auf die Butterbrote hin, schüttelte die Rockschöße und wußte mit den dünnen Beinchen geschickt darüber hinzufahren und sie glattzustreichen und zu fälteln. Dann stärker summend, schwang er sich gegen die Türe, aber er konnte nicht hineinfinden ins Haus, sondern schwankte wie betrunken hin und her und schlug gegen die Fenster an, daß es klirrte und schwirrte. "Ha, Patron", rief der Herr von Brakel, "das sind dumme unnütze Streiche, wart, das soll dir übel bekommen." Er suchte den Magister bei dem Rockschoß zu haschen, der wußte ihm aber geschickt zu entgehen. Da sprang Felix aus dem Hause mit der großen Fliegenklatsche in der Hand, die er dem Vater gab. "Nimm, Vater, nimm", rief er, "schlag ihn tot, den häßlichen Pepser." Der Herr von Brakel ergriff auch wirklich die Fliegenklatsche, und nun ging es her hinter dem Herrn Magister. Felix, Christlieb, die Frau von Brakel hatten die Servietten vom Tische genommen und schwangen sie, den Magister hin und her treibend, in den Lüften, während Herr von Brake! unaufhörlich Schläge gegen ihn führte, die leider nicht trafen, weil der Magister sich hütete, auch nur einen Augenblick zu ruhen. Und wilder und wilder wurde die tolle Jagd. —Summ - summ - simm -simm - trrr -trrr -stürmte der Magister auf und nieder - und klipp —klapp fielen hageldichter des Herrn von Brakels Schläge, und huß — huß — hetzten Felix, Christlieb und die Frau von Brake! den Feind. Endlich gelang es dem Herrn von Brakel, den Magister am Rockschoß zu treffen. Ächzend stürzte er zu Boden; aber in dem Augenblick, daß der Herr von Brake! ihn mit einem zweiten Schlage treffen wollte, schwang er sich mit erneuter doppelter Kraft in die Höhe, stürmte sausend und brausend nachden Birken hin und ließ sich nicht wieder sehen. "Gut, daß wir den fatalen Herrn Magister Tinte los sind", sprach der Herr von Brake!, "über meine Schwelle soll er nicht wieder kommen." — "Nein, das soll er nicht", fiel die Frau von Brake! ein. "Hofmeister mit solchen abscheulichen Sitten können nur Unheil stiften, da, wo sie Gutes wirken sollen. — Prahlt mit den Wissenschaften und springt in den Milchnapf! — Das nenne ich mir einen schönen Magister!"—Aber die Kinder jauchzten und jubelten und riefen: "Heisa -Papa hat dem Herrn Magister Tinte mit der Fliegenklatsche eins auf die Nase versetzt, und da hat er Reißaus genommen! —Heisa -heisa

Was sich weiter im Walde begab, nachdem der Magister Tinte fortgejagt worden

Felix und Christlieb atmeten frei auf, als sei ihnen eine schwere drückende Last vom Herzen genommen. Vor allem dachten sie aber daran, daß nun, da der häßliche Pepser von dannen geflohen, das fremde Kind gewiß wiederkehren und so wie sonst mit ihnen spielen würde. Ganz erfüllt von freudiger Hoffnung, gingen sie in den Wald; aber es war alles still und wie verödet drin, kein lustiges Lied von Fink und Zeisig ließ sich hören, und statt des fröhlichen Rauschens der Gebüsche, statt des frohen tönenden Wogens der Waldbäche wehten angstvolle Seufzer durch die Lüfte. Nur bleiche Strahlen warf die Sonne durch den dunstigen Himmel. Bald türmte sich ein schwarzes Gewölk auf, der Sturm heulte, der Donner begann in der Ferne zürnend zu murmeln, die hohen Tannen dröhnten und krachten. Christlieb schloß sich zitternd und zagend an Felix an; der sprach aber: "Was fürchtest du dich so, Chistlieb, es zieht ein Wetter auf, wir

müssen machen, daß wir nach Hause kommen." Sie fingen an zu laufen, doch wußten sie selbst nicht, wie es geschah, daß sie, statt aus dem Walde herauszukommen, immer tiefer hineingerieten. Es wurde finsterer und finsterer, dicke Regentropfen fielen herab, und Blitze fuhren zischend hin und her! —Die Kinder standen an einem dicken dichten Gestrüpp. "Christlieb", sprach Felix, "laß uns hier ein bißchen unterducken, nicht lange kann das Wetter dauern." Christlieb weinte vor Angst, tat aber doch, was Felix geheißen. Aber kaum hatten sie sich hingesetzt in das dicke Gebüsch, als es dicht hinter ihnen mit häßlich knarrenden Stimmen sprach: "Dumme Dinger! — einfältig Volk - habt uns verachtet - habt nicht gewußt, was ihr mit uns anfangen sollt, nun könnt ihr sitzen ohne Spielsachen, ihr einfältigen Dinger!" Felix schaute sich um, und es wurde ihm ganz unheimlich zumute, wie er den Jäger und den Harfenmann erblickte, die sich aus dem Gestrüpp, wo er sie hineingeworfen, erhoben, ihn mit toten Augen anstarrten und mit den kleinen Händchen herumfochten und hantierten. Dazu griff der Harfenmann in die Saiten, daß es widrig zwitscherte und klirrte, und der Jägersmann legte gar die kleine Flinte auf Felix an. Dazu krächzten beide: "Wart -wart, du Junge, du Mädel, wir sind die gehorsamen Zöglinge des Herrn Magister Tinte, gleich wird er hier sein, und da wollen wir euch euren Trotz schon eintränken!" —Entsetzt, des Regens, der nun herabströmte, der krachenden Donnerschläge, des Sturms, der mit dumpfern Brausen durch die Tannen fuhr, nicht achtend, rannten die Kinder von dannen und gerieten an das Ufer des großen Teichs, der den Wald begrenzte. Aber kaum waren sie hier, als sich aus dem Schilf Christliebs große Puppe, die Felix hineingeworfen, erhob und mit häßlicher Stimme quäkte: "Dumme Dinger, einfältig Volk - habt mich verachtet - habt nicht gewußt, was ihr mit mir anfangen sollt, nun könnt ihr sitzen ohne Spielsachen, ihr einfältigen Dinger! Wart, wart, du Junge, du Mädel, ich bin der gehorsame Zögling des Herrn Magister Tinte, gleich wird er hier sein, und da werden wir euch euren Trotz schon eintränken!" — Und dann spritzte die häßliche Puppe den armen Kindern, die schon vom Regen ganz durchnäßt waren, ganze Ströme Wasser ins Gesicht. Felix konnte diesen entsetzlichen Spuk nicht vertragen, die arme Christlieb war halbtot, aufs neue rannten sie davon, aber bald, mitten im Walde, sanken sie vor Angst und Erschöpfung nieder. Da summte und brauste es hinter ihnen. "Der Magister Tinte kommt", schrie Felix, aber in dem Augenblick vergingen ihm auch so wie der armen Christlieb die Sinne. Als sie wie aus tiefem Schlafe erwachten, befanden sie sich auf einem weichen Moossitz. Das Wetter war vorüber, die Sonne schien hell und freundlich, und die Regentropfen hingen wie funkelnde Edelsteine an den glänzenden Büschen und Bäumen. Hoch verwunderten sich die Kinder darüber, daß ihre Kleider ganz trocken waren und sie gar nichts von der Kälte und Nässe spürten. "Ach", rief Felix, indem er beide Arme hoch in die Lüfle emporstreckte, "ach, das fremde Kind hat uns beschützt!" Und nun riefen beide, Felix und Christlieb, laut, daß es im Walde widertönte: "Ach, du liebes Kind, komme doch nur wieder zu uns, wir sehnen uns ja so herzlich nach dir, wir. können ja ohne dich gar nicht leben — Es schien auch, als wenn ein heller Strahl durch die Gebüsche funkelte, von dem berührt die Blumen ihre Häupter erhoben; aber riefen auch wehmütiger und wehmütiger die Kinder nach dem holden Gespielen, nichts ließ sich weiter sehen. Traurig schlichen sie nach Hause, wo die Eltern, nicht wenig wegen des Ungewitters um sie bekümmert, sie mit voller Freude empfingen. Der Herr von Brakel sprach: "Es ist nur gut, daß ihr da seid, ich muß gestehen, daß ich fürchtete, der Herr Magister Tinte schwärme noch im Walde umher und sei euch auf der Spur." Felix erzählte alles, was sich im Walde begeben. "Das sind tolle Einbildungen", rief die Frau von Brakel, "wenn euch draußen im Walde solch verrücktes Zeug träumt, sollt ihr gar nicht mehr hingehen, sondern im Hause bleiben." Das geschah denn nun freilich nicht, denn wenn die Kinder baten: "Liebe Mutter, laß uns ein bißchen in den Wald laufen", so sprach die Frau von Brake!: "Geht nur, geht und kommt hübsch verständig zurück." Es geschah aber, daß die Kinder in kurzer Zeit selbst gar nicht mehr in den Wald gehen mochten. Ach! — das fremde Kind ließ sich nicht sehen, und sowie Felix und Christlieb sich nur tiefer ins Gebüsch wagten oder sich dem Ententeich nahten, so wurden sie von dem Jäger, dem Harfenmännlein, der Puppe ausgehöhnt: "Dumme Dinger, einfältig Volk, nun könnt ihr sitzen ohne Spielzeug - habt nichts mit uns artigen gebildeten Leuten anzufangen gewußt - dumme Dinger, einfältig Volk!" — Das war gar nicht auszuhalten, die Kinder blieben lieber im Hause.

Beschluß

"Ich weiß nicht", sprach der Herr Thaddäus von Brakel eines Tages zu der Frau von Brake!, "ich weiß nicht, wie mir seit einigen Tagen so seltsam und wunderlich zumute ist. Beinahe möchte ich glauben, daß der böse Magister Tinte mir es angetan hat, denn seit dem Augenblick, als ich ihm eins mit der Fliegenklatsche versetzte und ihn forttrieb, liegt es mir in allen Gliedern wie Blei." In der Tat wurde auch der Herr von Brake! mit jedem Tage matter und blässer. Er durchstrich nicht mehr wie sonst die Flur, er polterte und wirtschaftete nicht mehr im Hause umher, sondern saß stundenlang in tiefe Gedanken versenkt, und dann ließ er sich von Felix und Christlieb erzählen, wie es sich mit dem fremden Kinde begeben. Sprachen sie denn nun recht mit vollem Eifer von den herrlichen Wundern des fremden Kindes, von dem prächtigen glänzenden Reiche, wo es zu Hause, dann lächelte er wehmütig, und die Tränen traten ihm in die Augen. Darüber konnten sich Felix und Christlieb aber gar nicht zufriedengeben, daß das fremde Kind nun davonbleibe und sie der Quälerei der häßlichen Puppen im Gebüsch und im Ententeiche bloßstelle, weshalb sie gar nicht mehr sich in den Wald wagen möchten. "Kommt, meine

Kinder, wir wollen zusammen in den Wald gehen, die bösen Zöglinge des Herrn Magister Tinte sollen euch keinen Schaden tun So sprach an einem schönen hellen Morgen der Herr von Brakel zu Felix und Christlieb, nahm sie bei der Hand und ging mit ihnen inden Wald, der heute mehr als jemals voller Glanz, Wohlgeruch und Gesang war. Als sie sich ins weiche Gras unter duftenden Blumen gelagert hatten, fing der Herr von Brakel in folgender Art an: "Ihr lieben Kinder, es liegt mir recht am Herzen, und ich kann es nun gar nicht mehr aufschieben, euch zu sagen, daß ich ebensogut wie ihr das holde fremde Kind, das euch hier im Walde so viel Herrliches schauen ließ, kannte. Als ich so alt war wie ihr, hat es mich so wie euch besucht und die wunderbarsten Spiele gespielt. Wie es mich dann verlassen hat, darauf kann ich mich gar nicht besinnen, und es ist mir ganz unerklärlich, wie ich das holde Kind so ganz und gar vergessen konnte, daß ich, als ihr mir von seiner Erscheinung erzähltet, gar nicht daran glaubte, wiewohl ich oftmals die Wahrheit davon leise ahnte. Seit einigen Tagen gedenke ich aber so lebhaft meiner schönen Jugendzeit, wie ich es seit vielen Jahren gar nicht vermochte. Da ist denn auch das holde Zauberkind so glänzend und herrlich, wie ihr es geschaut habt, mir in den Sinn gekommen, und dieselbe Sehnsucht, von der ihr ergriffen, erfüllt meine Brust, aber sie wird mir das Herz zerreißen! — Ich fühl es, daß ich zum letztenmal hier unter diesen schönen Bäumen und Büschen sitze, ich werde euch bald verlassen, ihr Kinder! — Haltet. wenn ich tot bin, nur recht fest an dem holden Kinde!" — Felix und Christlieb waren außer sich vor Schmerz, sie weinten und jammerten und riefen laut: "Nein, Vater - nein, Vater, du wirst nicht sterben, du wirst nicht sterben, du wirst noch lange, lange bei uns bleiben und so wie wir mit dem fremden Kinde spielen!" — Aber Tages darauf lag der Herr von Brake! schon krank im Bette. Es erschien ein langer hagerer Mann, der dem Herrn von Brakel an den Puls fühlte und darauf sprach: "Das wird sich geben Es gab und helfe euch mit meiner Macht, daß ihr froh und glücklich werden sollet immerdar. Behaltet mich nur treu im Herzen, wie ihr es bis jetzt getan, dann vermag der böse Pepser und kein anderer Widersacher etwas über euch! — liebt mich nur stets recht treulich —"Oh. das wollen wir, das wollen wir riefen Felix und Christlieb, "wir lieben dich ja mit ganzer Seele." Als sie die Augen wieder aufzuschlagen vermochten, war das fremde Kind verschwunden, aber aller Schmerz war von ihnen gewichen, und sie empfanden die Wonne des Himmels, die in ihrem Innersten aufgegangen. Die Frau von Brake! richtete sich nun auch langsam empor und sprach: "Kinder! ich habe euch im Traum gesehen, wie ihr wie in lauter funkelndem Golde standet, und dieser Anblick hat mich auf wunderbare Weise erfreut und getröstet." Das Entzücken strahlte in der Kinder Augen, glänzte auf ihren hochroten Wangen. Sie erzählten, wie eben das fremde Kind bei ihnen gewesen sei und sie getröstet habe; da sprach die Mutter: "Ich weiß nicht, warum ich heute an euer Märchen glauben muß und warum dabei so aller Schmerz, alle Sorgen von mir weichen. Laßt uns nun getrost weitergehen." Sie wurden von dem Verwandten freundlich aufgenommen, dann kam es, wie das fremde Kind es verheißen. Alles, was Felix und Christlieb unternahmen, geriet so überaus wohl, daß sie samt ihrer Mutter froh und glücklich wurden, und noch in später Zeit spielten sie in süßen Träumen mit dem fremden Kinde, das nicht aufhörte, ihnen die lieblichsten Wunder seiner Heimat mitzubringen.

"Es ist wahr", sprach Ottmar, als Lothar geendet hatte, "es ist wahr, dein ,Fremdes Kind' ist ein reineres Kindermärchen als dein ,Nußknacker', aber verzeih mir, einige verdammte Schnörkel, deren tieferen Sinn das Kind nicht zu ahnen vermag, hast du doch nicht weglassen können."

"Das kleine Teufelchen", rief Sylvester, "das wie ein zahmes Eichhörnlein unserm Lothar auf der Schulter sitzt, kenne

ich noch von alters her. Er kann sein Ohr doch nun einmal nicht verschließen den seltsamen Sachen, die das Ding ihm zuraunt!"

"Wenigstens", nahm Cyprian das Wort, "sollte Lothar, unternimmt er es, Märchen zu schreiben, doch sich nur ja des Titels: ,Kindermärchen' enthalten! — Vielleicht: ,Märchen für kleine und große Kinder!'"

"Oder", nahm Vinzenz das Wort, ",Märchen für Kinder und für die, die es nicht sind', so kann die ganze Welt ungescheut sich mit dem Buche abgeben und jeder dabei denken, was er will." — Alle lachten, und Lothar schwur in komischem Zorn, daß, da die Freunde ihn nun einmal verloren gäben, er sich im nächsten Märchen rücksichtslos aller phantastischen Tollheit überlassen wolle.

Die Mitternachtsstunde hatte geschlagen. Die Freunde, wechselseitig angeregt durch allen Ernst, durch allen Scherz, der heute vorgekommen, schieden in der gemütlichsten Stimmung.



Ende des zweiten Bandes

Anmerkungen


Die Serapionsbrüder


Entstehung

Die in diesem Sammelwerk innerhalb einer Rahmenunterhaltung zwanglos aneinandergefügten, nach Umfang, Stoff und Kolorit verschiedenen siebenundzwanzig größeren Stücke, darunter Erzählungen, Novellen, Märchen und Charakterbilder, sind bis auf zwei Ausnahmen in den Jahren 1855 bis 1821 entstanden; lediglich den Dialog-Aufsatz "Der Dichter und der Komponist" sowie die Fragment gebliebene Erzählung "Die Automate" hatte der Dichter bereits während seines Aufenthaltes in Dresden und Leipzig (1813/14) verfaßt.

Anfang Februar 1818 schlug der Berliner Verlagsbuchhändler Georg Andreas Reimer, mit dem Hoffmann gerade wegen der Veröffentlichung eines geplanten "Kunstromans" verhandelte, dem Autor vor, anstelle des neuen Projekts zunächst einmal die in Taschenbüchern und Zeitschriften verstreut erschienenen Erzählungen und Märchen, die bereits eine große Publikumswirksamkeit erzielt hatten, zu sammeln und in Buchform herauszugeben. Hoffmann, der inzwischen zu den namhaftesten und gesuchtesten Autoren von Unterhaltungsbeiträgen zahlreicher modischer Periodica zählte, griff diesen Gedanken sofort lebhaft und mit Freude auf und reagierte bereits am 17. Februar in seinem Antwortschreiben an Reimer mit konkreten Überlegungen: "Sehr gern gehe ich auf Ihren gütigen Vorschlag wegen des Abdrucks meiner Erzählungen ein, und wäre schon jetzt Vorrat zu einem artigen Bändchen da, nämlich: 1. ,Der Dichter und der Musiker' (fünf Jahre alter Aufsatz aus der ,Mus[ikalischen] Zeitung'), 2. ,Die Fermate' (,T[aschenbuch] für Frauen'), 3. ,Der Artushof' (,Urania'), 4. ,Fragment aus dem Leben dreier Freunde' (,Wintergarten'). — Zu diesen Erzählungen würde ich zwei neue hinzufügen, um das halbe Dutzend

voll zu machen. Erlauben Sie indessen eine Frage, deren Entscheidung ich Ihnen gänzlich überlasse, so wie Sie glauben, daß das Buch besser geht. Ist es geratener, die Sachen unter dem simplen Titel ,Erzählungen' gehn zu lassen oder eine Einkleidung zu wählen nach Art des Tieckschen ,Phantasus'? — Wahrscheinlich sind Sie auch heute bei Rust [Direktor der chirurgischen Abteilung an der Berliner Charité], welcher dreitausend Personen männlichen Geschlechts zum Tee eingeladen hat. Das wäre mir lieb, da könnten wir denn noch ein Wörtlein über jene Angelegenheit sprechen

Bei diesem Zusammentreffen wurden gleich weitere Einzelheiten vereinbart, so u. a. die Aufnahme der in den beiden Bänden "Kinder-Märchen" (1816/17) enthaltenen Beiträge Hoffmanns, nämlich der Geschichten vom "Nußknacker und Mausekönig" und vom "Fremden Kind" (vgl. S. 689 f. und S. 744 f.), in die in Aussicht genommene Sammlung. Reimer versprach einen Vorschuß von W Reichstalern (der am 24. Juni 1818 ausgezahlt wurde). Er zeigte sich auch äußerst angetan von der Idee, die einzelnen Teile ähnlich wie in Ludwig Tiecks Werk "Phantasus. Eine Sammlung von Märchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen" durch Zwischenreden und überleitende Dialoge miteinander zu einem Ganzen zu verbinden, so daß der Dichter unmittelbar nach dieser mündlichen Übereinkunfl. wahrscheinlich schon zwischen dem 17. und 24. Februar 1818 die Grundzüge der Einkleidung des ersten Bandes entwarf.

Trotz der Anlehnung an Tieck erweist sich Hoffmanns zyklische Komposition durchaus als originäre Leistung. Nicht nur die Reihenfolge der Stücke ist nach Form und Inhalt abwechslungsreicher, lockerer und überraschender, die Darstellung der Gesprächsabende "krauser und bunter", provozierender - auch das rasche Umsetzen des Diskussionsstoffes in poetische Bilder und Intermezzi frappiert. Darüber hinaus nutzt der Autor die Gesprächspartien des Rahmengeschehens zu selbstkritischen Betrachtungen seiner Erzählungen und findet Gelegenheit, sich über seine Arbeiten und Schaffensmethoden selbst auszusprechen sowie Angaben über seine Quellen zu machen. — Während die übergangslos in die Rahmengespräche eingefügten poetischen Episoden ohne besondere Überschrift blieben, sind andere Einfügungen, deren Selbständigkeit und Eigenart schon äußerlich, anhand des Umfangs, erkennbar sind, bei späteren Editionen mit (in eckige Klammern gesetzten) Titeln versehen worden.

Der von Hoffmann im Brief vom 24. Februar 1818 vorgeschlagene

Buchtitel "Die Seraphinen-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. Herausgegeben von E. T. A. Hoffmann" wurde vom Verleger sogleich akzeptiert und das Verlagsvorhaben unmittelbar darauf - mit allzu großem Optimismus, was den Erscheinungstermin anbelangt - im Ostermeßkatalog mit einem Umfang von zwei Oktavbänden angekündigt. Den klangvollen Namen für die "literarische Bruderschaft" hatte Hoffmann nach der geselligen Vereinigung gewählt, die er unmittelbar nach seiner Übersiedlung nach Berlin im Jahre 1814, am 12. Oktober - dem (im Kalender verzeichneten) katholischen Gedenktag für den heiligen Seraphinus von Montegranaro -, zusammen mit dem langjährigen Freund Julius Eduard Hitzig und neu hinzugekommenen Berliner "Original- und Schöngeistern" wie dem Mediziner und Schriftsteller Johann Ferdinand Koreff, dem Bühnendichter und Novellisten Karl Wilhelm Salice-Contessa, dem preußischen Major Friedrich von Pfuel und dem Theologiestudenten und Lyriker Georg Seegemund ins Leben gerufen hatte. Gern gesehene Gäste dieses Freundeskreises waren der im märkischen Nennhausen (bei Rathenow) ansässige Offizier und Dichter Friedrich Baron de la Motte Fouqué, Hoffmanns Jugendfreund Theodor Gottlieb von Hippel und der sich auf seine Weltreise vorbereitende Dichter Adelbert von Chamisso. Gelegentlich erschien auch der Dichter und Dramatiker Ludwig Robert, den Hoffmann bereits in seinem Dialog-Aufsatz "Die seltsamen Leiden eines Theaterdirektors" erwähnt hat (vgl. Band 3 unserer Ausgabe). Dieser "in sich höchst zufriedene Zirkel" unterschiedlichster Temperamente zeichnete sich durch Geist und pointierten Witz aus und bot den Teilnehmern manche Anregung zu eigenen literarischen Unternehmungen sowie Gelegenheit zu vielseitigem Gedankenaustausch über aktuelle künstlerische und kulturgeschichtliche Fragen und Probleme. Die bis zum Herbst 1816 nachweisbaren abendlichen Zusammenkünfte fanden (meist einmal wöchentlich) entweder im Café Manderlee (bis 1818 Unter den Linden 44) oder in der Wohnung Hoffmanns bzw. eines der Beteiligten statt.

Im Sommer und Herbst 1818 trat das neue Projekt zunächst noch einmal in den Hintergrund. Hoffmann war damals vollauf beschäftigt mit den abschließenden Arbeiten an den "Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors" (1818) sowie mit der Niederschrift seines Märchens "Klein Zaches genannt Zinnober" (1819) — während der Verleger. immer in Erwartung von Manuskriptlieferungen, auch zur Michaelismesse wieder annoncierte und diesmal unvorsichtigerweise das "erste

Bändchen ,Seraphinen-Brüder'" als "bereits fertig geworden" ankündigte. Der Autor indes sah sich erst nach der Wiederaufnahme der geselligen Zusammenkünfte "mit einigen herzgeliebten, seinen Dichtungen geneigten Freunden nach langer Trennung" — wie er im Vorwort des ersten Bandes berichtet - veranlaßt, die Sammlung nun endlich energisch in Angriff zu nehmen, und zwar unter dem veränderten Titel "Die Serapionsbrüder". Nach Hoffmanns Version wurde der Freundesklub nämlich "wirklich an einem Serapionstage" — am 14. November 1818 — in des Dichters Wohnung (Taubenstraße Nr. 3111, Ecke Charlottenstraße) wieder aktiviert und zu produktiver Tätigkeit erweckt (vgl. S. 6 so). Jetzt brauchte Hoffmann für die neu zu schaffenden Gespräche seiner Rahmenerzählung nicht mehr bloß aus der Erinnerung zu schöpfen, sondern konnte die vielfältigen Denkanstöße dem unmittelbaren Erleben entnehmen. So bringen die "Serapionsbrüder" eine Fülle von biographischem Material, und die geschilderten Zirkelabende lassen sich, wie Friedrich Schnapp in seiner Monographie "Der Seraphinenorden und die Serapionsbrüder E. T. A. Hoffmanns" (1962) nachgewiesen hat, zum größten Teil mit den tatsächlich stattgefundenen Zusammenkünften in Beziehung setzen. Die künstlerische Komposition der Rahmenhandlung entspricht dann auch insofern der Wirklichkeit, als die Werkeinteilung in acht Abschnitte eine literarische Parallele zu den gemeinsam verbrachten Abenden darstellt, wobei den Gesprächen der Abschnitte 1-5 sowie 7 und 8 offensichtlich die jeweils unmittelbar vorausgegangenen Begegnungen der Freunde (54. und 21. November, 12. und 59. Dezember 1818; 31. Mai und Spätherbst 1819; Mitte Februar 1820) zugrunde liegen, während die Schilderung des sechsten Abends wohl als Rückblick auf eine Geselligkeit nach der Premiere von Contessas Lustspiel "Der Schatz" im Juni 1817 zu gelten hat. Dabei werden den Teilnehmern der Gesprächsrunde Rollen zugeteilt, die, zumindest was die "den Grundpfeiler dieses Vereins" bildenden Freunde Hitzig, Koreff, Salice-Contessa und Hoffmann betrifft, viele persönliche Züge und Charakteristika aufweisen. Es gilt in der Hoffmann-Forschung als ausgemacht, daß nach Art, Auffassung und Stil der Einlassungen sowie Vortragsweisen Hitzig mit Ottmar, Koreff mit Vinzenz, Contessa mit Sylvester und (nach einer Hypothese Hans von Müllers) Hoffmann selbst sowohl mit Theodor (Musiker), Cyprian (Phantast) und Lothar (Ironiker) zu identifizieren sei und daß der Dichter die verschiedenen Geschichten den Gesprächsteilnehmern entsprechend ihren typischen Eigenarten in den Mund gelegt habe. Das geschieht natürlich nicht streng formal, sondern mit mutwilligen Übergängen und zuweilen auch durch scherzhafte Umkehrung, wie zum Beispiel im Falle des pedantischen Ottmar-Hitzig, dem ausgerechnet die Spukgeschichte "Der unheimliche Gast" zudiktiert wird.

Mit voreiligen Versprechungen den Verleger weiter hinhaltend, schrieb Hoffmann am 21. Dezember 1818 an Reimer noch in dieser Woche erhalten Sie den Schluß des ersten Bandes und womöglich die Einleitung des zweiten." Erst sechs Tage zuvor jedoch hatte er den Berliner Leihbibliothekar Friedrich Kralowsky schriftlich ersucht, ihm "behufs einer literarischen Arbeit [der Erzählung "Die Bergwerke zu Falun"] .. . eine Reise durch Schweden zu senden". Die Niederschrift der das erste Buch eröffnenden und den Titel motivierenden Geschichte vom Märtyrer Serapion sowie die Fertigstellung der einleitenden und verbindenden Dialoge bzw. Anekdoten und Glossen (vgl. S. 13-19) ist nicht vor dem 14. November 1818 zu datieren. Von älteren Arbeiten übernahm Hoffmann die im Brief an Reimer vom 17. Februar 1818 genannten vier Stücke sowie die Geschichte vom Rat Krespel und das Nußknacker-Märchen. Um den Wert des Bandes noch zu erhöhen, fügte er außerdem als "Zugstück" die bisher ungedruckte Erzählung "Die Bergwerke zu Falun" in den vorgegebenen Rahmen mit ein. Die Auslieferung des Buches erfolgte Ostern 1819.

Mit der Fortsetzung des Sammelwerkes beschäftigt, erkrankte Hoffmann im Frühjahr 1819 "an den Folgen zu großer Anstrengungen in der Arbeit" für mehrere Monate und bedurfte wieder einmal der finanziellen Unterstützung durch seinen Verleger, den er am 11. März 1819 "dringendst" um einen erneuten Voschuß bat. (Im Juni belief sich die Summe der Vorauszahlungen für den zweiten Band der "Serapionsbrüder" bereits auf 228 Reichstaler.) Von Juli bis September weilte der Dichter dann zu einer Kur "in dem herrlichen Schlesischen Gebürge (Warmbrunn, Flinsberg, Landek)", nach der er sich, "auf eine unanständige Weise gesund", für das im Entstehen begriffene literarische Unternehmen, mit dem er schon so sehr in Verzug geraten war, neu inspiriert fühlte. Auch hier wieder sind mit einem Grundstock von älteren Erzählungen und bereits früher veröffentlichten musikalischen Aufsätzen ("Alte und neue Kirchenmusik") neue Arbeiten verbunden: eine einleitende wiederholte Auseinandersetzung mit der Zeitmode des Magnetismus (vgl. die Anmerkungen zu S. 355), wobei der Autor wiederum geschickt von den theoretischen Betrachtungen

zur poetischen Illustration überleitet, eine "Spukgeschichte": die aus Reflexionen über "chimärische Spukerei" hervorwächst, und an die Erörterungen des ersten Bandes anschließende ästhetische Ausführungen. Die Ablieferung des Manuskripts zum zweiten Band erfolgte wieder schubweise und unter ständigem hartnäckigem Drängen des Verlegers. Seine sechs Belegexemplare indes konnte Hoffmann trotz des in aller Eile betriebenen Satzes und Druckes erst Mitte September 1819, kurz nach der Michaelismesse, in Empfang nehmen.

Inzwischen hatte der Plan für die Bände 3 und 4 ebenfalls in den wesentlichen Umrissen Gestalt angenommen. Jedenfalls wandte sich Hoffmann unter dieser Voraussetzung im Dezember 1819 erneut in einem "Brandbrief" an den Verleger, worin es heißt: "In der Überzeugung, daß Sie, als der gütigste Verleger, Ihren Autor nicht in Verlegenheit geraten lassen werden, bitte ich Sie recht sehr, wenn es nur irgend möglich ist, mir bis zum ;. oder 4. Januar mit 20 Friedrichsdor unter die Arme zu greifen. Die jetzige Zeit ist an der verdrießlichsten Arbeit überreich, aber an Einnahmen bettelarm!" — Nach einer Eintragung im Hauptbuch reagierte Reimer darauf wiederum positiv und "zahlte ihm vorschußweise auf den dritten Band der ,Serapionsbrüder' ioo [Reichstaler]". Dasselbe wiederholte sich noch zweimal im Juni 1820, wobei im Hauptbuch für den 6. und 30. "fernere vorschußweise" Zahlungen (Hoffmann: "versprochene Remessen") auf den gleichen Band von je 56 Reichstalern ausgewiesen sind.

Im Herbst des Jahres 1820 drängte Reimer den Autor brieflich mehrfach zur Fertigstellung der Arbeit, und Hoffmann machte erneut Zusagen und Versprechungen. So schrieb er dem besorgten Verleger am 6. September auf dessen Anfrage nach weiteren Manuskripten: "Ein paar Tage ließ ich es deshalb anstehen, Ihnen, verehrtester Freund! zu antworten, weil ich erst ein sehr verdrießliches Geschäft. das mir bis jetzt alle Muße und, was noch schlimmer ist, alle Laune zum Schriftstellern raubte, endigen und dann mit Bestimmtheit mich über die Serap[ionsjbr[üder] erklären wollte. Jetzt ist jenes Geschäft... wirklich beendigt, ich habe gestern [als Mitglied einer juristischen Untersuchungskommission] den letzten Aktenbündel zusammengeschnürt und werde nun mit neuer Lust ununterbrochen an den Serap[ions]brüdern fortarbeiten. Der vierte Band wird außer den beiden schon abgedruckten Erzählungen ,Salvator Rosa' oder vielmehr ,Signor Formica' und ,Der Zusammenhang der Dinge' (die Wiener Preiserzählung) aus lauter Neuigkeiten bestehen. Den dritten Band

schließe ich in diesen Tagen auch mit einem funkelnagelneuen Märlein ["Die Königsbraut"], so daß er wohl auch achtunddreißig Bogen stark ausfallen wird." — "In diesem Augenblick arbeite ich fleißig", heißt es noch einmal ausdrücklich fünf Tage später auf eine neuerliche "Erinnerung", und der Verleger erhält die Versicherung: "Sie können, verehrtester Freund! sicher darauf rechnen, daß in dieser Woche der dritte Teil beendigt wird. So sehr läßt sich denn doch nicht die Sache übers Knie brechen, da ich um alles in der Welt nicht wollte, daß Tom. [Teil] III den ersten nachstünde."

Auch das dritte Bändchen wird wieder durch ein Gespräch eröffnet, das unmittelbar auf die Verhältnisse des Freundesbundes, insbesondere die Erkrankung Hoffmanns, Bezug nimmt und dann zu Fragen über Wert und Unwert alter Chroniken als Stoffquellen überleitet, woran sich der Schwank "Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes" anschließt. Die geschickte Einfügung von Reflexionen zwischen die größeren Stücke, unter anderem über das moderne Märchen oder über Theaterdichter und Theater (Drama und Novelle), dazu die das Lieblingsthema "närrische Käuze" betreffende Glosse vom Baron von R., die zu der Geschichte vom schrullig-liebenswerten Musikenthusiasten Baron von B. überleitet, lassen die reiche Erfindungsgabe und die handwerkliche Fertigkeit des routinierten Publizisten erkennen. Die Arbeiten am Band 3 der "Serapionsbrüder" schloß Hoffmann im Herbst 1820 ab, so daß dieser Teil im Oktober 1820 erscheinen konnte.

Die Einleitung zum vierten Band "endigte" Hoffmann, einem Schreiben an den Verleger vom 11. November 1820 zufolge, "in diesem Augenblick". "Und da gleich hinterher ,Signor Formica' folgt", heißt es im selben Brief, "so sind zwölf bis dreizehn Bogen zum Abdruck parat. Morgen vormittag schicke ich Ihnen, verehrtester Freund, Manuskript und Taschenbuch. — Fest überzeugt bin ich, daß ich keine Fehlbitte tue, wenn ich Sie recht dringend ersuche, mir mit 50 Rtl. unter die Arme zu greifen, gewiß werden Sie diese Kleinigkeit Ihrem eben bedrängten Autor nicht abschlagen Mit einem im Dezember 1820 erneut auftretenden Unwohlsein (Nesselfieber) entschuldigte Hoffmann dann gegenüber seinem Verleger die Verzögerung bei der Fertigstellung des Manuskriptes und bat gleichzeitig um einen weiteren Vorschuß. "Sie wissen, verehrtester Freund! gewiß nicht", schrieb er am 21. Januar 1821 an Reimer, "daß ich schon seit drei Wochen recht krank und erst jetzt aus dem Bette wieder erstanden bin, vielleicht

wären Sie sonst vorübergehend einmal bei mir eingesprochen Die Krankheit hat mich wieder sehr in meinem Tun und Treiben gehemmt, demunerachtet schreitet aber der vierte Teil der ,Serap[ions]brüder' unaufhaltsam fort und wird, so Gott will, der interessanteste werden, da er nur zwei schon gedruckte Erzählungen, wovon die eine (im ,Wiener Zeitblatt' abgedruckt) uns ziemlich unbekannt geblieben ist, sonst aber lauter Neues enthält. — Das Neujahr hat mich so viel Geld gekostet, daß ich schier in Verlegenheit gerate, welches mich nötigt, Sie, verehrtester Freund, recht herzlich zu bitten, mir den Rest des Honorars für den vierten Teil (so Rtl. Cour[ant] habe ich erhalten), der geradeso stark wie die vorigen wird, gütigst, sobald es nur sein kann, zahlen zu wollen..

Die neu entstandenen verbindenden Teile der Rahmenhandlung des vierten Bandes umfassen: einen mit Anekdoten angereicherten Eröffnungsexkurs über die "Kunst der Unterhaltung"; eine literarische Debatte, vor allem über Persönlichkeit und Werk des Schriftstellers Zacharias Werner; Erinnerungen an die Dresdener Kriegstage von 1813 (als Überleitung zu der Erzählung "Erscheinungen"); ein auf Byron, Scott und Heinrich von Kleist Bezug nehmendes Gespräch über ein weiteres Lieblingsthema Hoffmanns: die ästhetische Verwertbarkeit des "Schauerlichen", das die Geschichte vom "Vampirismus" vorbereitet, sowie - als Kontrast zu dieser "gräßlichen" Skizze - ein höchst amüsantes parodistisches Kabinettstück zu dem wiederholt behandelten Thema "ästhetische Teegesellschaften". Der Band schließt mit dem ursprünglich für den dritten Teil vorgesehenen, offenbar aber nicht rechtzeitig fertig gewordenen "funkelnagelneuen Märlein" "Die Königsbraut". Die abschließenden, das heißt neuen Arbeiten für den vierten Band haben Hoffmann ungefähr fünf Monate lang beschäftigt; ihr zeitlicher Ablauf läßt sich anhand der Eintragungen in Reimers Hauptbuch verfolgen, wonach der Dichter ratenweise folgende Vorschußzahlungen erhielt: am 11. November 1820: 50 Reichstaler, am 8. Januar 1821: 50 Reichstaler, am 10. Februar 1821: 50 Reichstaler und am 26. April 1821: 61,20 Reichstaler.

Gerade noch rechtzeitig zur Ostermesse 1821 war der Druck abgeschlossen und für Hoffmann ein weiteres Kapitel seines poetischen Schaffens beendet.

Der Text unserer Edition folgt den Erstausgaben von 1819 bis 1825.


Wirkung


Urteile und Rezensionen

Hoffmanns umfangreichste Sammlung von Erzählungen, Novellen, Märchen, anekdotischen Zeit- und Geschichtsbildern samt den verbindenden Dialogen hat bei den Zeitgenossen einen zweifellos großartigen Erfolg erzielt. Der Verfasser stand inzwischen im Rufe eines nicht nur "genialen", sondern auch prominenten Autors für spannende bzw. unterhaltsame Prosa, und namentlich die Redaktionen von Taschenbüchern, Literaturblättern und Jahrbüchern bewarben sich um seine Mitarbeit, der ständig wachsenden Beliebtheit des Dichters Rechnung tragend.

Leider spiegeln die wenigen, zumeist zufällig überlieferten Urteile aus literarischen Kreisen nicht die Wertschätzung wider, die Hoffmanns poetisches Schaffen inder interessierten und lesenden Öffentlichkeit erfuhr. Die zeitgenössischen Koryphäen der Dichtkunst von Goethe bis Jean Paul, Tieck und Eichendorff hielten an ihrer grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber dem Gesamtwerk des Autors fest. Hoffmann näherstehende Dichter wie Brentano. Chamisso und Fouqué übten Zurückhaltung; jedenfalls sind von ihnen keine nennenswerten Äußerungen zum vorliegenden Sammelwerk bekannt geworden. Selbst Rahel Varnhagen von Ense und Wilhelm Grimm, die zur Beförderung romantischer Poesie wesentlich beigetragen haben, zeigten für Hoffmanns Schöpfungen kein Verständnis.

Ludwig Börne (1786-1837) trat gleich zu Beginn seiner publizistischen Tätigkeit mit einer radikal negativen Beurteilung von Hoffmanns "Serapionsbrüdern" hervor, die er 1820 in der von ihm herausgegebenen politisch engagierten Publikation "Die Waage, eine Zeitschrift für Bürgerleben, Wissenschaft und Kunst" (Heft 8) erscheinen ließ. Darin heißt es (bezogen vor allem auf das "serapiontische Prinzip"): "So durch und durch, so ganz, nicht bloß nach innen, sondern auch an seinen Oberflächen wertlos, so ohne die geringste Beimischung von Wahrheit ist jener Lehrsatz, der von der Natur des Dichters gegeben wird... Es ist falsch, daß der wahre Dichter ein Seher sei. Ein Seher ist ein verzückter oder verrückter Geist. ein Gott. zu dem wir nicht hinaufreichen, oder ein kranker Mensch, zu dem wir nicht hinabsteigen können. Der Dichter muß menschlich fühlen, um Menschen zu bewegen . ." Auf Hoffmanns erzählerische Eigenart eingehend,

fährt Börne fort. "In allen diesen gesammelten Erzählungen und Märchen herrscht eine abwärts gekehrte Romantik, eine Sehnsucht nach einem tieferen, nach einem unterirdischen Leben, die den Leser anfröstelt und verdrießlich macht. Es ist Phantasie darin, aber nicht die hell aufflammende, schaffende, sondern eine rotglühende, zersetzende Phantasie. Wer auf Marionettenbühnen jene tanzenden. Figuren gesehen hat, die Hände und Arme, dann Füße und Schenkel, endlich den Kopf wegschleudern, bis sie zuletzt als greuliche Rumpfe umherspringen, der hat die Gestalten der Hoffmannschen Erzählungen gesehen, nur daß diese von allen Gliedern den Kopf zuerst verlieren. Man hört nicht die Aussprüche eines verzückten, begeisterten, man vernimmt nur die erzwungenen Geständnisse eines auf die Folter gespannten Gemüts. Es ist kein Tagesstrahl in den Gemälden, alles Licht kommt nur von Irrwischen, Blitzen und Feuersbrünsten Selbst die Musik, die in allen Werken des Verfassers widerklingt, sie dient nicht dazu, den Himmel, dessen Dolmetscherin sie ist, auf die Erde herabzuziehen und ihr verständlich zu machen, sie wird nur gebraucht, um höhnend den unermeßlichen Abstand zwischen Himmel und Erde zu beweisen, zu zeigen, daß jene Höhe von sehnsuchtsvollen Menschen nie erreicht werden könne, und ihnen ,das Mißverhältnis des innern Gemüts mit dem äußern Leben' genau vorzurechnen, damit sie ja nicht der Verzweiflung--entgehen- ,-,--In den Worten, die der Verfasser einen der Serapionsbrüder sagen läßt: ,Ich tadle, o Cyprian, deinen närrischen Hang zur Narrheit, deine wahnsinnige Lust am Wahnsinn. Es liegt etwas Überspanntes darin.. .', hat der Verfasser das Urteil gegen sich selbst gesprochen... Eine Reihe heiterer Gemälde mag hier und dort, von einem schauerlichen Nachtstücke unterbrochen, noch genußbringender werden... Den Wert eines poetischen Werkes habe ich gewagt ihm abzusprechen, aber den eines wissenschaftlichen gebe ich ihm willig. Es ist ein Lehrbuch, mit den schönsten Bildnissen geziert, es ist der elegante Pinel [vgl. die zweite Anm. zu S. 23], es ist die Epopöe des Wahnsinns. Ein lobenswertes Unternehmen, wenn es lobenswert ist, den menschlichen Geist, der nachtwandelnd an allen Gefahren unbeschädigt vorübergeht, aufzuwecken, um ihn vor dem Abgrunde zu warnen, der zu seinen Füßen droht." (Gesammelte Schriften, Band 6, Wien 1868, S. W ff.)

