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Ãœber den Ursprung und die gegenseitigen Beziehungen der Krystallformen

REKTORATSREDE
GEHALTEN AM 15. NOVEMBER 1901
ZUR
FEIERLICHEN ERÖFFNUNG DES STUDIENJAHRES
1901-1902 VON
PROF. DR. HEINRICH BAUMHAUER
FREIBURG (SCHWEIZ)
Buchdruckerei des Werkes vom heiligen Paulus. 1901

HOCHANSEHNLICHE VERSAMMLUNG!

Zum zweitenmal seit dem Bestehen unserer Universität wird das Amt des Rektors in die Hände eines Mitgliedes der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät gelegt.

Es ist Sitte, bei der feierlichen Übernahme dieser Würde als Gegenstand der Festrede eine Übersicht über die jüngste Entwickelung der Wissenschaft, welche der Rektor als akademischer Lehrer zu vertreten hat, zu wählen, oder doch eine Frage von allgemeinerer Bedeutung aus diesem Gebiete zu behandlen. Obgleich nun die verschiedenen Zweige der Naturwissenschaft in unserer Zeit, wie eines ungeahnten Aufschwunges, so auch im allgemeinen eines erhöhten Interesses in weiten Kreisen sich erfreuen, so befinde ich mich doch als Lehrer der Mineralogie in einer etwas schwierigen Lage, da es sich um ein Fach handelt, dessen wissenschaftliche Bearbeitung nur einen relativ kleinen Kreis von Forschern beschäftigt, und welches für viele ein ziemlich

unbekanntes Gebiet bildet. Das ist nicht zu verwundern! Während wir die belebten Naturwesen, die Pflanzen und Tiere, in ihrer Existenz wie in ihrer Entwicklung überall und tagtäglich beobachten können, sind uns die Mineralien meist ferngerückt. Nur mühevoll müssen sie in der Regel dem Schosse der Erde abgewonnen werden, und auch da finden wir sie nicht im Wachstum begriffen, sondern als fertige Gebilde. Viele kennen die Krystalle, gleichsam die Individuen des. Mineralreiches, nur aus Sammlungen und Museen. Dennoch sind dieselben dazu angethan, durch die Schönheit und das Eigenartige ihrer Ausbildung Erstaunen und Bewunderung, sicherlich auch Wissbegierde hervorzurufen.

Und nun ist zum Glück für mich gerade die Schweiz ein klassisches Land für die Kenntnis der Mineralien und Krystalle. Ich erwähne nur die vielen herrlichen Funde, welche wir den Bergen und Thälern der Kantone Uri, Graubünden, Wallis und Tessin verdanken. Ich erinnere an die allgemein bekannte Thatsache, dass die Alpen schon den alten Römern den Bergkrystall lieferten. Es mutet uns eigentümlich an wenn wir bei Plinius lesen, wie die angeseilten

Strahler mit Lebensgefahr den Bergkrystall suchten, genau so, wie es noch heute geschieht: fune pendentes eam extrahunt.

In diesem Lande darf ich deshalb wohl hoffen, auch bei Ihnen, meine Herren, die Sie sich hier zur feierlichen Eröffnung des 13. Studienjahres unserer Hochschule versammelt haben, ein gewisses Interesse für diese wunderbaren Gebilde der Natur zu finden. Und da die mannigfaltige Gestalt der Krystalle 1 vor allem die Aufmerksamkeit des Beobachters auf sich zieht, so möchte ich einige Augenblicke bei dieser Gestalt verweilen, um die Frage nach dem Ursprung der Formen eines krystallisierten Körpers sowie die weitere nach den Beziehungen zu behandeln, welche zwischen den Formen eines und desselben sowie zwischen denjenigen der verschiedenen krystallisierten Körper bestehen. Ich möchte mir dabei die Aufgabe stellen, die allgemeinen Gesichtspunkte zu entwickeln, von welchen aus die heutige Wissenschaft das scheinbare Chaos der Formen wie ein wohlgeordnetes Ganze von gesetzmässiger Entfaltung und Mannigfaltigkeit überschaut.

