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NATURFORSCHUNG UND HEILKUNDE

REDE GEHALTEN GELEGENTLICH DER ÜBERNAHME DES REKTORATES BEI DER STIFTUNGSFEIER DER

UNIVERSITÄT BERN AM 28. NOVEMBER 1908
PROFESSOR Dr. A. TSCHIRCH,
ZEITIGEM REKTOR DER UNIVERSITÄT
LEIPZIG
 1909
CHR. HERM. TAUCHNITZ

Das Recht der Übersetzung in fremde Sprachen ist vorbehalten. Die Verlagshandlung.

Ernste, aufrichtige und bewußte Zurückhaltung gegenüber dem Unerforschlichen und unverdrossene Arbeit in der Erforschung und Benutzung dessen was wir messen und wägen können. G. E. Rindfleisch

Nur wenige Wochen trennen uns von dem Tage, an dem unter lebhafter Beteiligung aller Bevölkerungskreise das schöne Denkmal ALBRECHT VON HALLERS vor unserer Universität enthüllt wurde.

In jener Zeit, als HALLER wirkte, kannte man noch nicht die Spaltung zwischen Naturforschung und Medizin, die heute beide sogar in verschiedene Fakultäten verweist. Die Physik war mit der Astronomie oder Mathematik verbunden und die Botanik mit der Anatomie. BOERHAAVE, HALLERS grosser Lehrer, war Professor der Medizin, Botanik und Chemie. Als HALLER nach Göttingen ging wurde er dort Professor Anatomicae, Chirurgiae et Botanices und auch als seine Forschertätigkeit den Gipfel erreicht hatte, während der Jahre 1745-1755, gingen neben seinen anatomischen und physiologischen Arbeiten fortdauernd auch botanische her. Seine erste in Göttingen veröffentlichte Schrift, die den Briefwechsel mit LINNÉ hervorrief, lautete "de methodico botanices studio absque praeceptore".

HALLER war Naturforscher und Arzt und das schuf gerade einen seiner größten Ruhmestitel. Mit der Begründung der experimentellen Physiologie führte er die naturwissenschaftliche Methode in die Heilkunde ein und heute ist die theoretisch-wissenschaftliche Medizin Naturforschung geworden, dadurch, daß sie die Lehren der Anatomie und Physiologie, der Physik und Chemie als die Basis ihres Gebäudes anerkennt.

Auch der große MALPIGHI, der Begründer der mikroskopischen Gewebelehre der Pflanzen und Tiere, einer der Vorgänger HALLERS, war sowohl Anatom wie Botaniker. Ja, noch viel später ist die

Scheidung noch immer nicht erfolgt. SCHLEIDEN, der Begründer der modernen wissenschaftlichen Botanik, saß noch in den sechziger Jahren des XIX. Jahrhunderts in der medizinischen Fakultät, und der erste Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Bern, HUGO VON MOHL, einer der ausgezeichnetsten Phytotomen "ein Naturforscher in der besten Bedeutung des Wortes", wie SACHS, der Geschichtsschreiber der Botanik, ihn nennt, war Physiolog und Botaniker, ja gerade durch diese seine Doppeleigenschaft der eigentliche Begründer der anatomisch-physiologischen Richtung in der Botanik, die dann allerdings erst in neuerer Zeit und in schärferer Fassung, durch SCHWENDENER und seine Schule zu Bedeutung gelangt ist.

MOHL ist dann später für eine Scheidung, allerdings ganz anderer Art, eingetreten. Denn er war es, der zuerst die Abtrennung der "naturhistorischen Fakultät" von der philosophischen forderte und in Tübingen durchführen half — eine Trennung, die ja auch bei uns besteht und nur an wenigen Universitäten noch nicht durchgeführt ist.

Die Abtrennung der Naturwissenschaften von der Medizin wurde von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an zur Notwendigkeit; die einzelnen Disziplinen wuchsen so stark heran, dan man nicht mehr daran denken konnte, zwei oder gar drei Disziplinen einem Gelehrten zum Unterricht anzuvertrauen und nur ganz ausnahmsweise und dann vorwiegend in den Grenzgebieten betätigt sich heute ein Forscher in zwei Fächern.