Ganz anders erscheint Hoffmann im Urteil von Willibald Alexis (1798-1871), der in seiner kenntnisreichen, kritisch würdigenden Arbeit "Zur Beurteilung Hoffmanns als Dichter" (erschienen als Beitrag

zu Hitzigs Biographie "Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß", 1823) zwei Erzählungen aus den "Serapionsbrüdern" besonders auszeichnet. "Auch außer seinen treiflichen ,Fantasiebildern'", schreibt Alexis, "hat er uns einige Dichtungen hinterlassen, welche zu den gelungensten in ihrer Art gehören und uns die sicherste Bürgschaft dafür abgeben, daß, wenn er einmal zur Überzeugung gelangt wäre, ,der Weg des Studiums der Natur sei dem der Ausbildung einer ungezügelten Phantasie vorzuziehen', auch Hoffmann ein wirklich klassischer, vielleicht der erste klassische Romanendichter der Deutschen geworden wäre. Wir berufen uns hier auf die Novellen ,Fräulein Scuderi', ,Das Majorat' (in den ,Nachtstücken'), der ,Küfer Martin und seine Gesellen', welche zur Zeit ihres Erscheinens allgemeines Aufsehen erregten und, ein Zeichen ihres innern Wertes, auch noch jetzt als Meisterstücke im Gedächtnisse derer leben, welche sie gelesen haben. In diesen Erzählungen hat sich Hoffmann selbst überwunden, d. h. seine wilde Kraft bezwungen. Die ausschweifende Phantasie, der ungezügelte Humor sind dienstbar geworden einer höhern Anordnung der Dinge. Wir finden dagegen eine klare Auffassung und Verarbeitung des Gegenstandes, und die Novellen sind in sich so geründet und abgeschlossen, wie wir die Kraft dazu dem Dichter der ,Fantasiestücke' kaum zutrauten. Die Darstellung ist ein Meisterwerk der reinen unparteiischen Relation, und man bemerkt mit Freuden, welchen günstigen Einfluß juristische Ansicht und Praxis hierin auf den Dichter ausübten; auch die Sprache ist ein Muster der Gewandtheit und Eleganz. Die Charaktere sind mit wenigen Strichen trefflich angedeutet und individualisiert, auch durch die ganze Erzählung gehalten. Selbst ihr Äußeres ist so eigentümlich, daß, wenn man die Gestalt einmal erblickt hat, sie nicht wieder aus dem Gedächtnis verschwinden kann. Man erkennt und bewundert im Dichter den genauen Beobachter des äußern Menschen und den Maler zugleich. Endlich erinnert auch die Szenerie, der leicht hingeworfene oder mit Vorliebe ausgemalte Hintergrund an einen ausgezeichneten Künstler. Im ,Küfer Martin' gleicht die Szene, welche das reichstädtische reiche und bunte Leben Nürnbergs treffend darstellt, einem altdeutschen Gemälde, wo der Künstler Himmel und Erde, auf welcher die Personen erscheinen. mit allem Fleiße vergoldet hat. In der ,Scuderi' ist das für wahre Poesie so trüb aussehende Zeitalter Ludwigs XIV. von einer poetischen Seite aufgefaßt, wie es nie bisher geschehen ist" (Hitzig, Teil 2, S. 348 ff.). Auf die Buchausgabe der "Serapionsbrüder" bezogen, fügt Alexis dieser Beurteilung noch hinzu, daß die verbindenden Dialoge "den geistreichen Denker" zeigen (ebenda, S. 356).

Friedrich Hebbel (1813-1863), der bekannt hat, daß Hoffmann als einer seiner literarischen "Jugendbekannten" ihn "früh berührte" und daß er "von ihm zuerst auf das Leben als die einzige Quelle echter Poesie hingewiesen" worden sei, machte sich mehrfach Notizen und Exzerpte aus den "Serapionsbrüdern". Am 24. November 1843 vermerkte er in seinem Tagebuch: "So befreite ich neulich Hoffmanns ,Serapionsbrüder' [durch den Kauf aus einem Antiquariat] und das Buch erzeigte sich dankbar gegen mich, es vertraute mir außer den Grauengeschichten, die es jedermann erzählt, seine Schicksale und sagte mir unter anderem, der Antiquar, bei dem ich es getroffen, habe sich in seine bettelhafte Gestalt anfangs gar nicht finden können, aber dann sei ihm das Richtige eingefallen und er habe ausgerufen: ,Die deutschen Autoren sind, das sieht man, die unverschämtesten von der Welt, sie zwingen ihren armen Verlegern so ungeheure Honorare ab, daß diesen für die Ausstattung ihrer Werke nichts mehr übrigbleibt...'"

In den literarhistorischen Betrachtungen "Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland" (1847) von Joseph von Eichendorff (1788-1857) findet sich zwar dieselbe Wertschätzung der bei Alexis genannten Erzählungen, nur sind die Kriterien von völlig anderer Natur. Eichendorff charakterisiert Hoffmanns Schaffen vom Standpunkt des Katholizismus als einen Niedergang der Poesie "bis zum Gemeinen" und erhebt gegen ihn den Vorwurf, "daß er den Zauberkreis, den Religion und Sitte um uns ziehen. freventlich überschritten" habe; dabei räumt er zum Schluß ausdrücklich ein: "Hätte er [Hoffmann], im Leben wie im Dichten, sich selbst überwinden wollen, er hätte vielleicht Größeres geleistet; daß er es konnte, hat er in seinem ,Fräulein Scuderi', im ,Majorat' und im ,Küfer Martin und seine Gesellen' überraschend dargetan. Sein Mangel war daher weniger ein literarischer als ein ethischer, und es ist keinesweges zufällig, daß die ganz unmoralische sogenannte Romantik in Frankreich ihn fast ausschließlich als ihren deutschen Vorfechter anerkennt" (S. 259).



Wesentlich größer als bei den zeitgenössischen Schriftstellern war die Resonanz, die Hoffmanns "serapiontische" Erzählungen bei der öffentlichen Literaturkritik. d. h. in der literarisch ambitionierten Presse fanden. Allerdings sind die Stellungnahmen von recht unterschiedlicher Qualität: Während die Kritiken über die Erstveröffentlichungen der Texte in Zeitschriften und Almanachen - mit Vorliebe die stereotype Floskel "der geniale Hoffmann" verwendend - in der Regel über einige salopp vorgetragene, überwiegend anerkennende Bemerkungen (die sich überdies zumeist auf den Gesamtinhalt der betreffenden Zeitschriftennummer bezogen) kaum hinausgelangten, gibt es zur Buchausgabe der "Serapionsbrüder"profundere Stellungnahmen.

Die "Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur", die bereits im Jahrgang 8 (1815) eine Laudation zu Hoffmanns "Fantasiestücken" aus der Feder des mit der romantischen Poesie vertrauten Schriftstellers Friedrich Gottlob Wetzel (seit 1809 Redakteur in Bamberg) publiziert hatten, veröffentlichten 1819 in der Ausgabe Nr. 76 (Jahrgang sa) eine mehr als zwölf Seiten lange Besprechung desselben Rezensenten zu den ersten beiden Bänden (1819) des neuen Sammelwerkes. Sie beginnt mit den Worten: "Es gibt Dichtungswerke, die so unverkennbar alle Zeichen einer bestimmten Gattung an der Stirn tragen, daß wir, um sie zu beurteilen, nur die Regeln auf sie in Anwendung zu bringen brauchen, die dem Verfasser selbst augenscheinlich bei seiner Schöpfung vorschwebten." Nach einigen überwiegend referierenden Passagen über das Zusammentreffen der Serapionsbrüder sowie die Geschichten "Rat Krespel" und "Die Fermate" heißt es zum "Gespräch zweier Freunde über die Bedingnisse der Oper" ("Der Dichter und der Komponist"): "Es hat uns dieses sehr angezogen durch Tiefe des Sinnes und das Gelungene des Ausdruckes, dabei aber auch der Gedanke uns sanft angerührt, daß vielleicht gerade dieses Gespräch... von gar manchem Leser, der nur Unterhaltung durch Geschichten sucht, überschlagen werden könnte; aber alle solche Leser möchten wir bitten, lieber das Buch ganz auf die Seite zu legen und sich nicht an dem Genius desselben zu versündigen." — Das Resümee Wetzels über die Erzählung "Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde" lautet: "Wir halten diese Erzählung, sowohl was Entwurf als auch Ausführung angeht, für eine der heitersten und gelungensten des ganzen Buches." — An dieses Lob schließt sich die kritische Einlassung zum "Artushof" an: "Desto weniger... hat uns die nach kurzer Zwischenrede folgende [Erzählung] . angesprochen, und sie wollte uns neben jenem Fragment nur erscheinen wie eine tote, künstlich aus Stroh, Wachs oder Seidenläppchen gemachte Blume neben einer frisch grünenden und blühenden." — "Tiefere Seiten",

fährt der Rezensent fort, "schlägt die folgende Erzählung, welche Theodor mitteilt: ,Die Bergwerke zu Falun', in uns an: ein zwar oft schauerliches, aber recht frisches und bedeutsames Leben wehet in derselben rührend und wehmütig unser Gemüt an, und die dunkle Tiefe, die in wenigen von des Verfassers Dichtungen verschlossen bleibt, gähnt auch hier in dem gespenstischen Bergmanne Tobern herauf." — Die Besprechung der Stücke des ersten Bandes schließt der Kritiker mit Bemerkungen über die "lustigen Lichter", aber auch "gaukelnden Töne" in Lothars Dichtung "Nußknacker und Mausekönig", "in der eine ganze Welt mit allen ihren phantastischen Gebilden hervortritt, wie diese die ahnungsvolle, unschuldige und doch lüsterne Seele eines Kindes in entzückten Träumen sich gestaltet; es waltet durch dieselbe eine ungemein heitere Lust und feine Ironie, ja ein behaglicher Übermut, der sich darin gefällt, einmal gänzlich allem sich abzutun, was vernünftig pathetische und pedantische Leute für ziemlich achten. Doch ist der Witz oft zu reich an Unbedeutendheiten verschwendet, und das Ganze hat viel zuviel Breite; auch ist es am allerwenigsten ein Kindermärchen, nicht aus kindlicher Unschuld hervorgegangen, sondern der Schalk nimmt nur die Maske des Kindes an, um mit dessen Wort und Gebärde auf desto vergnügelichere Weise mit den gescheiten Leuten seinen Spott zu treiben. Auch gelobt Lothar, in dem auf künftige Weihnachten verheißenen Märchen ,weniger in phantastischem Übermute zu luxurieren, frömmer, kindlicher zu sein'." — Von den Geschichten des zweiten Bandes würdigt Wetzel die Anfangsszenen im "Kampf der Sänger", lobt die "schöne, anmutige Schilderung", mit der die Erzählung beginne, und preist die "wehmütigen und doch erhebenden Töne", die ahnen ließen, "daß in dem edeln Eschinbach und in Klingsohr uns etwas Bedeutenderes gereicht werden soll als eine bloße Erzählung von diesen Männern. Aber dann", heißt es weiter, "fährt der Schwarze herein... Das erst freudig angeregte Gemüt wird immer mehr verstimmt, und es ist eine gar abscheuliche Gestalt, die tutus den armen Heinrich entrückt. . Es tut wehe, den mächtigen, in seiner Kraft. übermütigen Genius die schönen Bilder, die er geschaffen, dann mit mystischem Höllenspuk und Schwefelgestank zerstören zu sehen.. ." — Über "Die Automate" wird lediglich angemerkt, sie stellten "ein höchst interessantes Kunststück" dar, "in dessen Innerm zwar nicht wie in dem Türken auf das Drehen des Künstlers mit dem Schlüssel Räder knarren, aber durch das hin dunkle, rätselhafte Musikreden tönen und wobei nur das Interessanteste, wie bei dem Türken-Automate, die Auflösung oder Aufklärung fehlt..." — ",Doge und Dogaresse'. Mit einer sehr interessanten Einleitung hebt auch die Geschichte an, die ruhig beginnt mit den Ereignissen Venedigs. Da kichert aber gleich herein das seltsame Bettelweib... Wir achten diese Erzählung für sehr gelungen; sie bewegt sich frisch in italischem Leben, ist anziehend durch geheimnisvolle Verknüpfung und bedeutungsvoll durch den wohlgewählten Schluß." — Auch die Einleitung von "Meister Martin der Küfner und seine Gesellen" spricht den Rezensenten "gar gemütlich an". Der Leser trete "mit dem Schlusse der Geschichte nur ungern" aus dem Hause des Meisters. "Rosa, Friedrich und Reinhold sind drei gar köstliche Gebilde, die Weissagung wird vortreiflich gelöst, und man fühlt sich zuletzt so befriedigt, daß man gern die erste, nur zu übermütige Rede des Meisters, die ganze frühere Erscheinung des Junkers Konrad, der. nur zu sehr an den hörnernen Siegfried in der Schmiede erinnert, sowie die Seltsamkeit vergißt, daß gerade die ,stocktaube und blinde' Großmutter mit den Tönen des prophetischen Liedes, das sie ,mit heller, kräftiger Stimme' . .. singt, den Geist aushaucht." — Das den zweiten Band abschließende Märchen vom "Fremden Kind" nennt der Kritiker eine "liebliche, witzige, geist- und sinnreiche Dichtung". Auszusetzen sei nur, daß sie ebensowenig ein Kindermärchen vorstelle wie "Nußknacker und Mausekönig", "nicht einmal eines für ,kleine und große Kinder', sondern nur eines für große und unter diesen wieder nur für diejenigen, die selbst noch nicht betäubt sind von dem Summen der garstigen großen Fliege und eben die Bedeutung dieses Magisters Pepser und der guten Fee und des fremden Kindes recht zu fassen verstehen". — Interessant sind die abschließenden Ausführungen über die "Ökonomie des Werkes", in denen Wetzel Ludwig Tiecks "Phantasus" (vgl. die zweite Anm. zu S.,) mit Hoffmanns "Serapionsbrüdern" vergleicht. Er hebt hervor, daß bei Tieck die Erzählungen "nach Gegenständen oder Gattungen" geordnet sind, während sich in Hoffmanns Sammlung "Dichtungen in allen Weisen, wie sie dem Verfasser zu Gebote stehen, untereinandergemischt" vorfinden, so daß beide Werkausgaben "nur darin eine gewisse Übereinstimmung" hätten, daß jede "mit einem phantastischen Märchen schließt". Die charakterlich unterschiedenen Personen in Hoffmanns Rahmengeschichte bezeichnet der Rezensent als "Repräsentanten der verschiedenen Dichtungsweisen". Während die "Anordnung in dem ,Phantasus' logischer und kunstgerechter sein mag", schreibt Wetzel weiter, "so hat die in den ,Serapionsbrüdern' wenigstens den Vorzug, daß sie für den Leser vergnüglicher und unterhaltender ist und das Einförmige und Ermüdende wegfällt..." Einschränkend heißt es dann noch: "Hierbei hätten wir dennoch gewünscht, daß die einzelnen Dichtungen jeder Abteilung... mehr in ein Ganzes verwebt worden wären und die Gespräche nicht oft so losgerissen als etwas, das eigentlich auf die Sache selbst keine Beziehung hat, dastehen möchten." In seinen Bemerkungen über "die Art der Dichtung und die Kunst der Sprache und Darstellung" bescheinigt der Rezensent dem Autor Hoffmann, daß der Charakter seiner Erzählungen "echt serapiontisch" sei: "d. h. daß alle Bilder, Szenen und Gestalten... ein frisches, funkelndes Leben atmen" und mit einer ..anmutigen Zugabe des gemütlichen Wahnsinns des Heiligen dargestellt sind... Der magische Bau", so schließt Wetzel, "steigt mit seinen spitzen und schlanken Türmchen auf bis in den blauen Himmel und reicht mit seinen dunklen Gewölben hinab bis in die Tiefen des höllischen Grauens. Oben darüber hin flattern seltsam phantastische Gestalten... Das Gesetz der Wahrscheinlichkeit hat in diesem Reiche sein Ende gefunden, wo die Hölle selbst, wenn es not tut, helfend ihre Hand reichen muß und eine tiefe, kaum geahnete Zwiesprache zwischen den Handelnden alles möglich macht. Reich, wundersam, anlockend ist alles, glänzend und prachtvoll vieles, anderes zierlich, witzig und geistreich, ahnungsvoll und grauenerweckend, anderes lieblich und gemütvoll; aber doch ist alles in Bewegung, und der große Vorwurf muß... diesen Dichtungen gemacht werden, daß ihnen die Ruhe und das Maß fehlt und der Ausdruck nicht immer die Feue und Vollendung gefunden hat, die der Verfasser ihm hätte geben können..

Im "Morgenblatt für gebildete Stände" vom 2. Juni 1820 (Beilage "Literaturblatt", Nr. 43), das eine Besprechung des ersten Bandes der "Serapionsbrüder" brachte, wird die "Zweckmäßigkeit der Form" gleichfalls anerkennend hervorgehoben. Dadurch, daß die Erzählungen vier "an Charakter und Geschmack" so unterschiedlichen Freunden in den Mund gelegt und daß am Ende jeder Erzählung "Beifall und Mißbilligung"ausgesprochen werden, erhalte die "ermüdete Phantasie" Zeit, sich auszuruhen, während die Reflexion tätig sein könne. Auf das "serapiontische Prinzip" eingehend, bemerkt der Rezensent kritisch, daß die Phantasie auf Kosten des Verstandes "überhäuft" werde. "Man sieht sehr leicht, wohin im Gebiete der praktischen

Kunst dieses Serapionsprinzip führen muß: zu einer Poesie, die dem Wahnsinn ähnlicher ist, als sie soll. Nämlich wenn die Poesie durch die bloßen inneren Anschauungen ungefähr ebenso wirkt, als ob es Anschauungen äußerer Gegenstände wären." Weiter heißt es: "Aber er [der Dichter] muß stets Herr und Meister dieser Wirkungen sein; sie muß ihn nicht verführen können, irgend etwas bloß darum, weil er es in Geisteslebendigkeit angeschaut hat, durch die Mittel seiner Darstellungskunst für fremde Einbildungskraft in das Leben zu rufen...; und wenn bei der Empfängnis eines Kunstwerkes Phantasie und Gemüt einander wechselseitig entzündeten, so muß bei der Geburt... immer der Verstand Heber und Leger sein, ohne eben als breiter Erklärer seines Geschäftes hervorzutreten. Seine einzelnen inneren Anschauungen anderen mitzuteilen ist nie der Zweck des wahren Dichters; es ist nur das unerläßliche Mittel, die Empfänglichkeit für eine andere, höhere Wirkung in dem Leser oder Hörer zu wecken. Dieser Wirkung muß er klar sich bewußt sein... Nur so ist es nach seiner Überzeugung möglich, den chaotischen Stoff, welchen Gemüt und Einbildungskraft liefern, zur poetisch-lebenden und den wahren Kunstsinn befriedigenden Gestalt zusammenzuführen... Rezensent will nicht leugnen, daß auch schon die Gabe, solche einzelnen Phantasiebilder lebendig mitzuteilen, Poesie ist und daß ein einzelnes Bild, recht lebendig dargestellt, ein Kunstwerk an sich sein kann, wenn der Gegenstand danach beschaffen, d. h. zu Hervorbringung eines echten, genußreichen Kunsteindruckes geeignet ist. Sobald aber mehrere zu einem größeren Ganzen.., verbunden werden sollen, muß ein klar erkannter Hauptzweck, eine vorherrschende Grundidee sie zusammenhalten. — Der Verfasser wird sich selbst sagen, was nach diesem Maßstabe seine vorliegenden Leistungen messen ." Im einzelnen hält der Rezensent "Die Bergwerke zu Falun" für zu breit angelegt, indes nur "die Einfachheit Kunstgenuß gewähren" könne. "Ähnliches gilt von allen Erzählungen, jede in ihrer Totalität betrachtet", lautet das Resümee. Dabei anerkennt er die "glücklichen Einzelheiten, die bald auf der Oberfläche des täglichen Lebens, bald in der Tiefe der menschlichen Seele aufgegriffen" seien. In der Schilderung des Klubs in P*** (S. 53 f.) sieht der Rezensent eine Travestie des monarchischen Staatswesens, und "die Gesetze der Ressource in dem Städtchen P*I'* sind ihm "nach der Natur gezeichnet. Es ist in Wahrheit", betont er ausdrücklich, "nichts so Tolles zu ersinnen, daß es nicht in einem solchen Ressourcen-Kodex vorkommen könnte.

Auch die "Jenaische Allgemeine Literaturzeitung" (Ergänzungsblätter, 1820, Nr. W) widmete den ersten beiden Bänden der "Serapionsbrüder" ein paar Kolumnen. Darin wird zur Komposition lobend gesagt, daß "das Gewebe, was die einzelnen Darstellungen zu einem Ganzen verbindet (die zwischengeschalteten Gespräche) selbst zu einer schönen Erzählung von fast dramatischer Natur" geworden sei. Die Geschichte des Einsiedlers Serapion aber wertet der Rezensent als "Fundament des Baues" und verleiht ihr das Prädikat, "eine der schönsten Poesien des Buches" zu sein, "würdig, daß von ihr das Wort ,serapiontisch' als Maßstab für die Würdigkeit der einzelnen Dichtungen entnommen" werde. "Die Erzählungen und Märchen selbst", heißt es dann. "kennt und liebt das Publikum... Die Anordnung ihrer Reihenfolge und das einleitende Gespräch ist immer so, daß man fühlt, jede einzelne müsse nun eben da stehen, wo sie steht. ." — "Minder gefesselt" haben den Rezensenten u. a. "die Geschichte des versunkenen Bergmanns in Falun" und "Die Automate". Mit einem Blick auf die Nachahmer Hoffmanns schließt die Besprechung da entstehen dann verzerrte magnetische Spukgeschichten, schmecken nach Hoffmannischen Tropfen, aber der Geist fehlt ihnen..

Nach Erscheinen der Bände 3 und 4 der "Serapionsbrüder" (1820 und 1821) meldeten sich die "Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur" im Jahre 1821 (Nr. 5) noch einmal zu Wort. Nach beiläufiger Erwähnung der "Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes", die als "Teufeisprobestücklein" und als "toller Schwank" klassifiziert wird, folgt eine eingehendere Betrachtung der Erzählung "Die Brautwahl": "Es ist das eine gar lustige Komposition, die wir über ,Nußknacker und Mausekönig' setzen und in der auf eine unvergleichliche Weise das Grauenhafte, die herrlichste Ironie und das wahrhaft Komische gemischt sind. . ." Unter diesem Grundtenor läßt der Rezensent dann einzelne Gestalten und Szenen Revue passieren. Kritischer ist seine Stellungnahme zur Geschichte "Der unheimliche Gast": "So bringen denn solche Dichtungen nichts weniger als eine wohltätige und gar nicht die Wirkung jener phantastisch-grauenvollen hervor. Wir fühlen uns recht eigentlich verwundet, wo wir die freie Willenskraft, das Fundament, worauf alle moralische Welt beruhet, angetastet sehen , ." Die Kriminalnovelle "Das Fräulein von Scuderi" hingegen findet vollen Beifall. "Wir betrachten diese Dichtung als die gelungenste im ganzen Band", heißt es, "und überhaupt als eine der

vorzüglichsten Arbeiten des Verfassers - als das Muster einer Erzählung, in der das phantastische Element auf das verträglichste mit der Wirklichkeit vermählt ist..." Dagegen werde die Erzählung "Spielerglück" dem Geiste des Verfassers nur bedingt gerecht. Auch sie lasse (wie schon die Geschichte "Der unheimliche Gast") "einen verwundenden Stachel in der Seele des Lesers zurück, da das einzige bessere Wesen, das hier vorkömmt, nachdem es lange gemartert worden. zuletzt auf eine Weise stirbt, die dunkel bleibt. ." — "Wollen wir", so schließt der Artikel, "am Schluß unser Urteil im allgemeinen aussprechen, so ist dies im ganzen dasselbe wie über die beiden ersten Bände dieses Werkes. Auch hier ist alles echt serapiontisch, d. h. was in der Dichtung hervortritt, wird wirklich geschaut, und nirgends fehlt es an der süßen Beigabe des ergötzlichen Wahnsinns des heiligen Serapion; und wir dürfen wohl sagen: eine unwiderstehliche Macht übt der Geist, der in diesen Dichtungen waltet."

Originell und brisant ist die Rezension des Pädagogen und Literaturkritikers Konrad Schwenk (geb. 1792), der einen mehr als sechzehn Seiten langen Artikel über die "Serapionsbrüder" in der Zeitschrift "Hermes oder Kritisches Jahrbuch der Literatur 1823" (;.Stück; 1847 in die Buchausgabe "Literarische Charakteristiken und Kritiken" aufgenommen) veröffentlichte. Die Besprechung beginnt mit der Eröffnungsgeschichte: "den Wahnsinn erzählend dessen, der sich für den heiligen Serapion hielt". Der Rezensent schreibt: "Armer Serapion! worin bestand dein Wahnsinn anders, als daß irgendein feindlicher Stern dir die Erkenntnis der Duplizität geraubt hatte, von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist? Es gibt eine innere Welt und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit, in dem vollendetsten Glanze des regsten Lebens zu schauen; aber es ist unser irdisches Erbteil, daß eben die Außenwelt, in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt. Die innern Erscheinungen gehen auf in dem Kreise, den die äußern um uns bilden... Aber du, o mein Einsiedler, statuiertest keine Außenwelt, du sahst den versteckten Hebel nicht, die auf dein Inneres wirkende Kraft, und wenn du mit grauenhaftem Scharfsinn behauptetest, daß es nur dein Geist sei, der sehe, höre, fühle, der Tat und Begebenheit fasse, und daß also auch sich wirklich das begeben, was er dafür anerkenne, so vergaßest du, daß die Außenwelt den in den Körper gebannten Geist zu jenen Funktionen der Wahrnehmung zwingt nach Willkür. ." — Gegen Hoffmanns Vorgabe, nach dem "serapiontischen

Prinzip" mit der feurigsten Phantasie lebensvolle Geschichten darzubieten, wendet Schwenk ein: "So herrlich sind aber freilich die hier vorgetragenen Novellen keineswegs, sondern gehören meist zum Mittelgut, obgleich die Erzähler, die sich hier vereinigt haben, keine geringe Meinung von sich haben.. ." Im einzelnen ergeben sich daraus folgende kritische Wertungen: ",Krespel'. Hier erblicken wir einen grotesken Kreisler, in welchem der Schmerz des Lebens sich zum Spleen gestaltet hat..." Die "innige Liebe Antoniens zu dem Instrumente, das ihre Sehnsucht ausspricht, soll, wie einer der serapiontischen Pfefferfresser bemerkt, rührend sein auf eine Weise, daß man heißes Herzblut rinnen fühlt - weil keiner derselben etwas gern in seiner natürlichen Gestalt betrachtet". — Die Idee der "Fermate": "ein Künstler müsse sein Ideal nicht heiraten.. .", verurteilt der Rezensent energisch als "unzulänglich" und beruft sich dabei auf seine Kritik des "Nachtstückes" "Die Jesuiterkirche in G." (vgl. Band ; unserer Ausgabe). — ",Der Dichter und der Komponist'. Sehr schlecht dialogisiertes Gespräch über die Oper, in welchem ästhetisiert wird auf gewöhnliche Weise, ohne neue Ansichten vorzubringen. Es wird dargetan, daß der Dichter nicht zugleich Komponist sein könne, weil das zum Komponieren nötige Feuer verknistere und verdampfe bei der Versifikation... Auch hier... nimmt unser Dichter die Kunst zu sehr als augenblickliche Fieberaufwallung des Enthusiasmus, obgleich er bei der Musik noch am ersten recht haben könnte... Und da alle Kunst nur mit Besonnenheit und Ruhe das Ideal, das ihr aufgegangen, ausbilden kann, so braucht auch die musikalische Begeisterung nicht Worte zu scheuen, und wenn Dichten und Komponieren getrennt werden, so ist dies nicht notwendig, im Gegenteil wäre sehr zu wünschen, daß ein großer Künstler sie einmal vereinigte." — ,Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde'. Leicht und anmutig ist die Verliebung dreier Freunde im Tiergarten zu Berlin geschildert und die Entwickelung dieser Liebe nicht ohne Laune, aber die eingeflochtene spukende Tante langweilig, wie es freilich mit derlei Fratzen nicht leicht anders sein kann; dagegen ein tief erschütternder Zug ist es, wie das Leben dieser Tante, traurig zerdrückt, immer in ihrem Weh beharrend, das verlorne Gut wie im Wahnsinn festhält und von neuem verliert... Aber schroff steht freilich in der Erzählung der alberne Schnack ihres Spukens, und widerlich ist die Beendung desselben dadurch, daß ihr Neffe sich auf die Weise vermählt, wie sie es für sich angeordnet hatte. Jener tiefe Schmerz ist zu heilig, um solchen Fratzen zum Spotte zu dienen." — "Die Bergwerke zu Falun' Die Hauptidee, die sich als der Faden des Stückes kundgibt, ist, daß niemand sich einer Sache widmen dürfe, außer um ihrer selbst willen, sonst gerate er ins Verderben... Daß es nicht ohne Berggeist abgeht, versteht sich bei einer serapiontischen Erzählung von selbst, da sie eher des Geistes als der Geister entbehren mag. Daß die Idee für poetische Behandlung vorzüglich geeignet ist, leuchtet gleich ein, indem das ganze Gemüt des Menschen hier der Spielraum der Dichtung sein kann, aber in der Behandlung, die sie von unserm Dichter erfahren hat, weniger hervorgehoben wird, sondern einem geschraubten Helldunkel der äußern Umstände Platz macht. Wo so viel Anlaß zu herzlichen Zügen war, ist kein einziger zu finden." — ",Nußknacker und Mausekönig. Ein Kindermärchen'. Die Ingredienzien zu einem Kindermärchen finden sich hier vor... Daß der Dichter überzeugt ist, daß dergleichen Phantasiegebilde, . auch noch so bunt gewebt, die Kinder ansprechen und von ihnen gefaßt werden, ist gewiß keine Täuschung, wie jeder, der die Kleinen etwas beobachtet hat, weiß ." — "Zweiter Teil . . ,Der Kampf der Sänger' . Mit Erzählungen der Art kann der Leser unmöglich in das Mittelalter versetzt werden, da hierzu weit mehr Eigentümlichkeiten des Zeitalters müßten dargestellt werden...; zur Ergötzung aber kann unmöglich etwas dienen, was ohne allen Halt dasteht und für die Gegenwart keinen Sinn hat: denn der Gedanke, der Gesang müßte aus unverdorbenem Herzen kommen, ist hier so übertrieben und verzerrt in dem affektierten lüderlichen Buhlen mit süßlicher Frömmelei und verbrämt mit der Hanswurstiade von Fratzen, daß das Ganze eine höchst miserable Lektüre darbietet. Es ist schade, daß unser Dichter sich so leicht von allen Influenzen anstecken ließ, da sein Sinn, sich selbst überlassen, eigentlich gesund war." — ",Die Automate'... Das Ganze ist schon ziemlich vorne abgebrochen und hätte nicht geschrieben werden. sollen: denn was soll die Erzählung von einigen Automaten, mit welchen jemand getäuscht wird, wenn nicht etwa durch die Szenen dieser Täuschung einige Unterhaltung soll hervorgebracht werden Lächerlich ist das Berufen auf das Goethesche Lied vom braunen Mädel [vgl. S. 429 und die erste Anm. dazu], welches durch das plötzliche Abbrechen wirkt: denn hier ist die Szene bis auf einen Punkt geführt, wo das Grauen aufs höchste gesteigert ist. . ." — ",Doge und Dogaresse' . . Die rechte Macht der Liebe, gleichsam als Naturnotwendigkeit in dem Kinde schon glimmend..., soll hier freilich zur Anschauung gebracht werden; allein die Erzählung ist nicht genug zusammengehalten, um dies zu bewirken, sondern diese Liebe erscheint ziemlich farblos... Trotz allem serapiontischen Anschauen behandeln diese Erzählbrüder . . . doch eigentlich niemals das wahre menschliche Leben, weder das innere noch das äußere, sondern beliebige Theorien, die einen gespannten Seelenzustand fingieren, und laufen so Gefahr ..., etwas Geschraubtes und Seelenloses geliefert zu haben. So möchte es auch dieser Idee gehen. . ." — Über "Meister Martin der Küfner und seine Gesellen" wird des längeren ironisierend referiert; der Ton ist zuweilen sarkastisch, wie zum Beispiel die folgende Stelle zeigt: "Der Junker prügelt, wie billig, den Meister derb durch und heiratet ein Frauenzimmer. das Rosa ähnlich sieht und natürlich das wahre Ideal ... gewesen, indem Rosa nur ... ein Surrogat war. Wie sollte sich auch ... sein schönes rotes Junkerblut mit dem Bürgerblute vermischen!" Das könne jedoch "ein ritterlichfrömmlicher Dichter, dem das Musenroß zugleich gepanzertes Junkerroß ist, nicht zugeben; und wenn auch Hoffmann nicht von der Art ist, so konnte er doch den Influenzen nicht widerstehen .". Alles in allem sei "diese Erzählung im Vortrag natürlich ... Wie sich schon mehrmals ergeben, befällt auch unsern Dichter, doch nur bald vorübergehend, der christlich-frömmelnde sowie auch der deutsche Pips, der auch in dieser Erzählung hervorbricht... Wer sollte denken, daß die Urdeutschelei das Auge sogar für das Göttliche der italienischen Malerei umfloren könnte!" — "Das fremde Kind'. Herr von Brakel auf Brakelheim stellt mit seiner Familie in dieser Erzählung das menschliche Gemüt in der Fülle des unverdorbenen kindlichen Gefühls für die Natur und das Leben dar... Da kommt aber der Herr Oheim, gesteift und gebügelt im Stadt- und Hofleben, mit seinen am Spalier gezogenen Zwergbäumchen von Kindern, auf denen nur schlechtes saures Steinobst unnützer Gelahrtheit wächst... Die Darstellung des Magisters Tinte als Käfer ist eins der gelungensten komischen Phantasiespiele und ironischen Allegorien unsers Dichters. Zuletzt trete "die frische Natur... wieder in ihre Rechte ein. und das anmutige Kindermärchen hat ein Ende". — "Dritter Teil ,Teufelsgeschichte aus der Berliner Chronik'. Ganz gewöhnlich, weder zum Lesen noch zum Beurteilen!" — "Die Brautwahl'. Neckend tritt hier das Wunderbare hervor, und die Hand höherer Macht greift ein in das Alltagsleben und treibt ihr Spiel mit der gewöhnlichen Prosa. Ein Goldschmied, in alter Zeit der Verbindung mit dem Teufel angeklagt, kommt als Revenant und ... treibt den Kanzleisekretär Tusmann, ein ziemlich eingewelktes Blatt aus dem Gemüsegarten des täglichen Lebens..., im Kreise herum, wo er zum Ergötzen des Lesers viel Schnack erduldet . . Als Zwischenakt tritt der in Wien baronisierte Jude Bansch auf, um Albertine freiend Er wird "mit langer Nase und einigen Dukaten, die eigentlich auch allein seinen Herzbeutel ausfüllen können, abgefunden, und die mehr heirats- als liebelustige Jungfer Voßwinkel verehelicht sich bald mit einem jungen, anständigen Mann". "So tritt die Prosa, nachdem sie eine Zeitlang geneckt worden und sich fast tollgelaufen in dem bunten Irrgarten der Poesie und des Wunderbaren, wieder auf ihr Gebiet und fährt fort in dem alten Gleise, froh, die Qual des Spuks los zu sein." — ,Der unheimliche Gast'. Magnetische Geschichte gleich dem ,Magnetiseur' in den ,Fantasiestücken' [Band 1 unserer Ausgabe], was zu bedauern ist, da es schon an einer Erzählung der Art zuviel war . . Es ist dies eine ,Materie, die für die Kunst ein fremdes Gebiet bleibt, in dem wir nur einige durch Farbe und Aroma verlockende Früchtlein pflücken zu poetischem Verbrauch — ,Fräulein Scuderi' . . Hier ist die Sache vom gewöhnlichen Geiz weggebracht und auf einen andern Grund geführt worden. Die Stehlsucht wird nämlich von einem tiefen, sonderbaren, unüberwindlichen Hang zu Geschmeiden und glänzenden Steinen hergeleitet, welcher als eigne dämonische Sucht dargestellt wird . Die Erzählung ist spannend, der Knoten gut geschürzt und die Sprache rein." Dennoch sei "jene Lust an Juwelen weder auf der einen Seite so gespenstisch noch auf der andern so einleuchtend, daß sie das Allgemeinere der Habsucht ersetzen dürfte, die hier als das Natürlichste erscheint". — ",Spielerglück' Dieser völlig unbestimmte Begriff, ja dies unmittelbare Gefühl von Schicksal, von dem man, so paradox es auch klingt, doch mit Wahrheit sagen kann, daß ohne Glauben daran doch daran geglaubt wird ., hat in einer schön erfundenen Erzählung viel Reiz, und wenn nicht gleich auf gut serapiontisch bunter Hokuspokus eingemischt wird, gewährt dergleichen eine angenehme Unterhaltung. Auch ist vorliegende Erzählung durch die mit jenem Zufall in Verbindung gebrachten andern Umstände und durch gehöriges Maß wirklich angenehm zu lesen, wenn auch der Ausgang ein poetischer Gewaltstreich ist .. ." — "Vierter Teil . ,Signor Formica. Novelle' . . Alles soll hier in Umgebung und Ausführung ungewöhnlich und pikant sein, wodurch manches Unnütze, Groteske angebracht ist . . Daß Salvator Rosa als Signor Formica auf einem kleinen Budentheater erscheint, wo Persönlichkeiten der römischen Bevölkerung die Würze sind, und, den Capuzzi lächerlich machend, auf diese Weise dem Antonio die Geliebte verschafft..., ist über die gewöhnlichen Novellenintrigen und liest sich angenehm..." - ",Erscheinungen'. Ein sinnloses Nichts... Alberneres kann wohl nicht erdacht werden, als allerlei Gestalten um nichts in ein wunderliches Zwielicht zu stellen und mit allerlei Lappen zu behängen, um in dem Leser eine Art Erwartung rege zu machen, die sich auf nichts gründet und keine Befriedigung findet." ",Der Zusammenhang der Dinge' Diese einfache, ordinäre Geschichte ist... lebhaft und ohne die gewöhnliche serapiontische Seltsamtuerei erzählt, und so läßt sich diese Novelle einmal mit Vergnügen lesen; denn zum Wiederholen sind freilich Erzählungen der Art nicht, wo nur die Verwickelung der Umstände unterhaltend ist, mit deren Bekanntschaft das Interesse an dem Geschichtchen verschwindet." — "Die . . ,Vampirgeschichte'. Hier vergaß der Dichter, daß sein Vorbild, Tieck, sagt: ,Wir sollen weder den moralischen noch physischen Ekel in uns zu vernichten streben.' Aber freilich haben die Serapiontiker ästhetische Truthahnmägen, die alles verdauen und aus allem Nahrung zu ziehen wissen, und sie finden darum auch diese Erzählung noch leidlich . . ." — "Die Königsbraut' ... Höhern Anspruch als den neckender Ergötzlichkeit kann freilich ein Schwank dieser Art nicht machen, und wenn der Erzähler sagt, er sei an der Tafel aufgefordert worden von einer Dame, die einen Ring am Finger gehabt, der einmal, an einer Mohrrübe sitzend, aus der Erde sei gezogen worden, über diesen Ring ein Märchen zu erfinden, so muß man gestehen, daß er sich seiner Aufgabe nicht anmutiger entledigen konnte."