Der häufig in grossen, oft wasserhellen

Krystallen auftretende Quarz zog schon im Altertum die Aufmerksamkeit der Naturbeobachter in hohem Masse auf sich. Seine Klarheit und Farblosigkeit drängte den Vergleich mit dem Eise auf, und so bezeichnete man ihn geradezu als Eis, . Dazu kam, dass er nach Plinius nur in jenen Höhen gefunden wurde, «ubi maxime hibernae nives rigent». Und nun tritt uns die Neigung der Alten entgegen, bei der Beobachtung der Natur unvermittelte Analogieschlüsse zu ziehen; es wurde zum Axiom, dass der Bergkrystall, wie das Eis, aus Wasser entstanden sei. Schon im Jahre 30 v. Chr. behauptete Diodorus Siculus, der Bergkrystall bestehe aus reinem Wasser, das aber nicht durch Kälte, sondern durch die Kraft eines göttlichen Feuers fest geworden sei. Und Seneca meinte, dass der Krystall aus Eis entstehe: wenn nämlich das himmlische Wasser frei von allen erdigen Teilen erhärte, so werde es durch die Hartnäckigkeit längerer Kälte immer dichter, bis es endlich nach Ausschluss aller Luft gänzlich in sich zusammengepresst, und was vorher Feuchtigkeit war, in Stein verwandelt sei. Auch Plinius schreibt: «glaciemque esse certum est, e caelesti humore

puraque nive id fieri necesse est». Diese Ansicht zog sich bis in die Zeit hin, wo die Beobachtung mehr und mehr den weiten Spielraum der Phantasie einschränkte; noch Linné meint, der Bergkrystall sei «natum ex aqua aetherea». Erst die genaue Kenntnis der chemischen Natur der Mineralien, die Beobachtung ihres Auftretens und ihres Zusammenvorkommens konnte zu begründeten Ansichten über die Art ihrer Entstehung führen und in manchen Fällen es ermöglichen, die Erzeugnisse der in der Natur wirkenden Kräfte unter ähnlichen Bedingungen im Laboratorium nachzuahmen.

Doch wenden wir uns der Frage nach dem Ursprung der den Krystallen eigentümlichen Formen zu!

Plinius hatte schon die Form des Bergkrystalls, das sechsseitige, in Pyramidenflächen endigende Prisma beobachtet, doch er bescheidet sich mit dem Ausspruche: «quare sexangulis. nascatur lateribus non facile ratio inveniri potest», und noch im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ruft Henkel, der Verfasser der Pyritologia oder Kieshistorie, aus: «o silex, silex, quis te generavit?» Allein vor dieser Zeit

hatte man schon mehrfach im Laboratorium Körper, die Salze, kennen gelernt, welche sich aus wässriger Lösung in Krystallen von oft leicht aufzufassender Form ausscheiden, den Alaun (alumen), welcher in hübschen Oktaëdern, den Salpeter (nitrum), der in säulenförmigen Krystallen erscheint. Boetius de Boot leitete deshalb in seiner 1609 erschienenen «gemmarum et lapidum historia» die Form der Krystalle von beigemischten Salzen ab, welche also im Stande seien, die Mineralsubstanzen zur Annahme gleicher Formen zu zwingen.

Linné nannte die als Krystallbildner betrachteten Salze geradezu Väter (patres) welche in den Gebirgsarten (matres) die Krystalle erzeugten. Muria, Kochsalz, zeigte die Würfelform, deshalb benannte er den würfelförmigen Flussspath nach demselben, Alumen, Alaun, das Oktaeder, und so ward der Diamant zum Alumen adamas. Der Salpeter, Nitrum, zeigte eine sechsseitige Säule, und freudig glaubte Linné jetzt die verzweifelte Frage Henkel's nach dem Ursprung der Form des Bergkrystalls beantworten zu können, indem er sagt «figuram obtinet ipsissimam verissimamque nitri!»