Dadurch ist nun freilich die Einheit der Naturforschung und Medizin verloren gegangen. Jedes Fach geht, sich immer mehr in Details verlierend, seinen eigenen Weg und es wird nicht lange mehr dauern, dann ist der Zustand von Babel eingetreten: selbst zwei Nachbarn verstehen ihre Sprache nicht mehr.

Nun strebt ja freilich die Wissenschaft gerade in den Grenzgebieten zur Einheit zurück. Die physikalische Chemie, die chemische Physiologie verlangen gebieterisch wissenschaftliche Durchbildung

in mehreren Fächern und ganz besonders das Fach, das ich selbst an der Universität zu vertreten die Ehre habe, die Pharmakognosie, die ja ebenso eine naturwissenschaftliche wie eine medizinische Disziplin ist — wir finden sie ja auch bald in der philosophischen und bald in der medizinischen Fakultät — und die SCHLEIDEN (ein wenig übertreibend) "die Mutter aller naturwissenschaftlichen Disziplinen" nennt, stellt gleichermassen an die botanischen wie die chemischen Kenntnisse seiner Vertreter hohe Anforderungen, ganz abgesehen davon, daß auch geographische, historische, linguistische Fragen mit hineinspielen. Noch ist es für einen einzigen gerade eben möglich, das alles wenigstens in den Grundzügen zu umfassen. Aber schon die folgende Generation wird auch hier zur Spezialisierung kommen. Ich sehe die gefürchtete und von mir immer bekämpfte Spaltung voraus, ja, ich habe sie eigentlich schon vor Augen, indem von den beiden jüngeren Vertretern meines Faches an unserer Universität der eine sich für Pharmakochemie, der andere sich für Pharmakobotanik entschieden hat.

Trotz aller zur Einheit mahnenden Bestrebungen tritt doch immer wieder die Tendenz der Distraktion hervor. Und wir dürfen es nicht einmal beklagen: denn mit einer Spezialisierung ist ja auch gewöhnlich eine Vertiefung verbunden —— die sich spezialisieren sind niemals oberflächlich — und die Wissenschaft als solche erfährt nicht selten gerade von den Spezialisten besonders wertvolle Bereicherung. Aber ich möchte doch gerade an die jungen Kommilitonen die ernste Mahnung richten, sich nicht zu früh zu spezialisieren und den wissenschaftlichen Unterbau, auf dem sie ihr Lebenswerk errichten wollen, so breit und solid wie möglich zu konstruieren. Nur der allseitig gebildete Naturforscher und Mediziner wird sich auch bei seiner Spezialarbeit den weiten Blick bewahren für den Zusammenhang aller Erscheinungen in Natur und Leben und aus ihm die Kraft und Elastizität schöpfen, deren er bedarf, will er nicht in öder Detailarbeit ersticken.

Denn Anhäufen von Tatsachen und Beobachtungen und Experimenten

ist noch keine Wissenschaft. Der zielbewußte, aufs Allgemeine gerichtete Gedanke ist es erst, der aus ihnen etwas macht. Der Gedanke leitet uns zum Experiment und bei seiner Anstellung, und das Experiment leitet uns wieder zu neuen Gedanken. Planlose Beobachtungen, selbst noch so umfangreich und gut im einzelnen, sind wie die Blüten der anemophilen Pflanzen: Nur die wenigen, welche eine befruchtende Idee befällt, bilden Früchte und Samen, die vielen anderen vertrocknen und fallen ab. "La science sans philosophie est un simple bureau d'enregistrement" bemerkt ganz richtig HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN.

Der Gedanke leitet uns bei der Versuchsanordnung und der Beobachtung — er leitet uns aber auch bei der Deutung der Versuche und Beobachtungen. Er begleitet uns auf dem ganzen Wege und macht erst eine Summe von Beobachtungen zur Wissenschaft.

Und doch ist er nicht alles. Wollen wir wahre Fortschritte erzielen, so müssen wir noch einen anderen leichtfüßigeren Führer haben ins dunkele Reich der Zukunft — die Phantasie.