Dramatisierungen und Vertonungen

Auffallend stark beeinflußt haben Hoffmanns "Serapionsbrüder" das Dramen- und Opernschaffen des 59. Jahrhunderts. So plante Franz Grillparzer (1791-1872) nach der Lektüre der Geschichte "Doge und Dogaresse" bereits im Jahre 1813 ein Drama unter dem Titel "Marino Fallen", und acht Jahre später inspirierte ihn die Erzählung "Der Kampf der Sänger" zu dramatischen Entwürfen ("Kampf auf der Wartburg"). — 1823 dialogisierte der Schriftsteller,

Schauspieler und Theaterdirektor August Lewald (1792-1871) die Kriminalgeschichte "Das Fräulein von Scuderi"; denselben Vorwurf wählten noch mehrere heute vergessene Stückeschreiber, zum Beispiel der Hamburger Schriftsteller und Journalist Johann Peter Lyser (1836). Der Komponist Georg Wilhelm Schneider gestaltete nach dem gleichen Stoff im Jahre 1824 ein Melodrama. — Der mit Hoffmann befreundete Dramatiker und Theaterdirektor Franz von Holbein (1778-1855) arbeitete die Novelle "Meister Martin der Küfner und seine Gesellen" zu einem Lustspiel (1825) um. Eine ganze Reihe von Vertonungen dieses Sujets durch "kleinere Meister" (Karl August Freiherr von Lichtenstein, 1834; Wilhelm Tschirch, 1861; u. a. m.) folgte. — Auf Robert Schumann (1810-1856), der bereits die musikalische Fantasie "Kreisleriana" (1838) komponiert hatte, wirkte besonders anregend die Novelle "Doge und Dogaresse", so daß er mit Entwürfen zu einer Oper begann, die allerdings über die ersten Ansätze nicht hinausgelangte, wohingegen der italienische Komponist Gaetano Donizetti (1797-1848) seine gleichnamige Oper (1835) nach Hoffmanns literarischer Vorlage vollendete. — Von Jugend an von Hoffmann beeinflußt war Otto Ludwig (1813-1865). Bereits unter seinen frühen dramatischen Entwürfen finden sich (aus den Jahren 1834-1837) Vorarbeiten zu einem Textbuch für eine komische Oper nach der Novelle "Signor Formica". Fertiggestellt wurde das Drama "Das Fräulein von Scuderi" (1848). — Die zur selben Zeit uraufgeführte Oper "Der Waffenschmied" (1846) von Albert Lortzing (1801 bis 5851) lehnt sich deutlich an die Erzählung "Meister Martin. an. — Auch Richard Wagner (1813-1883), zu dessen Jugendlektüre die Erzählung "Der Kampf der Sänger" gehört hatte, wurde u. a. von Hoffmanns Gestaltung des Stoffes inspiriert; die Figur des Heinrich von Ofterdingen sowie zahlreiche Details in der Oper "Tannhäuser" (1845) weisen ausdrücklich darauf hin. In seiner "Mitteilung an meine Freunde" vom Jahre 1851 äußert Wagner: "Er [der Tannhäuser] hatte mich damals in der phantastisch-mystischen Weise angeregt, wie Hoffmanns Erzählungen auf meine jugendliche Einbildungskraft gewirkt hatten... Was mich aber vollends unwiderstehlich anzog, war die wenn auch sehr lose Verbindung, in die ich den Tannhäuser mit dem ,Sängerkrieg auf Wartburg' in jenem Volksbuche gebracht fand. Auch dieses dichterische Moment hatte ich bereits früher durch eine Erzählung Hoffmanns kennengelernt.. ." (Gesammelte Schriften und Dichtungen in zehn Bänden, 4. Band, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1914, S. 269). Außerdem entwarf Richard Wagner einen Operntext "Faluner Bergwerke", wozu Hoffmanns Erzählung aus dem schwedischen Kupferbergwerk als unmittelbare Vorlage gedient hatte. Nicht zuletzt ist auch in den "Meistersingern von Nürnberg" (1868) der thematische Bezug zu Hoffmanns "Meister Martin ." erkennbar. — Der Leipziger Komponist Franz von Holstein (1826-1878), der sich bereits an einer (unvollendet gebliebenen) Oper nach der Erzählung "Doge und Dogaresse" versucht hatte, schuf 1870 nach Hoffmanns "Bergwerken zu Falun" ein Musikdrama, der Dirigent Carl Reinecke (1824-1910) im Jahre 1879 nach "Nußknacker und Mausekönig" ein musikalisches Werk mit verbindendem Text. — In Frankreich bearbeitete Alexandre Dumas d. A. (1802-1870) dasselbe Märchen 1844 für eine Veröffentlichung im "Nouveau Magazin des Enfants" (Neues Magazin für Kinder) unter dem Titel "Histoire d'un cassenoisette" (Geschichte eines Nußknackers). Jacques Offenbach (1859-5880) komponierte nach dem Stoff von Hoffmanns "Königsbraut" die komische Oper "Fantasio" (1872) und schließlich mit direktem Bezug auf "Hoffmanns Erzählungen" die "phantastische" Oper "Les Contes d'Hoffmann" (1881; postum), worin er Motive aus dem "Nachtstück" "Der Sandmann", der "Geschichte vom verlornen Spiegelbilde" sowie aus der Erzählung vom "Rat Krespel" verwendete. Diesem musikalischen Meisterwerk Offenbachs war ein ebenso großer, weltweiter Erfolg beschieden wie Pjotr Iljitsch Tschaikowskis (1840-1893) Ballettmusik "Der Nußknacker" (1892) nach Hoffmanns Märchen "Nußknacker und Mausekönig".

Erläuterungen


Vorwort5 Serapionstage - Vgl. S. 62 ff. und die Anm. zu S. 62 sowie die Entstehungsgeschichte, S. 626.Ludwig Tiecks "Phantasus" - "Phantasus. Eine Sammlung von Märchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen" (; Bände, 1812-1816). Vgl. auch die Entstehungsgeschichte der "Serapionsbrüder", S. 624.

Erster Abschnitt10 Tiecks "Zerbino" — Ludwig Tiecks satirische Dichtung "Prinz Zerbino oder Die Reise nach dem guten Geschmack, gewissermaßen eine Fortsetzung des ,Gestiefelten Katers'. Ein Spiel in sechs Aufzügen" (1799), die "hausbackene Aufklärungsmoral" und "schildaische Philisterweisheit" verspottet, gehörte seit der Bamberger Zeit (Tagebucheintragung vom 18. Januar 1813: ,Zerbino' gelesen") zur Lieblingslektüre Hoffmanns.12 Ressource - Hier: Geschlossene Gesellschaft, geselliger Verein.13 P***1 - Posen oder Plock. In Posen war Hoffmann vom Sommer 1800 bis zum April 1802 als unbesoldeter Assessor am Amtsgericht tätig. Ein "gesellschaftlicher Affront" — ausgelöst durch die Beteiligung an der Zeichnung einer Serie von "sprechenden Karikaturen". die, auf der Fastnachtsredoute in der Posener Ressource" in Umlauf gebracht, stadtbekannte Persönlichkeiten (aus Militär- und Adelskreisen) der Lächerlichkeit preisgaben führte zu seiner Strafversetzung nach Plock, wo er sich wie in der Verbannung fühlte. In einer "Anwandlung von Schadenfreude unterzeichnete" er sich auch hier wieder zu einer Ressource. Wahrscheinlich sind im Text die Erinnerungen an beide Ressourcen zusammengefaßt.17 Kamaldulensermönchen - Gelübde des ewigen Stilischweigens - Die als Zweig des Benediktinerordens im Jahre 5012 von San Romualdo, einem Angehörigen des Herzogsgeschlechts von Ravenna, gestiftete Eremitenkongregation der Kamaldulenser, benannt nach Camaldoli, dem Hauptsitz der Einsiedlerbewegung in den Apenninen, unterwarf ihre Mitglieder einer besonders strengen Mönchszucht: u. a. Absonderung in Einzelzellen, unbedingter Gehorsam gegenüber dem "Major" (Prior von Camaldoli), rigorose Askese und Sprechverbot.auf der Universität zu K - ... die Kantische Philosophie - Gemeint ist Königsberg. Hoffmann studierte 1792-1795 an der Universität seiner Vaterstadt Jura, wobei er sich völlig auf sein Fachgebiet beschränkte. Den Lehrveranstaltungen Kants, der sein Amt noch bis in den Sommer 1796 voll ausübte, stand er gleichgültig gegenüber. Vgl. auch die ironische Anspielung auf Kants Morallehre in den "Lebensansichten des Katers Murr" (Erster Band, Zweiter Abschnitt; Band 6 unserer Ausgabe).[Der Einsiedler Serapion]Die ein- und überleitende, den endgültigen Buchtitel und die Rahmenkonstruktion motivierende Erzählskizze vom Einsiedler Serapion (vgl. S. 20-33) entstand erst nach dem 14. November 1818. Für diesen Tag hatte Hoffmann nach einer längeren Pause seine Freunde aus der Zeit des Seraphinenordens (vgl. S. 625 f.) zu sich eingeladen. Das Datum hat sich besonders eingeprägt, weil an jenem Abend zum erstenmal wieder der soeben von seiner Weltreise (z 815-1818) zurückgekehrte Dichter des "Peter Schlemihl", Adelbert von Chamisso, anwesend war. Die durch die Zusammenkunft eingeleitete Erneuerung des Freundesbundes bot nun auch weiterhin Gelegenheit zu geistigem Austausch über eigene literarische Erfahrungen, Vorhaben und Produktionen, zu theoretischen Erörterungen allgemeiner Fragen aus dem Bereich der Poesie sowie zu Reflexionen über den Sinn solcher gemeinsamen Veranstaltungen und ästhetischen Zielsetzungen. In hochgespannter Gesprächsstimmung und -laune wurde schließlich im Hinblick auf die Denkwürdigkeit des Tages der betreffende katholische Heilige Serapion (nach dem von Hoffmanns Frau "herbeigebrachten polnischen Kalender"; vgl. die Anm. zu S. 62) zum personifizierten Sinnbild der vorerst nur in Ansätzen diskutierten gemeinsamen Grundsätze und noch näher zu fixierenden künstlerischen Prinzipien gewählt und sein Name auf den neuerstandenen Freundeskreis übertragen. Erst damit war - neun Monate nach Hoffmanns Absprache mit dem Verleger Reimer (Februar 1818) über eine Buchausgabe der zuvor verstreut publizierten Erzählungen und Märchen (vgl. S. 623 f.) — der eigentliche Keim für die "serapiontische Idee" gelegt. Der Dichter konnte nun den "geistreichen Einfall" literarisch nutzen: als verbindendes Leitmotiv für die heterogenen Stücke und zu deren kunstvoller Verknüpfung mit dem Gesprächsrahmen.Über die von Hoffmann herangezogene psychiatrische Literatur und die in die Erzählung hineinspielenden Bamberger Reminiszenzen geben die Einzelanmerkungen Auskunft.Das Gesprächsstück wurde wahrscheinlich noch im November bzw. im Dezember 1818 geschrieben; es erschien zuerst als Vorabdruck in der von K. Müchler und J. D. Symanski herausgegebenen Zeitschrift "Der Freimütige für Deutschland. Zeitblatt der Belehrung und Aufheiterung" vom 5.,~., 8. und 11. Januar 1819 (Nr. 4, 6 und 8) unter dem Titel "Bruchstück aus den ,Serapionsbrüdern'. Der Einsiedler Serapion". Die in der Buchausgabe der "Serapionsbrüder" abgedruckte Fassung ist bis auf ganz geringfügige Abweichungen damit identisch.20 B*** — Bamberg. Anspielung auf Hoffmanns Bamberger Aufenthalt (September 1808 bis April 1813).Salvator Rosas wildem Gebürge - Der italienische Maler, Dichter und Musiker Salvator Rosa (auch Salvatoriello genannt; 1615 bis 1673) hat auf seinen Bildern mit Vorliebe grell beleuchtete, wild-romantische Gebirgslandschaften dargestellt. Hoffmann fühlte sich diesem Künstler verwandt, dessen Leben, sowohl was die leidenschaftlichen Charakterzüge als auch die Hingabe an dieselben drei Kunstgattungen (Malerei, Ton- und Dichtkunst) betrifft, mit dem seinigen große Ähnlichkeit aufwies. Bereits im "Nachtstück" "Die Jesuiterkirche in G." (Band 3 unserer Ausgabe) spielt er auf "Salvator Rosas rauhe Wüsteneien" an; auch in der serapiontischen Erzählung "Die Brautwahl" (Band unserer Ausgabe) erwähnt er den "wilden Salvator Rosa", und in der Künstlernovelle "Signor Formica" (Band 5 unserer Ausgabe) wird der neapolitanische Meister selbst zur Hauptfigur.21 Ambrosius von Kamaldoli - Gemeint ist der Theologe Ambrosius Traversari (1386-1439), Prior des Kamaldulenserordens (vgl. die erste Anm. zu S. 17), hervorragendes Mitglied des "Florentiner Literaturvereins", einer "Musenrepublik" von großer Wirksamkeit, die die lateinische und griechische Literatur pflegte, das Studium des Hebräischen förderte und durch ihr Beispiel die humanistische Bildung in Italien anregte.Priester Serapion -Vgl. die erste Anm. zu S. 23. Doktor S** — Der mit Hoffmann befreundete Bamberger Landgerichtsphysikus Dr. Friedrich Speyer (1782-1839), dessen Rat auf psychopathologischem Gebiet schon der Verfasser der "Fantasiestücke" einholte.22 nach B*** in die Irrenanstalt - Gemeint ist die von Adalbert Friedrich Marcus (vgl. die dritte Anm. zu S. 326) geleitete Irrenanstalt in der ehemaligen Propstei St. Getreu in Bamberg.23 Serapion - der unter dem Kaiser Decius... in Alexandrien den Märtyrertod litt - Unter dem römischen Kaiser Gaius Messius Quintus Traianus Decius Augustus, der von 249 bis 251 regierte, fand im Jahre 250 die erste allgemeine, durch Staatsgesetz angeordnete Christenverfolgung statt, die besonders grausam war. Die historische Bezugsperson für Hoffmanns Einsiedler Serapion ist nicht eindeutig zu identifizieren: ein ägyptischer Asket und Märtyrer Serapion, dessen Todestag am 14. November angenommen wird (vgl. S. 63 f.), gehört dem 4. Jahrhundert an, während das Werk "Groß Martyrbuch und Kirchenhistorien. vom Jahre 1617 einen Serapion nennt, der während der Christenverfolgung des Kaisers Decius, "nachdem er viel Streich an seinem Leib empfangen, oben von seinem Haus auf das Pflaster gestürzt worden" sei.23 Ich las den Pinel - den Reil - Die von Hoffmann als Studienwerke für die literarische Gestaltung abnormen psychischen Verhaltens mit Vorliebe benutzten Arbeiten "Traité medico-philosophique sur l'aliénation mentale ou la manie" (Paris 1801; Medizinisch-philosophische Abhandlung über die Geisteszerrüttung oder den Wahnsinn) von Philippe Pinel (1745-1826) und "Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen" (Halle 1803) von Johann Christian Reil (1759-1813). Pinel gilt als einer der bedeutendsten Reformatoren auf dem Gebiet der medizinischen Versorgung von Geisteskranken. Er trat für eine Behandlungsmethode ohne Zwangsmaßnahmen ein und machte sich verdient um die Ausbildung der Psychiatrie zur Wissenschaft. Über Reil vgl. die zweite Anm. zu S. 394. Serapions, deren es... nicht weniger als acht gibt - Auf welche Quelle sich diese Angabe Hoffmanns bezieht, konnte bisher nicht ermittelt werden.24 Hieronymus in seinem Buche »De viris illustribus« - Der christliche Heilige und Kirchenlehrer Sophronius Eusebius Hieronymus (um 340-420), der mehrere Jahre als Asket im Orient wirkte (seit 386 Klostervorsteher in Bethlehem), schuf außer seinem Hauptwerk, der lateinischen, später "Vulgata" (die Allgemeine) genannten Bibelübersetzung, eine kirchliche Literaturgeschichte "De vins illustribus" (Über die erleuchteten Männer). Bei dem in diesem Werk (Kap. 45) erwähnten "gelehrten Bischof Serapion" handelt es sich wahrscheinlich um den Bischof Serapion von Antiochia, den der Kirchenschriftsteller und Bischof Eusebios von Caesarea (um 260-340) in seiner von Hieronymus als Quelle benutzten zehnbändigen "Historia ecclesiae" (Kirchengeschichte; VI, 14,4) nennt, die an zahlreiche verlorengegangene ältere christliche Quellen anschließt und bis ins Jahr 324 reicht. Gemeint sein könnte aber auch der ebenfalls in Hieronymus' Schrift erwähnte Serapion, der vor 362 Bischof von Thumis (Unterägypten) war und dessen Teilnahme an zwei Synoden, Urheberschaft eines morgenländischen Kirchenrituals und Vertreibung aus dem Amt nach einigen Zeugnissen verbürgt sein sollen.24 wie Heraklides in seinem »Paradiese« erzählt, - Die hier wiedergegebene Geschichte, die der Kirchenvater Heraklides Eremita (Alexandrinus; j. Jahrhundert) in seiner Schrift "Paradisus" (Kap. 24) erzählt, kannte Hoffmann aus den Betrachtungen "Über die Einsamkeit" (Teil 2, Leipzig 1784, S. 80 f.) des Schweizer Mediziners und Philosophen Johann Georg Zimmermann (1728 bis 1795).25 Abts Molanus, - Abt in Hannover. Auch dieses Beispiel psychischer Absonderlichkeit hat Hoffmann Zimmermanns Schrift "Über die Einsamkeit" (Teil 2, S. 70) entlehnt. Vgl. auch die Zusammenstellung von Beispielen des "fixen Wahns" im Gespräch der Serapionsbrüder über magnetische Heilverfahren (S. 324 f.).26 Der heilige Antonius - heimgesucht - Der "Vater des Mönchtums", Antonius aus Koma in Oberägypten (um 250-356), lebte nach christlicher Überlieferung während seiner Zurückgezogenheit in der Wüste unter ständigen Anfechtungen und Teufelsversuchungen. Sein legendäres Eremitendasein wird in der von dem griechischen Kirchenvater Athanasius (vgl. die zweite Anm. zu S. 33) verfaßten, später ins Lateinische übertragenen "Vita Antonii" (Lebensbeschreibung des heiligen Antonius) dargestellt.27 Bin ich nun wirklich wahnsinnig, - Hoffmann hat dieses Beispiel logischer Spiegelfechterei Reils "Rhapsodien. (vgl. die zweite Anm. zu S. 394) entnommen. Dort heißt es (S. 316): "Der Pater Sgambari bildete sich ein, Kardinal zu sein. Der Provinzial suchte ihn von diesem Wahne zu befreien; allein er antwortete ihm mit folgendem Dilemma: ,Entweder halten Sie mich für einen Narren oder nicht. Im letzten Falle begehen Sie ein großes Unrecht, daß Sie mit mir in solchem Tone reden; im ersten Falle halte ich Sie... für einen größeren Narren als mich selbst, weil Sie sich vorstellen, einen Narren durch bloßes Zureden von seinem Wahne überzeugen zu können.'"30 Ariost - Lodovico Ariosto (1474-1533), italienischer Dichter der Renaissance.Dante - Vgl. die Anm. zu S. 219.30 Petrarcb - Francesco Petrarca (1304-1374), erster bedeutender italienischer Lyriker, Wegbereiter des europäischen Humanismus. Evagrius - Evagrius (Euagrios) von Antiochia (um 536 bis um 600), byzantinischer Kirchenhistoriker; er übersetzte die Lebensgeschichte des heiligen Antonius ins Lateinische (vgl. die Anm. zu S. 26) und schrieb in der Tradition des "Vaters der Kirchengeschichte", Eusebios von Caesarea, und dessen Nachfolgern die letzte Fortsetzung der "Historia ecclesiae" (vgl. die erste Anm. zu S. 24). Als Theologe und Jurist war er in die kirchlichen Streitigkeiten seiner Zeit verwickelt.31 Hilarion... in seiner zu großen Strenge - Der heilige Hilarion (288-371) gilt nach den legendären Berichten der "Vita S. Hilarionis" des Hieronymus (vgl. die erste Anm. zu 5. 24) als einer der Begründer des christlichen Mönchtums in Palästina und Syrien; er verbrachte einen großen Teil seines Lebens als Eremit in den Wüstengebieten zwischen Gaza und Ägypten. In Hoffmanns Quelle, den Betrachtungen "Über die Einsamkeit" von Johann Georg Zimmermann, heißt es: "Die Melancholie hatte aber anitzt den heiligen Antonius so sehr verlassen, daß er wirklich zu gesellig und redselig ward. Dies mißfiel dem strengen Hilanon. Unausstehlich war ihm das Gedränge um den heiligen Antonius. .." (Teil S. 157).32 "0 welch ein edler Geist ist hier zerstört!. .." — Shakespeare, "Hamlet" III. 1. gerade der vierzehnte - Der Serapionstag; vgl. S. und 63 f.33 du begrubst ihn mit Hülle zweier Löwen!... — Die hier geschilderte Begräbnis-Fiktion geht zurück auf die Darstellung des Hieronymus im "Leben des heiligen Paulus" (vgl. die erste Anm. zu S. 24). Danach soll Paulus von Theben, auf Grund der von Kaiser Decius angeordneten Christenverfolgung (vgl. die erste Anm. zu S. 23) vierundneunzig Jahre lang als Einsiedler in der Thebäischen Wüste lebend, gegenüber dem ihn besuchenden heiligen Antonius (vgl. die Anm. zu S. 26) den Wunsch geäußert haben, im Mantel des heiligen Athanasius begraben zu werden (Kap. sa); nach seinem Tode hätten zwei Löwen das Grab gescharrt (Kap. 16). Hoffmann entnahm die Legenden wiederum Zimmermanns Schrift "Über die Einsamkeit".Athanasios - Griechischer Kirchenvater und Bischof von Alexandria (um 293-373), einer der Hauptwortführer während der dogmatischen Streitigkeiten innerhalb der frühchristlichen Kirche; Initiator der orthodoxen katholischen Kirche, die 385 auf der Synode von Konstantinopel gegründet wurde. Er hatte siebzehn Jahre lang im Exil leben müssen.33 seltsames Buch - Gemeint sind "Die Elixiere des Teufels" (Band 2 unserer Ausgabe).34 wie der französische Arzt Pinel häufige Fälle anführt - Nach dem Zeugnis Pinels (vgl. die zweite Anm. zu S. 23) verfiel z. B. ein Uhrmacher durch die fixe Idee, das Perpetuum mobile erfinden zu wollen, in Gewalttätigkeit und Tollwut; in einem anderen Falle ermordete ein Winzer in der Wahnvorstellung, daß er zur Hölle verdammt sei, zwei Kinder. Des weiteren verweist Pinel auf die tragische Geschichte eines Mönchs, der im höchsten Grade der Exaltation wähnte, die Heilige Jungfrau sei ihm erschienen und habe ihn zur Ermordung eines Ungläubigen aufgefordert; die Ausführung der Tat konnte nur durch das rechtzeitige Eingreifen der Gerichte verhindert werden. ("Traité medico-philosophique. .", S. 66 ff., 72 ff. und 542.)36 Bedlam - Gemeint ist das Bethlehem-Hospital in London (Abkürzung im englischen Volksmund: Bethlem), ursprünglich eine Priorei, die nach der Konfiskation des Kirchenbesitzes unter Heinrich VIII. seit 5547 als Irrenanstalt diente. Im weiteren Sinne ist der Name sprichwörtlich geworden für Irren- bzw. Tollhäuser (nach dem Sprachgebrauch der damaligen Zeit: Bedlamit = Tollhäusler).[Rat Krespel]Für den Titelhelden der Novelle hat eine aus Frankfurt a. M. stammende Person dieses Namens Pate gestanden, von deren wunderlicher Aufführung Hoffmann durch Clemens Brentano Einzelheiten erfahren hatte. Es handelt sich um den Thurn-und-Taxischen Rat und Archivar Johann Bernhard Crespel (1747-1813) der in früheren Jahren zum Freundeskreis des jungen Goethe gehört hatte; und von Goethes Mutter, die auch später noch in brieflichem Verkehr mit ihm stand, als er bereits in Laubach wohnte, stammen wohl auch die Informationen Brentanos. So geht u. a. die von Hoffmann als literarischer Aufhänger benutzte spleenige Szenerie des Hausbaues auf folgende von der Frau Rat Goethe geschilderte tatsächliche Begebenheit zurück: "Crespel ist ein Bauer geworden, hat in Laubach Güter gekauft, das heißt etliche Baumstücke - baut auf dieselbe ein Haus nach eigener Invenstion, hat aber in dem Kickelsort weder Mauerer noch Zimmerleute, weder Schreiner noch Glaser - das ist er nun alles selbst - es wird ein Haus werden - wie seine Hosen, die er auch selbst fabriziert - Muster, leihe mir deine Form!!" (an Goethe in Weimar, 21. Juni 1796). Goethe selbst schildert diesen "seltsamen Menschen", der "mit viel Anlage geboren, seine Talente und besonders seinen Scharfsinn in Jesuiterschulen ausgebildet und eine große Welt- und Menschenkenntnis. aber nur von der schlimmen Seite, zusammengewonnen hatte", im Sechsten und Fünfzehnten Buch von "Dichtung und Wahrheit".

Nach Erscheinen der Erzählung - in der der Dichter anhand von Schicksal und Charakter des sich selbst entfremdeten Krespel das seit den "Kreisleriana" immer wieder mit neuer Akzentuierung behandelte Thema der widerspruchsvollen Einheit von Kunst und Leben exemplifiziert, das hier in der Aufopferung Antonies eine weitere symbolische Wendung erfährt, und in der er auch das musikalische Motiv der "Suche nach dem vollkommensten Ton" (vgl. die Entstehungrgeschichte der "Automate", "Automate -S.-7 si) wiederaufnimmt- entrüsteten sich die Nachkommen Crespels über die Indiskretion Brentanos und über die Travestierung durch Hoffmann. Eine Freundin der Familie erhob sogar öffentlich Protest: ,.Unbegreiflich ist es, daß Goethe nie etwas zu Rat Crespels Verteidigung gegen die von E. T. A. Hoffmann gedichtete Novelle schrieb, da es doch galt, seinen besten Jugendfreund zu vertreten. Die Novelle ist zwar sehr schön geschrieben, strotzt aber von Unwahrheiten aller Art. Crespel war ein höchst origineller Mann, aber stets weit entfernt von dem ihm in der Novelle zugeschriebenen Benehmen. Nach einer Mitteilung von Rat Crespels Tochter, der hier lebenden Frau Bergrat Buderus, hat Clemens Brentano Hoffmann die Hauptskizze dieses verrückten Romanenwesens geliefert. Diese Dame hat sich an die in Frankfurt wohnende Familie Clemens Brentanos gewendet, um des letzteren Aufenthalt zu erfahren und ihn zur Rede zu stellen. Er sei in einem Kloster in Polen. sie wüßten selbst nicht wo. war die Antwort. Alle Kinder Crespels sind empört über die in tier Novelle enthaltene Verleumdungen, indem Rat Crespel die glücklichste Ehe geführt hat und der

beste Vater war" ("Leben in Frankfurt am Main, Auszüge der Frag- und Anzeigungs-Nachrichten... Gesammelt, geordnet und den Bürgern dieser Stadt gewidmet von Maria Belli, geb. Contard. Vierter Band. Vom Jahre 1752 bis 1761", Frankfurt am Main 850).

Hoffmann hatte die Erzählung seinem Freunde Fouqué versprochen, der sie im Jahrgang 1817 seines 1815 begründeten und bis 1821 herausgegebenen "Frauentaschenbuchs" abdrucken wollte. Über die Gründe der verspäteten Lieferung des Manuskripts schrieb er am 22. September 1816 an Fouqué: "Ich wollte, liebster Baron! Sie flizten mich recht wacker aus wegen meiner Faulheit! — Aber in der Tat sind mir die unangenehmsten Geschäfte. . so über den Hals und zu Kopfe gestiegen, daß sich alle Lust und Laune zu den Poeticis verlor. — Nun ist's viel zu spät, etwas ins ,Frauentaschenbuch' nachrücken zu lassen, damit Sie sich, bester Baron, aber gütigst überzeugen, daß es mir Ernst ist, etwas zu liefern, schicke ich Ihnen anliegend den für jenes Taschenbuch bestimmten Aufsatz, den ich ganz zu Ihrer Disposition stelle. Ist es dieses Jahr zu spät, so könnte er, da er völlig zeitunabhängig ist, für künfl'ges Jahr dienen, in diesem Fall würde ich aber... das schmale Honorar erst zu Neujahr 1818 erhalten.. Für den Zeitschriftendruck entwarf Hoffmann dann ein zweites fiktives Entschuldigungsschreiben, das zugleich als Rahmen für den eigentlichen literarischen Beitrag diente:



"Ein Brief von Hoffmann an Herrn Baron de la Motte Fouqué Da Sie, geliebtester Herr Baron! Lesages ,Hinkenden Teufel' gelesen haben, so werden Sie sich gütigst erinnern, mit welcher tiefen Verwunderung der berühmte Student Don Cleofas Leandro Perez Zambullo jenen langen hagren Mann erblickte, der, als Nachtmantel, Negligé, Prunkschlafrock bloß ein kurzes Hemde tragend, in seinem durch eine schlechte Lampe matt erleuchteten Stübchen mit starken Schritten auf und ab ging. Bald richtete er den Blick starr in die Höhe, bald sah er zum Boden nieder, dann schlug er mit flacher Hand sich an die Stirn, dann focht er mit geballten Fäusten in der Luft - dann stieß er einige unverständliche Laute aus, dann rannte er audan Schreibtisch und prallte wieder zurück. — Hatte Don Cleofas Leandro Perez Zambullo nur ein Quentlein mehr Menschenkenntnis, so bedurfte es keines Teufels, ihm zu erklären, daß jener Mann ein Dichter war, der, einen merklichen Mangel an eigentlicher Schaffungskraft verspürend, denn doch nun durchaus schreiben wollte oder sollte. Sahen Sie, Baron! gestern abend Ihren gehorsamsten Freund und Diener, jenem Manne gleich (obwohl bei weitem besser gekleidet) mit Ihrem sehr werten Schreiben in der Hand sein Zimmer nach der Länge und Breite durchmessend, in der Tat, es wäre Ihnen klar geworden, daß in schriftstellerischer Hinsicht nun eben auch mit ihm nichts anzufangen ist. — Ich soll dieses Jahr etwas für das ,Frauentaschenbuch' schreiben. — Der Aufforderung des gütigen Freundes ist nicht zu widersprechen, das sehe ich wohl ein, aber ebensogut auch, daß, bin ich nicht anmutig, geistreich. phantastisch, romantisch, witzig, empfindsam, humoristisch, heiter, tief - ja bin ich nicht das allee, ich mich großer Gefahr aussetze. Mein Beitrag wird als schnöder Lückenbüßer nur unnützerweise einige Blätter füllen, die jede um den guten Geschmack (in Kunst und Literatur nämlich) einigermaßen besorgte Frau mit feiner Nadel zusammenheftet, um nicht als ein umgekehrter Nestor (man sehe: Zerbino [vgl. die Anm. zu S. so]) wider Willen aus dem Garten der Poesie in die Wildnis seichter Prosa zu geraten. — Gott, wie quält mich das! — Muß man denn nicht, um in zierlicher, geschmückter Gesellschaft zu erscheinen, ein hochzeitlich oder doch sonntäglich Kleid anziehen, und wie ist es dann, wenn man solches Kleid, eben im Begriff, es anzulegen, mit allerlei Werkeltagsstaub beschmutzt oder entfärbt findet? — Mag es auch sein, daß schon ein einziger Knopf unter dem Kragen, den die, wer weiß weshalb, sich plötzlich erweiternde Brust wegsprengte, wider das Dekorum anstößt, und auf dieses halten wir was, Baron! — Jener Dichter, der den Hymnus auf die Freiheit nirgends anders schreiben wollte als in der Bastille, gestaltete sich in dem Augenblick, als er das äußerte, zum poetischen Fanfaron [Aufschneider]. (Fanfaronnek heißt es in Warschau, wo es viele gibt, aber nicht poetische.) Das Leben stellt seine vier Bastillemauern um uns her, und aus ihnen entwickelt sich ja wohl jener bösartige Stoff, der wie giftiger Meltau auf die Flügel einer Psyche fällt und sie zerfrißt bis zum kraftlosen Einsinken. — Der dem Kerker entschlüpfte Vogel kehrt zurück, um Ätzung zu finden, die er, verwöhnt und hülflos geworden, draußen nicht zu finden wußte; auch sprachen die Sänger des Hains zu ihm: ,Lieber Kleiner! obschon Sie unsere Uniform, bunte Klappen und Federepauletts zu tragen belieben, so zeigt doch Ihr miserabler Gesang, daß Sie, längst auf Pension gesetzt, nicht mehr zu uns gehören. Sie merken, teuerster Baron! daß alle diese rhapsodisch vorgetragenen Gedanken und Meinungen auf nichts anders als auf die kahle Entschuldigung hindeuten, daß, seit der Zeit, da ich wieder in dem Triebrad des Staats lustig zutrete, es mit meiner poetischen Gabe höchst miserabel aussieht und ich wohl fühle, daß ich gar nicht imstande bin, Ihnen dieses Mal etwas Würdiges für Ihr den Frauen zunächst gewidmetes Taschenbuch zu liefern. — Mit den Lauretten und Teresinen [vgl. die Entstehungsgeschichte der "Fermate", S. 664] ist es nicht allemal getan, und solcher Erfahrungen im Leben und solcher Zufälle, daß man ebendiese Erfahrungen, in heitern Farben gemalt, wiederfindet, gibt es auch überhaupt wenig.

Eben habe ich, wie Rameaus famoser Neffe, an die Stirne geklopft, und zwar in heller Verzweiflung, jedoch ganz leise bittend, und sehr artig gefragt: Ist denn niemand, niemand zu Hause? — Aber keine Antwort! — Sie sind sämtlich ausgegangen, Herrn und Diener, ob jemals einer von ihnen zurückkehrt oder ob sonst gute Leute einziehen, das weiß der Himmel!

Entschuldigen Sie mich diesmal, verehrtester Baron! mit meiner eignen Imbezillität, deren ich mich selbst anklage, andern Leuten entgegen, die niemals etwas anders vermissen wollen als höchstens das Gedächtnis. Vielleicht kommt mir künftiges Jahr wieder ein Bild vor Augen, das ich in die Gesellschaft der Frauen hineintragen kann.

Ganz und garIhr ergebenster

E. T. A. Hoffmann

Postskriptum. Geschah es Ihnen, Baron! nicht auch schon recht oft, daß aus grauen düstern Wolkenschatten, die tief in Ihr Leben hineinhingen, plötzlich in farbigem Feuer allerlei freundliche Himmelsgestalten hervorblitzten und daß nach solchem Leuchten nur schwärzere Nacht Sie umfing? — Aber dann ging in weiter, weiter Ferne ein blasser Schimmer auf, und in Ihrer Brust sprach es, ach, das ist ja das geliebte Bild, aber seine hochherrlichen himmlischen Züge erkennt nur der Schmerz! Als nun der Schimmer feuriger und feuriger strahlend sich zu gestalten begann, da gewahrten Sie wohl, daß das, was Ihnen als schimmerndes, strahlendes Bild erschien, nur der Reflex der heißen unaussprechlichen Sehnsucht war, die in Ihrem eigenen Innern aufgegangen! — Glauben Sie wohl, Baron! daß ich, nachdem ich mich heute vergebens recht abgequält, nachdem ich in der miserabelsten philistermäßigsten Stimmung Ihnen brieflich den gewünschten Beitrag abgesagt hatte, glauben Sie wohl, daß ich dann, an Lauretta und Teresina denkend, Ihr Taschenbuch von 1816 zur Hand nahm, um die ,Fermate' zu durchblättern? Es gelang mir nicht, auch nur ein

Wort zu lesen, denn indem ich voll trüben Unmuts hineinstarrte, da blitzten, wie ich es oben beschrieben, allerlei Gestalten um mich her und verschwanden plötzlich, wenn ich sie zu erfassen gedachte. Es war tiefe Abenddämmerung geworden, und mochte es sein, daß der durch das Fenster hineinströmende Abendwind über den offenstehenden Flügel hingestreift oder daß ein flatternder Sommervogel die Saiten berührt hatte - genug, ein klarer Ton, wie aus weiblicher Brust hervorgehaucht, ging lang und leise verhallend durch das Zimmer. Ich hielt den Atem an. um das Verschweben des wunderbaren Lautes recht deutlich zu vernehmen, und da war es mir, als sei es die Stimme einer mir wohlbekannten Sängerin, die zu meinem Geist spräche, und doch wußt ich nicht, hatt ich sie einst wirklich oder nur im Traum gehört. ,Ist das Lauretta oder Teresina - oder -' So hörte ich ganz vernehmliche Worte, und ich wußte wohl, daß ein gewisses neckendes, hohnlächelndes Teufelchen, das oft, dem Sokratischen Genius sehr unähnlich, neben mir sitzt, sie gesprochen - mir zum offenbaren Tort, ich ließ ihn daher nicht ausreden, sondern als er bei dem ,oder' ein ganz klein wenig stockte, seufzte ich aus tiefer Brust: ,Antonie!' Das Teufelchen ging nun in sonderbarer Gestalt zur Stubentüre heraus, nämlich als ein nicht zu großer, aber sehr hagrer Mann in einem grauen Kleide, so zugeschnitten, wie ihn jetzt unsere Jünglinge tragen und die Tracht deutsch nennen, jedoch mit vielen Schnüren besetzt. Dazu war der Mann nach der Militärmode der siebzehnhundertsechziger-siebziger Jahre frisiert, nämlich ein Coeur-Toupet (einer aufgeworfenen Schanze nicht unähnlich), pistolenhalfterförmige Locken und ein langer imposanter Zopf mit angehefteter Kokarde. Sein Gesicht war sehr bleich, aber auf den spitzen hervorstehenden Backenknochen ein roter Fleck, unter überhängenden Augenbraunen blitzten ein Paar große graue Augen hervor, die Nase war gebogen - scharf gezeichnet, der Mund heraufgezogen zum ironischen Lächeln, das Kinn lang und hervorragend. — Wie sollte ich denn nicht gleich auf den ersten Blick den Rat Krespel erkannt haben? ..." (Hier schließt der Wortlaut der Erzählung in den "Serapionsbrüdern" an; vgl. S. 36, zweiter Absatz.)

In dieser Einkleidung erschien "Rat Krespel" im "Frauentaschenbuch für das Jahr 1818". Nach den Februar-Verhandlungen mit dem Verleger Reimer (vgl. S. 623 f.) hat Hoffmann sich dann wieder an jenes seinerzeit in das "Postskriptum" eingefügte Erzählstück erinnert und es - ohne ihm eine Überschrift zu geben - für den Rahmen der serapiontischen Geschichten überarbeitet, nachdem der Plan für die Buchausgabe ausgereift war.41 Amati - Name einer der berühmtesten italienischen Geigenbauerfamilien des 16. und 17. Jahrhunderts, die in Cremona ansässig war.43 wie der Doktor Bartolo im "Barbier von Sevilien" — Anspielung auf das Libretto der Oper "II Barbiere di Siviglia" (1782; Der Barbier von Sevilla) des italienischen Komponisten Giovanni Paisiello (1740-1816), die später durch Rossinis Vertonung des gleichen Textes (Uraufführung 1816) in den Hintergrund gedrängt wurde. Hoffmann erwähnt das Musikdrama von Paisiello bereits in dem "Kreislerianum" "Der vollkommene Maschinist" (Band 1 unserer Ausgabe).44 ein zweiter Astolfo, . . in Alzinens Zauberburg einzudringen -Anspielung (wie schon in der Erzählung "Ritter Gluck"; Band 1 unserer Ausgabe) auf eine Szene in dem Heldenepos "L'Orlando furioso" (q516; Der rasende Roland) des italienischen Dichters Lodovico Ariosto (1474-1533), in dem die Religionskriege Karis des Großen gegen die Sarazenen den historischen Hintergrund bilden: Der Paladin Astolfo erliegt den Verführungskünsten der Fee Alzine und folgt ihr arglos auf ihr Schloß. In Wirklichkeit ist Alzine eine häßliche und böse Zauberin. die alle ihre getäuschten Liebhaber in Bäume verwandelt, was auch nach kurzem Liebesglück Astolfo widerfährt. In solcher Gestalt erzählt er sein Schicksal dem Helden Rüdiger, der nun in Alzines Reich eindringt und das von ihr befehligte Heer von Ungeheuern besiegt (Sechster Gesang).Tartinis - Giuseppe Tartini (1692-1770), italienischer Violinvirtuose, Komponist und Musiktheoretiker, seit 1728 Konzertmeister und Geigenlehrer in Padua, wo er eine berühmte Violinschule gründete.45 Quinte - Name der E-Saite auf der Violine.Stamitz — Karl Stamitz (1746-1801), Komponist und Violinist; hervorragender Vertreter der Mannheimer Virtuosenschule.46 Cremoneser Geige -Vgl. die Anm. zu S. 45.47 Pucitta - Vincenzo Pucitta (1778-1861), italienischer Opernkomponist, den Hoffmann abwertend beurteilte (vgl. "Lebensansichten des Katers Murr". Erster Band, Erster Abschnitt; Band 6 unserer Ausgabe).47 Portogallo - Marcos Antonio Portugal da Fonseca, genannt Portogallo (1762-1830), portugiesischer Opern- und Kirchenmusik-Komponist.Schiavo d'un primo uomo - (ital.) Sklave des ersten Sängers; gemeint ist ein Kapellmeister, der sich von den Launen der Solisten gängeln läßt.Leo - Leonardo Leo (1694-1744), italienischer Komponist, Organist, Kapellmeister und Musikpädagoge, den Hoffmann sehr schätzte.48 Amoroso - (ital.) Liebhaber, Verliebter.52 Irrenhause - daß ich Gott der Vater zu sein wähne... — Nach einer Anekdote, die Reil in seinen "Rhapsodien.. ." (vgl. die zweite Anm. zu S. 394) mit folgender Pointe berichtet: "Ein Wärter führte in einem Tollhause die Fremden herum und erzählte denselben mit vieler Vernunft die Narrheiten jedes Kranken. Erst an der letzten Zelle erfuhr man, daß er auch zu den Merkwürdigkeiten des Tollhauses gehöre. ,Hier', sagte er, ,sitzt ein Mann, der ein Narr ist, weil er sich für Gott den Sohn hält, ohne es zu sein. Denn ich müßte es wissen, deich Gott der Vater bin" (a. a. O., S. 445 f.).53 Teatro di S. Benedetto - Das Operntheater Venedigs zu Beginn des 19. Jahrhunderts.54 bestia tedesca - (ital.) deutsche Bestie.Marito amato e padre felicissimo - (lat.) Geliebter Mann und glücklichster Vater.57 Padre Martini - Giambattista Martini (1706-1784), italienischer Komponist und einflußreicher Musiktheoretiker; Mitglied des Franziskanerordens (daher Padre genannt).61 Nein, das ist nicht auszuhalten. - Bewußte Anlehnung an Ludwig Tieck, der in seinem "Phantasus" (vgl. die zweite Anm. zu S. 5) nach der Verlesung der Novelle "Liebeszauber" eine Gesprächsteilnehmerin ausrufen läßt: "Nein! . . es ist nicht auszuhalten!" usw62 Hauskalender, -Hitzig berichtet über den ersten Serapionsabend: "Am Abende eines Tages, der, nach dem von Hoffmanns Gattin herbeigebrachten polnischen Kalender, den Namen des heiligen Serapion führte [vgl. die erste Anm. zu S. 231, wurde die Gesellschaft eingeweiht, nach jenem Heiligen benannt und gedieh fröhlich. bis sie durch den Umstand. daß Contessa seinen Wohnort von Berlin verlegte, und in Koreffs Person begründete Hindernisse, zum großen Leidwesen aller, ihr Ende erreichte; denn wirklich wurde in einer solchen Zusammenkunft eine Masse von Witz und Geist konsumiert, daß ein gewöhnlicher Tee durch die ganze Lebenszeit des Teegebers davon hätte bestehn und noch auf seine Erben ein gutes Teil übergehen können. . . ("Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß", Berlin 1823, Teil 2, S. 132). Vgl. die Entstehungsgeschichte der "Serapionsbrüder".64 Dichter und - Seher dasselbe Wort - Gemeint ist das lateinische Wort vates, das sowohl Seher, Weissager als auch Dichter bedeutet.Die FermateDas novellistische "Gemälde"gehört zu den bei Hoffmann "bestellten" Arbeiten. Den äußeren Anstoß zur Niederschrift gab ein von der Redaktion der "Urania. Taschenbuch für Damen" am 14. Dezember 1814 an ihn ergangenes Angebot zur Mitarbeit, das verbunden war mit dem Wunsch nach baldmöglicher Zusendung eines literarischen Beitrages. Diesen "schmeichelhaften Beweis des günstigen Vorurteils" für seine "zünftige" Schriftstellerei bemühte sich der Dichter ohne langen Aufschub zu honorieren. "Es ist mir eine kleine humoristische Erzählung aufgegangen", schrieb er vier Wochen später, am 12. Januar 1815, an das in der Brockhausschen Buchhandlung in Altenburg (ab 1817 in Leipzig) erscheinende Journal, "die in das Gebiet der Musik herüberspielt und mir nach der mir bekannten Tendenz der ,Urania' ganz für dies zunächst für Frauen bestimmte Taschenbuch geeignet zu sein scheint." Die "Idee der Erzählung für die ,Urania" wurde dann laut Tagebuch bereits am 16. Januar 1815 "vollkommen ins klare gebracht", mit der Ausarbeitung - trotz Kränklichkeit des Autors - am 18. Januar begonnen. "Mit Leichtigkeit und Glück" (1. Februar) gelang ihm in kürzester Zeit die poetische Abrundung seines stofflichen Vorwurfs. Bereits am 3. Februar meldet das Tagebuch: "Die Erzählung für die ,Urania': ,Die Fermate', beendigt." Am 7. Februar lag die Novelle fertig abgeschrieben vor.Inzwischen von seinem Freund Fouqué überredet, das neue Stück nicht in der ..Urania". sondern in dessen "Taschenbuch für Damen" abdrucken zu lassen ("Mittags mit Fouqué und Chamisso bei Dietrich zum Mittag - . Die Erzählung ,D[ie] Fermate' fürs ,Frauentaschenbuch' abgegeben"; Tagebuchnotiz vom 13. Februar 1815), schickte Hoffmann das Manuskript am 28. Februar 1815 an Fouqué nach Nennhausen ab. Der Beitrag erschien unter dem auch später beibehaltenen Titel im Herbst 1815 im "Frauentaschenbuch für das Jahr 1816' (zwei Jahre vor dem "Rat Krespel"; vgl. S. 660), ausgewiesen als "Erzählung von E. T. A. Hoffmann". Der "Urania"-Redaktion lieferte er als Ersatz dafür am 6. März 1815, sich für die Verspätung seines Beitrags mit "dringenden Dienstgeschäften" entschuldigend, die in ihrem Grundtenor ähnliche Erzählung "Der Artushof" (vgl. S. 681f.).