Die Erfindung des Anlegegoniometers und später des Reflexionsgoniometers, Instrumente, deren man sich bedient, um die Kantenwinkel der Krystalle zu messen, ermöglichte ein genaueres Studium der Formen der Mineralien. Allein dieses Studium, so reiche und wertvolle Früchte es auch eintrug, hat uns nicht dahin geführt, statt jener unhaltbaren Hypothesen eine befriedigende Erklärung des Ursprunges der den Krystallen eigentümlichen Gestalt zu geben. Die Krystall form ist nur eine der zahlreichen physikalischen Eigenschaften der betreffenden Substanz. Die Flüssigkeiten, welche sich nach allen Richtungen physikalisch gleich verhalten, nehmen bei freier Bildung die Form von Tropfen beziehungsweise Kugeln an, was dem Bestreben ihrer Moleküle entspricht, eine möglichst kleine Oberfläche zu bilden. Auch die Moleküle der krystallisierenden Substanzen sind bestrebt, Aggregate mit möglichst kleiner Oberfläche zu erzeugen, doch kommen dazu die mit der Richtung wechselnden Anziehungskräfte, in Folge deren bei ungestörter Bildung von ebenen Flächen begrenzte Gestalten entstehen. Warum sich aber bei einer Substanz gerade diese Form mit bestimmten, stets wiederkehrenden

Winkeln bildet, warum der Diamant in Oktaëdern, der Bergkrystall in regulär-sechsseitigen Säulen mit dazu unter konstanten Winkeln geneigten Pyramiden flächen krystallisiert, dafür einen zwingenden Grund anzugeben ist uns bislang ebensowenig möglich, wie es möglich ist, das spezifische Gewicht, das Lichtbrechungsvermögen u. s. w. einer Substanz aus der chemischen Zusammensetzung derselben abzuleiten. Wohl wissen wir, dass die Krystallform in erster Linie von der sogen. chemischen Konstitution der betreffenden Substanz abhängt, da wir im Isomorphismus die Erscheinung kennen, dass analog und aus ähnlichen Atomen aufgebaute Verbindungen in nahezu gleichen Formen krystallisieren. Allein von dieser Erkenntnis bis zur theoretischen Herleitung der Krystallform aus der chemischen Natur der Substanz ist noch ein weiter Weg. Immerhin wird es uns möglich sein, was am Schlusse meines Vortrages geschehen soll, anzugeben, in welcher Richtung sich die Forschung wird bethätigen müssen, um jenes Ziel zu erreichen, oder doch sich demselben zu nähern.

Weit bestimmter können wir die Frage nach den Beziehungen beantworten, welche zwischen

den mannigfaltigen Formen einer und derselben Substanz bestehen. Schon die oberflächliche Betrachtung lehrt nämlich, dass ein und dasselbe Mineral in sehr verschiedenen Formen, also von verschiedenartigen Flächen begrenzt, auftreten kann, und die Durchmessung zahlreicher Krystalle hat zu der Erkenntnis geführt, dass die einzelnen Krystallformen eines und desselben Körpers nach Hunderten zählen können. Dass aber alle diese Formen unter sich in inniger Beziehung stehen, das wurde zuerst in vollkommener Weise von René Just Hauy nachgewiesen, dem scharfsinnigen Forscher, welcher der Krystallographie eigentlich schon für alle Zeiten ihre definitive Ausbildung gab, wenngleich wir uns heute für die von ihm behandelten Probleme einer anderen Ausdrucksweise bedienen. Schon vor Hauy hatten Westfeld und Gahn (1767) die Beobachtung gemacht, dass die verschiedenen Krystalle des Kalkspaths sich nach den Flächen eines Rhombëders vollkommen spalten lassen, so dass man aus jedem beliebigen derartigen Krystall ein solches Rhomboëder herausschälen kann, und Torbern Bergmann (1773) nahm schon an, die verschieden gestalteten