"Etwas vom Schauen des Dichters muß auch der Forscher in sich tragen", sagt HELMHOLTZ in seiner berühmten Heidelberger Jubiläumsrede. "Freilich ist letzterem mühsame und geduldige Arbeit nötig, um das Material zu sichten und bereit zu machen. Aber die Arbeit allein kann die lichtgebenden Ideen nicht herbei zwingen, diese springen wie Minerva aus dem Haupte des Jupiter unvermutet, ungeahnt: —wir wissen nicht von wannen sie kommen. Nur das ist sicher: dem, der das Leben nur zwischen Büchern und Papier kennen gelernt hat und dem, der durch einförmige Arbeit ermüdet und verdrossen ist, dem kommen sie nicht. Die Empfindung von Lebensfülle und Kraft muß da sein, wie sie vor allem das Wandern in der reinen Luft der Höhen gibt. Und wenn der stille Frieden des Waldes den Wanderer von der Unruhe der Welt scheidet, wenn er zu seinen Füssen die weiche, üppige Ebene mit ihren Feldern und Dörfern in einem Blicke umfasst und

die sinkende Sonne goldene Fäden über die fernen Berge spinnt, dann regen sich wohl auch sympathisch im dunklen Hintergrunde seiner Seele die Fäden neuer Ideen, die geeignet sind, Licht und Ordnung in der innern Welt der Vorstellungen aufleuchten zu machen, wo vorher Chaos und Dunkel war".

Freilich! — wie wenigen ist dieser divinatorische Scharfblick gegeben — und wie selten leuchtet ein Gott in den dunklen Hintergrund.

Wenn man allerdings die Hymnen hört, die begeisterte und formgewandte Forscher bei festlichen Gelegenheiten ertönen lassen, oder gewisse der Popularisierung der Naturwissenschaften gewidmete Schriften mit stark philosophischem Einschlag liest, bei deren Lektüre mir oft der HALLER'sche Vers einfällt:

Woher, o Stähelin, kömmt doch die Zuversicht,

Womit der schwächste Geist von hohen Sachen spricht? — so möchte man fast glauben, das Welträtsel oder gar alle sieben Welträtsel seien wirklich schon gelöst und es bleibe uns nun zu tun fast nichts mehr übrig.

Welch' grausamer Irrtum! Was ist von unseren Kenntnissen sicher und wo sehen wir wirklich klar? Die Elektrizität, die uns das XIX. Jahrhundert benutzen gelehrt hat und die uns jetzt täglich im Hause zur Verfügung steht wie Gas und Wasser, ist uns ihrem Wesen nach unbekannt. Die einen meinen, sie sei eine Energieform, die anderen aber — und gerade die Neueren — halten an ihrem atomistischen Charakter fest und ist nicht auch das Wesen aller chemischen Reaktionen noch völlig in Dunkel gehüllt? — wie das was wir in der Botanik das morphologische Bildungsgesetz nennen?

Und nun gar was "Leben"ist — wer wollte sich heute schon vermessen zu sagen, er wisse es? Scheint es nicht fast, als entfernten wir uns wieder mehr und mehr von einer mechanischen Erklärung desselben, der wir schon nahe zu sein schienen? Jedenfalls ist der Beweis, daß das Leben eine Folge von Wirkungen uns

bekannter Energieformen ist, noch von keiner Seite erbracht es verbleibt immer noch, wie der Physiker LODGE sagt, "außerhalb unserer gegenwärtigen Kategorien von Materie und Energie".