"Die Fermate" ist wiederum eine Dichtung mit "musikalischem Charakter", bei deren Ausführung Jugenderinnerungen und -hoffnungen auf ein freies Künstierleben mitgewirkt haben, die der Autor poetisch verdichtet hat. Er läßt den jugendlichen Helden als "reisenden Enthusiasten" seinem Kunstideal nachgehen und seine ernüchternden Lebens- und Liebeserfahrungen machen (vgl. die Parallele im "Artushof"). Die liebenswürdig-heitere Handlung endet mit einer Apotheose auf den hohen Wert des echten musikalischen Sinns, der unvereinbar ist mit jenen banalen "Konzert"-Schaustellungen, die Hoffmann, wie schon des öfteren, auch in dieser Erzählung anschaulich darstellt (vgl. S. 71ff.). Die geschilderte Szenerie erinnert deutlich an die Atmosphäre im Hause seines Onkels und Erziehers, des Justizrats Otto Wilhelm Doerffer (1741-1811) in Königsberg, über dessen barbarisches "musikalisches Treiben" er sich schon im "Kreislerianum" "Der Musikfeind" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe) satirisch geäußert hatte. — Unverkennbar sind auch die stofflichen Anklänge an die komische Oper "1 Virtuosi ambulanti..." (Die wandernden Schauspieler) von Valentino Fioravanti (1768-1837), die Hoffmann bereits im Jahre 1809 für die "Allgemeine Musikalische Zeitung" rezensiert (vgl. Band 9 unserer Ausgabe) und dann im Februar 1814 in Leipzig dirigiert hatte; der Name der einen weiblichen Hauptgestalt (Lauretta) ist daraus entnommen.

Als äußere Anregung für seine Erzählung bezeichnet Hoffmann selbst das im Herbst 1814 auf der Berliner Kunstausstellung gezeigte Gemälde "Gesellschaft auf der italienischen Locanda" von Johann Erdmann Hummel (vgl. die zweite Anm. zu S. 68), auf dem er die "Erfahrungen" mit Lauretta und Teresina, "in heitern Farben gemalt"

(vgl. S. 659), vorgezeichnet gefunden habe. Zwar ist die Beschreibung des Bildes (vgl. S. 87) authentisch - was Joseph von Eichendorff in seiner Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts" (1826) unter ausdrücklicher Bezugnahme auf "Die Fermate" bezeugt -, doch für die Entstehungsgeschichte der Erzählung kaum von Belang.

Für die Buchausgabe der "Serapionsbrüder" hat Hoffmann die Textfassung der "Fermate" von 1815, die er im Brief anden Verleger Reimer vom 17. Februar 1818 (vgl. S. 623) an zweiter Stelle seines "Vorrates" nennt, noch einmal überarbeitet und stilistisch verbessert.68 Fermate - In der Musik das Zeichen zum längeren Aushalten einer Note oder Pause, als der gewöhnliche Zeitwert angibt; bei Arien zeigt die Fermate über einer Note kurz vor dem Schluß an, daß der Sänger eine vorgezeichnete oder freie Akkordfolge mit besonderer Schlußwirkung einlegen soll.Hummels heitres lebenskräfliges Bild - Gemeint ist das auf der Berliner Kunstausstellung im Herbst 1814 gezeigte Bild "Gesellschaft auf der italienischen Locanda" von Johann Erdmann Hummel (1769-1852), der seit 1809 Professor an der Akademie der Künste in Berlin war. Das Gemälde befindet sich jetzt in der Neuen Pinakothek in München.Locanda - (ital.) Wirtshaus, Herberge.Battuta - (ital.) Taktstock.70 Sala Tarone - Name einer Wein- und Italienerwarenhandlung in Berlin, Unter den Linden Nr. 32 Ecke Charlottenstraße.71 einen alten eigensinnigen Organisten - Gemeint ist wahrscheinlich der Königsberger Organist und Musiklehrer Karl Gottlieb Richter (1778-1809).Flügelkonzerte von Wolf - Der Komponist Ernst Wilhelm Wolf (1737-1792), seit 1768 Hofkapellmeister in Weimar, schrieb achtzehn Klavierkonzerte. Hoffmann erwähnt ihn bereits im "Kreislerianum" "Der Musikfeind" (Band 1 unserer Ausgabe). Emanuel Bach - Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788), Sohn Johann Sebastian Bachs, seit 1740 Kammercembalist am preußischen Hof in Berlin und Potsdam, seit 1767 Kirchenmusikdirektor in Hamburg; er schuf fünfzig Klavierkonzerte. Stamitz —Vgl. die zweite Anm. zu S. 45."Lottchen am Hofe" — Singspiel in drei Akten von Johann Adam Hiller (1728-1804) nach Texten von Christian Felix Weiße (1726

bis 1804); es wurde im April 5767 in Leipzig uraufgeführt und erschien 1769 im Druck.74 Cioccolata - (ital.) Schokolade.ein Scaevola an stoischem Gleichmut - Gaius Mucius Scaevola (d. h. Linkhand) soll, bei der Verteidigung Roms (508 y. u. Z.) in etruskische Gefangenschaft geraten, als Zeichen seiner Furchtlosigkeit seine rechte Hand im Feuerbecken eines Altars verbrannt haben; angesichts eines solchen Mutes sei dann die Belagerung der Stadt aufgehoben worden. "Sento l'arnica speme" — (ital.) "Ich fühle die freundliche Zuversicht."Abbate Steffani - Agostino Steffani (5654-5728), italienischer Opern-, Instrumental- und Kirchenmusik-Komponist, der an mehreren deutschen Fürstenhöfen als Kapellmeister und Diplomat wirkte und 5707 zum Bischof geweiht wurde. Seine Kammerduette, von denen fünfundachtzig handschriftlich erhalten sind, wurden von den Zeitgenossen besonders geschätzt. Hoffmann erwähnt ihn bereits in dem "Nachtstück" "Das Majorat" (Band 3 unserer Ausgabe).75 ,Il bon fanciullo', - (ital.) Der gute Knabe.,Asino maledetto' - (ital.) Verfluchter Esel.76 duse singen — flüsternd, leise singen.77 smorfiosa - (ital.) fratzig, prüde; hier: launisch.Duettini - (ital.) kleine Duette."Senza ti te ben mio, vivere non poss'io" — (ital.) "Ohne dich, mein ein und alles, kann ich nicht leben."80 Anfossi - Pasquale Anfossi (5727-5797), italienischer Opern- und Kirchenmusik-Komponist; er war besonders erfindungsreich in der Variation des Finales.82 Portamento di voce - (ital,) Stimmhaltung; das Verschleifen der Stimme beim Übergang von einem Ton zum anderen.83 Asino tedesco - (ital.) Deutscher Esel.84 Eleatico - Name des aus der Gegend von Elea (Unteritalien) stammenden Weines.86 Rabbia - (ital.) Wut, Arger.Der Dichter und der KomponistDer Plan für das Gespräch über die Wesensmerkmale der Oper und die Beziehung zwischen Text und Musik - das der Dichter mit einem novellistischen Rahmen versah, einer "Einkleidung, welche die Spur der Zeitverhältnisse trägt" (der Kriegsereignisse des Jahres 1813) — reicht bis in Hoffmanns Bamberger Zeit zurück. Bereits am 1. Juli 1809 wandte er sich audio Redaktion der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" mit der Anfrage, ob diese nicht geneigt sei, "in einiger Zeit einen nicht zu langen Aufsatz aufzunehmen, der über die Forderungen, die der Komponist an den Dichter einer Oper mit Recht macht, sprechen würde"; darin käme "manches über die jetzige ausgeartete Form der Oper sowie über die Bedingnisse des wahren Opernsujets und die Behandlung desselben von seiten des Dichters und des Komp[onisten]" vor.Zunächst blieb es jedoch bei der Absicht, und erst vier Jahre später, mitten in den kriegerischen Wirren im belagerten Dresden, wurde der Aufsatz am 19. September "mit Glück angefangen". Ein persönliches Erlebnis war hierfür mit ausschlaggebend gewesen: Als die "Kriegsangelegenheiten auf der höchsten Spitze"standen, war Hoffmann am 26. April 1813 überraschend mit seinem Jugendfreund Theodor Gottlieb von Hippel zusammengetroffen, der sich im Gefolge des preußischen Staatskanzlers von Hardenberg vorübergehend (vom 26 April bis 7. Mai 1813) in Dresden aufgehalten hatte. Die "höchst glückliche Stimmung", die diese zufällige Begegnung auslöste, die dadurch wieder in Erinnerung gekommenen früheren gemeinsamen Ideale und musikkritischen Standpunkte sowie der Kontrast zwischen den musischen Interessen der Freunde und den kriegsbedingten mißlichen Umständen ihres Wiedersehens gaben den unmittelbaren Anstoß zur Abwandlung und Erweiterung der ursprünglichen Idee. Überdies waren auch die musiktheoretischen Erörterungen - Kernstück des Aufsatzes - für Hoffmann gerade höchst aktuell: Er hatte in den vergangenen Monaten besonders hingebungsvoll an den Kompositionen für die Märchen-Oper "Undine" gearbeitet, und der autobiographische Bezug ist offenkundig, wenn er von der Situation des Komponisten spricht, der ein "gedachtes Opernsujet" (die "Versifikation" Fouqués) in Musik setzen soll, und wenn er die "wahrhaft romantische Oper" als einen Gipfelpunkt musikdramatischen Schaffens bezeichnet - dabei wiederum programmatisch auf den "herrlichen Gozzi" als Musterbeispiel eines Operndichters (vgl. den Schluß des Dialog-Aufsatzes "Seltsame Leiden eines Theaterdirektors"; Band 3 unserer Ausgabe) verweisend.

Nachdem nun auch der auf die Zeitereignisse zugeschnittene Rahmen feststand, schritt die Niederschrift der Dialog-Erzählung rasch voran: Am 20. September wurde die am Tage zuvor aufgenommene Arbeit fortgesetzt, nach den erwarteten "großen Begebenheiten" ("Die Franzosen retirieren in Eil über die Brücken aus der Neustadt hierüber - der Kaiser [Napoleon] ist von den Russen und Pr[eußen] geschlagen und befindet sich hier. . ."; 25. September) am 4. und 8. Oktober "fleißig" an der Fertigstellung gearbeitet und das Ganze laut Tagebuch bereits am 9. Oktober "vollendet", so daß die Reinschrift am 25. Oktober vorlag.

Im Begleitbrief zum Manuskript, das Hoffmann am 14. November 1813 an den Musikverleger Härtel in Leipzig absandte, heißt es über die Zeitumstände der Entstehung sowie über die gewählte Form und Einkleidung des Beitrages: "Seit meiner Abreise von Leipzig hat mich eine Kette von Unannehmlichkeiten, die zum Teil in den öffentlichen; zum Teil in meinen Dienstverhältnissen lagen, in eine fortwährende Verstimmung versetzt, die mich wirklich zu literarischen Arbeiten beinahe unfähig machte... Schon [in] der letzten Zeit gelang es mir, einen Aufsatz, den ich längst Hrn. H[of-]R[at] Rochlitz versprochen, zu endigen; die Einkleidung. welche die Spur der Zeitverhältnisse trägt, und die tröstenden Schlußworte, die ich dem Dichter in den Mund gelegt, dürften wohl ein größeres Interesse gewähren, als wenn ich dem Ganzen die Form einer trocknen Abhandlung gegeben. — Ich lege ihn, überschrieben: ,Der Komponist und der Dichter', bei und bitte, nicht über die Länge zu schelten, da es mir darum zu tun war, manches recht gründlich auszusprechen."

Drei Tage später teilte Hoffmann dem Verleger der "Fantasiestücke", Carl Friedrich Kunz in Bamberg, brieflich einen Auszug aus dem Dialog (die letzten Abschnitte) mit, zu dem er, ausgehend von den "entsetzlichen Begebenheiten in und bei Dresden", mit den Worten überleitete: "Nun zu erfreulicheren Gegenständen, und eine Stelle aus einem Aufsatz, überschrieben ,Der Komponist und der Dichter', den ich für die M[usikalische] Z[eitung] ausgearbeitet, gibt den natürlichen Übergang zu Literatur und Kunst, in der wir nun schwelgen wollen, Freund! — Ludwig, der sich der edlen Musika ergeben, findet unter den Adjutanten des Heerführers, der in die Stadt gezogen, seinen alten akademischen Freund Ferdinand, der sonst ohne alle militärische

Tendenz den Musen gelebt, wieder - sie kamen nach alter Weise in stiller Nacht zusammen, und nachdem sie viel über die Bedingnisse der wahren Oper gesprochen, schließt sich das Ganze wie folgt:..."

Mit dieser Probe wollte der Verfasser Kunz' Interesse wecken, zumal er inzwischen den Entschluß gefaßt hatte, dieses Gesprächsstück zusammen mit noch zu schreibenden weiteren Dialogen zum Thema Musik in eine romantische Rahmenerzählung einzukleiden und das Ganze für die geplante Fortsetzung der "Fantasiestücke" (Band 3 und 4) vorzuschlagen. Nachdem die "Allgemeine Musikalische Zeitung" den Dialog-Aufsatz in den Nummern 49 und so vom 8. und 15. Dezember 1813 abgedruckt hatte, machte Hoffmann Kunz in einem Brief vom 16. Januar 1814 mit seiner Absicht über die weitere Verwendung des Stückes bekannt, indem er in seinem "Entwurf fürs Ganze" der "Callots" für das "dritte Bändchen" einen Zyklus "Szenen aus dem Leben zweier Freunde, in drei bis vier Abteilungen" anführte. Doch schon kurze Zeit darauf änderte sich dieser Plan wieder; andere Überlegungen traten hinzu, die eingetretene Spannung in den Beziehungen zu dem Bamberger Verleger bewirkte das ihrige, schließlich disponierte Hoffmann auch aus Umfangsgründen um, so daß weitere "Szenen. ." über die durch "gleiches, echtes Kunststreben" verbundenen Freunde Ferdinand und Ludwig bis auf die in diesem Zusammenhang zu erwähnenden "Automate" (vgl. 5. 751 ff.) ungeschrieben blieben und die Fortsetzung der "Fantasiestücke" einen gänzlich anderen Verlauf nahm.

In seinem Brief an den Berliner Verleger Georg Reimer vom 17. Februar 1818 nennt Hoffmann bei der Aufstellung seines "Vorrats zu einem artigen Bändchen" den Dialog "Der Dichter und der Musiker' (fünf Jahre alter Aufsatz aus der ,Mus[ikalischen] Zeitung')" an erster Stelle. Die in den "Serapionsbrüdern" veröffentlichte Textfassung ist bis auf geringfügige stilistische Abweichungen mit dem Zeitschriften-Abdruck identisch.93 Vauban - Sébastien le Prestre, Seigneur de Vauban (1633-1707), französischer Marschall, Volkswirtschaftler und Kriegsingenieur, unter Ludwig XIV. Generalinspekteur des Festungswesens (seit 1669); seine militärwissenschaftlichen Schriften waren länger als ein Jahrhundert richtungweisend für die europäischen Länder.95 Bivouac - (franz.) Biwak, Feldlager.

101 grillenhafte Folge zweckloser Feereien - Anspielung vor allem auf die komische Oper "Das Donauweibchen. Ein romantisches komisches Volksmärchen mit Gesang nach einer Sage der Vorzeit" (Uraufführung 1798) des Wiener Komponisten Ferdinand Kauer (1751-1831), die damals außerordentlich beliebt war. Hoffmann kannte die Berliner Inszenierung von 1807/08 sowie die Bamberger Aufführung des Ersten Teiles vom Oktober 1812. Pagliasso - pagliaccio: (ital.) Bajazzo, Hanswurst.102 Ariost - Vgl. die erste Anm. zu S. 44.Tasso - Torquato Tasso (1544-1595), italienischer Dichter der Renaissance, Verfasser des klassischen Nationalepos "La Gerusalemme liberata" (1581; Das befreite Jerusalem).Gozzi, als ich ihn vor mehreren Jahren las - Schon bevor er selbst literarisch hervortrat, brachte Hoffmann dem Werk des italienischen Bühnendichters Carlo Graf Gozzi (1720-1806), der sich um die Wiederbelebung der traditionellen Stegreifkomödie (Commedia dell' arte) bemüht hatte, große Bewunderung entgegen. Bereits in einem Brief an den Freund Hippel aus dem Jahre 1805 spricht er von dessen "anziehenden Gestalten des jovialen Mutwillens" und nennt ihn enthusiastisch: "heiliger Gozzi". Im Mai 1809 wandte er sich an den damals als Verlagsbuchhändler in Berlin tätigen Freund und ehemaligen Berufskollegen Julius Eduard Hitzig mit dem dringenden Anliegen: den Gozzi muß ich haben!" — nämlich die Ausgabe "Le dieci habe teatrali"(Zehn Märchendramen), die 1808 in Hitzigs Verlag erschienen war. Die "Vision" Gozzi begleitete dann auch weiterhin das gesamte dichterische Schaffen Hoffmanns. An zahlreichen Stellen seiner Werke bezieht er sich voller Hochschätzung auf "den zur großen Ungebühr Vergessenen" und gibt Beispiele von dessen dramatischer Kunst (vgl. besonders den Schluß der "Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors", Band 3 unserer Ausgabe). Was Hoffmann als Dichter an Gozzis dramatisierten Märchen inspirierte, das ist ihm zugleich richtungweisend für eine künftige Theaterreform - ein Thema, das er dann in allegorischer Einkleidung (mit Bezugnahme auf Gozzi im Vorwort) in seinem Capriccio "Prinzessin Brambilla" (1821; vgl. Band 7 unserer Ausgabe) poetisch variiert."Der Rabe" - Die (nur skizzenhaft ausgeführte) Märchenkomödie "II corvo" (1761) von Carlo Gozzi wurde erst 1877 ins Deutsche übertragen.102 Nekromantik -Toten-, Geisterbeschwörung.107 den in üppiger Fülle überbrausenden Spontini -Anspielung auf die pathetischen Ausdrucksmittel in den Opern des italienischen Komponisten Gasparo Spontini (1774-1851), der von 1820 bis 1841 als Hofkomponist und Operndirektor in Berlin wirkte. Hoffmann hat Spontini (nach anfänglicher Abneigung) sehr geschätzt und mehrere seiner Werke rezensiert.Gluck, der wie ein Heros dastebt - Hoffmann bezieht sich vor allem auf Christoph Willibald Glucks (1714-1787) Opern "Armide, drama héroique" (1776), "Iphigénie en Aulide" ('ric; Iphigenie in Aulis) und "Iphigénie en Tauride" (iris; Iphigenie auf Tauris). Vgl. seine Besprechungen der beiden ersten Werke aus den Jahren 1810 und 1820 (Band 9 unserer Ausgabe) sowie das "Fantasiestück" "Ritter Gluck" (Band 1 unserer Ausgabe).Chor der Priester der Nacht in Piccinis "Dido" — Chor aus dem 3. Akt (so. Szene) der heroischen Oper "La Didone" (1783) des seinerzeit außerordentlich erfolgreichen italienischen Komponisten Niccola Piccini (1728-1800), der vor allem durch den Pariser Opernstreit zwischen seinen und Glucks Anhängern (vgl. "Höchst zerstreute Gedanken"; Band 1 unserer Ausgabe) in die Musikgeschichte einging. Hoffmann sah das Musikdrama, dem der von Vergil überlieferte Sagenstoff vom Schicksal Didos, der legendären Gründerin Karthagos, zugrunde liegt, wahrscheinlich während seines ersten Berliner Aufenthaltes (29. August 1798 bis März 1799).110 das weinerliche Schauspiel - Gemeint ist die durch Gellert eingeführte und theoretisch vertretene deutsche Variante der in Frankreich entstandenen "comédie larmoyante" (weinerliches Schauspiel), einer aus der klassischen Komödie hervorgegangenen Übergangsform zum bürgerlichen Trauerspiel, bei der das rein Komische zurückgedrängt ist durch sentimental-moralisierende Züge. Nachdem das Genre zur Mode geworden war, setzte seine Verflachung zum bürgerlichen Rührstück ein, nach dessen Muster selbst die großen Tragödien der Weltliteratur trivialisiert wurden. (Vgl. Hoffmanns Dialog-Aufsatz "Seltsame Leiden eines Theaterdirektors"; Band 3 unserer Ausgabe.)"Waisenhäuser" - Anspielung auf das Singspiel "Das Waisenhaus" (Wiener Uraufführung 1808) von Joseph Weigl (1766 bis 1846), nach einem Text von Friedrich Treitschke. Hoffmann, der die Bamberger Inszenierung vom Dezember 1809 kannte, hatte sich mit der Oper 1810 meiner Rezension für die "Allgemeine Musikalische, Zeitung" (vgl. Band 9 unserer Ausgabe) kritisch auseinandergesetzt, die manche der hier geäußerten Gedanken bereits vorwegnimmt.110 "Augenärzte" — Anspielung auf das Singspiel "Der Augenarzt" (Wiener Uraufführung 1811) von Adalbert Gyrowetz (1763 bis 1850), nach einem Text von Johann Emanuel Veith (1787 bis 1876). Hoffmann hatte diese "weinerliche Erscheinung" eines Opernsujets 1812 in der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" rezensiert (vgl. Band 9 unserer Ausgabe) und im September 1813 in Dresden eine "mißratene Darstellung"dirigiert.Singspielen, wie sie Dittersdorf gab, - Der österreichische Violinist, Komponist und Musikschriftsteller Karl Ditters von Dittersdorf (1739-1799) schuf u. a. vierundvierzig populäre Opern und Singspiele mit oft derb-komischen Szenerien und leicht faßlichen Melodien. Die menschliche Schwächen parodierenden Stücke gelten als Vorläufer der deutschen komischen Oper. — Hoffmann revidierte später sein scharf formuliertes Urteil über Dittersdorf. (Vgl. die Rezension zu Étienne-Nicolas Méhuls Oper "Ariodant" vom Jahre 1818; Band 9 unserer Ausgabe.)"Das Sonntagskind" und "Die Schwestern von Prag" — "Der Geisterseher oder Das neue Sonntagskind" (1793) und "Die zwei Schwestern von Prag" (1794): komische Singspiele des Wiener Kapellmeisters Wenzel Müller (1767-1835), nach Texten des Wiener Schauspielers Joachim Permet (1765-1816). Hoffmann schätzte die (1813 und 1814 in Dresden bzw. Leipzig unter seiner musikalischen Leitung aufgeführten) Bühnenstücke sehr. (Vgl. auch das Märchen "Der goldne Topf"; Band 1 unserer Ausgabe.)im "Gestiefelten Kater"... — Ludwig Tieck, "Der gestiefelte Kater. Ein Kindermärchen in drei Akten mit Zwischenspielen, einem Prologe und Epiloge" (1797). Die erwähnte Ansprache des Dichters an das Publikum findet im Epilog statt.vox populi -. vox Dei - (lat.) Stimme des Volkes... Stimme Gottes.111 "Das Ungeheuer und der bezauberte Wald" — Der von Ludwig Tieck verfaßte Operntext "Das Ungeheuer und der verzauberte Wald. Ein musikalisches Märchen in vier Aufzügen" (1798 geschrieben und 1810 erschienen) hat bis heute keinen Komponisten gefunden. Hoffmanns anfängliches Interesse für das Libretto geht aus einem Brief hervor, den er 1809 aus Bamberg an Julius Eduard Hitzig sandte, der damals Verleger in Berlin war. Darin heißt es: "Sie sagten mir einmal von einer neuen Edition des Tieckschen ,Ungeheuers'; wo istdie Oper zu erhalten? Können Sie sie mir schicken, oder aus welchem Verlage kann ich sie bekommen? — . . . recht eilig möchte ich komponieren, denn sonst, fürcht ich, ist es mit dem Theater vorbei, ehe ich meine gewiß gute Einnahme erhalte."112 der gleichnisreiche Metastasio - Der italienische Dichter Pietro Metastasio (eigentlich Trapassi; 1698-1782), seit 5730 Hofpoet in Wien, zählte zu den führenden Opernlibrettisten seiner Zeit. Mit der "tönenden Wortkunst" seiner Bühnendichtungen übte er großen Einfluß aus auf die musikalische Operngestaltung (Reformoper). Vor allem in der dreiteiligen Dacapo-Arie (mit der Wiederholung des ersten im dritten Teil) verwendete er mit Vorliebe metaphorische Wendungen (meist Naturbilder)."Corne une tortorella" - (ital.) "Wie ein Turteltäubchen"."Come spuma in tempesta" — (ital.) "Wie Gischt im Sturm".113 "Almen se non poss'ie,...!" — (ital.) "Wenn ich schon selbst dem Geliebten nicht folgen kann, so folgt wenigstens ihr, Liebesempfindungen meines Herzens, ihm für mich!"; Verse aus Metastasios Libretto zur Oper "La Clemenza di Tito" (Die Güte des Titus; II, 5).117 "Nachtgesang" aus der "Genoveva" des Maler Müller... den Anfang schrieb ich auf - Das zwischen 1775 und 1781 entstandene Drama "Golo und Genoveva" des Sturm-und-Drang-Dichters und -Malers Friedrich Müller (genannt Maler Müller; 1749 bis 1825) — erst 1811 in der von Ludwig Tieck veranstalteten Müller-Werkausgabe veröffentlicht - geht auf das Volksbuch "Genoveva" aus dem Jahre 1602 zurück. Hoffmann war wahrscheinlich durch Tiecks Trauerspiel "Leben und Tod der heiligen Genoveva" (1799), dem der gleiche Stoff zugrunde liegt, auf die dramatische Bearbeitung Müllers aufmerksam geworden. In Bamberg hatte er die ersten drei Strophen des "Nachtgesangs" vertont ("Die Gesänge aus der ,Genoveva' des Maler Müller angefangen"; Tagebuchnotiz vom 8. Juni 1809).117 Scarlatti - Alessandro Scarlatti (1659-1725), italienischer Komponist, Hofkapellmeister und Leiter des Konservatoriums in Neapel; Begründer der neapolitanischen Operntradition. Vgl. den Aufsatz "Alte und neue Kirchenmusik" vom Jahre 1814 (Band 9 unserer Ausgabe), in dem Hoffmann die hier geäußerten Ansichten über Scarlatti präzisiert.Marcello - Benedetto Marcello (1686-1739), italienischer Komponist und Dichter; galt als einer der bedeutendsten venezianischen Tonsetzer seiner Zeit. Hoffmann bezieht sich hier vor allem auf Marcellos Psalmen-Vertonungen; vgl. den Aufsatz "Alte und neue Kirchenmusik" (Band 9 unserer Ausgabe).Zweiter Abschnitt123 Meros, der zum Tyrannen schleicht - Anspielung auf Schillers im "Musenalmanach für das Jahr 1799" abgedruckte Ballade "Die Bürgschaft"; in der späteren Fassung des Gedichtes ("Damon und Pythias") ersetzte Schiller den Namen Möros durch Damon.124 beschlossen vier Freunde, . . . einen Roman zu schreiben... — Hoffmann bezieht sich auf ein literarisches Gesellschaftsspiel, das er laut Tagebuch am 14.Januar 1815 mit seinen Berliner Freunden verabredet hatte: "Abends Chamisso, Hitzig und Contessa bei mir - die Erzählung ["Die Abenteuer der Silvesternacht"] vorgelesen. — Entschluß des ,Romans en quatre' [zu viert] Die genannten Rollen waren folgendermaßen verteilt: Das "Samenkorn, aus dem alles hervorschießen und hervorblühen sollte". stammte von Chamisso, das erste Kapitel (mit der wandernden Schauspieltruppe) schrieb Contessa, das zweite wiederum Chamisso, das dritte (in dem die Schauspielergesellschaft nach Polen kommt) Hitzig, und das vierte Kapitel war Hoffmann selbst vorbehalten. Auch Fouqué hatte Interesse an dem kuriosen Unternehmen gewonnen, nachdem er von Hoffmann zu einer Vorlesung eingeladen worden war: "Mit Hitzig habe ich verabredet, nach Potsdam zu gehen, wenn Sie, Herr Baron! da sind! — . . . Wahrscheinlich kommt Chamisso und Contessa mit nach Potsdam. und wir können Ihnen, Hr. Baron, einige Kapitel des Romans vom Hrn. Freiherrn von Vieren vortragen, in dem es ganz erschrecklich hergeht. — Chamisso hat einen alten Mann mit sieben Stichen ermordet, und ich habe jetzt den verteufelten Kriminalprozeß am Halse." (An Fouqué, 14. Mai 1815.) Durch Chamissos Aufbruch zu seiner Weltreise (15. Juli 1815) war die Arbeit jedoch unterbrochen und schließlich aufgegeben worden. Erst im Jahre 1821 holte Hoffmann seinen Anteil am Roman (das "Hexenkapitel") wieder hervor und rundete ihn zu einer Erzählung unter dem Titel "Die Doppeltgänger" (1822; vgl. Band 8 unserer Ausgabe) ab.125 ,Karis Versuche und Hindernisse' — Gemeint ist der ebenfalls als Kollektivarbeit angelegte Roman "Die Versuche und Hindernisse Karls. Eine deutsche Geschichte aus neuerer Zeit", dessen erster und einzig ausgeführter Teil (1808 anonym im Verlag von Georg Reimer in Berlin erschienen) die "vier Freunde" zu ihrem Unternehmen "en quatre" angeregt hatte. Die Autoren dieses literarischen Vorbildes waren: Wilhelm Neumann (1781 bis 1834), Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858), Friedrich Baron de la Motte Fouqué (1777-1843), August Ferdinand Bernhardi (1764-1820) und Adelbert von Chamisso (1781 bis 1838).Johannes Müller - Der Schweizer Historiker und Diplomat Johannes (von) Müller (1752-1809) wird im genannten Roman unter dem Namen Striezelmeier satirisch gebrandmarkt, weil er nach einer Unterredung mit Napoleon I. (20. November 1806) das Amt eines preußischen Hofhistoriographen aufgegeben hatte und 1807 in französische Dienste getreten war (als Minister-Staatssekretär im neu gegründeten Königreich Westfalen)."Die Erdbeeren müssen recht süß sein..." — "Die Versuche und Hindernisse Karis.. .", a. a. O., S. 185. Nicht Jean Paul spricht diese Worte, sondern Friedrich, eine andere Gestalt des Romans, redet damit Jean Paul an.Ein Fragment aus dem Leben dreier FreundeDie vermutlich im Herbst 1816 geschriebene Berliner Erzählung erschien zuerst in dem von Johann Stephan Schütze (1771-1839) herausgegebenen Almanach "Der Wintergarten auf das Jahr 1818" (Band z, Frankfurt a. M.) - gezeichnet mit E. T. A. Hoffmann, Verfasser der ,Fantasiestücke' In dieser heiter-ironischen Erzählung mit deutlichem Lokalkolorit spiegelt sich das Zusammenleben des Freundeskreises wider, dem die Beteiligten den Namen Seraphinenorden gegeben hatten (vgl. S. 625).

Glaubt man Hoffmanns Versicherung im vorausgehenden Rahmengespräch, dann knüpft die Handlung an ein wirkliches Erlebnis in den "Zelten" des Berliner Tiergartens an, das die Phantasie der an dem Ausflug beteiligten drei Freunde angeregt und Ottmar (Hoffmann) sowie Severin (Contessa) unmittelbar zur dichterischen Produktion beflügelt haben soll. Hoffmann löst das in die Tiergarten-Szenerie mit dem Mädchen und dem ihr zugesteckten Brief hineingeheimnißte Rätsel, dem die drei Freunde, jeder für sich, nachgehen, mit viel "komischer Surdine" auf: Gleich in dreifacher Variation desselben Themas läßt er mit feiner Selbstironie das Seltsame ihrer Erlebnisse fast schockierend enden; denn an die Stelle der schwärmerischen Phantastik und Mystifikation tritt die Profanie einer recht alltäglichen bürgerlichen Wirklichkeit.

Karl Wilhelm Salice-Contessa veröffentlichte zwei Jahre später im Darmstädter "Rheinischen Taschenbuch für das Jahr 1820" als literarisches Pendant zu Hoffmanns Geschichte eine scherzhafte Gegendarstellung, das heißt eine Erzählung unter dem Titel "Die Schatzgräber", in der er denselben Aufhänger benutzt, jedoch den Geschehnissen eine völlig andere Motivierung gibt. Mißt man, wie der Hoffmann-Forscher Hans von Müller, den Zeitanspielungen Contessas in diesem Prosastück ernsthafte Bedeutung zu, dann steht sogar der 18. September 1816 als Datum für die Begebenheit fest; an diesem Tage hatten nämlich Hoffmann und Contessa gemeinsam der Berliner Aufführung des Trauerspiels "Die Schuld" von Adolph Müllner beigewohnt.

Der launige Einfall Contessas ist eingekleidet in einen offenen Brief:

"An den Herrn Kammergerichtsrat Hoffmann in Berlin

(Verfasser der ,Fantasiestücke in Callots Manier' etc.) .

. . Da fällt mir gestern abends zufälligerweise ein kleines Buch in die Hände, benamt: ,Wintergarten auf das Jahr 1818', herausgegeben von St. Schütze; darin finde ich eine Historie von Ihnen unter dem Titel ,Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde'. Gut! denke ich, nachdem ich die ersten zwei Seiten flüchtig durchlaufen habe - das fängt ganz vernünftig an; das ist vielleicht etwas, was man mit Vergnügen

lesen und mit gutem Gewissen loben kann, wenn man einmal wieder mit dem Verfasser zusammenkommt - denn loben lassen sich die Herrn Schriftsteller nun einmal gern -, ziehe meine Schlafmütze über die Ohren, zünde meine Gutenachtpfeife an und setze mich hin, um etwa noch ein halb Stündchen vor Schlafengehen zu lesen. Aber wie bekam mir das! Erstlich wurden aus dem halben Stündchen zwei Stunden; denn wie ich einmal angefangen hatte zu lesen, konnte ich nicht eher wieder aufhören, als bis die Geschichte zu Ende war, und zweitens konnte ich nachher die ganze Nacht nicht schlafen vor Ärger. Sagen Sie mir um 's Himmels willen, wetter Freund, wie können Sie aus einem so einfachen Faktum eine ganze Historie herausspinnen, an der nicht ein einziges oder vielmehr nur ein einziges wahres Wort ist, und doch die Sache durch allerlei Finten und Kunstgriffe so glaubwürdig machen, daß man denkt, man liest eine wahre Geschichte? Wie können Sie dies wagen, da Sie wohl wissen müssen, daß noch ein Zeuge dieses Faktums vorhanden, der nun alle Augenblicke auftreten und Sie vor der ganzen Welt zuschanden machen kann? Oder haben Sie es etwa vergessen, daß ich im Tiergarten neben Ihnen saß, als das hübsche Mädchen von dem jungen Manne heimlich ein Briefchen erhielt und in den Busen schob und als sie hernach beim verstohlnen Lesen so rot wurde und ihr die großen Tränen in den schönen Augen perlten? Haben Sie es vergessen, daß wir uns beide hernach in Vermutungen erschöpften, was das zu bedeuten haben möchte? Haben Sie es vergessen, daß ich einige Zeit darauf Ihnen vertraute, wie ich den Vater des Mädchens und die ganze Familie kennengelernt und sogar bei ihm auf seinem alten Schlosse vierzehn Tage zum Besuch gewesen sei? Ich bitte Sie, was soll aus der Wahrheit und Glaubwürdigkeit und somit aus der Würde der Geschichte werden, wenn sich jeder Schriftsteller solche Erdichtungen erlaubt? Wie? — Poesie! — Phantasie! — Ach, es stünde besser um Wissenschaft und Staat, wenn die Poesie und die Phantasie gehörig unter polizeiliche Aufsicht gestellt wären! — Phantasie! Aus der Phantasie kommt eben alle Konfusion in der Welt her. Und welchen Nutzen hat denn wohl das bürgerliche Leben von ihr? Wann hat sie denn wohl jemals jemandem etwas eingebracht als etwa einem armen Poeten ein armseliges Buchhändlerhonorar? Wie? — (Daß Sie es mit Ihrer Phantasie oder trotz aller Phantasie dennoch bis zum Kammergerichtsrat gebracht haben, gehört unter die Dinge, über die sich der Vernünftige nie genug verwundern kann.) Nein, ich schweige nicht länger! Ich fühle mich in meinem Gewissen verbunden, der Welt die Wahrheit zu offenbaren, da ich den Zusammenhang der ganzen Geschichte aufs allergenaueste erfahren habe, und sende Ihnen hiermit eine aufrichtige und wahrhafte Erzählung derselben zu, auf daß Sie, wenn Sie, wie ich hoffe, Ihr leichtsinniges Verfahren bereuen, dem Herausgeber einer Zeitschrift oder eines Taschenbuchs - ich habe keine Bekanntschaft unter diesen Leuten - dieselbe zusenden und ein solcher sie abdrucken lassen kann, zur Steuer der Wahrheit und zum Beweis, daß er an solchen Erdichtungen und Verfälschungen keinen Anteil hat.

Die Sache verhält sich folgendergestalt: . . [Es folgt Contessas Version unter dem Titel "Die Schatzgräber".]"