Kalkspathkrystalle entständen sämtlich durch Aufschichtung von rhomboëdrischen Grundkörpern. Hauy stellte gleichfalls jenen Versuch an und glaubte, in dem Spaltungsrhomboëder die Form der Krystallbausteine oder Moleküle des Kalkspaths gefunden zu haben. Er wies (1784) nach, dass man durch geeignete parallele Aufschichtung solcher kleinen Rhomboëder die sämtlichen übrigen Formen des Kalkspaths ableiten und aus der Art des Aufbaues beziehungsweise der Abnahme (Decrescenz) der auf einander folgenden Schichten die von den entstehenden Begrenzungs- oder Tangentialflächen gebildeten Winkel berechnen kann. Er verallgemeinerte seine Theorie und dachte sich überhaupt jeden Krystall aus Reihen parallel neben einander liegender kongruenter Moleküle von parallelepipedischer Gestalt zusammengesetzt. Doch mussten sich notwendig Schwierigkeiten ergeben für solche Krystalle, welche entweder eine andere Spaltbarkeit besitzen, oder bei welchen überhaupt eine deutliche Spaltbarkeit fehlt. Bei den oktaëdrisch spaltbaren war es zudem nicht mehr möglich, die dieser Form entsprechenden Moleküle lückenlos nebeneinander zu legen, sondern sie mussten mit

tetraëdrischen Zwischenräumen aufgeschichtet gedacht werden, und Hauy war genötigt, zu einer wenig natürlichen Hülfshypothese zu greifen, um auch hier zur Vorstellung von einem Aufbau aus parallelepipedisch gestalteten Bausteinen zu gelangen.

Es soll hier jedoch nicht auf die Mängel der Hauy'schen Grundanschauung weiter eingegangen werden, es kommt für uns nur in Betracht, dass Hauy als der erste gezeigt hat, in welcher mathematisch darstellbaren Beziehung die verschiedenen Krystallformen eines Minerals zu einander stehen.

Für uns bietet sich jetzt als einfacher und vollkommen einwandfrei eine andere Art der Betrachtung, um die Beziehung zwischen den verschiedenen Formen eines Körpers darzustellen. Wir gehen dabei von der ganz allgemeinen Beobachtung aus, dass sich an den Krystallen gewisse Flächen in parallel laufenden Kanten schneiden oder doch, falls sie zum Durchschnitt gelangten, Kanten von gleicher Richtung bilden würden. Solche Flächen stellen eine sogen. Zone dar und jene Kantenrichtung die Zonenaxe. Denken wir uns die zu einer Zone gehörigen Flächen hinreichend

zusammengerückt, so würden sie sich sämtlich in der Zonenaxe schneiden, d. h. ein Ebenenbüschel bilden. Eine und dieselbe Fläche kann nun zwei oder mehreren verschiedenen Zonen zugleich angehören und sie ist, da sie jedesmal der betreffenden Zonenaxe parallel geht, schon durch die Zugehörigkeit zu zwei Zonen in ihrer Lage zu den übrigen Flächen vollkommen bestimmt. Schon zwei Flächen, welche nicht parallel gehen, bestimmen eine Zone, da sie sich direkt oder bei hinreichender Verlängerung in einer Kante schneiden.

Die geringste Zahl von ebenen Flächen, welche den Raum umschliessen, also einen Körper begrenzen kann, ist vier, von welchen nicht drei zu einer Zone gehören dürfen. Sie bilden ein beliebiges Tetraëder. Geht man von einem solchen Tetraëder mit seinen sechs, je eine Zone bestimmenden Kanten aus, so kann man durch je eine solche Kante und parallel zu einer zweiten, nicht anstossenden Kante, mit anderen Worten parallel zu zwei gegenüberliegenden Kanten, noch drei weitere Flächen legen, welche also durch ihre Zugehörigkeit zu zwei ursprünglichen Zonen des Tetraëders ihrer Lage nach vollständig bestimmt