Und doch kann und soll nicht in Abrede gestellt werden, dan gerade die letzten 100 Jahre uns ganz enorme Fortschritte gebracht haben, auf dem Gebiete der Naturforschung ebenso wie auf dem der Medizin — Fortschritte größer als die aller früheren Jahrhunderte zusammengenommen. Aber trotz alledem gibt es doch noch heute Forscher genug, die finden, daß die viel verspotteten, ganz gegen die Absicht des Dichters tausendmal gedankenlos wiederholten, von GOETHE so gründlich missverstandenen Verse HALLERS:

Ins Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist

Zu glücklich, wann sie noch die äußre Schale weist, die der grosse, besonnene Gelehrte den seichten Aufklärern, den Stürmern und Drängern seiner Zeit entgegenwarf — auch noch im XX. Jahrhundert zu Recht bestehen. Sie entsprangen ja nicht geistiger Trägheit oder philisterhafter Selbstgenügsamkeit, sondern einer klugen Resignation. Und sagt nicht MONTAIGNES 200 Jahre früher geprägte Formel des Zweifels an der Erkennbarkeit der Welt: que scay-je? — ganz dasselbe? Wie auch das 150 Jahre nach HALLERS Ausspruch von Du Bors REYMOND verteidigte "Ignorabimus" — und das faustische: "und sehe, daß wir nichts wissen können"?

Die modernen Naturforscher lehnen freilich fast einstimmig das "Ignorabimus" ab. "Die Möglichkeit des Erkennens" sagt z. B. VERWORN (und ich möchte ihm beistimmen) "reicht so weit, wie der Inhalt der Welt, denn es besteht für uns kein Hindernis, mit jedem andern Bestandteil der Welt in Berührung zu treten"und der feinsinnige Sir OLIVER LODGE bezeichnet die kantische Idee, dass die Wirklichkeit beschränkt sei auf unsere Sinnesempfindungen, als so grotesk, daß die Gottheit, wenn sie Sinn für Humor besitze, sich sicher darüber belustigen würde, daß sein Geschöpf, der Mensch, so scharfsinnig sei, daß er der Belehrung mißtraue, ja sie ganz verwerfe,

die ihm durch eben die Werkzeuge zukommt, die es befähigt haben, das zu werden was es ist.

Ich meine aber, daß wir uns heute noch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen brauchen, ob wir wirklich nie ins "Innere" vordringen werden. Wir haben wirklich Nötigeres zu tun. Das "Innere der Natur", mit dem wohl HALLER etwas Ähnliches meinte, was KANT später "das Ding an sich" nannte, liegt für uns zurzeit noch so tief im Innern, daß noch Jahrtausende vergehen werden, bis wir — immer vorausgesetzt, das nicht eine neue Eiszeit alle unsere Kultur vernichtet — auch nur in seine Nähe gedrungen sind. Denn vorläufig kriechen wir noch auf der Oberfläche herum und sind nur wenige Millimeter in den Riesenball, den wir "Natur" nennen, eingedrungen. Aber gern schließe ich mich dem "Impavide progrediamur" des hochverdienten Biologen HAECKEL an, des Schöpfers der Abstammungslehre und der Phylogenie, die, wie Lang neulich in Jena ganz richtig bemerkte, "von der Frage nach den Entwickelungsfaktoren, nach den treibenden Kräften der Artenwandlung vollständig unabhängig ist", deren Bedeutung man also auch dann voll anerkennen kann, wenn man die an sie geknüpften weitgehenden Spekulationen ablehnt. Der Ruf klingt wie eine Fanfare, die schließlich zum Siege führen wird.

Und wie viele Siege sind schon erfochten! Das XIX. Jahrhundert, das von der Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft und der Konstanz der Materie beherrscht wird und das man viel eher das technische wie das naturwissenschaftliche nennen sollte, denn seine größten Triumphe liegen auf technischem Gebiet, hat sich die Mahnung HALLERS zu Nutze gemacht:

"Versuchts, ihr Sterblichen, macht euern Zustand besser,

Braucht was die Kunst erfand und die Natur euch gab!"

Wir haben zwar nicht, wie die Panegyriker gern zu sagen pflegen, die Naturkräfte "unterjocht", aber uns doch einige ihrer Eigenschaften zunutze gemacht und in der Tat unseren "Zustand" um so viel "besser" gemacht, daß heute ein Arbeiter grösseren

Komfort genießt als Karl der Große in seinen kalten und schlecht beleuchteten Kaiserpalästen.