Im Brief an Georg Reimer vom 57. Februar 1818 (vgl. S. 623) nennt Hoffmann das ,Fragment aus dem Leben dreier Freunde' (,Wintergarten')" an vierter Stelle des bereits vorhandenen literarischen Vorrats. Der für die Buchausgabe der "Serapionsbrüder" hergestellte Text zeigt größere Abweichungen vom Zeitschriftendruck. Eine Kontamination beider Fassungen, wie sie Hans von Müller in seinem 1921 herausgegebenen Buch "Zwölf berlinische Geschichten aus den Jahren 1551-1816 Erzählt von E. T. A. Hoffmann. Nach der Folge der Handlung zusammengestellt und erläutert. vorgenommen hat, kann nur als philologisches Experiment gelten; unsere Ausgabe bringt die Textgestalt letzter Hand (bereinigt wurden lediglich die Druckfehler).127 wie das Bettelweib von Locarno - Anspielung auf Heinrich von Kleists Novelle "Das Bettelweib von Locarno" (1810), die Hoffmann, der die Kleistsche Erzählkunst bewunderte, besonders beeindruckt hat. Vgl. auch den Exkurs über die Novelle in dem Gesprächsstück "Der Zusammenhang der Dinge" (Band unserer Ausgabe).Bernstein- und Mastixopfer - Gemeint sind vermutlich der Wohlgeruch, der beim Aneinanderreiben von Bernsteinstücken entsteht, sowie der aromatische Duft, den das Harz des im Mittelmeergebiet (besonders auf der Insel Chios) heimischen Mastixstrauches ausströmt. Mastix wurde u. a. als Mundwasser verwendet.127 Merlin - Eine zum legendären Artuskreis (vgl. die Anm. zu S. 188) gehörende altenglische Sagengestalt; zugleich Zauberer und Prophet.Tabouret, -(franz.) Fußbank, Hocker.128 Arnds ,Wahres Christentum' - "Vier Bücher vom wahren Christentum" (1605-1609): pietistisches Erbauungsbuch des lutherischen Theologen Johann Arnd (1555-1621), das besonders in den Mittelschichten des Bürgertums sehr beliebt war und noch zu Hoffmanns Lebzeiten als populärer "Wegweiser zur religiösen Verinnerlichung"galt.131 Guru - Weibliche Naivenrolle in August Kotzebues (1761-1819) Lustspiel "Die Indianer in England" (1790), auf die Hoffmann schon in den "Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors" (vgl. Band 3 unserer Ausgabe) anspielt. Gurli verkörpert das einfältige, unschuldige Naturkind, dessen Gefühis- und Redeweise effektvoll mit der Scheinmoral der Bildungs- und Besitzgesellschaft kontrastiert. Das Stück war damals beim Theaterpublikum sehr beliebt.Ich bin nicht mehr das, was ich war - Vgl. Shakespeare, "Viel Lärmen um nichts" III, 2: "Ihr Herrn, ich bin nicht mehr, der ich war."(Übersetzung von Wolf Graf Baudissin.)132 Sanctuario - (lat.) Heiligenschrein.Mummel - Wohl von Mumme: die Maske, der Vermummte.534 beinahe mit Wallensteins Worten - Vgl. Schiller, "Wallensteins Tod" V, s; dort heißt es: "Ich denke einen langen Schlaf zu tun..136 Kreuzeserfindungstag? - Nach der christlichen Legende wurde beim Bau der Kirche des Heiligen Grabes in Jerusalem (im Jahre 320) das Kreuz aufgefunden, an dem Jesus sein Martyrium erlitten hatte. Zum Andenken daran feiert die katholische Kirche jährlich am 3. Mai den Tag der "Kreuzerfindung" (Kreuzauffindung).138 jener, der in jeder Vollmondsnacht sein Pferd aus dem Stalle zog - Ein nach der psychiatrischen Literatur gewähltes Beispiel für Zwänge, denen Nachtwandler unterliegen sollen, wenn sie alltägliche Verrichtungen während ihres Krankheitsanfalles grundlos wiederholen. Hoffmann kommt in seinen Werken öfter auf solche Erscheinungsbilder zurück. Am charakteristischsten hierfür ist die Gestalt des Daniel in dem "Nachtstück" "Das Majorat" (vgl. Band 3 unserer Ausgabe). Ähnliche Fälle wie' den hier beschriebenen lernte der Dichter aus dem Werk "Über die Einbildungskraft des Menschen" (Leipzig 1785) des italienischen Gelehrten Lodovico Antonio Muratori (1672-1750) kennen.138 membra disjecta - (lat.) zerstreute Gliedmaßen; hier in der Bedeutung: Fragmente. Anspielung auf die "Satiren" des Horaz (s. Buch, 4, 62 ff.), wo es heißt: "non... invenias etiam disiecti membra poetae" (in den entrissenen Gliedern wirst nichts mehr vom Dichter du finden).142 Wagners "Gespensterbuch" — Der Aufklärungstheologe Samuel Christoph Wagener (geb. 1763) veröffentlichte sein Werk "Die Gespenster. Kurze Erzählungen aus dem Reiche der Wahrheit" (4 Bänden Berlin 1797-1800; Fortsetzung: "Neue Gespenstererzählungen", Berlin 1801 und 1802) mit der Absicht, dem Gespensterglauben durch eine ernüchternde Beispielsammlung entgegenzuwirken, wobei die scheinbar mysteriösen Fälle auf natürliche Weise erklärt werden. Die Widmung dazu lautet: "Allen gutmütigen Schwärmern und Schwärmerinnen, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ein Ernst ist, liebevoll gewidmet vom Erzähler".Amboina - Ambon: Eine gebirgige, waldreiche Insel vor der Südwestküste von Secam (Indonesien).147 "Eilende Wolken Segler der Lüfle!" - Schiller, "Maria Stuart" III. I.148 Pulverhäusern, - Gemeint ist die aus acht Häusern bestehende Pulverfabrik an der Spree, die der preußische König Friedrich Wilhelm I. (1688-1740; Monarch seit 1713) gegründet hatte.151 wie Falstaft vom Friedensrichter Schaal, - Vgl. Shakespeare, "König Heinrich der Vierte", Zweiter Teil, III, 2; Falstaff nach Abgang des Friedensrichters Schaal: Denn man hätte ihn und seine ganze Bescherung in eine Aalhaut packen können; ein Hoboenfutteral war eine Behausung für ihn, ein Hof! Und nun hat er Vieh und Ländereien. . ." (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel.)153 Duodezbändchen, - Kleinformatiges Buch (bei dem der Druckbogen in zwölf Blätter gebrochen ist, also vierundzwanzig Seiten hat).153 Toupet - (franz.) Haarbüschel, Schopf; Modefrisur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, bei der die Haare über der Stirn gekräuselt waren.154 glaues - (niederdeutsch) gescheit, sauber, nett.157 Debouchieren - Hervorrücken, Hervorbrechen.563 Hauptmann Tellheim, - Anspielung auf den Major von Tellheim in Lessings Lustspiel "Minna von Barnhelm" (1767).164 Pater familias - (lat.) Hausherr, Familienvater.165 Delirieren, das dem Einschlafen vorherzugehen pflegt - Die Bemerkung entspricht den Anfangsworten des Ersten Kapitels von Gotthilf Heinrich Schuberts Buch "Die Symbolik des Traumes" (vgl. die zweite Anm. zu S. 315): "Im Traume und schon in jenem Zustande des Deliriums, der meist vor dem Einschlafen vorhergeht, scheint die Seele eine ganz andere Sprache zu sprechen als gewöhnlich." Hoffmann verwendete diesen Passus bereits im "Kreislerianum" "Höchst zerstreute Gedanken" (Band 1 unserer Ausgabe).171 Bouché — Ein namhafter Gartenbaubetrieb mit Blumenhandlung in der Stralauer Vorstadt, Lehmgasse II, der drei Brüdern Boucher gehörte.Der ArtusbofHoffmann faßte den Plan zu dieser Novelle unter großem Zeitdruck am 14. Februar 1815 Am Tage zuvor hatte er die ursprünglich für die "Urania. Taschenbuch für Damen" bestimmte "Fermate" überraschend an die Zeitschrift Fouqués vergeben (vgl. S. 663 f.). Um dennoch sein dem "Urania"-Redakteur Friedrich Arnold Brockhaus gegebenes Versprechen auf pünktliche Lieferung eines Beitrages halten zu können, mußte sich der Autor als Ersatz rasch etwas Neues einfallen lassen.Die thematische Verwandtschaft und gleichermaßen reizvolle Problemstellung der beiden hintereinander geschriebenen Erzählungen kommt durch die in die Handlung hineinspielenden ähnlichen Jugenderinnerungen und jugendlichen Idealvorstellungen von echtem Künstlertum, durch die (trotz des lokalen Unterschiedes) hier wie da sinngebende Rolle des Italien-Erlebnisses sowie durch die feine Ironie bei der Behandlung des Sujets zum Ausdruck. Das Hauptmotiv ist wiederum der Gegensatz zwischen der bürgerlichen Welt und der Welt des Künstlers, insonderheit zwischen dem nur in der Phantasie bestehenden romantischen "Himmelsbild" einer Künstlerliebe und der prosaischen bürgerlichen Wirklichkeit; die Gestalt des wahnsinnigen alten Malers hingegen, dessen Name Berklinger nicht zufällig auf Wilhelm Heinrich Wackenroders Romanhelden Josef Berglinger in den "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" (1797) hindeutet, ist in ihrer Tragik dem Künstlerschicksal Johannes Kreislers (vgl. die "Kreisleriana" und die Kreisler-Biographie in den "Lebensansichten des Katers Murr", Band 1 bzw. Band 6 unserer Ausgabe) verwandt.

Am 17. Februar 1815 fing Hoffmann "mit Glück" die Niederschrift der Erzählung an, die er am nächsten Tag fortsetzte; dann erforderten die Vorbereitungen zur Aufführung der Märchenoper "Undine" und die Fertigstellung des "Fantasiestückes", "Johannes Kreislers Lehrbrief" eine Unterbrechung der Arbeit. Erst wieder am 3. März heißt es im Tagebuch (das damit endet): "An dem ,Artushof' fleißig gearbeitet." Drei Tage später sandte Hoffmann die Erzählung an die "Urania"-Redaktion ab, zusammen mit einem Begleitschreiben, in dem er - eine Ausrede gebrauchend (denn die "Fermate" war ja rechtzeitig fertig gewesen) — sich für die Verspätung entschuldigt: E. hochverehrten Redaktion sende ich in der Anlage, meinem Versprechen gemäß, eine Erzählung für die ,Urania'; dringende Dienstgeschäfte hielten mich ab, das Manuskript früher fortzuschicken, indessen glaube ich wohl, daß, da die Zögerung nur wenige Tage beträgt, ich nichts versäumt haben werde. Sollte indessen es doch schon zu spät sein, so bitte ich nur um gütige schleunige Rücksendung des Manuskripts. — Das gütige Versprechen, mir rücksichts des Beitrags für die ,Urania' die vorteilhaftesten Bedingungen einzuräumen, sowie meine augenblicklichen Verhältnisse veranlassen mich, E. hochverehrte Redaktion ergebenst zu bitten, mir alsbald das institutmäßige Honorar für die Erzählung gütigst zu übermachen..

Die "Urania", von der überhaupt erst drei Bändchen herausgekommen waren (1810 und 1812 in Amsterdam und 1815 in Altenburg), brachte den "Artushof" in der Ausgabe "für das Jahr 1817" (erschienen im Herbst 1816).

"Wenn du künftigen Herbst die ,Urania' zu Gesicht bekommst", schrieb Hoffmann am 12. März 1855 an den Freund Theodor Gottlieb von Hippel in Marienwerder, "wird Dich meine Erzählung gewiß

interessieren, da die Szene nach Danzig verlegt ist. Sie heißt ,Der Artushof'. Matuszewski kommt darin vor [vgl. die Anm. zu S. 198] und eine Kriminairätin Mathesius aus Marienwerder, die eigentlich die Tochter eines wahnsinnigen Malers ist und früher als poetische Person, Felizitas genannt, auftritt. Das Ganze dreht sich um ein wunderbares Bild im Artushof, welches in der Seele eines jungen Kaufmanns den Funken der Kunst entzündet, so daß er sich von allem losreißt und Maler wird..

In der Liste der verfügbaren Stücke, die Hoffmann seinem Brief an den Verleger Georg Reimer vom 17. Februar 1818 (vgl. S. 623) beifügte, steht "Der Artushof' (,Urania')" an dritter Stelle. Die Textfassung des Zeitschriften-Erstdrucks wurde, mit nur unwesentlichen Änderungen versehen, in die Buchausgabe der "Serapionsbrüder" übernommen.175 Artushof - Um 1350 erbaute, nach der Tafelrunde des sagenhaften Königs Artus (vgl. die Anm. zu S. 188) benannte Festhalle in Danzig (Gdansk), in der sich das vornehme Bürgertum versammelte und die große Bedeutung für das gesellschaftliche Leben der Stadt hatte. Das Gebäude (in der Nähe des Rathauses) wurde schon zu Hoffmanns Lebzeiten als Börse benutzt.Hirsche mit ungeheuern Geweihen - Es handelt sich um echte Hirschgeweihe, die so auf die Bilder gesetzt waren, daß der Eindruck entstand, sie gehörten zu den gemalten Tieren. andere wunderliche Tiere - Gemeint sind wohl die Tierdarstellungen auf dem Gemälde "Orpheus, die Tiere zähmend" (1592) des niederländischen Künstlers Jan Vredemann de Vries (1527 bis nach 1604).Das große Gemälde, auf dem alle Tugenden und Laster versammelt - Das letzte Gemälde, das der Danziger Stadtmaler und -zeichner Anton Möller (um 1563-1611) für den Artushof schuf; dieses 1602 fertiggestellte Bild trägt den Titel "Das Jüngste Gericht" und gilt als das Hauptwerk des Künstlers. Die allegorische Darstellung zeigt, wie die Laster, repräsentiert durch üppige Frauengestalten, in die Hölle fahren, während die Tugenden sich zum Himmel emporschwingen (vgl. auch die Anm. zu S. 197). Zuvor hatte der "Maler von Danzig" bereits fünf Gerichtsbilder für den Artushof gemalt.

176 Bürgermeister mit seinem wunderschönen Pagen - Das Bild gehört zu den Darstellungen auf dem erwähnten Fries.177 hujus - (lat.) dieses (Monats).178 fit - (lat.) geopfert.180 videatur - (lat.) man sehe.184. Fafners unheilbringender Hort - Anspielung auf die alte nordische Sage vom fluchbeladenen Goldschatz, den der Riese Fafnir durch Vatermord an sich bringt und in Gestalt eines Drachens bewacht, bis er selbst von dem Knaben Sigurd getötet wird. Hoffmann kannte die in der "Edda" enthaltene Mythe ("Fáfnismál") wahrscheinlich aus Fouqués dreiteiliger Nibelungentragödie "Der Held des Nordens" (1808-1810).185 Karlsberg -Berg in der Nähe Olivas, einer Vorstadt von Danzig. Hela - Halbinsel in der Danziger Bucht.Dominiksmarkt - Markt, der am j. August, am Tage des heiligen Dominikus, eröffnet wurde.187 Bild de Anno 1400 - Es ist heute nicht mehr nachweisbar.188 Artus -Legendärer König, Mittelpunkt eines aus keltischen Märchen und Fabeln erwachsenen Sagenkreises, der erstmals in der "Historia Regum Britanniae" (um 1140; Geschichte der Britenkönige) des Geoffrey of Monmouth literarisch bearbeitet wurde. In den zahlreichen französischen, englischen und deutschen Artus-Dichtungen des Mittelalters wurde seine Gestalt - die in dem Heerführer Arthur, König der Briten und Bretonen (um joo), ihr historisches Vorbild hat - idealisiert; Artus und die zwölf Ritter seiner "Tafelrunde" galten als Muster feudaler Herrscher und Beschützer höfischer Lebensart.192 Homo - (lat.) Mensch.195 auf dem Mantel des Mephistopheles davongeflogen -Vgl. Goethe, "Faust", Erster Teil: "Studierzimmer" (Vers 2065-2072).197 Voluptas - Luxuries... Ira - Die allegorischen Figuren auf dem Gemälde "Das Jüngste Gericht" von Anton Möller (vgl. die vierte Anm. zu S. 175): Vergnügungssucht (lat. voluptas), Ausschweifung (ist. luxuria), Zorn (lat. ira).198 Matuszewski - Der in Königsberg geborene spätere Porträtmaler Daniel Thomas Matuszewski (um 5775 bis nach 1825) war ein Jugendfreund Hoffmanns; er studierte zur selben Zeit wie dieser an der Königsberger Universität Jurisprudenz und lebte dann in der Schweiz und in Italien.206 Angloise - Anglaise: Ein ursprünglich englischer Volkstanz, der in abgewandelter Form Anfang des 18. Jahrhunderts in Frankreich heimisch wurde und dann auch in Deutschland modische Beliebtheit erlangte.Die Bergwerke zu FalunDie Novelle, im Rahmengespräch (S. 206) als "Gemälde" nach einem ..sehr bekannten und schon bearbeiteten Thema von einem Bergmann zu Falun" angekündigt, hat als historischen Hintergrund den vielbeachteten Leichenfund in einem verschütteten Schacht der mittelschwedischen Bergwerksmetropole Falun aus dem Jahre 1719, dessen nähere Umstände u. a. durch Gotthilf Heinrich Schuberts Mitteilungen in den "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft" (vgl. die zweite Anm. zu S. 315) publik wurden und allgemeines Aufsehen erregten. Hoffmann bezog den Stoff zu seiner Erzählung, der in mehrfacher Hinsicht zur literarischen Gestaltung Anreiz bot, aus diesem ihm geläufigen Kompendium der romantischen Naturphilosophie. Dort heißt es (S. 215 f.): "Man fand diesen ehemaligen Bergmann in der schwedischen Eisengrube zu Falun, als zwischen zween Schachten ein Durchschlag versucht wurde. Der Leichnam, ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, war anfangs weich, wurde aber, sobald man ihn an die Luft gebracht, so hart als Stein. Funfzig Jahre hatte derselbe in einer Tiefe von dreihundert Ellen in... Vitriolwasser gelegen, und niemand hätte die noch unveränderten Gesichtszüge des verunglückten Jünglings erkannt, niemand die Zeit, seit welcher er in dem Schachte gelegen, gewußt..., hätte nicht das Andenken der ehemals geliebten Züge eine alte treue Liebe bewahrt. Denn als um den kaum hervorgezogenen Leichnam das Volk, die unbekannten jugendlichen Gesichtszüge betrachtend, steht, da kömmt an Krücken und mit grauem Haar ein altes Mütterchen, mit Tränen über den geliebten Toten, der ihr verlobter Bräutigam gewesen, hinsinkend, die Stunde segnend, da ihr noch an den Pforten des Grabes ein solches Wiedersehen. gegönnt war..Hoffmanns Empfänglichkeit für dieses Sujet, das noch mehrere Jahrzehnte lang die verschiedensten Autoren zu "Bearbeitungen der Geschichte von dem Bergmann von F." (wie der Literarhistoriker Georg Friedmann seine 1887 erschienene Bibliographie überschrieb) anregte, ist auch im Zusammenhang zu sehen mit der Anziehungskraft, die das Bergwerkswesen für die romantische Schrifistellergeneration überhaupt hatte. So waren zum Beispiel Novalis' Lehrjahre auf der Freiberger Bergakademie von großem Einfluß auf dessen dichterisches Werk gewesen, vor allem auf die Romanfragmente "Die Lehrlinge von Sais" (1802) und "Heinrich von Ofterdingen" (1802). Namentlich der Bericht des alten Bergmannes im "Ofterdingen" (Erster Teil, Kap. 5) wird wiederum Hoffmann bei der Niederschrift seiner Geschichte inspiriert haben - ebenso wie Ludwig Tiecks "Mönch vom Runenberg" (1802).

Hoffmann, auch in den "Bergwerken zu Falun" — trotz aller eingewobenen spukhaften Elemente - um Detailtreue bemüht, war von Anfang an bestrebt, für die Darstellung der lokalen und sozialen Verhältnisse im schwedischen Bergbau, aber auch der Sitten und Lebensgewohnheiten des dort tätigen "Menschenschlags" entsprechende Spezialliteratur heranzuziehen. "Ganz außerordentlich würden Sie mich, verehrtester Herr und Freund, verbinden, wenn Sie die Gefälligkeit hätten, mir behufs einer literarischen Arbeit aus Ihrem reichen Vorrat eine Reise durch Schweden zu senden", schrieb er am 15. Dezember 1818 an den in solchen Fällen des öfteren von ihm bemühten Berliner Leihbibliothekar Friedrich Kralowsky. "Den Hausmann (,Reise durch Skandinavien') habe ich bereits von GR. Klügel [Oberbergrat im preußischen Innenministerium] erhalten. Dies Buch begreift bergwerkliche Gegenstände in sich. Außerdem wär mir aber daran gelegen, über die speziellen Sitten - Lebensweise, Tracht, Gebräuche der Bewohner des nördlichsten Schwedens (Falun) etwas zu lesen. . ." Die Spuren des eifrig betriebenen Studiums von Johann Friedrich Ludwig Hausmanns "Reise durch Skandinavien in den Jahren 1806 und 5807"(j Bände; Göttingen 1811-1818), in der die Interessen des Mineralogen Vorrang haben, sowie von Ernst Moritz Arndts allgemeinverständlicher abgefaßtem Bericht über eine "Reise durch Schweden im Jahre 1804" (4 Teile; Berlin 1806), den Kralowsky Hoffmann auf seine Anfrage hin zusandte, zeichnen sich in der Erzählung dann auch deutlich ab. Arndt schildert am Schluß des Zweiten Buches seine Fahrt von Avestadt nach Falun, sein Eintreffen in der Stadt des Erzbergbaues, den Zustand des dortigen "Gästgifvaregards", seine Übernachtung bei dem Krämer und Traiteur Fröbom und den "größten Besuch, den man in Falun zu machen hat", den Besuch "der großen Grube und ihrer Umgebungen", deren "Schlund"

wie eine "Öffnung der Hölle" aussehe; er beschreibt den Einstieg "tief hinunter in das Dunkel", bringt Angaben über die historische Entwicklung des Kupferbergwesens in Schweden sowie einen Exkurs über das Bergrecht u. a. m. Hoffmann hat vieles davon für seine Erzählung verwertet, ja sogar den Namen Eus Fröbom für seinen Heiden, den Familiennamen Pehrson sowie zahlreiche Sach- und Ortsbezeichnungen übernommen.

Die Arbeit an der Novelle wurde im Dezember 1818 begonnen, rasch vorangetrieben und wohl noch im selben Monat beendet, da der Termin für die Abgabe des Manuskripts an den Verlagsbuchhändler Georg Reimer Eile gebot. Die Erzählung ist daher auch nicht zunächst als Einzeldruck in einer Zeitschrift erschienen, sondern gleich in endgültiger Gestalt im Rahmen des Ersten Bandes der "Serapionsbrüder" vom Jahre 1819 gedruckt worden.206 Falun - Hauptstadt des Uns (Verwaltungsbezirks) Kopparberg in der mittelschwedischen Landschaft Dalarna mit einem seit Mitte des 13. Jahrhunderts betriebenen berühmten Kupferbergwerk, dessen Fördermenge damals an der Spitze der Weltproduktion lag.207 Klippahafen - Klippenhafen. Götaelf — Ein schiffbarer Fluß, der aus dem Vänersee kommt und bei Göteborg in das Kattegat mündet.Masthuggetorg - Befestigter Platz in einer westlichen Vorstadt von Göteborg (nahe des Götaelfs); ursprünglich ein Gelände, auf dem Schiffsmaste gezimmert wurden. Ostindische Kompagnie - Bezeichnung für europäische Handelsgesellschaften, die als Organisationsform handelskapitalistischer Expansionspolitik seit dem 17. Jahrhundert entstanden und mit besonderen Monopol- und Territorialrechten ausgestattet waren. Durch ein Netz von Niederlassungen und militärischen Stützpunkten brachten sie in kurzer Zeit den gesamten Handel mit Indien und großen Teilen Asiens unter ihre Kontrolle.Hönsning - Bei der Beschreibung des von den heimgekehrten Seeleuten gefeierten Festes folgt Hoffmann Arndts "Reise durch Schweden ." (vgl. S. 686), Band 2, S. 25 ff.Gästgifvaregard - Ein Gehöft, in dem nebenbei auch Möglichkeiten zur Unterbringung und Verpflegung von Reisenden und Gästen vorhanden sind.

207 Öl - öl!: (schwed.) Bier. Bumper -Humpen.208 Näcken - Nck oder Strömkarl: (schwed.) Wassermann, Seegeist.Neriker - Bewohner der Landschaft Nerika oder Närke in Mittelschweden (zwischen Hjelmaren- und Vänersee).213 Bergmannshemmans, - hemman: (schwed.) Besitzung; Gut, Hof. Kuxe - Nach dem Bergrecht des jeweiligen Landes festgesetzter Anteil an einer Gewerkschaft, einer seit dem 14. Jahrhundert im Bergwerkswesen bekannten Form genossenschaftlicher Beteiligung, die jeden Teilhaber zu gemeinsamer Verrechnung von Gewinn und Verlust verpflichtete.Teufe - Bezeichnung für die Tiefe einer Sohle bzw. für die Gesamttiefe eines Schachtes.214 Tagesöffnung -Vgl. S. 218 und die Anm. dazu.Pyrosmalitb -Almandin - Besonders in Schweden reichhaltig vorkommende Mineralien. Der Pyrosmalith ist ein chlorhaltiges Eisenmangansilikat (dem Glimmer ähnlich), der Almandin (damals häufig als Karfunkel bezeichnet) ein Eisen-Tonerde-Granat mit roter Färbung.217 Gefle - Hauptstadt des schwedischen Uns Gävleborg an der Mündung des Flusses Gävlea in die Ostsee.218 Pinge oder Tagesöffnung - Der Ausdruck Pinge (oder Binge) bezeichnet eine trichterförmige Vertiefung (Tagesöffnung), die durch den Zusammenbruch alter Bergwerksgruben an der Erdoberfläche entstanden ist. Die "entsetzliche Pinge" der Erzgrube von Falun war im 57. Jahrhundert "durch mehrere aufeinanderfolgende Einbrüche benachbarter Gruben" entstanden, "die unvorsichtig ausgeweitet worden und deren Bergvesten man nicht hinlänglich geschont hatte. Die jetzige Gestalt erhielt sie durch den stärksten Einsturz, der im Jahre 1687 erfolgte. Das, was die Tagesöffnung davon zeigt, ist nur ein Teil der dadurch bewirkten schrecklichen Zerrüttung, die an manchen Stellen bis zu einer Teufe von 110 bis 530 Klafter niedergehet" (Hausmann, "Reise durch Skandinavien in den Jahren 1806 und 1807", Göttingen 1811-1818, Teils, S. 96ff.).219 Dante - Inferno - Anspielung auf das Hauptwerk des italienischen Dichters Dante Alighieri (1265-1321), "Divina commedia" (1472; Die göttliche Komödie), das in hundert Gesängen eine visionäre Reise des Menschen durch die Hölle (Inferno) über den Läuterungsberg (Purgatorio) zur ewigen Seligkeit (Paradiso) schildert.220 echten Dalkarl - Die Bewohner der mittelschwedischen Gebirgslandschaft Dalarna ("die Täler"), um den Siljansee gelegen, wurden wegen ihrer kraftvollen, hochwüchsigen Statur Dalkarlan (Talkerle, Talmänner) genannt (danach auch oft statt Dalarna: Dalekarlien). Ihre genügsame und heimatverbundene, an alten Gebräuchen festhaltende Lebensweise ist in Schweden sprichwörtlich. (Vgl. Arndt, Band 2, a. a. O., S. 242.)221 Masmeister - masmästare: (schwed.) Aufseher bzw. Vorarbeiter eines Bergwerkes.Altermann - Vorsteher.Stora-Kopparberg - Ort in der mitteischwedischen Landschaft Bergslagen. Stora: (schwed.) groß.226 Puchhammer - Ein zum Zerstampfen des Gesteins bestimmtes mörserartiges Werkzeug.Handfäustel - Bergmannshammer, mit dem beim Vortreiben der Löcher ins Gestein auf den Meißelbolzen geschlagen wird.227 Trappgang, -Trum - Vgl. S 229.Garkönig - Bergmännischer Fachbegriff für gereinigtes Metall (hier: reines Kupfer).230 Salbänder - Bezeichnung für die Grenzflächen eines Stollens.Streichen und Fallen - Bezeichnung für die waagerechte bzw. senkrechte Richtung der Gesteinsgänge.237 Ornäs - Ort im Südosten der Landschaft Dalarna.238 Bergfrälschesitzern, -Vgl. S. 221.Beschreibung in Schuberts ,Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft', —Vgl. S. 685.Nußknacker und MausekönigDas Märchen wurde ursprünglich als Beitrag zu einer Gemeinschaftsausgabe von "Kinder-Märchen"geschrieben, deren erstes Bändchen je eine Arbeit von Karl Wilhelm Salice-Contessa ("Das Gastmahl"), Friedrich Baron de la Motte Fouqué ("Die kleinen Leute") und Hoffmann ("Nußknacker und Mausekönig") enthalten und noch vor Weihnachten 1816 bei Duncker und Humblot in Berlin erscheinen sollte. Die Verhandlungen mit dem Verlag (der kurz zuvor die "Elixiere des Teufels" gedruckt hatte) zerschlugen sich jedoch, da Duncker - wie Hoffmann am 29. Oktober 1816 Fouqué mitteilte - zu jedem Märchen noch "einen illuminierten Kupferstich machen" und das "Werkchen" erst zu Ostern 1817 veröffentlichen wollte - "unerachtet der Mann in seinen eignen Eingeweiden wühlt, da er zu Weihnachten große Geschäfte damit gemacht hätte!" Daraufhin übernahm Georg Reimer, der Inhaber der Berliner Realschulbuchhandlung und Verleger der "Nachtstücke", die Märchensammlung; er sagte das Erscheinen des ersten Bändchens noch für Weihnachten 1816 zu und hielt dieses Versprechen auch - obwohl das Manuskript und die für diesen Erstdruck von Hoffmann geschaffenen sechs Zeichnungen erst am 6. November bei ihm eintrafen. "Soeben bin ich mit den Vignetten beschäftigt", heißt es im Brief an Reimer vom 14. November 1816, "die Sie morgen fix und fertig erhalten, damit, wenn, wie Freund Hitzig meint, es noch möglich sein sollte, das Werkchen wenigstens für und rücksichts Berlin erscheinen zu lassen, meinerseits alles geschehen ist."

Am 8. März 1818 schrieb Hoffmann an Carl Friedrich Kunz. den Bamberger Verleger der "Fantasiestücke": "Daß Sie über meinen ,Nußknacker' gelacht haben, freut mich sehr. Gneisenau sagte mir, daß in mir ein Feldherrntalent stecke, da ich die gewaltige Schlacht so gut geordnet und Nußknackers Verlieren vorzüglich von der Eroberung der auf Mamas Fußbank schlecht postierten Batterie abhängig gemacht.

Die Namen der Geschwister Fritz und Marie im Märchen stimmen überein mit den Namen von zwei Kindern Julius Eduard Hitzigs, in dessen Haus Hoffmann nach seiner Übersiedlung von Leipzig (September 1814) häufig verkehrte. Der vertraute Umgang mit den fünf Kindern des Freundes, denen er als guter Onkel, Märchenerzähler und Bastler von Spielzeugen stets herzlich willkommen war, spiegelt sich wider in der Schilderung der romantischen Atmosphäre bei der Weihnachtsbescherung sowie in vielen Details der Geschichte, in der sich der Dichter in der Figur des Paten Droßelmeier selbst konterfeit hat. Hitzig bescheinigt Hoffmann in seiner Biographie "Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß" (1823) "eine Gemütlichkeit, daß die Kinder... sich des neu angekommenen Freundes ihres Vaters nicht genug erfreuen konnten. So lebten sie zum Beispiel damals grade in

der Hoffnung, ihren Liebling, Undine, mit leiblichen Augen auf der Bühne zu sehen, und Hoffmann, um ihnen einen Vorschmack von dieser Seligkeit zu geben, malte ihnen zum Weihnachtsabend mit der größten Sorgfalt die Burg Ringstetten, baute sie ihnen auf und erleuchtete sie prachtvoll von innen; für sie schrieb er ferner die Märchen ,Nußknacker und Mäusekönig', in denen sie, zu ihrer höchsten Freude, unter ihren Namen erschienen, und ,Das fremde Kind' (Teil 2, S. 109).

Über die Aufnahme des Kindermärchens in die Sammlung der "Serapionsbrüder" einigte sich Hoffmann mit seinem Verleger Reimer während einer Teegesellschaft am Abend des 17. Februar 1818 (vgl. S. 624); später verabredeten beide noch, daß, der Symmetrie wegen, der erste Band mit dem "Nußknacker und Mausekönig" und der zweite mit dem Märchen "Das fremde Kind" (aus dem zweiten Bändchen der "Kinder-Märchen") schließen sollte. Der Text der Buchausgabe weist gegenüber dem Erstdruck nur geringfügige Unterschiede auf, die von einer leichten stilistischen Überarbeitung durch Hoffmann herrühren.240 Fritz und Marie - Hitzigs zweiter Sohn Friedrich (1811-1881), später Architekt und Präsident der Akademie der Künste in Berlin, sowie seine dritte Tochter Marie (1809-1822). Vgl. auch die Anm. zu S. 306.weiße Perücke.von Glas - Perücken aus gesponnenem Glas galten damals als modisch.246 Männer und Frauen...aus Thorn - Gemeint sind sogenannte Thorner Kathrinchen, kleine, in figürlicher Form gebackene Pfefferkuchen, die besonders in Thorn (heute Torun, VR Polen) hergestellt wurden.247 Matin - Weiter Armelrock; Mantel.255 Scaramuz...Pantalon - Typisierte Figuren (Charaktermasken) der um die Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen volkstümlichen italienischen Stegreifkomödie (Commedia dell' arte). Der Scaramuz (ital. scaramuccia) ist die Verkörperung des Aufschneiders (in schwarzer Tracht nach spanischem Stil), der Pantalone die Karikatur eines alten, eingebildeten, stets verliebten und geprellten reichen Venezianers; sein Kostüm bestand aus langen, röhrenförmigen schwarzen Hosen (Pantalons), rotem Wams und Käppchen sowie Halbschuhen.