sind. Diese drei neuen Flächen schneiden sich aber ihrerseits wieder in drei Kanten, durch welche drei neue Zonen am Krystall bestimmt sind. In einer dieser neuen Zonen und einer der ersten sechs des ursprünglichen Tetraëders liegt wieder je eine weitere mögliche Fläche u. s. f. Auf diese Weise kann man, von vier Grundflächen eines Krystalls ausgehend, nicht nur die übrigen, wirklich vorhandenen Flächen desselben, sondern auch alle an ihm überhaupt möglichen ableiten. Denn alle Flächen eines Krystalls wie auch der verschiedenen Krystalle desselben Körpers stehen unter einander in dem geschilderten Zonenverbande, es treten nur solche Flächen auf, welche zwei oder mehreren wirklich ausgebildeten oder möglichen Zonen angehören. Dieses Gesetz, das Zonengesetz, kann als das Grundgesetz der Krystallographie bezeichnet werden. Es wurde erkannt von Christian Samuel Weiss (1806), neben Hauy dem grössten Krystallographen jener Zeit.

Unter der oft grossen Zahl der durch das Zonengesetz verbundenen Flächen eines krystallisierten Körpers finden wir nun meist gewisse, welche zu den übrigen in gleichem Verhältnisse der Lage stehen, die wir also als geometrisch

gleichartige Flächen ansprechen können. Indessen reicht hier die rein geometrische Betrachtung nicht aus, da wir ja in der Krystallform eine physikalische Eigenschaft, welche ihren Grund in der stofflichen Natur des betreffenden Körpers hat, vor uns haben. Es muss deshalb zur Gleichheit der geometrischen Lage bei jenen Flächen das gleiche physikalische Verhalten des Krystalls auf denselben hinsichtlich der Härte, der Löslichkeit u. s. w. hinzukommen, wenn wir berechtigt sein sollen, dieselben als gleichartig und zusammengehörig zu betrachten. So können z. B. die acht Flächen des Oktaëders sämtlich physikalisch gleichartig sein, sie können aber auch nur abwechselnd ein gleiches Verhalten zeigen. Im letzteren Falle sind die parallelen verschieden, und das scheinbare Oktaeder zerfällt in zwei ungleiche Tetraëder. Zu einer einfachen Krystallform vereinigen sich also nur solche Flächen, welche geometrisch und physikalisch übereinstimmen, während man eine Verbindung verschiedenartiger Flächen am Krystall als eine Kombination bezeichnet. Was aber die Zahl der zu einer einfachen Krystallform gehörigen Flächen betrifft, so herrscht darin bei den verschiedenen

krystallisierten Körpern eine grosse Mannigfaltigkeit. Es gibt Krystallformen, welche aus einem Komplex von 48 Flächen bestehen, und solche, welche nur von einer einzigen Fläche gebildet werden, indem im letzteren Falle selbst zwei parallel liegende Flächen des Krystalls sich physikalisch verschieden verhalten und weitere Flächen von gleicher Lage nicht vorhanden sind.

Wenn das Zonengesetz die Herleitung aller möglichen Flächen eines Körpers gestattet, so erhebt sich die Frage, ob die Zahl jener Flächen in Wirklichkeit eine unbegrenzte sei, ob also die Natur eine unendliche Mannigfaltigkeit der Formen hervorbringe. Die Beantwortung dieser Frage ergibt sich aus einem zweiten Gesetze von allgemeiner Gültigkeit, welches zum Teil aus der Hauy'schen Theorie resp. aus dem Zonengesetz mathematisch herleitbar ist, zum andern Teil aber den Ausdruck von zahlreichen Einzelbeobachtungen darstellt. Es ist das Gesetz der einfachen rationalen Axenschnitte, ein Gesetz, welches zuerst von Hauy, wenngleich in einer andern alls der hier gewählten Form, ausgesprochen wurde. Man wählt als sogenannte Axen die Durchschnittslinien von drei nicht parallelen Flächen eines