Die technischen Leistungen unserer Zeit sind in der Tat bewunderungswürdig Technik heißt angewandte Wissenschaft. Und auf diesem Gebiete liegen auch die beiden praktisch wichtigsten Errungenschaften der Medizin der letzten 50 Jahre: die Anästhesierung und die Asepsis. Beide sind aus den Naturwissenschaften hervorgegangen. An der Anästhesierung ist die Chemie, an der Asepsis Chemie und Botanik beteiligt.

Wer je einer Operation, sei es auch einer noch so kleinen sich unterwerfen mußte, ja wer einer solchen auch nur beigewohnt hat, weiß welch große Wohltat den Kranken dadurch beschieden wurde, daß wir Mittel besitzen, die Operation durch allgemeine oder Lokal-Anästhetica ganz oder nahezu ganz schmerzlos durchzuführen und wie wichtig für das Gelingen der Operation die Narkose ist. Wer andererseits berücksichtigt, ein wie großer Prozentsatz von Kranken am Wundfieber, wie viele Frauen am Kindbettfieber zugrunde gingen, wird die Entdeckung der antiseptischen und aseptischen Methoden, die die Fiebererreger zu beseitigen oder auszuschliessen vermögen, als eine der segensreichsten Errungenschaften unserer Zeit preisen. Ja, ist nicht die Verhinderung oder Milderung von Schmerz und die Rettung von Menschenleben wichtiger noch, als daß wir unsere Wohnungen elektrisch beleuchten, das Bild auf die photographische Platte bannen, über Berg und Tal hin mit einander sprechen oder die Luft durchfliegen können? Ist dies nicht gleichzusetzen den großen, ihrer Lösung noch harrenden, ich möchte fast sagen "sozialen" Problemen der Chemie, der Nutzbarmachung des Stickstoffes der Luft zu Ernährungszwecken, der künstlichen Darstellung von billigem Eiweiss aus stickstoffhaltigen Abfällen, der Verwandlung von Holz in Stärke und der Überführung von Kohlensäure und Wasser in Stärkemehl — welche von jeder grünen Zelle spielend ausgeführte Synthese bekanntlich FERDINAND COHN, wenn sie dem Chemiker gelänge, der Lösung der sozialen Frage gleichachtete.

Denn zunächst das Leben, dann die Gesundheit bilden die notwendigen Voraussetzungen für jede menschliche Tätigkeit.

Die Dienste, welche gerade die Chemie der Heilkunde leisten konnte, sind sehr beträchtliche und keineswegs mit der Erfindung des Chloroforms, des wichtigsten der Allgemein-Anästhetika, erschöpft, wenn sie auch damit einsetzten. Aber gerade wie die Idee die zum Glühen erhitzten Oxyde der Erdalkalien zu Beleuchtungszwecken zu benutzen, die schon BUNSEN äußerte noch nicht die wirkliche praktisch-technische Realisierung der Idee in sich. schloß, der Weg zum Auerstrumpf, der heute in jedem Hause zu finden ist, vielmehr noch ein recht weiter war, so war mit der Entdeckung des Chloroforms, die 1831 fast gleichzeitig in Deutschland durch LIEBIG in Frankreich durch SOUBEYRAN erfolgte, noch nicht seine Verwendung in der Medizin gegeben. Noch vergingen 16 Jahre, bis FLOURENS die anästhesierenden Eigenschaften des Chloroforms entdeckte und der Arzt JAMES YOUNG SIMPSON es zum erstenmale bei einer Entbindung verwendete. Und bei dem schon 1540 von VALERIUS CORDUS entdeckten Äther verstrichen sogar 3 Jahrhunderte bis er von JACKSON als Anästhesierungsmittel erkannt und von WARREN (1846) zum erstenmale bei einer Operation benutzt wurde. Es ist also nicht allein das Verdienst der Chemie, es ist gemeinsame Arbeit von Naturforschung und Heilkunde, die uns die Anästhetica, das Chloroform und den Äther, beschert hat. Ja, selbst wenn die Wirkung eines Körpers schon vom Entdecker erkannt wurde, ist die Einführung in den Arzneischatz noch nicht immer die unmittelbare Folge gewesen. Als NIEMANN 1859 in Wöhlers Laboratorium die wichtigste Cocabase aus den Cocablättern isoliert hatte, erkannte er sogleich, dass sie die Zunge empfindungslos macht, aber erst nach 25 Jahren wurde das Cocain, jetzt unser vornehmstes Lokalanästheticum, dem Arzneischatze wirklich eingefügt!