256 Devisenfiguren - Damals in Konditoreien angebotenes figürliches Zuckerwerk (auch Teigfiguren) mit eingebackenen Zettelchen, auf denen Denksprüche standen. Vgl. auch S. 259 f.259 herausdebouchiert -Vgl. die Anm. zu S. 157. en quarré plain - en carré plein: (franz.) in vollem Karree (Viereck); eine Gefechtsformation der Infanterie, die zur Abwehr von Kavallerieangriffen nach vier Seiten hin geschlossen war.Harlekins - In Deutschland gebräuchliche Form für Arlecchino, die das grotesk Komische verkörpernde Figur in der Commedia dell' arte (vgl. die Anm. zu S. 255).260 kleinen gedruckten Zettel - Vgl. die Anm. zu S. 256.Chasseurs - (franz.) Jäger; Angehörige der leichten Infanterie.Ein Pferd - ein Pferd - ein Königreich für ein Pferd! — Anspielung auf Shakespeares Drama "König Richard der Dritte" (V, 4), wo der Usurpator ausruft: "Ein Pferd! ein Pferd! mein Königreich für 'n Pferd!" (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel.)Tirailleurs - (franz.) Plänkler; in geöffneter Ordnung kämpfende Schützen. Die Tirailleurtaktik (Schützenkette) wurde zum erstenmal in den französischen Revolutionskriegen angewandt.262 Geschichte vom Prinzen Fakardin - Die (unvollendete) Märchenerzählung "Les quatre Facardin" (Die vier Fakardin) aus den "Contes de féerie" (1715; deutsch 1790: "Feengeschichten") des in Paris lebenden schottischen Grafen Anthony von Hamilton (1646-1720), die Hoffmann bereits 1796 in seiner Korrespondenz mit Theodor Gottlieb von Hippel und später in dem "Fantasiestück" "Der Magnetiseur" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe) erwähnt.264 sotane - solche.268 Federposen - Die zum Schreiben verwendeten äußersten Schwanz- und Flügelfedern der Gänse.269 Arkanisten - Personen, die im Ruf stehen, über geheime Wissenschaften und Fertigkeiten zu verfügen.275 Peterwardein - Befestigte serbische Stadt auf einer Donau-Halbinsel (heute Petrovaradin, Jugoslawien), bekannt durch den hier erfochtenen Sieg der österreichischen Armee unter Prinz Eugen von Savoyen über die Türken (s. August 1716).276 Charakteren - Hier: Schriftzeichen.283 Bassa - Pascha.285 Tragantpuppen - Kunstvoll ausgeführte Backwaren, bei denen die gummiartige Absonderung der Tragant-Pflanze als Bindemittel benutzt wurde.russischen Schaukel - Ein Karussell, das sich vertikal um eine horizontale Achse bewegt.Pachter Feldkümmel - Titelfigur in der Fastnachtsposse "Pachter Feldkümmel von Tippelskirchen" (1811) von August Kotzebue (1761-1819), dessen effektvolle, aber seichte Rühr- und Unterhaltungsstücke einen großen Teil des damaligen Bühnenrepertoires ausmachten.291 Janitscharenmusik, - Türkische Militärmusik (mit Becken, Triangel, Lyra und Schellenbaum), die in Europa bis ins 59. Jahrhundert vielfach nachgeahmt wurde.292 Réglisse - (franz.) Süßholz, Lakritze.Lampertsnüsse - Eigentlich Langbartnüsse: eine aus Südosteuropa und Kleinasien stammende Haselnußart mit länglich-spitzer Frucht.296 Orsade - Gemeint ist Orgeade, ein Getränk aus Orangen, Wasser und Zucker.297 Großmogul - Titel der türkisch-mongolischen Herrscher des 1526 in Indien gegründeten mohammedanischen Reiches (Reich der Großmoguln), das bis 1858 bestand.Palankin - In Indien von vier bis sechs Männern an langen Stangen getragene Sänfte mit Sonnendach und Vorhängen. "Unterbrochenes Opferfest" — "Das unterbrochene Opferfest" (Wiener Uraufführung 1796), heroisch-komische Oper von Peter Winter (1754-1825). Hoffmann war bereits in Bamberg bei Aufführungen dieses Musikdramas zugegen gewesen (laut Tagebuch am 3. März und 2. April 1811 sowie am 9. Februar 1812), und im Jahre 1815 hatte er eine Berliner Inszenierung für das "Dramaturgische Wochenblatt, in nächster Beziehung auf die Königlichen Schauspiele zu Berlin" (Nr. 12, vom 23. September) rezensiert (vgl. Band 9 unserer Ausgabe).Brahmin - Brahmine oder Brahmane: Angehöriger der obersten Kaste der Hindus in Indien. Die Brahmanen bekleideten privilegierte Stellungen als Politiker, Priester, Dichter und Gelehrte.306 Eugenie - Der Vorname von Hitzigs zweiter Tochter (1807 bis 1843). Vgl. S. 690 und die erste Anm. zu S. 240.307 Archivarien und Studenten - Anspielung auf das Märchen "Der goldne Topf" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe), zu dessen Hauptfiguren der Student Anselmus und der Archivarius Lindhorst gehören. Die namentliche Hervorhebung dieses "Märchens aus der neuen Zeit" wenige Zeilen später macht deutlich, welchen poetischen Rang Hoffmann ihm unter seinen Werken einräumte ("Ich schreibe keinen ,Goldnen Topf' mehr! So was muß man nur recht lebhaft fühlen und sich selbst keine Illusion machen!"; an Hippel, 30. August 1816).308 im "Phantasus" ... geistreiche und belehrende Bemerkungen -Ludwig Tieck läßt gleich am Anfang der Ersten Abteilung seines "Phantasus. ." (vgl. die zweite Anm. zu S. j) die Gesprächspartner über das Wesen und die poetischen Mittel des Märchens reflektieren. Die Passage, auf die Hoffmann hier insbesondere anspielt, lautet: "Es scheint', sagte Anton, an seine Gesprächspartnerin gewandt, ,Sie verlangen einen still fortschreitenden Ton der Erzählung, eine gewisse Unschuld der Darstellung in diesen Gedichten, die wie sanft phantasierende Musik ohne Lärm und Geräusch die Seele fesselt, und ich glaube, daß ich mit Ihnen derselben Meinung bin."Dritter Abschnitt314 die mystische und angenehme Zahl Sieben - Im mittelalterlichen Volksglauben wurde der Zahl Sieben eine magische Bedeutung zugeschrieben; sie galt entweder als glückbringend oder als böses Omen (böse Sieben). Auch die Alchimisten und Astrologen verbanden mit der Zahl Sieben die Vorstellung geheimnisvoller Kräfte (vgl. die erste Anm. zu S. 370).315 der eifrigste Verfechter des Magnetismus - In der Gestalt des Vinzenz charakterisiert Hoffmann hier seinen Freund Koreff (vgl. die dritte Anm. zu S. 321).Magnetismus - Die von dem Theologen und Mediziner Franz Anton Mesmer (1734-1815) in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Wien begründete, später in Paris weiter ausgearbeitete pseudowissenschaftliche Lehre vom tierischen Magnetismus (Mesmerismus), einem dem menschlichen Organismus angeblich innewohnenden geheimnisvollen Fluidum, das diesen mit kosmischen Kräften verbinde, von Mensch zu Mensch übertragbar sei und demzufolge auch zu Heilzwccken in der Medizin aktiviert werden könne (unmittelbar oder durch magnetisierte Gegenstände). Die von den irrationalistischen Tendenzen der romantischen Naturphilosophie ausgehenden Theoreme wurden Anfang des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Abhandlungen verbreitet. Hoffmanns Interesse an dieser Materie war schon in Bamberg durch den Verkehr mit dem Mediziner Adalbert Friedrich Marcus (vgl. S. 326f. und die Anmerkungen dazu) und dessen Freundeskreis geweckt und in der Folgezeit (Dresden, Leipzig, Berlin) u. a. durch Schriften von Gotthilf Heinrich Schubert ("Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft". Dresden 1808. und "Die Symbolik des Traumes", Bamberg 1814; vgl. S. 422 und die Anmerkungen dazu), Karl Alexander Ferdinand Kluge ("Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel", Berlin 1815; vgl. S. 321 und die erste Anm. dazu) und Ernst Daniel August Bartels ("Grundzüge einer Physiologie und Physik des animalischen Magnetismus", Frankfurt a. M. 1812; vgl. S. 320) sowie durch den persönlichen Umgang mit Johann Ferdinand Koreff (vgl. die dritte Anm. zu S. gar) verstärkt worden. Die Auseinandersetzung mit dem Mesmerismus, der ihn teils faszinierte, ihm teils äußerst bedenklich erschien, fand ihren Niederschlag in zahlreichen Werken Hoffmanns (vgl. u. a. "Der Magnetiseur" und "Das öde Haus", Band 1 bzw. Band 3 unserer Ausgabe), wobei die kritische Distanz des Dichters, wie das vorliegende Gesprächsstück zeigt, ständig größer wurde.315 Magnetiseurs seit Mesmers Zeit - Der Mesmerismus fand bei den Zeitgenossen eine außerordentlich große Beachtung. Seine Befürworter und Gegner lieferten sich heftige publizistische Fehden, und die mystischen Spekulationen eröffneten der Scharlatanerie ein weites Feld für medizinische Betrügereien. Auch im Lager der Schüler und Nachfolger Mesmers bildeten sich schon bald einander widersprechende Schulmeinungen heraus. So kritisierten z. B. die Vertreter der sogenannten "Zweiten magnetischen Schule" (ansässig in Lyon und Ostende; vgl. die erste Anm. zu S. 320) die ihrer Ansicht nach zu sehr auf das Physische bezogene Methode Mesmers (Bestreichen mit den Händen) und orientierten im Gegensatz dazu auf Willen und Glauben, während eine dritte Richtung (ansässig in Straßburg) die physische und psychische Behandlungsart miteinander zu verbinden suchte.318 Sphärenmusik, - Vgl. die erste Anm. zu S. 370.320 Barbarinischen Schule der Spiritualisten, - Die sogenannte "Zweite magnetische Schule", die "unter der Direktion eines gewissen Ritters Barbarin" stand und "keine magnetischen Vorrichtungen" hatte, "sondern bloß durch festen Vorsatz und kräftigen Willen alle Wirkungen des Magnetismus, selbst in beträchtlichen Entfernungen, bei ihren Kranken hervorzubringen" suchte (Kluge, "Versuch. . .", Paragraph 47).Bacquet - (franz.) Kübel, Zuber; nach Kluge ("Versuch.. Paragraphen 321-326) eine "runde, hölzerne Wanne", die mit magnetisierten Flaschen und "gestoßenem Glase" angefüllt, ist und so zu einer Art "magnetischer Batterie" wird, um die herum die Patienten placiert werden.Bartels in seiner "Physiologie. . ." — Gemeint ist das Werk "Grundzüge einer Physiologie und Physik des animalischen Magnetismus" (Frankfurt a. M. 1812) von Ernst Daniel August Bartels (1774-1838), Professor der Medizin und Physiologie an der Universität Breslau. Die erwähnte Äußerung findet sich auf S. 573 des Buches, auf das sich Hoffmann bereits im "Nachtstück" "Das öde Haus" (vgl. Band 3 unserer Ausgabe) ausdrücklich beruft.Manipulation auf den Ganglien deines Rückens - Anspielung auf Kluges "Versuch.. ." (Paragraphen 182 und 254), wo es heißt, daß die "meisten der magnetischen Erscheinungen [physiologisch] nur aus dem Verhältnis, worin das Ganglien- und Zerebralsystem zueinander stehen, erklärt werden" könnten und daß, da die "vorwaltende Tätigkeit des Gangliensystems Schlaf bewirkt", dessen "Potenzierung" als ein wesentliches Moment der magnetischen Manipulation zu gelten habe.321 Kluges bekannter "Versuch einer Darstellung desanimalischen Magnetismus als Heilmittel" - einige Zweifel - Hoffmann hatte dieses 1811 erschienene, vieldiskutierte Werk des Mediziners Karl Alexander Ferdinand Kluge (1782-1844), auf das er sich im vorliegenden Gesprächsabschnitt an zwölf Stellen bezieht, bereits 1813 für seine novellistische Studie "Der Magnetiseur" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe) ausgewertet. Obwohl er die inzwischen laut gewordenen Zweifel an der wissenschaftlichen Zuverlässigkeit und Solidität der Publikation teilte, benutzte er sie weiterhin (allerdings oft mit ironischem Unterton) als Quelle.321 Clairvoyance - (franz.) Hellsichtigkeit (somnambuler bzw. magnetisierter Personen).Ich kam nach der Residenz... — Gemeint ist Berlin, wo Hoffmann sich mit dem Arzt und Schriftsteller Johann Ferdinand Koreff (1783-1851) befreundete, der, von Paris kommend, als überzeugter Anhänger der magnetischen Heilmethode seit 1816 an der Berliner medizinischen Fakultät Vorlesungen hielt. Sowohl bei den Zusammenkünften des Seraphinenordens (vgl. S. 625) als auch in Koreffs weitreichendem Bekanntenkreis wurden Theorie und Praxis des Magnetismus eifrig diskutiert. (Vgl. auch die direkte Einbeziehung Koreffs als "Doktor K." in Hoffmanns "Nachtstück" "Das öde Haus", Band 3 unserer Ausgabe).322 Ring ... in einem roten Maroquinfutteral - Nach Kluges "Versuch. ."(Paragraph 105) "nehmen die Somnambulen auch solche Dinge wahr, die durch Zwischenkörper von ihnen getrennt sind". So habe eine Somnambule z. B. ein "Portefeuille von rotem Maroquin" erkannt, das eine ihr völlig fremde Person in der verschlossenen Hand hielt.da das Gold - feindlich auf sie wirke - "Unter den leblosen Dingen wirken Metalle am widrigsten auf das erhöhte Gefühl des magnetisch Schlafenden", heißt es in Kluges "Versuch..." (Paragraph 120); selbst bei Einwirkung aus größerer Entfernung riefen sie "Unruhe, Angst, sehr heftige, sich durch den ganzen Körper verbreitende und oft in Konvulsionen übergehende höchst schmerzhafte Stöße, Lähmung oder Erstarrung" hervor.magnetischen Rapport - Bezeichnung für das in Kluges "Versuch. ."(Paragraph 224) beschriebene "sympathische Verhältnis" zwischen "Somnambul und Magnetiseur", die "miteinander in eine mehr oder minder bemerkbare Wechselwirkung treten, welche durch das Nervensystem vermittelt wird".323 Sie nieste, wenn er Tabak nahm, sie las einen Brief, den er ihr auf die Herzgrube legte —Magnetische Wunder, über die Kluge in seinem "Versuch.. ." (Paragraphen 139 und 503) berichtet.fünften Grad - Kluge führt in seinem "Versuch..." (Paragraphen 78-166) sechs Grade des magnetischen Schlafs an. Im fünften, dem "Grad der inneren Selbstbeschauung", auf den Hoffmann im folgenden mit der Bemerkung über die ,herrlichsten, tiefsten, lehrreichsten Dinge über ihren Magen" anspielt, werde der Versuchsperson "eine helle und lichtvolle Erkenntnis ihres inneren Körper- und Gemütszustandes" zuteil.324 Novalis' ,Fragmenten' - Gemeint sind die "Fragmente vermischten Inhalts" im Zweiten Teil der von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck nach dem Tode von Novalis herausgegebenen Werkausgabe "Novalis' Schriften" (Berlin 1802). Es handelt sich um eine Sammlung philosophischer Aufzeichnungen ("Anfänge interessanter Gedankenfolgen, Texte zum Denken"), von denen zu Novalis' Lebzeiten nur ein Teil gedruckt worden war. Die darin enthaltenen widerspruchsvollen, oft rätselhaften Bekundungen des romantischen Dichters wurden von den Anhängern des Magnetismus gern in Anspruch genommen.Schellings "Weltseele" — Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (iris bis 1845), "Von der Weltseele. Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus" (Hamburg 1798). In dem Werk. das die irrationalen Tendenzen der romantischen Naturphilosophie methodisch zusammenfaßt, wird der Begriff von der Weltseele als Synonym für ein "die ganze Natur zu einem allgemeinen Organismus" verknüpfendes organisierendes Prinzip verwendet. Hoffmann hatte sich im Sommer 1813 intensiv mit dem Buch des idealistischen Philosophen beschäftigt.vom Teufel besessenen Ursulinerinnen, - Anspielung auf eine mehrfach überlieferten verbrecherische Intrige, die sich im 17. Jahrhundert im Kloster Loudon (Frankreich) zugetragen hat: Auf Veranlassung ihres Beichtvaters hatten sich einige Nonnen als Besessene ausgegeben. Daraufhin war der mit dem Beichtvater verfeindete Priester Urbain Grandier, der Zauberei bezichtigt, vom Inquisitionsgericht zum Tode verurteilt und verbrannt worden. Zeitgenössischen Berichten zufolge haben sich die ursprünglich vorgetäuschten epileptischen Erscheinungen nach der Hinrichtung Grandiers im Kloster tatsächlich als Krankheit ausgebreitet. Hoffmann kannte die Geschichte wahrscheinlich aus der von Friedrich Schiller herausgegebenen Publikation "Merkwürdige Rechtsfälle als Beitrag zur Geschichte der Menschheit" (z. Teil, Jena 1792), einer Auswahl aus den "Causes célebres et intéressantes" (Band 2, La Haye 1735; Berühmte und interessante Rechtsfälle) von François Gayot de Pitaval.324 miauenden Nonnen, - Anspielung auf eine der zahlreichen kuriosen Geschichten, die Johann Georg Zimmermann (1728-1795) in seinem Buch "Über die Einsamkeit" (Leipzig 1784/85) erzählt, das Hoffmann des öfteren als Quelle benutzt hat. Zimmermann schreibt (Teil 2, S. 77 f): "Ich habe in einem guten medizinischen Buche gelesen, es sei in einem sehr zahlreich besetzten Nonnenkloster in Frankreich einer Nonne eingefallen, nach Katzenart zu mauen; eine kurze Weile nachher mauten andere Nonnen auch... Die ganze Christenheit umher hörte ... dieses tägliche Katzenkonzert..., bis alle diese Nonnen beredet worden, man habe, von Polizei wegen, vor den Eingang des Klosters eine Kompanie Soldaten gestellt, und nun werden diese Soldaten eine Nonne nach der andern über das Knie legen und ihr so lange auf ihren nackten Hinterteil die Rute geben, bis sie verspreche, nicht wieder zu mauen." Auch Johann Christian Reil berichtet in seinen "Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen" (vgl. die zweite Anm. zu S. 394) über diesen Fall.jenes Weib im Würzburger Hospital — Unter dem Stichwort "Fixer Wahn, durch Aufopferungen sich bekannt zu machen" berichtet Reil in seinen "Rhapsodien (a. a. O., S. 358) von einem Fall aus dem "Julius-Spital zu Würzburg", wohin eine Frau gekommen sei, "der vor ein paar Wochen zur Ader gelassen war" und die nun vorgab, "daß sie eine Geschwulst am Arm hätte. Bei der Untersuchung fand sich nicht weit von dem Ort der Wunde eine Erhöhung, aus der man ein Stück Glas, zwei zusammengedrehete Haarnadeln und eine abgebrochene Nadel herauszog. Sie behauptete, böse Leute, bei denen sie wohnte, müßten ihr diese Qual angetan haben Wahrscheinlich hatte dieses Weib sich durch die Aderlaßwunde das Glas und die Nadeln unter die Haut gesteckt und die Schmerzen nicht geachtet. um nur die hämische Freude zu haben, Aufsehen zu erregen und andere Menschen unglücklich zu machen."325 die berüchtigte Manson - Anspielung auf einen der spektakulärsten Kriminalfälle der damaligen Zeit. Die Französin Clarissa Manson (1785 oder 1795 bis 1825) hatte 1817 in einem Mordprozeß durch ihr sonderbares, exaltiertes Benehmen den Verdacht erweckt, Augenzeugin des Verbrechens gewesen zu sein. Auf Grund widersprüchlicher Aussagen bei ihrer Vernehmung durch Folter zum Geständnis gezwungen, war sie trotz Widerrufs - zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten verurteilt worden. Ihre während der Haft verfaßten Memoiren, 1818 in französischer und deutscher Sprache veröffentlicht, wurden ein großer Bucherfolg.326 B. — Bamberg. Auch dort wurde viel vom Magnetismus gesprochen - Vgl. die zweite Anm. zu S. 355.ein würdiger berühmter Arzt - Gemeint ist der mit Hoffmann befreundete Bamberger Arzt Adalbert Friedrich Marcus (1753 bis 1816), Direktor der Medizinal- und Krankenanstalten in den fränkischen Fürstentümern. auf dessen Prominenz der Dichter bereits im Ersten Abschnitt, "[Der Einsiedler Serapion]", anspielt (vgl. S. 22 und die erste Anm. dazu). Über Marcus' Einstellung zum Magnetismus heißt es in der unter Beteiligung Friedrich Speyers (vgl. die dritte Anm. zu S. 21) entstandenen Biographie "Dr. A. F. Marcus, nach seinem Leben und Wirken geschildert" (Bamberg und Leipzig 1817): "Marcus überzeugte sich sehr bald von der Realität dieses [Magnetismus] ... und unterließ es nicht, in den geeigneten Fällen seiner Privatpraxis den Magnetismus selbst anzuwenden. In dem allgemeinen Krankenhause wurden die Versuche wiederholt, besonders bei Krankheitsfällen mit vorherrschenden Leiden des sensitiven Systems" (S. 49).328 Der Zufall führte mir bald eine der merkwürdigsten Somnambulen. unter die Augen - Hoffmann war Augenzeuge bei der magnetischen Behandlung einer Somnambulen. Am 21. Dezember 1812 vermerkte er in seinem Tagebuch: ".. zum erstenmal im Hospital [St. Getreu in Bamberg] eine Somnambule gesehen - Zweifel!"329 von Grad zu Grad -Vgl. die zweite Anm. zu S. 323. wie Kluge sagt... — Hoffmann zitiert hier nahezu wörtlich die Darlegungen Kluges (vgl. die erste Anm. zu S. 321) über das Verhältnis zwischen Magnetiseur und Clairvoyant (Magnetisiertem) beim Erreichen des sogenannten sechsten Grades im magnetischen Schlaf (n. n. O., Paragraph 159 f.).330 Das Kind sprach...den reinen, gebildeten Dialekt ihres Magnetiseurs - Hoffmann bezieht sich hier auf ein Beispiel, das Gotthilf Heinrich Schubert in der Dreizehnten Vorlesung seiner "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft" (vgl. die zweite Anm. zu S. 315) anführt: "Die Kranken beantworteten nun alle ihnen vorgelegten Fragen mit einer Klarheit und Lebhaftigkeit des Geistes, die man sonst nie an ihnen bemerkte... Ihre Sprache veredelte sich, Mädchen, welche das Hochdeutsche nur aus Büchern kannten, sprachen es nun ... fertig" (a. a. O., S. 332).331 Wagenseils Nürnberger Chronik - Vgl. die folgende Entstehungsgeschichte zu "Der Kampf der Sänger".Der Kampf der SängerAls Quelle für die im 13. Jahrhundert auf der Wartburg und in Eisenach spielende Novelle benutzte Hoffmann, wie er selbst im vorausgehenden Rahmengespräch (S. 335) angibt, das Werk "Dc sacri Romani imperii libera civitate Noribergensi commentatio" (1697; Bericht über Nürnberg, Freie Stadt des Heiligen Römischen Reiches), und zwar den im Anhang dazu gegebenen Bericht "De Germaniae phonascorum origine, praestantia, utilitate.. (Über Ursprung, Vortrefflichkeit und Nutzen... der deutschen Meistersinger). Verfasser der Chronik war Johann Christoph Wagenseil (1633-1708), Geschichtsprofessor und Bibliothekar an der Reichsstädtischen Hochschule in Altdorf, den der Dichter anachronistischerweise in seiner Geschichte selbst auftreten läßt.Wagenseil bringt in seinem "Accedit" (Anhang) — mit dem sich Hoffmann so intensiv beschäftigte, daß er daraus die Anregung zu zwei weiteren serapiontischen Erzählungen ("Meister Martin der Küfner und seine Gesellen" und "Das Fräulein von Scuderi") gewann - ein deutschsprachiges und ein lateinisches Fragment. Es handelt sich um den erhalten gebliebenen Teil der von dem Theologen, Dichter und Historiker Cyriacus Spangenberg (1528-1604) verfaßten Chronik "Von der edlen und hochberühmten Kunst der Musica und deren Ankunft, Lob, Nutz und Wirkung wie auch von Aufkommen der Meistersinger, zu Ehren der löblichen und ehrsamen Gesellschaft der Meistersinger in der Freien Reichsstadt Straßburg im Jahr 1598" sowie um das Bruchstück einer der zahlreichen lateinischen Chroniken über den Sängerkrieg auf der Wartburg, das die Überschrift trägt: "De ses magistris in cantilenis" (Von sechs Meistersingern). Außer diesen beiden Fragmenten stand dem Dichter für sachliche Details die Beschreibung "Schloß Wartburg. Ein Beitrag zur Kunde der Vorzeit' (3. Auflage 5855) von J. C. S. Thon zur Verfügung.

Hoffmann wollte keine "antiquarische kritische Abhandlung jenes berühmten Kriegs von der Wartburg" schreiben (wie er selbst im Rahmengespräch betont), weshalb es ihm gleichgültig war, ob seine Quelle historisch zuverlässig war oder nicht. Ihn interessierte allein der poetische Reiz, der von dem angebotenen Material ausging. Die enge Anlehnung an das von Wagenseil Mitgeteilte - bis hin zu Namensschreibungen und biographischen Daten - ist kennzeichnend für diese Haltung, die den Autor überdies auf die Benutzung weiterer Quellen verzichten ließ. So blieb etwa das um 1260 entstandene mittelhochdeutsche Gedicht vom "Wartburgkrieg", von dem er (obwohl seinerzeit erst Bruchstücke daraus veröffentlicht waren) durchaus Kenntnis gehabt haben kann, gänzlich unberücksichtigt. Von der naheliegenden Annahme, Novalis' Romanfragment "Heinrich von Oflerdingen" könnte seinen "Kampf der Sänger" beeinflußt haben, grenzt sich Hoffmann wiederum selbst ab durch den Theodor in den Mund gelegten Protest, die Erzählung "habe ihm das schöne Bild von dem im tiefsten Gemüt begeisterten Heinrich von Oflerdingen, wie es ihm aus dem Novalis aufgegangen, durchaus verdorben" (vgl. S. 383.) Dabei deutet die Erfindung der Frauengestalt Mathilde als Mittelpunktsfigur der Fabel und Idealbild des Minnesangs - eine der wenigen Abweichungen von der Quelle, in der nach älterer Überlieferung die Landgräfin von Thüringen selbst in dieser Rolle auftritt - auf dennoch vorhandene Beziehungen hin (vgl. die dritte Anm. zu S. 334).

Wie von der neueren Hoffmann-Forschung nahezu übereinstimmend hervorgehoben wird, stellt die Erzählung - trotz der Anlehnung an die Quelle - im wesentlichen durchaus eine schöpferische Eigenleistung des Dichters dar. Hoffmann hat die anekdotische Fabel nicht nur erweitert und künstlerisch belebt - die Ausgestaltung des Sängerkrieges ist ganz seine Erfindung -, er hat ihr auch einen neuen Sinngehalt gegeben: Wolfframb erringt den Sieg im Wettstreit der Sänger nicht (wie in der Vorlage) kraft des christlichen Mysteriums, nicht durch den Triumph der "schönen frommen Weise von geistigen Dingen" über die von steriler Gelehrsamkeit strotzende, gleichsam das "böse Prinzip" verkörpernde Kunst Klingsohrs, sondern im Vertrauen auf die "unüberwindliche Macht der wahren Poesie" (Carl Georg von Maassen).

In der ersten Märzhälfte 1818 sandte Hoffmann das Manuskript an die Redaktion der im Verlag von Friedrich Arnold Brockhaus in Leipzig erscheinenden Zeitschrift "Urania". Am 7. April schrieb er an Brockhaus: "Ich bin in tausend Sorgen, daß Ew. Wohlgeboren die von mir freilich ohne meine Schuld verspätete Erzählung zur ,Urania' nicht zu rechter Zeit erhalten haben mögen, weshalb ich um baldige gütige Zuschrift in dieser Angelegenheit ganz ergebenst bitte, wo möglich mit umgehender Post..." Die Antwort des Verlegers vom 10.(?) April war zufriedenstellend, zumal auch die Honoraranweisung in Aussicht gestellt wurde. Die Novelle erschien dann im Herbst 1818 unter dem Titel "Der Kampf der Sänger. Einer alten Chronik nacherzählt von E. T. A. Hoffmann" inder Ausgabe "auf das Jahr 1819" des renommierten "Taschenbuchs" (im Ersten Jahrgang der Neuen Folge).

Die im Zweiten Band der "Serapionsbrüder" (1819) gedruckte Textfassung, die unserer Edition zugrunde liegt, weist gegenüber der Erstveröffentlichung nur unwesentliche Veränderungen auf.334 einen ernsten stattlichen Mann - Hoffmann beschreibt hier das Äußere Wagenseils nach einem Stich von J. Sandrart aus dem Jahre 1680, der als Frontispiz der Chronik des Altdorfer Professors vorangestellt ist.Landgraf Hermann von Thüringen - Hermann I. (gest. 1217), seit 1181 Pfalzgraf von Sachsen, seit 1190 Landgraf von Thüringen. Er galt als kunstliebend und als Förderer des Minnesangs. Der Legende nach soll während seiner Herrschaft der Sängerkrieg auf der Wartburg stattgefunden haben.Gräfin Mathilde - Eine von Hoffmann erfundene Gestalt, die hier die Rolle der Landgräfin von Thüringen übernimmt. Sie ähnelt in Anlage und Wesen der gleichnamigen Figur in Novalis' Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" (1802); dort ist Mathilde die Tochter des weisen Klingsohr.Walther von der Vogelweid - Walther von der Vogelweide (um 1170 bis um 1230), der bedeutendste deutsche Lyriker der mittelhochdeutschen Zeit; er besuchte auf seinen Wanderungen auch den sangesfreudigen Hof des Thüringer Landgrafen in Eisenach.335 Reinhard von Zwekhstein - Reinmar von Zweter (um 1200 bis um 1260), mittelhochdeutscher Dichter; Verfasser moralisierender und politisch-satirischer Sprüche.

335 Professor Heinrich Schreiber - Hoffmanns Quelle nennt einen Minnesänger Heinrich Schreiber. Auch in Thüringer Urkunden aus der Zeit zwischen 1208 und 1228 wird ein "tugendhafter Schreiber" namens Heinrich erwähnt, der sich am Hofe des Landgrafen Hermann aufgehalten habe und der als Verfasser mehrerer Minnelieder angenommen wird. Der Titel "Professor" ist von Hoffmann hinzugefügt.Johannes Bitterolff - Minnesänger aus dem 13. Jahrhundert, dessen Name im Zusammenhang mit der Sage vom Sängerkrieg auf der Wartburg bekannt geworden ist. Verbürgte biographische Angaben über Biterolf, der am Hofe des Landgrafen von Thüringen ein (nicht überliefertes) Epos nach der Alexandersage verfaßt haben soll, existieren nicht.Heinrich von Ofterdingen - Im mittelhochdeutschen Gedicht vom Wartburgkrieg genannter sagenhafter deutscher Minnesänger (um 1200); auch über sein Leben und Wirken gibt es keine verbürgten Angaben. In Novalis' fragmentarischem Roman wird die Titelfigur Ofterdingen als ein Bürgersohn aus Eisenach eingeführt.Wolfframb von Eschinbach - Wolfram von Eschenbach (um 1170 bis nach 1220), mittelhochdeutscher Epiker und Verfasser von Minneliedern. Er lebte mehrere Jahre am Hofe des Landgrafen Hermann von Thüringen, wo vermutlich das Sechste und das Siebente Buch seines Versepos "Parzival" entstanden sind.337 Bürger zu Eisenach - "Bürger" bedeutet hier soviel wie: ritterlicher Patrizier.339 Friedebrand - Friedebrand von Schotten: Eine historisch nicht nachweisbare Gestalt aus Wolframs "Parzival", die auch im Epos "Titurel" (nach 1215) wiederkehrt. In dem von Wagenseil mitgeteilten deutschsprachigen Fragment wird Friedebrand überraschenderweise als Lehrer Wolframs eingeführt.Geschichten -von Gabmuret und dessen Sohn Parzival - Wolfram von Eschenbach erzählt am Anfang seines "Parzival", in dem er die Entwicklung des Titelhelden vom "tumben toren" bis zum begnadeten Gralsritter schildert, Lebensgeschichte und Abenteuer von Parzivals Vater Gahmuret.von Markgraf Wilhelm von Narben - und dem starken Rennewart - Graf Wilhelm von Aquitanien (gest. 812) ist das historische Vorbild für den Titelhelden in Wolframs Epos "Willehalm" (um 1215), das am Beispiel der Kämpfe zwischen christlichen Rittern. und Sarazenen in Südfrankreich (793) die Ideen der religiösen Toleranz, der Humanität, der Gattenliebe und -treue verherrlicht. Rennewart ist ein ins christliche Lager übergetretener heidnischer Prinz, der an Willehalms Seite ficht.339 Ulrich von Türkheimb - Ulrich von Türheim: Mittelhochdeutscher Epiker (13. Jahrhundert), der Wolframs "Willehalm" durch eine Fortsetzung insbesondere der Geschichte Rennewarts vollendete.348 Klingsohr - Im "Parzival" Wolframs von Eschenbach ist Klingsohr ein mächtiger Zauberer; im mittelhochdeutschen Gedicht vom Wartburgkrieg tritt er unter dem Namen Klingsohr von Ungarland (mhd. klingsaere = Spielmann) als Gegner Wolframs auf. Negromant - Nekromant: Toten-, Geisterbeschwörer.355 Acheron - In der griechischen Mythologie ein Fluß der Unterwelt, den die Seelen Verstorbener auf ihrem Weg ins Totenreich überqueren müssen.358 Herzog von Österreich - Auf S. 382 nennt Hoffmann Leopold VII.; historisch kommt jedoch nur Leopold VI. (der Glorreiche; 1198-1230) in Frage, den Walther von der Vogelweide als Freund der Dichtkunst pries.360 Bürger, Helgrefe geheißen - Der Name Helgreve, den Hoffmann seiner Quelle entnahm, ist, wie Carl Georg von Maassen nachgewiesen hat, ein historischer; das Geschlecht existierte schon zur Zeit der Gründung Eisenachs (Anfang des 12. Jahrhunderts) unter Ludwig dem Springer.362 Schwarzen Ton - Nach Wagenseil (S. ;) der "Schwarze Ton Klingsohrs", ein in Nürnberg gesungener Meisterton mit elf Reimen (in dem auch ein Teil des mittelhochdeutschen Gedichts "Der Wartburgkrieg" verfaßt ist). Die Minne- und Meistersänger waren zugleich Dichter, Komponisten und Sänger ihrer Lieder; die Erfindung neuer "Töne" (Metrik, Strophenform und Melodie), die oft die seltsamsten Namen erhielten, galt als besonders verdienstvoll.364 der Sieben Freien Künste - Seit der Spätantike diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten, die einem "freien Mann" zur Auszeichnung gereichten. Im Mittelalter war die Anzahl der Artes liberales an den Universitäten auf sieben Lehrfächer festgesetzt: Grammatik. Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie, Dialektik und Rhetorik.365 Güldnen Ton - Nach Wagenseil (S. 535) "der Güldne Ton Barthel Regenbogens", ein Meisterton mit dreizehn Reimen.Wunderliche Wurzeln - Gemeint sind die oft menschenähnlich gestalteten Alraune (Wurzeln des Nachtschattengewächses Mandragola officinalis), denen man schon im Altertum Zauberkräfte zuschrieb.367 Nasias - Im mittelhochdeutschen Gedicht "Der Wartburgkrieg" heißt die Teufelsgestalt Nasion. Im lateinischen Fragment bei Wagenseil steht der Name Nasian (Hoffmann hielt ihn für den Akkusativ).Bürger, Gottschalk geheißen - Auch dieser Name ist historisch verbürgt.370 Sphärenmusik, wie sie in dem "Traum des Scipio" beschrieben - Anspielung auf den Abschnitt "Somnium Scipionis" (Scipios Traum), der dem Sechsten Buch der Schrift "De re publica" (Die beste Staatsform) von Marcus Tullius Cicero (106-43 V. u. Z.) angefügt ist. Dort fragt Scipio den Africanus, der ihm die "Gesetze des Weltalls" erläutert: "Was ist dies für ein mächtiges und süßes Tönen, das meine Ohren erfüllt?" Als Antwort folgt die Erklärung: "Dies ist... der Ton, der, zusammengefügt mit ungleichen, aber im rechten Verhältnis zueinander abgestimmten lntervallen, durch den Schwung und die Bewegung der [sieben] Sphären selbst hervorgebracht wird und, Hohes mit Tiefem mischend, verschiedene Zusammenklänge ausgleichend hervorbringt. Denn nicht lautlos können so ungeheure Bewegungen in Gang kommen, und die Natur bringt es mit sich, daß das jeweils Äußerste auf der einen Seite tief, auf der andern Seite aber hoch klingt. Daher vollzieht sich der Umlauf jener obersten, die Fixsterne tragenden Himmelssphäre, deren Umdrehung schneller ist, mit einem hohen, durchdringenden Ton, mit dem tiefsten hingegen der der untersten hier, der Mondsphäre; denn die Erde, die neunte in der Reihe, verharrt in unbeweglichem Verweilen stets am selben Ort, die Mitte des Weltalls einnehmend. Jene acht Kreisläufe aber, unter denen zwei die gleiche Kraft haben, erzeugen sieben durch Intervalle getrennte Töne, die Zahl, die fast aller Dinge Knotenpunkt ist [vgl. die Anm. zu S. 314]. Das haben kluge Menschen mit Saiten und Tönen nachgeahmt und sich damit die Rückkehr an diesen Ort eröffnet gleich anderen, die kraft überragenden Geistes im menschlichen Leben göttliche Studien getrieben haben." (Kap. j, Paragraph 18; Übersetzung von Konrat Ziegler.)370 Freuden des Venusberges - Wahrscheinlich Reminiszenz an Ludwig Tiecks Novelle "Der getreue Eckart und der Tannenhäuser" (1799), wo der Tannenhäuser von "der Lüste Reiz" und dem "brünstigen Triumph" erzählt, den die Geisterwelt tief unten im Venusberg "feiert".373 Graf Meinhard zu Müblberg und der Schenk Walther von Vargel - Diese Namen stehen nicht in den von Wagenseil mitgeteilten beiden Fragmenten; Hoffmann entnahm sie der "Thüringischen Chronik" (Des Zweiten Buches Anderer Teil, Erfurt 1738) des Johann Heinrich von Falkenstein.Könige von Ungarn, - Elisabeth... Ludwig... - Elisabeth, die 1207 geborene Tochter von Andreas II. (1205-1235 König von Ungarn), wurde aus politischen Gründen 1211 mit Ludwig, dem elfjährigen Sohn und Nachfolger des Landgrafen Hermann von Thüringen, verlobt und bis zu ihrer Vermählung 1221 am Eisenacher Hof erzogen. Nach dem Tode Ludwigs IV. (1227), der seit 1217 regiert hatte und während des fünften Kreuzzuges in Italien gestorben war, vertrieb ihr Schwager, Heinrich Raspe, die Landgräfin mit ihren Kindern von der Wartburg. 1235 wurde Elisabeth von Papst Gregor IX. heiliggesprochen. Ihr Leben wird in zahlreichen Legenden beschrieben.374 Scharfrichter Stempel - Der Name findet sich nicht in Wagenseils Chronik. Im mittelhochdeutschen Gedicht vom "Wartburgkrieg" heißt der Scharfrichter Stempfel.383 das schöne Bild..., wie es ihm aus dem Novalis aufgegangen, - "Das ganze soll eine Apotheose der Poesie sein", schrieb Novalis (eigentlich Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg; 1772-1801) über sein als romantische Antithese zu Goethes "Wilhelm Meister" angelegtes Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" an Ludwig Tieck (23. Februar 1800). Die Geschichte des sagenhaften Minnesängers hat Novalis wahrscheinlich aus den Schriften des Kanonikus Johannes Rothe vom Anfang des 15. Jahrhunderts kennengelernt und mit griechischen, orientalischen, jüdischen und nordischen Mythen nach eigener Phantasie ausgeschmückt.383 Beschwörungsformel des wackern Junkers Tobias von Rülp - Anspielung auf Shakespeares Komödie "Was ihr wollt" (III, 4), wo der Junker Tobias von Rülp mit den von Hoffmann frei zitierten Worten den geprellten Haushofmeister Malvolio verspottet.384 im Wagenseil -Vgl. S. 701.sonettischer Wahnsinn - Scherzhafte Anspielung Hoffmanns auf seine eigenen, unbeholfenen metrischen Versuche, z. B. das Sonett "Die beiden Sphinxe" in der "Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza" und das ursprünglich in derselben Erzählung enthaltene, in die zweite Auflage der "Fantasiestücke" (1819) nicht mehr aufgenommene "Sonett an Cäcilia" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe, S. 13 f. und die zweite Anm. zu S. 138).Folge den Gesetzen des Landes... — Hoffmann bezieht sich auf das am 1. Juni 1794 in Kraft getretene "Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten". Darin heißt es (Teil 1, Titel 1, §§ 57 und 18): "Geburten ohne menschliche Form und Bildung haben auf Familien- und bürgerliche Rechte keinen Anspruch. / Insofern aber dergleichen Mißgeburten leben, müssen sie... ernährt und soviel als möglich erhalten werden." In der juristischen Praxis galt der Kopf als Merkzeichen "menschlicher Gestalt".385 Jean Paul über den Magnetismus - Jean Paul (1763-1825) hat das brisante Thema in dem Aufsatz "Mutmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus", der sein theoretisches Sammelwerk "Museum" (Stuttgart und Tübingen 1814) eröffnet, ironisch-persiflierend erörtert.386 Pezzo - (ital.) Stück.Vor geraumer Zeit... — Die folgende Erzählung soll nach dem Zeugnis von Hitzig auf Tatsachen beruhen. In einer Fußnote seiner Biographie "Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß" (1823), die sich auf den "heitern Kreis" der Serapionsbrüder bezieht, heißt es hierzu: "Der Herausgeber erinnert unter andern Herrn General von Pfuel in Koblenz an den Abend, wo die Versuche gemacht wurden, einen Ring durch die Willenskraft in Bewegung zu setzen. ." (Band 2, S. 13;). Hoffmann greift mit dieser Thematik eine Zeiterscheinung auf, die sich, angeregt durch die Beschäftigung zahlreicher Verfechter der romantischen Naturphilosophie mit den sogenannten magnetischen Kräften im Menschen und den daraus resultierenden psychokinetischen Versuchen, bis in die bürgerlichen Salons ausbreitete und in Gelehrten- und Laienkreisen zu Diskussionen herausforderte.387 obskurer Nikodemus, der wie ein Nachtwandler hineinschleicht - Nach der biblischen Erzählung (Neues Testament, Johannes 3, 1-2!) kam der Pharisäer und Schriftgelehrte Nikodemus, "ein Oberster unter den Juden", nachts heimlich zu Jesus, um dessen Lehren zu hören.388 Da hast du den wahren spiritum familiärem, den Sokratischen Genius - Der lateinische Ausdruck spiritus familiaris bezeichnet ursprünglich den nur einer bestimmten Familie dienstbaren und nur ihr vertrauten Hausgeist. — Der griechische idealistische Philosoph Sokrates (469-399 V. U. Z.) berief sich bei seiner Begründung der Wahrheit und Sittlichkeit auf eine innere Stimme (Daimonion: Stimme der Gottheit), die ihm die Gewißheit über die Angemessenheit oder Unangemessenheit einer Handlung gäbe. In der im Jahre 399 y. u. Z. gegen ihn erhobenen Anklage heißt es: ..Sokrates tut unrecht, indem er die Götter, welche der Staat annimmt, nicht gelten läßt, sondern neue dämonische Wesen einführt..." Hoffmann benutzte wahrscheinlich den "Traktat von Geistern" (Halle 1721) von Johann Beaumont, dessen Erster Teil von den "Genus" oder "Spiritibus familiaribus" handelt; dort ist im Zweiten Kapitel (Paragraph II) auch "Von des Socratis Genio" die Rede.[Eine Spukgeschichte]Hoffmann hat die nur wenige Seiten umfassende "Spukgeschichte", die vermutlich auf mündlichen Überlieferungen beruht, im Zusammenhang mit den Rahmengesprächen zu den "Serapionsbrüdern" niedergeschrieben und in diese hineinkomponiert. Es handelt sich dabei um ein Kabinettstück aus dem Bereich der Gespenster- und Schauerrdmantik. mit dem der Autor der vorausgegangenen Diskussion zum Thema Magnetismus und Wunderglauben zusätzliche Spannung verleiht.Die Geschichte erschien zuerst am 3. und 5. April 1819 als Vorabdruck unter dem Titel "Bruchstück aus dem Zweiten Bande der ,Serapionsbrüder" in der 1808-1825 von Friedrich August Kuhn herausgegebenen Berliner Zeitschrift "Der Freimütige oder Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser" (Jg. 16, Nr. 67 und 68). Sie beginnt dort mit dem Absatz: "Die Freunde kamen ins Gespräch..." und endet mit dem Ausruf: "Doch jetzt kein Wort mehr von allem gespenstischen Unwesen" (vgl. S. 385 und 396). Der Herausgeber bemerkt in einer Fußnote zu Hoffmanns Beitrag: "Der erste Band dieses höchst geistreichen Werkes [der "Serapionsbrüder"] ist bereits erschienen; der zweite wird uns zu Michaelis zuteil werden."388 Entrechats - (franz.) Luftsprünge.389 Ah che fatalità! — ab carino - poverino! — (ital.) Ach, was für ein Unglück! — ach, lieber Kleiner - Ärmster!390 Weiße Frau - Eine in zahlreichen Gespenstergeschichten auftretende Spukgestalt, deren Erscheinen Unglück bringt. Als ihr Urbild galt eine Gräfin Agnes von Orlamünde, die ihre beiden Kinder umgebracht hatte und angeblich zur Sühne dafür nach ihrem Tode als Weiße Frau erscheinen mußte, um in den Schlössern der Hohenzollern verhängnisvolle Familienereignisse anzuzeigen.392 In einer Nacht stellte man sämtliche Uhren im Schlosse - Vgl. Schillers Romanfragment "Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von Ofl" (1787-1789), dessen Einfluß auch auf andere Dichtungen Hoffmanns nachweisbar ist (vgl. z. B. "Die Elixiere des Teufels", Band 2 unserer Ausgabe). Auch dort werden, um den "Geisterseher" zu täuschen, "alle Uhren... mit Fleiß falsch gerichtet" (Erstes Buch).394 Schlacht bei W. — Gemeint ist die Schlacht bei Waterloo (18. Juni 1815), in der Napoleon J. von den vereinigten britischen und preußischen Heeren unter Wellington und Blücher geschlagen wurde.R— — Gemeint ist wahrscheinlich der schon in der Geschichte vom Einsiedler Serapion (vgl. S. 23) genannte Arzt Johann Christian Reil (1759-1813), der seit 1787 in Halle, seit 1810 in Berlin als Professor der Medizin tätig war. In seinen "Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen" (Halle 1803), die zu den von Hoffmann am häufigsten benutzten medizinischen Fachbüchern zählen, kritisierte er die bis dahin übliche Praxis, psychisch erkrankte Menschen in staatlichen "Tollhäusern" gewaltsam zu isolieren, und forderte statt dessen deren Behandlung durch Fachärzte.Die AutomateAm 5. Januar 1814, noch während seines Aufenthalts in Leipzig (10. Dezember 1813 bis 24. September 1814), vermerkte Hoffmann in seinem Tagebuch: "Die Automate' für die M[usikalische] Z[eitung] angefangen"; am folgenden Tag heißt es an den ,Aut[omaten]' gearbeitet - großer Fleiß!!" Über die Fortsetzung der Niederschrift finden sich fast täglich weitere Eintragungen - bis zum Notat vom 15. Januar: "Abends die ,Aut[omate]' geendigt... — gemütliche St[immung]Die Anregung zu seiner Geschichte erhielt Hoffmann durch eine modische Zeiterscheinung, die damals das öffentliche Interesse auf sich zog: figürlich gestaltete Automaten, die alle möglichen Verrichtungen lebender Wesen nachahmten, zuweilen sogar eine künstliche Intelligenz vortäuschten. Sowohl die technische Perfektion als auch das Unheimliche dieser mechanischen Kunststücke wirkten aufreizend auf die Phantasie des Dichters. — Hoffmann hatte solche "Maschinenmenschen" erstmals im Jahre 1801 im Danziger Zeughaus besichtigt; andere - so auch das Urbild seines "redenden Türken" (vgl. die zweite Anm. zu S. 396) — kannte er aus zahlreichen in Zeitschriften und Journalen erschienenen Beschreibungen und Berichten. Am 10. Oktober 1853 schließlich war er in Dresden bei einer Vorführung der vielbewunderten Kaufmannschen Automaten (vgl. die vierte Anm. zu S. 423) zugegen gewesen. Darunter befanden sich ein Trompeter sowie eine auf Klavier und Flöte Konzertstücke spielende Figur, deren Eindruck offenbar am stärksten nachwirkte.Das Dresdener Erlebnis hatte Hoffmann einen Tag nach Beendigung seines Dialog-Aufsatzes "Der Dichter und der Komponist". Da er sich ohnehin mit der Absicht trug, noch mehrere Episoden aus dem Leben des dort agierenden Freundespaares zu schreiben, übernahm er die Gestalten Ludwig und Ferdinand gleich für die Fabel, in die er das Automatenthema einzukleiden gedachte, das ihn nach den neu gewonnenen Eindrücken nicht mehr losließ.Angeblich hat Hoffmann bereits bei der Abfassung des neuen Stückes an eine Veröffentlichung in der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" (AMZ) gedacht, stellten doch die Musikautomaten ein Hauptkontingent unter den gezeigten mechanischen Attraktionen. Auch kam in der Handlung ein weiteres musikliterarisches Motiv hinzu: Der Autor hatte, angeregt durch mehrere entsprechende Notizen und Beschreibungen in der "AMZ" und in der "Zeitung für die elegante Welt", zusätzlich zum Thema der von ihm verabscheuten Automatenmusik die Frage der Neuentwicklung von Musikinstrumenten aufgegriffen (vgl. die zweite Anm. zu S. 421 sowie die dritte und vierte Anm. zu S. 423) und die zahlreichen Erfindungen auf diesem Gebiet mit der Suche nach dem "vollkommensten Ton", wie er durch Naturlaute (Sphärenmusik, Äolsharfe usw.) vorgegeben sei, in Verbindung gebracht. Hoffmann war sich bewußt, daß eine Erzählung von dieser ideellen Dimension eigentlich über das in den konventionellen Rahmen der Fachzeitschrift Passende hinausging. Deshalb fügte er dem Manuskript, das er am 16. Januar 1814 an den Redakteur Friedrich Rochlitz in Leipzig absandte, eine Erklärung bei, in derer die Aufnahme des Beitrages im voraus rechtfertigte. Darin heißt es: sowenig auch anfangs die ,Automate' der Tendenz der M. Z. zu entsprechen scheinen, so glaube ich doch, daß sie für diese Zeitschrift passen, weil ich Gelegenheit gefunden, mich über alles, was Automat heißt, auszusprechen, und also auch musikalische Kunstwerke der Art ganz vorzüglich beachte, nebenher auch.., manches über die neuesten Bemühungen der Mechaniker - über die Naturmusik - über den vollkommensten Ton - Harmonika - Harmonichord ppp sagen lasse, welches keinen schicklicheren Platz finden kann als eben in der M. Z. — Die Länge des Aufsatzes würde wohl dem Einrücken nicht entgegenstehen, da er ja in mehrere Stücke verteilt werden kann, doch überlasse ich alles Ew. Wohlgeboren Ermessen und bitte nur, falls wider Vermuten die Erzählung nicht eingerückt werden könnte, um baldige gütige Rücksendung des Manuskripts."