Krystalls, also drei sich schneidende Kanten. Legt man dann die sämtlichen übrigen Flächen durch denselben Punkt einer dieser drei Axen, so bringen sie auf den beiden anderen Axen Abschnitte hervor, welche vom Axenmittelpunkte, dem Durchschnittspunkte der drei Axen aus gemessen, zu einander in rationalen Verhältnissen stehen, und zwar lassen sich diese Verhältnisse bei geeigneter Wahl der Axen durch einfache ganze oder gebrochene Zahlen darstellen. Darin liegt eine Beschränkung der Mannigfaltigkeit der Flächen eines Körpers, wenngleich der Formulierung des Gesetzes wegen des unbestimmten Begriffes der einfachen Zahlen ein gewisser Mangel anhaftet 2.

Indem man die Axen so wählt, dass die gleichartigen, zu einer Krystallform gehörigen Flächen auch gleiche Lage zu denselben besitzen, und die Axenschnitte der verschiedenen Formen auf diejenigen einer Form als Grundform bezieht, erhält man ein Mittel, die einzelnen Krystallformen durch Symbole zu bezeichnen. Doch mit der Ermittelung des Symbols der verschiedenen an einem krystallisierenden Körper auftretenden Formen ist die Aufgabe der rein krystallographischen Forschung nicht erschöpft. Es

ergeben sich bei Vergleichung der Formen in vielen Fällen interessante Gesetzmässigkeiten hinsichtlich der in einer Zone auftretenden Flächen und deren Beziehungen zu andern Zonen. Eingehende Untersuchungen in dieser Richtung verdanken wir V. Goldschmidt und v. Fedorow. Oft kann auch eine Statistik der Flächen ein Urteil ermöglichen über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Form. Hier können sich Kritik und Beobachtung ergänzen, ja es wird möglich sein, die Entdeckung noch nicht beobachteter Formen vorauszusehen.

Haben wir uns bisher mit den verschiedenen Formen eines und desselben Körpers beschäftigt, so wenden wir uns nun zu der zweiten Frage nach den Beziehungen zwischen den Formen verschiedenartiger Krystalle. Gehen wir von ein paar Beispielen aus! Wir sehen, wie das Steinsalz in Würfeln erscheint, der Kalkspath in Rhomboëdern, der Schwerspath in rhombischen Tafeln, der Gyps in rhombischen Prismen mit schief, doch nach rechts und links unter gleichen Winkeln aufgesetzten Endflächen. Schon die ganz oberflächliche Betrachtung lehrt uns, dass hier nicht nur eine Verschiedenheit in den von den

einzelnen Flächen gebildeten Winkeln besteht, sondern dass der ganze Bau der Krystalle nach verschiedenen Richtungen, besser gesagt, der Grad ihrer Symmetrie, ein wesentlich verschiedener ist: der Würfel erscheint symmetrischer als das Rhomboëder, die Tafeln des Schwerspaths symmetrischer als die säulenförmigen Krystalle des Gypses. Doch, wie sollen wir diesen Grad der Symmetrie definieren? Wir können als Symmetrie eines Krystalls die Regelmässigkeit bezeichnen, welche sich in der Zahl und Anordnung der an ihm auftretenden gleichartigen (d. i. je zu einer einfachen Form gehörigen) Flächen zu erkennen giebt. Will man diese Symmetrie bestimmen, so kommt es also darauf an, zu untersuchen, in welcher Weise sich derartige Flächen an einem ringsum ausgebildeten Krystall wiederholen.