Im Antwortbrief, der postwendend eintraf, erbot sich Rochlitz dann auch nur dafür, einen "Auszug" zu publizieren, zumal ihm der Aufsatz für das musikalische Fachblatt zu umfangreich erschien. Dieser etwa ein Drittel des Gesamtmanuskripts ausmachende Teildruck (der erst mit dem Besuch der Freunde beim Professor X beginnt) erschien am 9. Februar 1814 (Jg. 16, Nr. 6). Die Unzufriedenheit mit der radikalen Kürzung veranlaßte Hoffmann, dem Torso eine erklärende Notiz sowie eine zusammenfassende Inhaltsangabe vorauszuschicken, die auf den größeren Zusammenhang aufmerksam machen sollten, in den er die "Automate"gestellt zu sehen wünschte. Die Bemerkung lautet:

"Die Leser der ,Musikalischen Zeitung' werden sich noch aus dem unlängst eingerückten Aufsatze ,Der Dichter und der Komponist' der

beiden Freunde, Ferdinand und Ludwig, erinnern, die nach langer Trennung der Krieg zusammenbrachte. In jener glücklichen, ruhigen Zeit, als sie ein gleicher poetischer Sinn und gleiches, echtes Kunststreben auf der Universität J. innigst verband, trug sich die wunderbare Begebenheit zu, von welcher das folgende Bruchstück dasjenige aushebt, was, von musikalischen Kunstwerken und von Erweiterungen im Gebiete der Tonkunst überhaupt handelnd und so das musikalische Publikum besonders interessierend, sich für diese Zeitschrift eignet. . — Hieran schließt sich ein Überblick über die dem Besuch der Freunde bei dem Professor vorhergehenden Ereignisse an.

Noch hielt Hoffmann an seiner Absicht fest, das Gesprächsstück "Der Dichter und der Komponist" und "Die Automate" im Rahmen eines größeren Werkes miteinander zu verbinden, weshalb er sich gleichzeitig mit der Absendung des Manuskripts an die "AMZ" mit dem Bamberger Verleger Kunz zu verständigen suchte, dem er den Vorschlag machte, diese noch durch analoge Beiträge zu ergänzenden beiden Geschichten als "Szenen aus dem Leben zweier Freunde, in drei bis vier Abteilungen" am Schluß des dritten Bandes der "Fantasiestücke in Cahots Manier" unterzubringen (vgl. S. 669). Da dieser Plan scheiterte, bemühte sich der Autor erst einmal um das Nächstliegende: den vollständigen Abdruck der Erzählung in einem Journal oder Almanach. Am 16. März 1814 erhielt er auf seine Anfrage von August Mahlmann, Redakteur der "Zeitung für die elegante Welt", eine zustimmende Antwort. Das Stück erschien ungekürzt als Fortsetzungsbeitrag im 14. Jahrgang des Leipziger Blattes, Nr. 68-75 vom 7. bis 16. April 1814, unter dem auch in der späteren Buchausgabe beibehaltenen Titel "Die Automate".

Wie in den meisten seiner Dichtungen, verbindet Hoffmann auch in dieser Geschichte die allgemeine Thematik - hier die aktuelle Tendenz des Automatenwesens - mit autobiographischen Zügen. Das für die gesellschaftliche Szenerie seiner Zeit Symbolische, das er in den tanzenden, sprechenden, musizierenden und orakelnden Maschinen in Menschengestalt erblickte, ist aus der eigenen Lebenserfahrung geschöpft und mit persönlichen Erinnerungen verknüpft. So heißt es zum Beispiel im Postskriptum zum Brief vom 16. Januar 1814 an Rochlitz ausdrücklich: "Die Erscheinung am Kurischen Halle sowie manches andere in dem Aufsatze ist Reminiszenz aus meinem frühern Leben in Ostpreußen."

Das Automatenhafte im täglichen Leben empfand Hoffmann schon recht früh - als "Akten- und Pflichtenmensch" während seiner juristischen Tätigkeit in Glogau, Posen, Plock und Warschau; und gegen diese Verkümmerung durch die ihm widerwärtigen Amtsgeschäfte sowie gegen die ihn umgebenden konventionellen Schranken der Philisterwelt führte er die heftigsten Klagen (vgl. den Brief an Theodor Gottlieb von Hippel vom 23. bis 25. Januar 1796; Band so unserer Ausgabe). Im Plocker Tagebuch heißt es unter dem 2. Oktober 1803: den ganzen Abend läppischerweise in Wieglebs ,Magie' [vgl. die zweite Anm. zu S. 396] gelesen und mir vorgenommen, einmal, wenn die gute Zeit dasein wird, zu Nutz und Frommen aller Verständigen, die ich bei mir sehe, ein Automat anzufertigen!"

Auch bedingt durch die späteren Erfahrungen und Beobachtungen in Bamberg, Dresden und Leipzig, reagierte Hoffmann auf das Spektakulum der mechanischen Nachbildung von Menschen mit höchstem Interesse und Abscheu zugleich; ihm erschien das "menschliche Nachäffen" durch "Standbilder eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens" gerade wegen der davon ausgehenden Faszination in mehrfachem Sinne poetisch relevant, ja herausfordernd. Das Unheimliche, das für ihn in solchen Erscheinungen des "Zeitgeistes"lag, verdichtete er zu lebensbedrohender Dämonie im "Nachtstück" "Der Sandmann" (vgl. Band 3 unserer Ausgabe), wo der Held durch eine "lebende Puppe" in den Wahnsinn getrieben wird; und in der Kreisler-Biographie des "Kater Murr"(vgl. Band 6 unserer Ausgabe) wird das Wunderwerk eines in einer Glaskugel orakelnden unsichtbaren Mädchens als Produkt von betrügerischer Geschäftemacherei und grausamer Menschenfolterung in die Handlung eingeführt.

Für "Die Automate" erwies sich dieser ideelle Rahmen als zu groß. Eine Auseinandersetzung mit Symptomen der Degeneration des Menschen zum Scheinlebewesen (Automatenmenschen) überforderte die gewählte Anlage und Form der Erzählung, was schließlich auch dazu führte, daß Hoffmann die Fabel des Stückes unvollendet ließ.

Ein Textvergleich zwischen dem Erstdruck in der "Zeitung für die elegante Welt" und der in der Buchausgabe der "Serapionsbrüder" von 1819 enthaltenen Fassung ergibt eine größere Anzahl von Lesarten; dennoch beschränken sich die vom Autor vorgenommenen Änderungen auf kleinere, zumeist stilistische Korrekturen (Umstellungen bzw. Streichungen).

396 Automate - Von Hoffmann als Plural gemeint.Der redende Türke - Die Beschreibung der Figur deckt sich weitgehend mit der Schilderung, die Johann Christian Wiegleb im Band z seiner "Magie" ("Joh[ann] Nic[olaus] Martius, Unterricht in der natürlichen Magie oder zu allerhand belustigenden und nützlichen Kunststücken, völlig umgearbeitet von Johann Christian Wiegleb.. .", Berlin und Stettin 1782 ff.) — einem Lieblingsbuch Hoffmanns in seiner Jugendzeit - von dem automatischen, "wie ein Türke gekleideten" Schachspieler gibt, den der Mechaniker Wolfgang von Kempelen (1734-1804) im Jahre 1769 in Preßburg gebaut hatte. Hoffmann kannte wahrscheinlich auch den Aufsatz "Über Herrn von Kempelens Schachspieler und Sprachmaschine" im "Teutschen Merkur" (Jahrgang 1784).398 der berühmte Zwerg Augusts, der aus der Pastete kroch - Dieses Kuriosum, das auch Ludwig Tieck in seinem Märchen "Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen" (1811) erwähnt, ist mehrfach überliefert (meist im Zusammenhang mit fürstlichen Festlichkeiten), nicht jedoch in bezug auf den sächsischen König August den Starken, auf den Hoffmann vermutlich anspielt. Wie der Dichter später in der Kreisler-Biographie des "Kater Murr" hervorhebt, soll auch in dem "redenden Türken" ein Zwerg versteckt gewesen sein.400 Mit Macbeths Worten... — Hoffmann zitiert hier frei nach Gottfried August Bürgers Übersetzung (1783), wo die Textstelle (III, 6) lautet: "Du hast keine Sehkraft in diesen Augen, mit denen du mich so anstarrst." In der vorerst nur siebzehn Stücke umfassenden Shakespeare-Übersetzung August Wilhelm Schlegels (9 Bände, 1797-1810). die Hoffmann sonst stets benutzte, war die Tragödie "Macbeth" nicht enthalten; erst die von Ludwig Tieck besorgte Neuausgabe (1825-1833) brachte das komplette dramatische Werk. Hier lautet die Passage (III, 4): "Du hast kein Anschaun mehr in diesen Augen, / Mit denen du so stierst."der Enslersche Voltigeur - Eine der automatischen Figuren, die J. C. Enslen (um 1782-1866), Professor an der Akademie der schönen Künste, ioder Französischen Straße in Berlin ausstellte.404 etwas aus meinem frühern Leben - Die folgende Passage hat autobiographischen Charakter und weist auf Stationen in Hoffmanns Leben hin.404 B. - Berlin, Hoffmann bezieht sich vermutlich auf seinen zweiten Berliner Aufenthalt (August 1798 bis Februar 1800).K. — Königsberg, wo Hoffmann geboren wurde und bis zu seiner Versetzung nach Glogau (Mai 1796) lebte.M. - Marienwerder, der zeitweilige Wohnsitz des Freundes Theodor Gottlieb von Hippel.Dormeusenvorrat - Vorrat an Schlafhauben.D., — Danzig, worauf auch der erwähnte Karlsberg (nördlich der Stadt) hindeutet. Hoffmann besuchte Danzig auf seiner Rückreise von Königsberg nach Posen im Jahre 1801 (vgl. auch die Novelle "Der Artushof").405 "Mio ben ricordati..." — (ital.) "Wenn es mit mir zu sterben kommt, / So denke dran, mein Schatz, Wie diese treue Seele Dich einst geliebt. / Vermag die kalte Asche / Auch noch zu lieben, / Noch in der Urne / Bet ich dich an!" (Übersetzung von Carl Georg von Maassen); Arie aus der Oper "Alessandro nell' Indic" (III, 7), gedichtet von Pietro Metastasio (vgl. die erste Anm. zu S. 112).406 Melismen - Melodische Verzierungen, Koloraturen.408 in B. legte ich mich... auf das Miniaturmalen -Durch die Begegnung mit dem Maler Aloys Molinary (1772-1831) war Hoffmann in seiner Glogauer Zeit (Juni 1796 bis August 1798) auf die Technik der Miniaturmalerei aufmerksam geworden, die er dann während des ersten Berliner Aufenthaltes (August 1798 bis Februar 1800) in seinen eigenen Zeichnungen mit Vorliebe anwandte.410 Alräunchen -Vgl. die zweite Anm. zu S. 365. Automaten im Danziger Arsenal - Hoffmanns Schilderung der im Danziger Zeughaus ausgestellten Automaten deckt sich weitgehend mit dem Bericht in "Johann Bernoullis Reisen durch Brandenburg, Pommern, Preußen, Kurland, Rußland und Polen in den Jahren 5777 und 1778" (Band 1. Leipzig 1779, S. 339). Mavors - Der römische Kriegsgott Mars.412 Professor X. ... Hofrat B— — Doppelte Anspielung auf Gottfried Christoph Beireis (1730-1809), Professor der Physik und Medizin in Helmstedt, der als Polyhistor, Kuriositätensammler (vgl. auch die zweite Anm. zu 5. 419) und Scharlatan ein "angestauntes Rätsel seiner Zeit" war. Goethe zählte ihn zu den Menschen. die immer "die beste Gelegenheit finden, sich in geheimnisvolles Dunkel zu hüllen, Geister zu berufen und am Stein der Weisen zu arbeiten" ("Tag- und Jahreshefte'1, 1805). Hoffmann hat Beireis auch in seinem "Fantasiestück" "Der Magnetiseur" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe) glossiert.415 geistigen Rapport -Vgl. die dritte Anm. zu S. 322. so wie uns oft im Traum eine fremde Stimme über Dinge belehrt, die wir gar nicht wußten - Hoffmann stützt sich auch hier wieder auf die ihm geläufige psychiatrische Fachliteratur. In Johann Christian Reils "Rhapsodien (vgl. die zweite Anm. zu S. 394) heißt es unter dem Stichwort "Sonderbare Art von Träumen" zum "Phänomen der Fremdbelehrung" (als Affektion des Nervensystems im Traumzustand): "Die Schauspieler [Personen im Traum] treten auf, die Rollen werden verteilt; von denselben nimmt der Träumer nur eine, die er mit seiner Persönlichkeit verbindet. Alle andere Akteurs sind ihm so fremd wie fremde Menschen, ob sie gleich so wie alle ihre Handlungen Geschöpfe seiner eigenen . . Phantasie sind" (Paragraph 9).416 "Mio ben ricordati. —Vgl. die Anm. zu S. 405.419 wie die Lehrlinge zu Sais - Anspielung auf Novalis' Romanfragment "Die Lehrlinge zu Sais" (5802), in dem der Dichter seine romantisch-schwärmerische Auffassung von der Natur entwickelt, deren Geheimnis und tieferen Sinn der Mensch ausschließlich intuitiv (als Mysterium) ergründen könne.Vaucansonsche Maschine - Ein von dem französischen Mechaniker Jacques de Vaucanson (1709-1782) gebauter automatischer Flötenspieler, dessen Repertoire zwölf Stücke umfaßte. Er wurde zum erstenmal am Ostersonntag 1738 in Paris vorgeführt und gelangte später auf einer Auktion in den Besitz von Gottfried Christoph Beireis (vgl. die Anm. zu S. 452), der damit großes Aufsehen erregte. Hoffmann kannte die Beschreibung aus Wieglebs "Magie" (vgl. die zweite Anm. zu S. 396).so daß der lebendige Tänzer die tote hölzerne Tänzerin faßte - Vgl. das (später entstandene) "Nachtstück" "Der Sandmann" (Band 3 unserer Ausgabe), wo Hoffmann dasselbe Motiv ausführlich behandelt.421 Harfenuhr - Eine Pendeluhr, deren Werk mit einer Harfe gekoppelt war, die zu jeder vollen Stunde erklang.viele neue Instrumente, zum Teil unter seltsamen oder prunkenden Namen - In der zeitgenössischen Fachliteratur finden sich auffallend viele Namen von neu erfundenen Musikinstrumenten; die Entdeckungen auf diesem Gebiet hatten einen erstaunlichen Umfang angenommen und galten als Eigentümlichkeit "romantischer Lebensart". Von den allein inder "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" und in der "Zeitung für die elegante Welt" besprochenen Neuschöpfungen seien die folgenden genannt: das Xylosistrion und Xylharmonicon von Andreas Uthe, das Triphon von Weidner, das Melodion von Dietz, das Uranion und Terpodion von J. D. Buschmann, das Panmelodion von Leppich, das Chordaulodion von Kaufmann (vgl. auch die vierte Anm. zu S. 423).422 Worte eines geistreichen Schriftstellers -(Schubert...) — Hoffmann zitiert in der folgenden Passage frei nach Gotthilf Heinrich Schubert, "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft", Dresden 1808, S. 4ff.Sage von der Sphärenmusik - Scipios Traum" — Vgl. die erste Anm. zu S. 370.Luflmusik oderTeufelsstimme, auf Ceylon, - Dieses "merkwürdige Phänomen" beschreibt Schubert in seinen "Ansichten.. a. a. O., S. 64 f. Dort heißt es: "Es läßt sich diese Naturstimme vorzüglich in stillen heitren Nächten ... hören. Sie hat es mit elektrischen Lufterscheinungen gemein, daß sie mit Blitzesschnelle bald wie aus ungeheurer Ferne, bald ganz in der Nähe vernommen wird. Am meisten Ähnlichkeit hat sie mit einer tiefen klagenden Menschenstimme, hierbei aber pflegt sie ... eine so tiefe Wirkung auf das menschliche Gemüt zu äußern, daß selbst die ruhigsten und verständigsten Beobachter, welche die natürliche Entstehung dieser Naturbegebenheit wohl einsehen, sich eines tiefen Entsetzens und gleichsam eines zerschneidenden Mitleids mit jenen den menschlichen Jammer so entsetzlich nachahmenden Naturtönen nicht erwehren können."423 kleine Terz - Auf der diatonischen Tonleiter dreistufiges Intervall zwischen einem Ganz- und einem Halbton (c-es).Septimenakkord - Ein dissonanter Vierklang aus Grundton, Terz, Quinte und Septime (erster, dritter, fünfter und siebenter Stufe der diatonischen Tonleiter).Harmonika - Gemeint ist die Glocken- oder Glasharmonika, ein im späten si.. und frühen 59. Jahrhundert beliebtes Musikinstrument mit großem Tonumfang (vier Oktaven). Es bestand aus einer auf einem festen Gestell angebrachten Walze mit aneinandergereihten halbkugelförmigen Glasglocken, die, mit den Fingerspitzen berührt, einen ungewöhnlich zarten, "mystischen" Klang erzeugten.423 Harmonichord - Ein von den Dresdener Mechanikern Johann Gottfried (1752-1818) und Friedrich Kaufmann (1785-1866) erfundenes Musikinstrument, das die Klangeigenschaften der Glasharmonika mit denen des Bogenklaviers vereinigte. Vater und Sohn erregten damit auf Gastspielen in zahlreichen Orten Deutschlands großes Aufsehen.424 Äolsharfe - Ein schon im Altertum bekanntes, im 17. Jahrhundert wiederentdecktes Saiteninstrument. das sich im 18. und frühen 29. Jahrhundert erneut großer Beliebtheit erfreute. Es bestand aus einem mit Schallöchern versehenen Resonanzkörper, über den acht bis zwölf auf den gleichen Ton gestimmte Darmsaiten von unterschiedlicher Stärke gespannt waren, auf denen der an- und abschwellende Wind variable Dreiklangharmonien (aus dem Grundton und seinen Obertönen) erzeugte. Eine eindrucksvolle Beschreibung dieser außergewöhnlichen Klangwirkung gibt Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) in seinem Aufsatz "Von der Äolsharfe" ("Vermischte Schriften", Band 5, Göttingen 1803).Wetterharfe - Hoffmann beschreibt sie in einer Fußnote im Zweiten Abschnitt seines Romans "Lebensansichten des Katers Murr" (vgl. Band 6 unserer Ausgabe) folgendermaßen: "Der Abt Gattoni zu Mailand ließ von einem Turme zum andern funfzehn eiserne Saiten ausspannen und dergestalt stimmen, daß sie die diatonische Tonleiter angaben. Bei jeder Veränderung in der Atmosphäre erklangen diese Saiten stärker oder schwächer, nach dem Maß jener Veränderung. Man nannte diese Äolsharfe im Großen Riesen- oder Wetterharfe."425 "Mio ben ricordati.. —Vgl. die Anm. zu S. 405.428 K. — Königsberg. (Vgl. auch S. 404.)P. — Vermutlich Petersburg.Gespräch über die Oper - Gemeint ist der Dialog "Der Dichter und der Komponist" im Ersten Abschnitt der "Serapionsbrüder" (S. 92ff.). Über den Zusammenhang zwischen diesem Stück und der Erzählung "Die Automate" vgl. S. 669 und S. 721 ff.429 Goethes ,Nußbraunem Mädchen'! — Die Novelle "Das nußbraune Mädchen" aus Goethes erst im Jahre 1821 erschienenen Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" (Erstes Buch, Elftes Kapitel) war Hoffmann bekannt durch den Vorabdruck in Cottas "Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1816"(S. I—34).429 das Goetbescbe Fragment jenes allerliebsten Märchens — Gemeint ist Goethes Märchen "Die neue Melusine" aus dem Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" (Drittes Buch, Sechstes Kapitel), das ebenfalls im "Taschenbuch für Damen". und zwar in den Jahrgängen 1817 und 1819, als Vorabdruck erschienen war.Doge und DogaresseZur Entstehung dieser Erzählung bemerkt Hoffmann selbst, "daß ihn das hübsche Bild unseres wackern Kolbe zu dem Ganzen begeistert", während als Quellenwerk für den historischen Stoff "Le Brets ,Geschichte von Venedig' immer aufgeschlagen auf dem Tische" gelegen habe. Zur Unterstützung bei der Zeichnung des Lokalkolorits sei "das ganze Zimmer... mit pittoresken Ansichten von den Straßen und Plätzen Venedigs geschmückt" gewesen, "die er Gott weiß wo überall aufgetrieben" (vgl. S. 484).Bei dem "hübschen Bild", das die "novellistische Historie" anregte, handelt es sich um ein Ölgemälde von Karl Wilhelm Kolbe (vgl. die erste Anm. zu S. 430), das Hoffmann im November 1816 beim Besuch der Berliner Kunstausstellung sah. Es stellte einen Dogen und seine Gemahlin dar und war im Ausstellungskatalog unter dem Titel "Doge und Dogaresse"aufgeführt. Angeregt durch den "besonderen Zauber" des Bildes, übernahm Hoffmann die Bezeichnung Kolbes (mit dem er später persönlich in Verbindung trat) als Überschrift für seine Erzählung und suchte in der von dem Stuttgarter Gymnasialprofessor Johann Friedrich Le Bret (1732-1807) verfaßten "Staatsgeschichte der Republik Venedig, von ihrem Ursprunge bis auf unsere Zeit, in welcher der Text des H. Abts l'Augier zum Grunde gelegt, seine Fehler aber verbessert und neue Zusätze beigefüget werden" (3 Teile; Leipzig und Riga 1769-1777) — die er sich vermutlich (wie mehrere seiner Quellen) durch den befreundeten Berliner Leihbuchhändler Friedrich Kralowsky besorgen ließ — nach einem ergiebigen und interessanten Stoff zur poetischen Ausgestaltung der dargestellten Szenerie. Er fand schließlich in dem Bericht über das Schicksal des noch im Greisenalter zum Dogen gewählten venezianischen Patriziers Falieri (vgl. die erste Anm. zu S. 432) ein (übrigens später auch von zahlreichen anderen Autoren, z. B. Lord Byron und Otto Ludwig gestaltetes) Sujet, das ihn so überzeugte, daß er im Text den "fremden Maler" sagen läßt: "Kolbe mag vielleicht selbst noch nicht wissen, daß er auf dem Bilde.., niemanden anders darstellte als den Dogen Marino Falieri und seine Gattin Annunziata."

Die "Staatsgeschichte. Le Brets vermischt Historisches mit Legendärem; sie folgt darüber hinaus der traditionellen venezianischen Historiographie, die sich in vielen ihrer Chroniken durch die fast amtliche Tendenz auszeichnet, den Ruhm und Glanz der Marcus-Republik vorbehaltlos zu verbreiten. Hoffmann hat sich beider Gestaltung des historischen Hintergrundes seiner Erzählung eng an die Quelle angelehnt, ja wohl überhaupt keine andere Vorlage zum Vergleich hinzugezogen. Die "kunstvoll in Szene gesetzte"eigentliche Fabel indes - die Liebesgeschichte von der mädchenhaften Dogaresse (die historische war zu diesem Zeitpunkt bereits über fünfzig Jahre alt) und dem armen Gondoliere, dem Haupthelden Antonio (der in der Chronik nur beiläufig erwähnt wird) — ist ganz seine eigene Erfindung. Dichterische Fiktion ist auch das alte Bettelweib Margareta, Antonios ehemalige Amme, deren Teilhabe am Geschehen die Handlung vorantreibt und die mit ihrer somnambulen Fähigkeit, künftige Ereignisse vorauszusehen, das dämonische Element in der tragisch endenden Erzählung verkörpert. Im übrigen weicht Hoffmann - bei aller äußeren Parallelität - immer dann von seiner Quelle ab, wenn es die poetische Geschlossenheit seiner Geschichte erfordert. So teilt er zum Beispiel den Gestalten Marino Bodoeri und Bertuccio Nenolo maßgebliche Rollen und Funktionen zu (vgl. die Anm. zu S. 480), während er den chronistischen Bericht über die politischen Ereignisse -Verschwörung, Staatsstreich und Prozeßverlauf - frei variiert und stark verkürzt wiedergibt.

Die Erzählung wurde erstmals in dem in der Verlagsbuchhandlung der Brüder Wilmans in Frankfurt a. M. erscheinenden "Taschenbuch auf das Jahr 1819. Der Liebe und Freundschaft gewidmet" veröffentlicht, dessen Redakteur, Dr. Stephan Schütze, Hoffmann am 20. (?) November 1816 zur Mitarbeit aufgefordert hatte. Ursprünglich war sie für den (im Herbst 1817 ausgelieferten) Jahrgang 1818 des Journals vorgesehen gewesen, konnte jedoch darin keine Aufnahme mehr finden, da Hoffmann sich mit der Fertigstellung verspätet und die Arbeit wahrscheinlich erst im Sommer 1817 abgeschlossen hatte. Der in der

Buchausgabe der "Serapionsbrüder" von 1819 gedruckte Text unter-' scheidet sich von der Erstveröffentlichung lediglich durch eine Reihe kleinerer stilistischer Verbesserungen.430 C. Kolbe - Karl Wilhelm Kolbe der Ältere (1757-1835), Maler und Zeichner; seit 5793 Schüler Daniel Chodowieckis (1726-1801) an der Berliner Akademie der Künste, deren Mitglied er 1815 wurde. Kolbe vertrat die romantische Richtung innerhalb der Berliner Malerei; seine effektbetonten Bilder fanden bei den Zeitgenossen großen Anklang.San Marco - Die Markuskirche an der Ostseite des Markusplatzes in Venedig.San Giorgio Maggiore - Eine der vielen Kuppelkirchen Venedigs. (Sie wurde erst zwischen 1560 und 1575 erbaut, was Hoffmanns Annahme widerlegt, das Kolbesche Bild beziehe sich auf den Dogen Fallen.)431 Flagge mit dem geflügelten Löwen - Die Flagge mit dem Wappentier der Republik Venedig ist auf Kolbes Gemälde zu sehen. Turandots Rätsel von dem Adriatischen Löwen - Rätsel aus dem satirischen Märchenspiel "Turandot. Ein chinesisches tragikomisches Theatermärchen in fünf Akten" (1764; II, 5) des italienischen Lustspieldichters Carlo Graf Gozzi (1720-1806), das Hoffmann in seinen Dichtungen mehrfach erwähnt (vgl. "Seltsame Leiden eines Theaterdirektors"; Band 3 unserer Ausgabe)."Dimmi, qual sia quella terribil fera" etc. — (ital.) "Was für ein Tier ist's, das auf vieren Das Land betritt gleich andern Tieren / Und durch die Luft als Vogel fliegt, / Die Welt erschreckt und sie besiegt? / Die starken feuervollen Hüften / Läßt es im Ozean verlüflen; / Mit voller Brust und Vorderklaun / Drückt es die blumenreichen Aun. / Der holde Schatten seiner Flügel / Lacht auf des Meeres blauem Spiegel / Und auf der Küste weitem Grün: / Den neuen Phönix, nenn mir ihn!" (Nach der ersten deutschen Übersetzung der "Theatralischen Werke von Carlo Gozzi" von F. A. C. Werthes, Bern 1777-1779.)"Tu quadrupede fera" etc. — "Du, vierfüßig und zugleich geflügelt Tier, das die Welt erschreckt und besiegt, das Meer und die Erde bewohnt, mit deiner ungemeßnen Flügel seligem Schatten der Segen des Landes und das Glück des Meers, der Stolz deiner Söhne, du neuer Phönix bist der Adriatische Löwe." (Ebenfalls nach der Übersetzung von Werthes.)432 Falieri - Maria Graf de Val de Marina (Marino) Falieri (um 1280-1355), einflußreicher venezianischer Staatsmann, Heerführer und Diplomat; seit 1354 Doge der Republik San Marco, die er durch einen geschickt ausgehandelten Waffenstillstand mit dem verfeindeten, rivalisierenden Genua vor dem Untergang rettete. Als Falieri 1355 gewaltsam versuchte, das konservative System der Adelsdiktatur durch seine Alleinherrschaft abzulösen, wurde er von den Nubiles auf Grund der geltenden Verfassung abgesetzt und hingerichtet (vgl. S. 482 und die dritte Anm. dazu).im Monat August des Jahres eintausenddreibundertundvierundfünfzig... — Hoffmann folgt bei der Darstellung der historischen Ereignisse vorbehaltlos Le Brets "Staatsgeschichte der Republik Venedig.. ." (Zweiter Teil, Erste Abteilung, a. a. O., S. ff.; vgl. S. 720).Paganino Doria -Angehöriger eines der ältesten Adelsgeschlechter Genuas; 1354 Admiral der genuesischen Flotte. Parenzo - Hafenstadt am Adriatischen Meer.Signorie - Signoria (ital. Herrschaft): In den oberitalienischen Städten vom 13. bis 16. Jahrhundert aus Interessenvertretern der reichen Kaufleute zusammengesetzter Rat der Bürgerschaft. In Venedig war die aus sechs Nubiles bestehende Signoria (der Kleine Rat) im 14. Jahrhundert das höchste Machtorgan der Aristokratie; sie überwachte die Amtsführung des Dogen, entschied Kompetenzfragen zwischen den Gerichtshöfen und hatte (neben dem Dogen) das alleinige Vorschlagsrecht im Großen Rat (vgl. die erste Anm. zu S. 442). — Hoffmann verwendet die Bezeichnung "Signorie" auch allgemein für "Adel".San Nicolo - Rio San Nicolo: Alte Hafenanlage am Canale di Fusina im Südwesten Venedigs.Rialto - Gemeint ist die 1264/65 aus Holz erbaute erste Rialtobrücke, die beide Hälften der Stadt miteinander verband.433 Dandulo - Andrea Dandulo (gest. 1354), seit 1342 Doge von Venedig (Vorgänger Marino Falieris). Unter seiner (wenig energischen) Herrschaft waren im Jahre 1350 die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Genua erneut ausgebrochen. nach Avignon ... Papst Innozen: — Nach dem Willen der französischen Könige, die im Verlauf der feudalen Kämpfe des Hochmittelalters ihre Macht gefestigt und sich dem imperialen Hegemonieanspruch der Kurie erfolgreich widersetzt hatten, mußten die Päpste vorübergehend ihre Residenz von Rom nach Avignon (in den Einflußbereich Frankreichs) verlegen. Diese "Babylonische Gefangenschaft", während der sie der französischen Politik als gefügiges Werkzeug dienten, dauerte von 1309 bis 1377. — Innozenz VI., um den es sich hier handelt, war von 1352 bis 1362 Papst.434 Proveditor - Provveditore: In der Republik Venedig Titel für einen hohen Beamten. hier für den Befehlshaber der Flotte. Prokurator - Titel der neun höchsten Staatsbeamten Venedigs, die den überaus reichen Kirchenschatz von San Marco verwalteten.Morbassan - Heerführer im Dienst des Emirs von Ionien. (Hoffmann hat diesen und die folgenden Namen seiner Quelle entnommen.)435 Nicolo Pisani - Der Patrizier Niccola Pisani war unter dem Doganat Andrea Dandulos sowie Marino Falieris Admiral der venezianischen Flotte.Podesta -Vgl. die erste Anm. zu S. 444.Chioggia - Südliche Vorstadt von Venedig.St. Clemens - Kleine Insel südlich von Venedig.Bucentoro - Prunkvolles Staatsschiff (vgl. auch die vierte Anm. ZU S. 442).Dogana -Dogana del mare: Seezollamt. Das im 53. Jahrhundert errichtete Gebäude (im Süden der Stadt) war mit Säulen aus griechischem Marmor versehen.436 Antonio - Vgl. S. 725. Le Bret berichtet in seiner Chronik von einem "Antonio Dalebinder, einem Deutschen".437 Franziskanerkirche - Wahrscheinlich Santa Maria Gloriosa dci Frari, die zweitgrößte Kirche Venedigs.Quattrino - Venezianische Silbermünze von geringem Wert.Hinüber -nach dem Kloster -Vgl. die Anm. zu 5.450.Zecca - Ein nach der dort befindlichen Münzstätte benannter Platz, auf dem der Fischmarkt abgehalten wurde.Limoniensaft - Zitronensaft.438 Fontego - Fondaco dci Tedeschi: Seit dem 53. Jahrhundert das Warenhaus der deutschen Kaufleute (am Canale Grande), mit denen Venedig Handel trieb.438 San Sebastian - San Sebastiano: Südwestlicher Außenbezirk Venedigs.440 durch die zwei Säulen -wo gewöhnliche Missetäter hingerichtet zu werden pflegen - Das Überqueren der Hinrichtungsstätte zwischen den zwei Granitsäulen auf der Piazzetta (einem kleinen Platz, der im Südosten an den Markusplatz anschließt) galt nach Le Bret als böses Omen- das Volk ließ sich den Verdacht nicht benehmen, Paliers Regierung müßte eine der unglücklichsten sein."Palastes. - Der Dogenpalast (Palazzo Ducale) an der östlichen Längsseite der Piazzetta.442 Großen Rat - Im ausgehenden 12. Jahrhundert entstandenes Repräsentantenhaus der venezianischen Aristokratie, dessen Mitglieder (zwischen 300 und z zoo) sich seit 1297 nur noch aus den bis dahin vertretenen altadligen Familien rekrutieren durften. Der Große Rat hatte in bestimmten Staatsangelegenheiten (u. a. bei Kriegserklärungen und Friedensschlüssen) das Entscheidungsrecht über Anträge und Vorlagen des Dogen und des Kleinen Rates (vgl. die fünfte Anm. zu S. 432).den kecken Doria - Vgl. die dritte Anm. zu S. 432. der ungarische Ludwig - Ludwig I., der Große (1326-1382), seit 1342 König von Ungarn; führte 1347, 1356 und 1378 Kriege gegen die Republik Venedig. Von Genua unterstützt, erhob er Ansprüche auf (das in venezianischem Besitz befindliche) Dalmatien und die Herrschaft im adriatischen Raum; unter seiner Regierung erreichte die Machtstellung Ungarns auf dem Balkan einen Höhepunkt.seltsamen Feierlichkeit am Himmelfabrtstage - Gemeint ist das Fest der "Vermählung des Dogen mit dem Meere", das alljährlich zur Erinnerung an den Himmelfahrtstag des Jahres 1000 gefeiert wurde, an dem der Doge Pietro II. Orseolo (991-1000) mit einer Flotte ausgelaufen war, um durch die Eroberung von Istrien und Dalmatien den Machtbereich Venedigs zu erweitern und die Oberherrschaft der Adelsrepublik im adriatischen Raum zu festigen. Höhepunkt des Festes war die symbolische Ausfahrt des prunkvoll geschmückten Staatsschiffes (Bucentoro), wobei der Doge mit den Worten "Desponsamus te mare in signum yen perpetuique dominii" (Wir verloben uns mit dir, Meer, zum Zeichen wahrer und ewiger Herrschaft) einen Ring in die Wellen warf.444 Podesta - Inhaber der höchsten vollziehenden Gewalt in den italienischen Stadtstaaten des Mittelalters. Das Amt wurde im 14. Jahrhundert in zahlreichen Städten des Festlandes von venezianischen Patriziern ausgeübt. Dadurch entstand ein Netz von Verbindungen, das den politischen und wirtschaftlichen Einfluß der Inselrepublik in Oberitalien verstärkte und die Grundlage für spätere Annektionen schuf. (Treviso und das umliegende Gebiet kamen 1389 in den Besitz Venedigs.)Bertuccio Nenolo - Vgl. S. 479ff. und die Anm. zu S. 480.449 figliuolo. - (ital.) Junge.als eines Tages die Erde zu beben begann... — Das Erdbeben hat nach Le Brets Bericht am 25. Januar 1347 stattgefunden.das herannahende Ungeheuer - Gemeint ist die Pest-Epidemie von 1348, die "in der Tartarei ihren Anfang nahm und sich über ganz Romanien ausbreitete" (Le Bret). Zahlreiche Familien starben damals aus; selbst die dringendsten Regierungsgeschäfte konnten nur noch sporadisch erledigt werden.per il figliuolo - (ital.) für den Jungen.450 nach der Giudecca in das Kloster San Giorgio Maggiore - Das Benediktinerkloster befindet sich nicht auf der Insel Giudecca. sondern auf der benachbarten Insel San Giorgio Maggiore (gegenüber dem Markusplatz).452 aus dem Blut entsprießen Rosen - Dasselbe Motiv verwendet Hoffmann in seinem Roman "Die Elixiere des Teufels" (vgl. Band z unserer Ausgabe).Säule...,die den Adriatischen Löwen trägt - Die eine der beiden Säulen auf der Piazzetta (vgl. die erste Anm. zu S. 440) trägt das Standbild von Venedigs Schutzpatron Sankt Theodor, die andere das Sinnbild der Stadtrepublik: den geflügelten Löwen.455 Ciarlatani - (ital.) Scharlatane, Quacksalber.458 Michaele Steno - Venezianischer Patrizier, nach Le Brets Chronik "ein Mann von großem Anhang, der ebendamals die wichtige Stelle eines Hauptes des Rates der Vierzig bekleidete"; im Jahre 1400 wurde er zum Dogen gewählt.Rats der Vierzig. - Quarantie: Venezianischer Appellationsgerichtshof für allgemeine bürgerliche Rechtsangelegenheiten; letzte Instanz in Zivil- und Strafprozessen. Er entschied auch alle Fälle, die der Rat der Zehn (vgl. die zweite Anm. zu S. 470) abgewiesen hatte.458 der in Treviso...dem Bischof ins Gesicht schlug - Le Bret berichtet in seiner Chronik, daß Falieri in seiner früheren Eigenschaft als Podesta von Treviso (vgl. die erste Anm. zu S. 444) 1294 den Bischof der Stadt wegen einer eingetretenen Verzögerung bei der Fronleichnamsprozession öffentlich beschimpft und "in Gegenwart aller Edelleute der Stadt" geohrfeigt habe.Morbassan - Vgl. die dritte Anm. zu S. 434.459 Schlacht...bei Portelongo - In der Seeschlacht bei Portolongo (auf der Insel Sapienza im Südwesten des Peloponnes) erlitt die venezianische Flotte (unter Niccola Pisani) am 4. November 1354 eine Niederlage gegen die Genueser (unter Paganino Doria).460 Giovedi grasso - (ital.) Fetter Donnerstag; der letzte Donnerstag vor Fastnacht. Das beschriebene Volksfest wurde zur Erinnerung an den Tag der Gefangennahme des Patriarchen von Aquileja und zwölf seiner Chorherren (52. Jahrhundert) gefeiert, die unter der Bedingung freigelassen worden waren, den Venezianern jährlich einen Ochsen (für den Patriarchen) und zwölf Schweine (für die Chorherren) zu schicken. (Aquileja, einst bedeutender Handelsplatz und Kulturzentrum, hatte seitdem ständig an Bedeutung verloren; 1421 wurde die Stadt auch territorial von Venedig vereinnahmt.)464 Bertuccio Nenolo -Vgl. S. 479ff. und die Anm. zu S. 480.469 "Il dose Falier della bella maier. - Die Verse stammen aus Le Brets Chronik; dort lautet die Übersetzung: "Das ist Doge Falier, der die schöne Frau hat. / Andere genießen sie, und er unterhält sie."470 vecchio Pantalone - (ital.) der alte Pantalon (vgl. die Anm. zu S. zu).Rate der Zehen - Oberster venezianischer (Staats-)Gerichtshof für politische Angelegenheiten, gegründet 1310. Er setzte sich ausschließlich aus Vertretern der privilegierten Nobiles zusammen: dem Dogen (als ständigem Präsidenten), seinen sechs Räten, die alle acht Monate ausgewechselt wurden, und jenen zehn alljährlich vom Großen Rat (vgl. die erste Anm. zu S. 442) gewählten Senatoren, nach denen das Tribunal benannt war. Der Rat der Zehn war ermächtigt, alle eines "Staatsverbrechens" angeklagten Personen, selbst den Dogen, in letzter Instanz zu verurteilen (vgl. S. 482).Quarantie - Vgl. die zweite Anm. zu S. 458.475 Gemahl des Meers? -Trauring - Vgl. die vierte Anm. zu S. 442.476 "Ab! senza amare"— Vgl. S. 430.Bucentoro -Vgl. die fünfte Anm. zu S. 435.Peter Urseolus des Zweite - Pietro II. Orseolo; vgl. die vierte Anm. zu S. 442.trat der Alte, die Dogaressa an der Seite, heraus auf die Balustrade... — Hoffmann beschreibt hier das Gemälde von Kolbe (vgl. S. 720).San Giorgio Maggiore -Vgl. die Anm. zu S. 450.479 Verschwörung - in Falieris Hause auf der Giudecca beschlossen - Eine mit Rücksicht auf die von Kolbe dargestellte Szenerie von Hoffmann erfundene Situation. Der Palast Falieris befand sich nicht auf der Insel Giudecca, sondern in der Nähe der Brücke von Santo Apostoli (nördlich des Canale Grande).Fontego, - Hausmeister des Fontego (vgl. die erste Anm. zu S. 438).480 Es ist bekannt... — Bei der Schilderung der Ereignisse im Zusammenhang mit dem geplanten Staatsstreich weicht Hoffmann mehr als bisher von seiner Quelle ab. Zwar übernimmt er den Streit zwischen Dandulo und Admira! Nenolo sowie das Komplott zwischen Falieri und Nenolo von Le Bret, die Verbindung von Nenolo (den er in die Fabel von den beiden Liebenden einbezieht) und Bodoeri (der in der Chronik nicht unter den Verschwörern genannt, ja überhaupt nur beiläufig erwähnt wird) ist jedoch erfunden. (Nach der neuesten Geschichtsforschung war übrigens nicht Nenolo, sondern Bertuccio Fallen, der Neffe des Dogen, Organisator der für die Nacht vom 15. zum 16. April 1355 vorgesehenen Aktion gegen die venezianische Adelsoligarchie.)481 einen Pelzhändler aus Pisa, Bentian geheißen, - Neuere Geschichtswerke nennen als Verräter der Verschwörung einen Kürschner Vendrame und einen Matrosen namens Marco Negro.Markusturm -Arsenaltruppen - Nach Le Brets Schilderung ließ der Rat der Zehn den Markusturm "in aller Stille" besetzen. "damit niemand die Glocken ziehen konnte", und die ..Arsenalotten" (Arbeiter des Arsenale grande, wo Kriegsschiffe und -geräte produziert wurden) gegen die Aufständischen mobilisieren.482 Rat der Zehen...Todesurteil über die Häupter der Verschwornen -Vgl. die zweite Anm. zu S. 4"o.482 auf dem kleinen Platze - auf der Piazzetta (vgl. die erste Anm. ZU S. 440).Falieri -verurteilt - Le Bret gibt in seiner Chronik eine ausführliche und detaillierte Schilderung des Prozeßverlaufs sowie der Hinrichtung des Dogen (57. April 5355). Die "Riesentreppe des Palastes" (Scala dci giganti) allerdings, auf der das "Schauspiel" stattgefunden haben soll, wurde erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts erbaut. (Hoffmanns Fehlorientierung geht auf seine Quelle zurück.)483 Chiozza - Gemeint ist Chioggia (vgl. die dritte Anm. zu S. 435).Vierter Abschnitt486 Professor Titel -Pater Sgambari - Frau des Trallianus... meine Nase sei von Glas - Die angeführten Beispiele hat Hoffmann den "Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen" (Halle 1803; Kap. "Fixer Wahn, partieller Wahnsinn, Melancholie", S. 352, 316, 335, 342) von Johann Christian Reil (vgl. die zweite Anm. zu S. 394) entnommen, der seinerseits auf die verschiedensten Quellen zurückgreift. — Trallianus: Alexander von Tralles (6.Jahrhundert), griechischer Mediziner in Rom; die Episode von der Frau, die "den Mittelfinger nicht krumm machte, weil sie glaubte, die Welt stütze sich auf denselben" (Reil), stammt aus seiner Schrift "De arte medica" (Über die medizinische Kunst; I, 16).486 der kleine Schotte Donald Monro - Er wird erwähnt im "Allgemeinen Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften" (1792 ff., Band 5, S. 33) von Immanuel David Mauchart (1764-1826).anima sensitiva - (lat.) empfindsame Seele.Chevalier d'Epernay - "Der Ritter d'Epernay verlor unmittelbar nach einer viermonatlichen Geistesbeschäftigung, ohne irgendeinen vorhergegangenen Krankheitszufall, den Bart, die Augenwimpern, die Augenbraunen, die Kopfhaare, kurz - alle Haare am ganzen Leibe" (Samuel Christoph Wagener, "Galerie wunderbarer Menschen und menschlicher Schicksale oder Skizzen aus dem Leben merkwürdiger Menschen . .", Magdeburg 1810, S. 63).486 Methode des Boerhaave, des Mercurialis, des Antius von Amida, des Friedrich Kraft, des Herrn Richter - Hoffmann hat diese Liste von angeblichen Verfechtern der "Prügeltherapie" vermutlich "irgendeinem kuriosen Büchlein" (Carl Georg von Maassen) entnommen. Historisch nachweisbar sind: Hermann Boerhaave (1668-1738), niederländischer Theologe, Philosoph und Mediziner; Aetius aus Amida (in Mesopotamien; 6. Jahrhundert), christlicher Arzt in Byzanz, Verfasser eines Werkes über Pathologie; Geronimo Mercuriali (Hieronymus Mercurialis; 1530-1606), italienischer Arzt, bekannt durch seine textkritischen Ausgaben von klassischen medizinischen Werken (darunter die des Hippokrates).in meinem zwölften Jahre "Werthers Leiden" gelesen . — Ironische Anspielung auf das "Werther-Fieber" des späten 18. Jahrhunderts. Vor allem viele Jugendliche ahmten nach der Lektüre von Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werthers" (1774), in dem sie ihre reale Lebensproblematik gestaltet sahen, den an gesellschaftlichen Konventionen zerbrechenden und Selbstmord begehenden Helden in sentimentaler und unkritischer Weise nach.nach Rhases und Valuscus de Taranta - Prügel als Heilmittel bei Liebeskummer empfiehlt der persische Arzt Abu Bekr Muhammed Ben Zakarijja El Razi (850-923 oder 932) in seinem (in lateinischer Übersetzung erschienenen) Hauptwerk "Continens" (Inhalt der ganzen Medizin; Teil I, Kap. 4), der portugiesische Arzt Balescon de Tarante (Valescus de Taranta; 14. Jahrhundert) in seinem berühmt gewordenen Buch "Philonomium pharmaceuticum et chirurgicum (Teil I, Kap. 11).venusinischen Prinzen - dessen Campanella erwähnt - Der italienische Mediziner, Theologe, Philosoph und Dichter Thomas Campanella (Tommaso; 1568-1639) berichtet dieses Kuriosum in seinem Werk "Medicinalium iuxta propria principia libri VII" (Lyon 1635).487 Philadelphia - Jacob Philadelphia (geb. 1735), ein bekannter Zauberkünstler und Taschenspieler, dessen Name durch Georg Christoph Lichtenbergs "Anschlag-Zeddel im Namen von Philadelphia vom 7. Jenner 1777" überliefert worden ist. Swedenborg - Emanuel Swedenborg (eigentlich Swedberg; 1688 bis 1772), schwedischer Naturforscher und Theosoph, der als "größter Geisterseher des achtzehnten Jahrhunderts" galt. Sein mystizistisches Gedankengut war zu Hoffmanns Lebzeiten in zahlreichen Publikationen verbreitet.487 Bild unseres wackern Karl Kolbe - Gemeint ist das Gemälde "Die Böttcherwerkstatt", eines der fünf Werke Kolbes (vgl. die erste Anm. zu S. 430), die (wie "Doge und Dogaresse"; vgl. S. 720) auf der Berliner Kunstausstellung von 1816 gezeigt wurden. Hoffmann deutet mit dieser Bemerkung auf die nach dem Gespräch über alte und neue Kirchenmusik folgende Novelle "Meister Martin der Küfner und seine Gesellen" hin (vgl. S. 737).488 "Ein Narr, ein Narr!. . — Zitat aus Shakespeares Komödie "Wie es euch gefällt", II, 7 (nach der Übersetzung August Wilhelm Schlegels).Eilfer - Elferwein: Wegen seiner hervorragenden Qualität berühmter, in der Literatur oft genannter "Jahrhundertwein" des Jahrganges 1811.489 Olivarius Textdreher - Anspielung auf die Gestalt des Pfarrers Olivarius Textdreher in Shakespeares Komödie "Wie es euch gefällt" (III, 3).Kapelle - Ein Schmelztiegel, der früher bei der Analyse von Edelmetallen zum "Abtreiben" der unedlen Bestandteile verwendet wurde.490 Beethovens Messe - Gemeint ist die Messe in C-Dur, Opus 86 (entstanden 1807, gedruckt 1812).491 "Benedictus qui venit in nomine domini" — (lat.) "Gesegnet sei, der im Namen des Herrn kommt."[Alte und neue Kirchenmusik]Das Gespräch der Serapionsbrüder über Musikgeschichte und -theorie ist zusammengesetzt aus Textteilen zweier Beiträge, die Hoffmann für die Leipziger "Allgemeine Musikalische Zeitung" verfaßt hat: der Rezension von Beethovens C-Dur-Messe (vgl. die Anm. zu S. 490), erschienen im Jahrgang 55, Nr. 24 und 25 vom 16. und 23. Juni 1813, und des Aufsatzes "Alte und neue Kirchenmusik". veröffentlicht im Jahrgang 16, Nr. 35-37 vom 31. August, 7. und 14. September 1814. Anfang und Schluß der Unterhaltung (von: "Das Gebet, die Andacht. .", S. 491, bis: des genialen Meisters würdig", S. sowie von: "Sehr wahr', nahm Theodor das Wort. . .", S. jos, bis: "...von jenen alten Hymnen abzulassen", S. 503) folgen der Rezension, das Mittelstück (von: "Keine Kunst, glaube ich.. .", S. 495, bis: . . in die unruhvolle Brust des Menschen hinabstrahlt!", S. soi) entstammt dem Aufsatz. Vgl. die vollständigen Texte im Band 9 unserer Ausgabe.492 "Kyrie" - Gloria"... Credo" Sanctus"... Benedictus" "Agnus"... "Dona" — Teile der römisch-katholischen Messe, in der Reihenfolge: "Kyrie eleison" (Herr, erbarme dich); "Gloria in excelsis Deo" (Ehre sei Gott in der Höhe; Lobgesang nach Lukas 2,14); "Credo" (Ich glaube; Glaubensbekenntnis "Sanctus" (Heilig; Lobgesang nach Jesaja 6,3); "Benedictus qui venit in nomine Domini" (Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn; Segensspruch nach Psalm 118,26 bzw. Matthäus 21,9); "Agnus Dci qui tollis peccata mundi" (Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt trägt; nach Johannes 1,29); "Dona nobis pacem" (Gib uns Frieden; Schlußvers des "Agnus Dci").Messen aus C-Dur und d-Moll von Joseph Haydn - Von Joseph Haydns (1732-1809) drei Messen in C-Dur waren zwei zu Hoffmanns Lebzeiten im Leipziger Musikverlag Breitkopf und Härtel erschienen: die "Paukenmesse" (1802) und die "Cäcilienmesse" (5807). Bei der Messe in d-Moll handelt es sich um die sogenannte "Nelson-Messe" (1803 im selben Verlag veröffentlicht), die Hoffmann bereits im "Nachtstück" "Das Sanctus" (vgl. Band 3 unserer Ausgabe) erwähnt. (Schon am 8. Oktober 1803 hatte er in sein Tagebuch notiert: "Haydn soll mein Meister sein - so wie in der Vokalmusik Händel und Mozart.")"Miserere" — (lat.) "Erbarme dich"; Bußpsalm (si) der katholischen Liturgie, auch im "Gloria" und im "Agnus Dci" der Messe verwendet."Qui tollis" — Worte aus dem "Gloria" ("Qui tollis peccata nostra miserere nobis": "Der du unsere Schuld auf dich nimmst, erbarme dich unser") und aus dem "Agnus Dci".Michael...Haydns, - Joseph Haydns jüngerer Bruder Michael (1737-1806) komponierte Kirchenmusik (darunter vierundzwanzig lateinische und vier deutsche Messen) im strengen Stil der Wiener Klassik.492 Hasses, - Johann Adolf Hasse (1699-1783), Komponist, Opernsänger und Kapellmeister (vor allem in Dresden und Wien); schuf außer zahlreichen Opern (im Stil der italienischen Opera seria) auch hervorragende kirchenmusikalische Werke (u. a. Messen, Miserere, Tedeums und ein Requiem).Naumanns - Johann Gottlieb Naumann (1741-1801), Kapellmeister und Komponist, Schüler Hasses; schrieb außer Opernmusik (im italienischen und französischen Stil) siebenundzwanzig Messen, mehrere Oratorien sowie kleinere kirchenmusikalische Werke. Hoffmann hatte (laut Tagebuch) in Dresden, der Hauptwirkungsstätte des Komponisten, am 2. April 1813 eine Messe und am 13. Mai 1813 ein Miserere von Naumann gehört. Leo - Vgl. die vierte Anm. zu S. 47. Im Erstdruck steht statt Leo: Feo (Francesco Feo, um 1685-1761, wie Leo Vertreter der Neapolitanischen Schule, einer Gruppe bedeutender italienischer Komponisten, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Musikleben in ganz Europa beeinflußte).Durante, - Francesco Durante (1684-1755) italienischer Klavier- und Instrumentalkomponist, seit 1718 Direktor des Konservatoriums in Neapel; schuf seine kammermusikalischen Werke im strengen Stil Palestrinas (vgl. die zweite Anm. zu S. 497). Benevoli - Orazio Benevoli (1605-1672), italienischer Kirchenmusik-Komponist, seit 1646 Kapellmeister an der Vatikankirche S. Maria Maggiore in Rom; schrieb zahlreiche Messen (u. a. eine achtundvierzigstimmige Messe für zwölf Chöre), Oratorien und Motetten (ebenfalls im Palestrina-Stil).Perti - Giacomo Antonio Perd (1661-1756), italienischer Kirchenmusik-und Opernkomponist, seit 1690 Kirchenkapellmeister in Bologna, wo er mit bewußt schlicht gehaltenen geistlichen Gesangswerken (vor allem Oratorien und Kantaten) hervortrat.493 Das gewagte Gleichnis... — Denselben Vergleich stellt Hoffmann bereits im "Kreislerianum" "Höchst zerstreute Gedanken" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe) an, wo er die Kirchenmusik Johann Sebastian Bachs zu den "frommen Gesängen" Benevolis und Pertis ins Verhältnis setzt.494 Mozart, - in seinen beiden bekannteren Messen aus C-Dur im "Requiem" — Gemeint sind wahrscheinlich die "Krönungsmesse" (1779) und die "Missa solemnis" (1780). In seinem Aufsatz "Alte und neue Kirchenmusik" (vgl. Band 9 unserer Ausgabe) bezeichnet Hoffmann Mozarts Messen als "beinahe seine schwächsten Werke", das "Requiem" hingegen als "das Höchste, was die neueste Zeit für den kirchlichen Kultus aufzuweisen hat".494 den alten Joseph - Joseph Haydn.496 Ambrosius - Der lateinische Kirchenlehrer Ambrosius (um 333 bis 397), seit 374 Bischof von Mailand, dem große Verdienste um die Förderung des Kirchengesanges zugeschrieben werden (Ambrosianischer Gesang). &führte orientalische, griechische und jüdische Gesangselemente - darunter die sogenannte Antiphonie, den liturgischen Wechselgesang zwischen Priester und Gemeinde (Chor) bzw. zwischen zwei Chören - in den frühchristlichen Gottesdienst ein.Gregor - Canto fermo - Papst Gregor I. (590-604) gilt als der maßgeblichste Reformator des Kirchengesanges (Gregorianischer Gesang). Er sammelte, ergänzte und ordnete die älteren Kirchengesänge und verzeichnete sie in einem Antiphonar, das mit einer Kette am Altar der Apostel befestigt und damit in seinem Bestand an Texten und Melodien als unveränderlich deklariert wurde, weshalb es auch die Bezeichnung Canto fermo (fester Gesang) erhielt.497 Guido von Arezzo - Der Benediktinermönch Guido von Arezzo (Guido Aretinus; um 995 bis um 1050), seit 1029 Prior des Kamaldulenserklosters (vgl. die erste Anm. zu S. 17) Avellano, gilt als Erfinder des Notenliniensystems und bedeutendster Musiktheoretiker des frühen Mittelalters. Er führte neue Methoden in den Gesangsunterricht ein, u. a. die Solmisation - die einprägsame Darstellung einer Melodie durch die Tonsilben ut (do), re, mi, fa, sol, la -, auf die Hoffmann hier anspielt.Marcellus der Zweite - Palestrina - Marcello Cervini (1501 bis im), vom 9 .April bis 1. Mai 1555 als Marcellus II. Papst, hatte sich auf dem Tridentiner Konzil (1545-1563) gegen die polyphone (mehrstimmige) Kirchenmusik und die Überwucherung der liturgischen Texte mit "musikalischem Figurenwerk" ausgesprochen. Der Legende zufolge hat Giovanni Pierluigi da Palestrina (um 1525-1594), Kapellmeister an mehreren römischen Hauptkirchen, durch seine sechsstimmige "Missa Papae Marcelli", die am Ostersonntag 1555 aufgeführt wurde, den Papst mit der Kunstmusik ausgesöhnt und deren Verbannung aus der Kirche verhindert. — Die berühmt gewordene Messe war Hoffmann am 6. Mai 1814 vom Musikverlag Breitkopf und Härtel zugesandt worden.499 Pietro von Cortona - Eigentlich Pietro Berettini (1596-1669), italienischer Maler und Architekt, der vor allem durch seine Fresken in Rom und Florenz berühmt geworden ist. Hoffmann hatte bei seinen Besuchen in der Dresdener Gemäldegalerie (August 1798, September und Oktober 1813) einige Werke Cortonas gesehen.Caldara - Antonio Caldara (um 1670-17 36), italienischer Opern-, Instrumental- und Kirchenmusik-Komponist; seit 1716 Vizekapellmeister in Wien. Hoffmann bezieht sich hier besonders auf Caldaras "hohes, bewunderungswürdiges" Oratorium "Motte e sepoltura di Cristo" (Tod und Grablegung Christi), das er in einem handschriftlichen Exemplar am 6. Mai 1814 vom Musikverlag Breitkopf und Härtel zugesandt erhalten und in dem Aufsatz über "Alte und neue Kirchenmusik" rezensiert hatte (vgl. Band 9 unserer Ausgabe).Bernabei - Ercole Bernabei (um 1620-1687), italienischer Opern- und Kirchenmusik-Komponist; Kirchenkapellmeister in Rom, seit 1674 Hofkapellmeister in München.Scarlatti - Vgl. die zweite Anm. zu S. 117. Marcello - Vgl. die dritte Anm. zu S. 117.Lotti - Antonio Lotti (1667-1740), italienischer Komponist, Organist und Kapellmeister; gilt als der bedeutendste Vertreter der Venezianischen Schule (einer Gruppe von flämischen und italienischen Komponisten, die im 16. und frühen 17. Jahrhundert an der Markuskirche wirkten). Lotti schuf außer Opern zahlreiche kirchenmusikalische Werke, u. a. mehrere vielstimmige Miserere, auf die Hoffmann hier anspielt.Porpora - Niccola Antonio Porpora (1686-1768), italienischer Komponist, Kapellmeister und Musikpädagoge; schrieb zahlreiche Opern und kirchenmusikalische Werke, die rasch in Vergessenheit gerieten. (Berühmtheit erlangte er als Gesangslehrer.)Bernardo, Leo, - Vermutlich ein Schreibfehler Hoffmanns: es muß wohl heißen: Leonardo Leo (vgl. die vierte Anm. zu S. 47).Vallotti - Francesco Antonio Vallotti (1697-1780), italienischer Kirchenmusik-Komponist und Musiktheoretiker; seit 1730 Kirchenkapellmeister in Padua. Hoffmann hatte Vallottis Responsorien (liturgische Wechselgesänge) anhand eines ihm vom Musikverlag Breitkopf und Härtel am 6. Mai 1814 übersandten handschriftlichen Exemplars studiert und zwei Notenbeispiele daraus in seinem Aufsatz über "Alte und neue Kirchenmusik" (vgl. Band 9 unserer Ausgabe) abdrucken lassen.499 alla cappella - a cappella: Mehrstimmiger Gesang ohne Instrumentalbegleitung.500 Fasch Carl Friedrich Christian Fasch (1736.-1800), Komponist; seit 1756 Cembalist am Hof des preußischen Königs Friedrich II.; gründete 1791 die Berliner Singakademie, wodurch er den Chorgesang in Deutschland neu belebte. Hoffmann bezieht sich hier auf Faschs geistliche Chorwerke, insbesondere auf die zwischen 1783 und 5791 entstandene "Messa a 16 voci" (sechzehnstimmige Messe), die erst 1834 vollständig veröffentlicht wurde.501 "Kyrie" - Credo" Sanctus" — Vgl. die erste Anm. zu S. 492.502 Händel ließ bekanntlich dem Bischof... Text zum "Messias" — Eine Anekdote, die in der biographischen Schrift "Dr. Karl Burneys Nachricht von Georg Friedrich Händels Lebensumständen. Aus dem Englischen übersetzt von Johann Joachim Eschenburg" (Berlin und Stettin 1785) überliefert ist: "Bei der Krönung Seiner Majestät Georgs des Zweiten im Jahr 1727 wurden ihm Texte zu den Motetten von den Bischöfen zugesandt. Darüber ward er verdrießlich und aufgebracht, weil er glaubte, man halte ihn für unwissend in der Heiligen Schrift. ,Ich habe meine Bibel fleißig genug gelesen', sagte er, ,und werde mir die Sprüche selbst aussuchen'" (S. XLIII). Händels Oratorium "Messias" wurde 1742 mit großem Erfolg in Dublin uraufgeführt.Kyrie eleison, Christe eleison" (griech.) "Herr, erbarme dich, Christus, erbarme dich"; in der Liturgie gebrauchter Bittruf (vgl. auch die erste Anm. zu S. 492)."Ave maris stella" — Hoffmann selbst hatte 1808 (in seiner Glogauer Zeit) sechs Chöre komponiert, darunter auch ein Ave maris stella": "In kurzer Zeit werden nämlich von mir drei oder vier vierstimmige Hymnen an die Jungfrau, unter dem allgemeinen Titel: ,La santa Virgine' [Die Heilige Jungfrau], erscheinen, die bloß von Singstimmen, ohne alle weitere Begleitung als höchstens des Pianoforte, welches leise und diskret die Grundakkorde anschlägt, vorgetragen werden" (an Hippel, Mai 1808).Meister Martin der Küfner und seine GesellenDie Novelle entstand um die Jahreswende 1817/18. Hoffmann hatte sie Carl Friedrich Enoch Richter, dem Inhaber der Johann Friedrich Gleditsch'schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig, für das "Taschenbuch zum geselligen Vergnügen" versprochen, der das Manuskript um den 10. Dezember 1817 anmahnte. Der Autor antwortete fünf Tage später, daß er es "spätestens bis zum 15. Januar (womöglich noch früher)... ganz bestimmt einsenden werde". Die Erstveröffentlichung des "Meister Martin..." erfolgte dann im Herbst 1818 in der Ausgabe "auf das Jahr 1819" (Jg. 29) des beliebten Unterhaltungsjournals.Über den äußeren Anlaß der Stoffwahl gibt der Untertitel des Erstdrucks Auskunft: "Nach einem Gemälde, die Werkstatt eines Böttchers vorstehend, von C[arl Wilhelm] Kolbe, Maler und Mitglied der Akademie der Künste zu Berlin" (vgl. die erste Anm. zu S. 430). Hoffmann hatte das Bild, das einen Böttchermeister mit seiner Tochter und zwei mit ihrer Arbeit beschäftigte Gesellen darstellte, im Herbst 1816 auf der Berliner Kunstausstellung gesehen und war - wie schon von Kolbes "Doge und Dogaresse" (vgl. S. 720) — so davon fasziniert worden, daß er unter dem nachwirkenden Eindruck eine poesievolle Fabel erfand - eine Geschichte aus dem mittelalterlichen Handwerkermilieu (das in der "Taschenbuch"-Publikation durch die Beigabe eines von H. Schmidt angefertigten Kupferstiches nach Kolbes "Böttcherwerkstatt" zusätzlich veranschaulicht wurde). Zum Schauplatz der Handlung wählte Hoffmann die "weltberühmte Stadt Nürnberg", die vor ihm schon andere romantische Dichter (z. B. Tieck und Wackenroder) als Zeugnis altbürgerlicher deutscher Vergangenheit gepriesen hatten und deren Sehenswürdigkeiten er überdies aus eigener Anschauung kannte (vgl. die erste Anm. zu S. 504).Um möglichst viel historisches Kolorit zu reflektieren, bediente sich Hoffmann wiederum der Nürnberger Chronik von Johann Christoph Wagenseil (vgl. S. 705), die ihm reiches Material über die Lebensgewohnheiten und Sitten des Zunftbürgertums in der Freien Reichsstadt bot. Besonders für die mit der Meistersingerkunst befaßten Passagen war ihm Wagenseil als Quelle unentbehrlich; dort fand er Aufschlüsse über das Miteinander von Handwerksfleiß und Meistergesang, über Einrichtung, Satzungen und Regeln der Singeschulen sowie über die damals bekannten "Meistertöne" und "Singweisen" (vgl. S. 534f. und die Anmerkungen dazu), die er in der Erzählung sogar mit zwei selbstgefertigten "Liedern" exemplifiziert (vgl. S. 519 und 522f.). — Über die Institutionen des Zunftwesens holte sich Hoffmann Auskunft in der "Ökonomisch-technologischen Enzyklopädie" (Band VI, Berlin 1775) von Johann Georg Krünitz, und die das Böttcherhandwerk betreffenden Details. die er für eine wirklichkeitsgetreue Darstellung des Werkstattgeschehens benötigte, bezog er aus dem Werk "Schauplatz der Künste und Handwerke oder Vollständige Beschreibung derselben, verfertiget oder gebilliget von denen Herren der Akademie der Wissenschaften zu Paris. Aus dem Französischen von J. H. G. von Justi"(Leipzig, Königsberg und Mitau 1765), dessen Zweite Abteilung im Band 4 von der "Böttcherkunst" handelt.

Obwohl Hoffmann in seinem Zunft- und Familiengemälde, das von der Sympathie der romantischen Generation für alles "Altdeutsche" zeugt, die sozialen Spannungen in der Ständegesellschaft verklärt hat, ist ihm mit "Meister Martin. eine Erzählung von besonderem Reiz gelungen - durch eine sinnreich angelegte Fabel, lebensnah gestaltete Charaktere sowie durch das geschickt eingesetzte zentrale Motiv von der Meisterschaft im "Gewerke" und in der Kunst. Dabei enthält die Geschichte durchaus klischeehafte Züge, und namentlich die Figur des Konrad erinnert stark an die rittertümelnden Helden Fouquéscher Prägung. Offenbar war aber auch das ein bewußt eingesetztes Stilmittel; denn die im folgenden Rahmengespräch enthaltenen selbstkritischen Bemerkungen des Dichters vermitteln den Eindruck, mit diesem "Gemisch von Tölpelei, Galanterie, Barbarei und Empfindsamkeit" sei eine Parodie auf die gesamte Gattung der Ritter- uns Schauerromantik bezweckt gewesen (vgl. S. 571 und die Anmerkungen dazu).

Im Jahre 1819 gliederte Hoffmann die Novelle nahezu in der ursprünglichen Gestalt in die "Serapionsbrüder" ein; die geringfügigen Änderungen, die er bei der nochmaligen Durchsicht des Textes für die Buchausgabe vornahm, beschränken sich auf stilistische Korrekturen.503 Meister Martin - Wagenseil berichtet in seiner Chronik von einem Tobias Martin. Hoffmann wechselt zwischen Thomas und Tobias Martin.504 weltberühmte Stadt Nürnberg - Hoffmann hatte während einer Reise von Bamberg nach Erlangen vom 10. bis 13. März 1812 in

Nürnberg Station gemacht und dort die im folgenden beschriebenen historischen Baudenkmäler und Kunstschätze selbst kennengelernt - wie vor ihm Wilhelm Heinrich Wackenroder, der in seinem Roman "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" (1797) schreibt: "Nürnberg! Du vormals weltberühmte Stadt! Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen; mit welcher kindlichen Liebe betrachtete ich deine altväterischen Häuser und Kirchen, denen die feste Spur unsrer alten vaterländischen Kunst eingedrückt ist.504 Brunnens am Markte - Gemeint ist der von einem Meister der Prager Schule zwischen 1385 und 1396 erbaute "Schöne Brunnen" am Hauptmarkt, ein Pyramidenbau mit reichem Figurenwerk.Grabmal in St. Sebald - Das von Peter Vischer dem Älteren (vgl. die erste Anm. zu S. 525) und seinen Söhnen in den Jahren 1508-1519 geschaffene Bronzegrabmal des heiligen Sebaldus in der St.-Sebaldus-Kirche, eines der bedeutendsten gotischen Gußwerke, das einen silbernen Sarkophag einschließt. Acht Säulen, vor denen die Apostel stehen, tragen einen Baldachin mit drei Kuppeln.Sakramenthäuslein in St. Laurenz — Die von dem Nürnberger Bildhauer Adam Krafft (um 1460 bis 1508 oder 1509) geschaffene, zwanzig Meter hohe Steinpyramide (1493-1500) im Ostchor der Nürnberger St-Lorenz-Kirche gehört zu den schönsten spätgotischen Baudenkmälern.auf dem Rathause Albrecht Dürers tiefsinnige Meisterwerke - Die Gemälde im "Großen Saal" des in seinem Kern zwischen 1332 und 1340 erbauten monumentalen Nürnberger Rathauses sind nicht von Dürer selbst, wohl aber nach seinen Entwürfen ausgeführt worden.Rosenplüt - Hans Rosenplüt, genannt der Schnepperer (um 1400 bis um 1470), Nürnberger Messinggießer, Büchsenmeister, Dichter und Meistersinger; Verfasser von zahlreichen, zum Teil derbdrastischen Fastnachtsspielen (mit satirischen, gegen die herrschenden Reichsstände gerichteten politischen Anspielungen), Lobsprüchen und Lehrdichtungen. Die von Hoffmann zitierten Lobverse auf Nürnberg sowie die Bezeichnung "Pater" sind Wagenseils Chronik entnommen.Zweck - Hier (im ursprünglichen Sinn): kurzer, breitköpfiger Nagel, der in der Mitte einer Zielscheibe angebracht war.505 Kerzenmeister - Bezeichnung für die zwei Vorsteher einer Gewerksversammlung, die u. a. die ökonomischen Angelegenheiten der Zünfte erledigten.Gewerksversammlung - Vollversammlung der Zunftmitglieder.Paumgartner - Alte Nürnberger Patrizierfamilie.Handwerksherr - Ein Ratsmitglied, das die Zunftversammlungen beaufsichtigte.erkiesen - wählen.506 zweifudriges Faß — Fuder: Altes deutsches Weinmaß (etwa 15 Hektoliter).ohne Feuer getrieben - Nicht, wie gewöhnlich (aus Zeitersparnis), über dem Feuer getrocknet, sondern an erwärmter Luft "ausgereift".508 Wer tretten wil die Stiegen hinein, - Die Verse und die Beschreibung der "geräumigen kühlen Prangkuchen" hat Hoffmann Wagenseils Chronik entlehnt.509 Cornelius in Rom -Zeichnungen zu Goethes gewaltigem "Faust" - Peter Cornelius (1783-1867), einer der führenden Meister jener in Italien lebenden Gruppe romantischer deutscher Künstler, die sich aus überzeugter Hinwendung zur religiösen frühitalienischen und altdeutschen Kunst Nazarener ("imitatio Christi") nannten, hatte in den Jahren 1811-1816 zwölf Federzeichnungen zu Goethes "Faust" geschaffen."Bin weder Fräulein noch schön!" — "Bin weder Fräulein. weder schön. ."; Goethe, "Faust"I, "Straße" (Vers 2607).510 Allerwiese - Gemeint ist die südwestlich der Nürnberger Burg gelegene Hallerwiese (benannt nach der ehemaligen Besitzerin Margarete Haller), ein damals vielbesuchter Erholungs- und Ausflugsort.513 Endstuhl - Gabelartiges Holzgestell, das das Faß zusammenhält, bis die Böden angebracht sind.Stäbe - Die Bretter, aus denen die Faßdauben gefertigt werden. Klöbeisen - Ein Spezialmesser zum Zerteilen zu dicker Stäbe oder Bodenhölzer.Lenkbeil - Ein Werkzeug zur Bearbeitung (Glättung) des Bodenholzes und der Dauben.Schlägel - Treiber - Holzhammer und -keil, die zum Aufziehen (Treiben) der Faßbänder benutzt wurden.514 Reißer - Ein zirkelähnliches Werkzeug, mit dem auf den Faßböden bestimmte Merkzeichen markiert wurden, die die Herstellerwerkstatt (zuweilen sogar einen bestimmten Handwerker) auswiesen und zugleich eine Qualitätsgarantie darstellten.516 Kaisers Maximilian tüchtige Weinordnung - Die von Maximilian I. (1459-1519; römisch-deutscher Kaiser seit 1493) im Jahre 1498 erlassene allgemeine Weinordnung kannte Hoffmann aus Wagenseils Chronik, wo sie in vollem Wortlaut abgedruckt ist (a.a.O., S. 118 ff.).519 in der hoben fröhlichen LobeweisHerrn Hans Berchlers - Als Beispiel für diesen nach dem Straßburger Gastwirt und Meistersinger Hans Berchler benannten "Meisterton" (vgl. die Anm. zu S. 362) bringt Wagenseil (a. a. O., S. 506) einen Meistersang, der Hoffmann bei der Abfassung des folgenden Weissagungsliedes als Vorlage gedient hat.521 Kimmkeule - Ein walzenförmiger kurzstieliger Holzhammer, der zur Herstellung der Kimmen (Kerben) dient, in die die Faßböden eingelassen werden.Bandhake - Spezialhaken zum Aufziehen der Faßbänder.Fügbank - Ein fest stehender Hobel, mit dem die Fugen der Faßbretter passend gemacht wurden.Degsels - Ein sowohl zum Behauen des Holzes als auch zum Aushöhlen und Glätten des Faßinnern benutztes Werkzeug; es besteht aus einem hammerähnlichen und einem breiten, scharf geschliffenen Teil, das einem Meißel gleicht.523 Martin Häschers - Nach Wagenseils Chronik ein Schriflgießer und Meistersinger in Straßburg.525 Vischer - Peter Vischer der Ältere (um 1460-1529), Nürnberger Erzgießer, dessen Gießhütte damals die bedeutendste in Deutschland war (vgl. auch die dritte Anm. zu S. 504). Sein Ruhm verschaffte ihm Aufträge aus den verschiedensten Gegenden des Reiches.Cellini - Benvenuto Cellini (1500-1571), italienischer Goldschmied, Medailleur und Bildhauer; arbeitete für die Päpste Clemens VII. und Paul III. in Rom, von 1540 bis 1545 arn Hofe des französischen Königs Franz I. und zuletzt in Florenz, wo er eine große Werkstatt einrichtete. Hoffmann kannte seine von Goethe ins Deutsche übertragene und kommentierte Autobiographie, die 1803 erschienen war.525 Holzschuer - Name eines alten Nürnberger Patriziergeschlechts.530 Stabholz — Für die Herstellung der Faßdauben benutztes (abgelagertes) Eichenholz. Flammen — Bezeichnung' für die (qualitätsmindernde) unregelmäßige Maserung des Holzes.531 hübsche Bildlein und Geländer -in St. Sebald und an Fuggers Hause zu Augsburg - Gemeint sind die kunstvoll gegossenen und geschmiedeten Ausstattungsstücke in der Nürnberger St. Sebaldus-Kirche sowie die Fresken des Renaissancemalers Hans Burgkmair (1473-1531), die vormals die Fassade des 1512-1515 erbauten repräsentativen Patrizierhauses von Jakob Fugger II. (5459-5525), dem Begründer der einflußreichen Augsburger Kaufmannsdynastie, schmückten.534 güldnen Tonweis Hanns Vogelgesangs, - Nach Wagenseils Chronik ein Meisterton mit dreißig Reimen. Vgl. auch die Anm. zu S. 362.der süße Ton - Ein Meisterton mit dreiundzwanzig Reimen von Hanns Vogel.die Krummzinkenweis - Ein Meisterton mit dreiundzwanzig Reimen von M. Ambrosius Metzger.die geblümte Paradiesweis - Ein Meisterton mit sechsundzwanzig Reimen von Josef Schmirer.die frisch Pomeranzenweis - Ein Meisterton mit achtundzwanzig Reimen.535 Hans Müllers - Schlosser und Meistersinger in Straßburg.Paßglas - Ein hohes, zylinderförmiges altdeutsches Trinkglas, das in bestimmten Abständen mit Glasreifen (Paßbändern) überzogen war, die zur Markierung der enthaltenen Flüssigkeitsmenge dienten.539 Gargelkamm - Kröse - Der Gargelkamm ist eine an einem Holzgestell befestigte, regulierbare Säge, die zur Herstellung der Rinne (Kröse oder Gargel) im Faßinnern dient, in die der Boden eingelassen wird.Und damit schlug er die Daube gegen den Schleifstein... — Damals übliches Verfahren zur Qualitätsprüfung der Stabhölzer. (Wenn das Holz dabei schlecht brach, war es für die Daubenherstellung ungeeignet.)540 Stieglitzweis Adam Puschmanns - Nach Wagenseil ein Meisterton mit fünfzehn Reimen. — Der mit Hans Sachs befreundete Meistersinger Adam Zacharias Puschmann (1532-1600) hat u. a. einen kultur- und literarhistorisch bedeutsamen "Gründlichen Bericht des deutschen Meistergesangs" (1571) verfaßt, den Wagenseil als Vorlage für seine Chronik benutzte.542 Freisingen - Eine Veranstaltung, bei der jedermann als Sänger auftreten und das Thema seines Vortrags selbst wählen durfte (im Unterschied zum "Hauptsingen", bei dem nur Mitglieder der Meistersingerschule zugelassen waren, die ihre Beiträge nach vorgegebenen Themen und Kunstregeln vortragen mußten).falsche Anhänge - Anhängen unorganischer Laute, um die vom Metrum geforderte Silbenzahl oder den Reim zu gewährleisten (Beispiel: "Es ist ein frommer Mane" statt "Es ist ein frommer Mann"); nach Wagenseils Chronik einer der "XXXII Fehler", die dem Sänger unterlaufen können.Klebsilben - Unstatthaftes Zusammenziehen von Silben oder Wörtern, um Metrum oder Reim einzuhalten (Beispiel: "keim" statt "keinem").falsch Gebänd - Regelwidrige Abweichung im Vers- und Strophenbau.falsche Blumen - Willkürliche Änderungen der Melodie.Singstuhl - Für den Vortragenden bestimmter, kanzelartig erhöhter Sitz.543 zarten Ton Heinrich Frauenlobs - Ein Meisterton mit einundzwanzig Reimen. — Der Dichter und fahrende Sänger Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob (um 1250-1318), der zahlreiche (zumeist schwülstige) Minnelieder und didaktische Sprüche verfaßt hatte, wurde von den Meistersingern als Begründer ihrer Kunst verehrt.556 dem alten Albrecht - Gemeint ist Albrecht Dürer (1471-1528).562 Peter Vischers wundervolles Monument - Vgl. die dritte Anm. zu S. 504.571 jene wunderlichen Personen ironieren -die sich Ritter nennen - Anspielung auf die seinerzeit modische altertümelnde Ritter- und Heldenromantik, die besonders von Fouqué repräsentiert wurde, der seinen späteren Schauspielen und Romanen Stoffe aus der germanischen Vorzeit, der nordischen Sagenwelt und aus dem feudal-ritterlichen Milieu des Mittelalters zugrunde legte.Veit Weber und seine Nachfolger - Der Schriftsteller Georg Philipp Ludwig Leonhard Wächter (1762-1837), der unter dem Pseudonym Veit Weber publizierte, gilt als Begründer der trivialen Schauer- und Räuberliteratur. Durch seine (meist erfundenen) "Sagen der Vorzeit" (1787-1798) wirkte er auf eine ganze Generation gleichgesinnter Autoren, die eine unkritische Leserschaft mit billigstem Unterhaltungsstoff in großen Auflagen belieferten. Zu seinen "Nachfolgern" zählen Vielschreiber wie Christian Heinrich Spieß (1755-1799), Karl Gottlob Cramer (1758-1817), Friedrich Christian Schlenkert (1757-1826) und Christian August Vulpius (1762-1827).Das fremde KindWie schon das Märchen "Nußknacker und Mausekönig" (vgl. S. 690 f.), verdankt auch diese allegorische Märchenerzählung ihr Entstehen Hoffmanns Umgang mit den Kindern seines Freundes Julius Eduard Hitzig. Während das frühere Stück bereits 1816 im ersten Band der gemeinsam mit Fouqué und Contessa herausgegebenen "Kinder-Märchen" erschienen war, sollte "Das fremde Kind" im zweiten Bändchen Aufnahme finden. Über den Stand der Arbeiten an den fälligen Manuskripten schrieb Hoffmann am 2. September 1817 an den Berliner Verleger Georg Reimer: "Fouqué kommt heute auf einen Tag her, um so leichter kann ich also ihm es also auf die Seele binden, daß er, so wie ich, das Märchen bis zum 15. br [September] liefert. Das meinige ist in acht Tagen fertig. Die Vignetten werde ich, wenn Sie es mir gütigst zutrauen wollen, selbst zeichnen." Daß diese Zusage allzu optimistisch war, bestätigt der nächste Brief an Reimer, den der Dichter am 27. September schrieb und dem er lediglich den ersten Bogen beifügte. "Da ich nun endlich mich so herausgearbeitet habe, daß ich wenigstens acht Tage hindurch meine Zeit der Schriftstellerei widmen kann", heißt es darin, die eingetretene Verzögerung entschuldigend, "so werden die übrigen Bogen so rasch folgen, daß der Druck nicht einen Augenblick liegenbleiben soll. Contessa schickt auch sein Märchen nächstens... Gleiches erwarte ich von Fouqué, so daß ich auch in künftiger Woche die Zeichnungen zu den Vignetten zu liefern imstande sein werde..." (Das von Fouqué beigesteuerte Märchen trug den Titel "Die Kuckkasten", Contessas Beitrag war überschrieben: "Das Schwert und die Schlangen. Ein Märchen in acht Kapiteln".)

Hoffmann vollendete die Niederschrift des "Fremden Kindes" Anfang Oktober. Das "Zweite Bändchen" der "Kinder-Märchen. Von C. W. Contessa, Friedrich Baron de la Motte Fouqué und C. T. A. Hoffmann" erschien im November 1817. Die alphabetische Reihenfolge der Verfassernamen im Titel entspricht jedoch nicht der tatsächlichen Anordnung der Stücke, die zur scherzhaften Irreführung von Rezensenten und Lesepublikum nicht noch einmal namentlich gekennzeichnet waren - eine von Hoffmann initiierte Maskerade, die auf Grund einer mehr oder weniger gewollten gegenseitigen Nachahmung in Stoffwahl und Manier den Herausgebern durchaus reizvoll erschien.

Die Geschichte, in der Hoffmann die Poesie (verkörpert durch das fremde Kind) dem platten utilitaristischen Verstandesdünkel (Magister Tinte) gegenüberstellt und auch mit Seitenhieben auf die sogenannte "höhere Erziehung" nicht spart, erinnert in manchem an Ludwig Tiecks Märchen "Die Elfen" (im Ersten Band des "Phantasus"; vgl. die zweite Anm. zu S. 5), in dem die Elfe Zerine das "hohe Schönheit", Fröhlichkeit und Anmut ausstrahlende Naturwesen darstellt. Dennoch ist die Dichtung sein geistiges Eigentum: sie lebt von seiner poetischen Eigentümlichkeit, seiner Art von Humor und seiner allegorischen Fabulierkunst.

In einem Brief an den Bamberger Verleger der "Fantasiestücke", Carl Friedrich Kunz. vom 8. März 1818 zieht Hoffmann einen Vergleich zwischen "Nußknacker und Mausekönig" und dem "Fremden Kind". Dabei gibt er dem zweiten Märchen den Vorzug, da es "reiner, kindlicher und ebendeshalb für Kinder, fassen sie auch nicht die tiefere Idee des Ganzen, brauchbarer" sei.

Vor dem Abdruck des Märchens in den "Serapionsbrüdern" (1819) hat der Autor den Text noch einmal stilistisch überarbeitet und einige wenige Verbesserungen angebracht.585 passen - In der Jägersprache: pirschen, jagen.600 mächtige Geister - Gemeint sind die sogenannten Elementargeister, die nach mittelalterlicher Vorstellung in den Elementen wohnen (im Feuer: Salamander; in der Luft: Sylphen; im Wasser: Undinen; in der Erde: Gnomen). Hoffmann hat als wichtigste Quelle für seine Märchengeister das Werk "Le Comte de Gabalis ou Entretiens des sciences secrètes" (Paris 1670; deutsch: "Graf von Gabalis oder Gespräche über die verborgenen Wissenschaften",

Berlin 1782) des Abbé Montfaucon de Villars (1631 bis 1673) benutzt, auf das er sowohl im Märchen "Der goldne Topf" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe) als auch in dem an die Erzählung "Die Königsbraut" anschließenden Gesprächsstück (vgl. Band 5 unserer Ausgabe) hinweist.607 umgestaltet in eine große scheußliche Fliege - Nach einer im Aberglauben vieler Völker verwurzelten Vorstellung erscheinen böse Geister mit Vorliebe in Fliegengestalt.