Eine solche Wiederholung kann zunächst stattfinden, indem zu jeder Fläche eine parallele Gegenfläche vorhanden ist; man sagt dann, der Krystall besitze ein Centrum der Symmetrie. Dann kann sich eine Fläche auf die Art wiederholen, dass eine zweite, auch eine dritte u. s. f.. zu ihr jedesmal nach einer Ebene symmetrisch, d. h. spiegelbildlich gleich, angeordnet ist; jene;

Ebenen bezeichnet man als Symmetrieebenen. Endlich können gleichartige Flächen so orientiert sein, dass jede einzelne durch eine Drehung des Krystalls um eine Axe, entsprechend einer Kantenrichtung, in die Lage einer andern übergeführt wird. Dabei kommt dann der ganze Krystall mit seiner ursprünglichen Lage zur Deckung, weshalb man jene Axen Deckaxen nennt. Und nun folgt aus dem Zonengesetz, wie aus dem Gesetz der rationalen Axenschnitte, dass es nur 2-, 3-, 4- und 6-zählige Deckaxen geben kann, d. h. solche, bei welchen die Deckung jedesmal nach einer Drehung um 18o, 120, 90 oder 60° eintritt. Findet eine vollständige Deckung erst nach der Drehung um 120° resp. 180° statt, während es bei der Drehung um 60°resp. 90°jedesmal, noch einer Spiegelung nach einer zur Axe senkrechten Ebene bedarf, damit Deckung eintritt, so bezeichnet man die Axe als eine imaginäre Deckaxe, auch als Axe der zusammengesetzten Symmetrie oder Spiegelaxe.

Die beschriebenen verschiedenen Arten der Flächenwiederholung, die sogen. Symetrieelemente bedingen nun, indem sie für sich oder mannigfaltig kombiniert an dem Bau des Krystalls

gleichsam thätig erscheinen, den Grad der Symmetrie desselben. Alle denkbaren Fälle führen, wie insbesondere Hessel und Gadolin zuerst nachgewiesen haben, zu 31 möglichen Krystallklassen, zu welchen als 32. diejenige hinzu kommt, welche kein einziges Symmetrieelement besitzt,. bei welcher also nur das Zonengesetz gilt und jede einzelne Krystallfläche für sich schon eine selbständige Form darstellt 3.

Die 32 Krystallklassen fasst man zu 6, zuweilen 7 Krystallsystemen zusammen, für deren jedes man ein gewisses Minimum der Symmetrie verlangt. Die krystallisierten Körper verteilen sich höchst ungleich auf diese Klassen; gewisse Klassen sind ausserordentlich bevorzugt, während man von dreien 4 überhaupt noch kein Beispiel kennt. Man hat also hier auf mathematischem Wege eine Klassifikation der Krystalle abgeleitet, welche Fälle voraussehen lässt, von denen noch kein Beispiel gefunden wurde. Sollte die Möglichkeit solcher Beispiele in der Natur nicht gegeben sein? Oder ist die Ausfüllung jener Lücke von der Forschung noch zu erwarten? Es scheint, als dürften wir das letztere hoffen, denn es ist auch erst in neuerer Zeit gelungen, für einzelne andere Klassen Beispiele,

und zwar insbesondere unter den künstlich dargestellten Krystallen, aufzufinden. Dass es aber möglich war, ein solches System, wie es die 32 Krystallklassen darstellen, a priori zu entwickeln, zeigt uns aufs frappanteste den grossen Unterschied, welcher zwischen dem Forschungsgebiete des Mineralogen und demjenigen des Botanikers und des Zoologen besteht.

Die zu einer und derselben Klasse gehörigen Krystalle verschiedener Körper unterscheiden sich wieder durch die abweichenden Winkel ihrer Formen, beziehungsweise durch das verschiedene aus der jedesmaligen Grundform abgeleitete Axenverhältnis.

Nicht selten ist es schwierig, ja bei rein goniometrischer Untersuchung unmöglich, zu bestimmen, welcher Klasse ein Krystall angehört. Dies hat häufig seinen Grund darin, dass diejenigen Formen, welche bei hoher Flächenzahl die Symmetrie der Klasse verraten, nicht ausgebildet sind, sondern dass nur solche flächenärmere Formen erscheinen, welche als sog. Grenzformen mehreren Klassen eines und desselben Systems zugleich angehören. Solche einfachere Formen entstehen gleichsam aus verschiedenartigen komplizierteren,

wenn das Verhältnis gewisser Axenschnitte zu denjenigen der Grundform den Grenzwert 1 oder ƒ"