Nicht viel anders erging es dem Chloral, das LIEBIG fast gleichzeitig mit dem Chloroform "entdeckte" — kann man eigentlich nicht

sagen, denn es existierte ja noch gar nicht vorher, man mun vielmehr sagen: "erfand". Erst 1868, also fast 40 Jahre nach seiner Erfindung, warf LIEBREICH die Frage auf, ob man nicht auf die schon LIEBIG bekannte Zerlegung des Chlorals in alkalischer Lösung in Chloroform und Ameisensäure eine therapeutische Verwendung des Chlorals als Einschläferungsmittel gründen könne. Er dachte sich, daß das gebildete Chloroform vom Blute aus hypnotisch wirken werde. Wir wissen nun freilich heute, dan die schlafbringende Wirkung des Chlorals nicht auf dieser Reaktion beruht, daß also die Idee, welche dem Versuche zugrunde lag, unrichtig war, aber es war doch eine Idee und sie führte schließlich zu einem Ziel. So hat sich schon oft selbst ein unrichtiger Gedanke fruchtbarer für den Fortschritt erwiesen, als eine lange Reihe gedankenlos angestellter Beobachtungen oder Experimente.

Mena agitat molem.

Die Geschichte des Chloroforms und Chlorals bietet aber auch einen Beleg für die allgemeine Erfahrung, "daß", wie A. W. HOFMANN sagt, "jede mit Ernst und Hingebung im ausschliesslichen Dienste der Wahrheit erforschte Tatsache, wie fern immer die Möglichkeit einer praktischen Verwertung zu liegen scheint, früher oder später auch den Zwecken des Lebens zugute kommt" — oder wohl richtiger: "zugute kommen kann." Etwas Ähnliches meinte wohl auch LADENBURG, als er über die Tür des Breslauer Laboratoriums die Worte setzte: "Suche die Wahrheit und frage nicht ob sie nützt". Aber am Ende dürfen wir doch wohl den Wert einer Entdeckung für die Menschheit darnach bemessen, wie groß der Nutzen ist, den sie schuf, wobei ich nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie an den praktischen Nutzen für das tägliche Leben denke, der sich in Franken ausdrücken läßt — an den dachte wohl LADENBURG — als vielmehr an den geistigen Gewinn, der in der Erweiterung unserer Erkenntnis und unseres Horizontes und in der Eroberung neuer Bezirke liegt, auch wenn dieselben zunächst noch nicht mit Brotfrucht bestellt werden können.

So liegt in dem LADENBURGschen Worte eigentlich ein Widerspruch, denn das Erkennen der Wahrheit nützt immer. Die zweite große Errungenschaft der Medizin, die Abtötung vorhandener Keime und die Abhaltung von Keimen ist die Antisepsis und Asepsis.

Wenn wir jetzt, ausgerüstet mit allen Erfahrungen unserer Zeit zurückblicken auf vergangene Jahrhunderte, so erkennen wir leicht in zahlreichen Maßnahmen der Alten solche der Antisepsis oder der Sterilisation und man hat ja denn auch wohl PLINIUS für den. Erfinder der Sterilisation des Wassers geglaubt ansehen zu müssen, weil er im XXXI. Buche seiner Naturgeschichte anführt daß verdorbenes Wasser durch Einkochen auf die Hälfte wieder brauchbar gemacht werden könne, wie überhaupt alles Wasser durch Kochen verbessert werde. Aber ebenso gut könnte man die Ägypter, die ja z. B. menschliche Leichen zu konservieren verstanden, als die Erfinder der Antisepsis ansehen, da ihnen die (wie wir heute sagen würden) antiseptische Wirkung der bekanntlich an Phenolen reichen Rusauszüge bekannt war, oder wenigstens DIOSKURIDES, der die fäulniswidrige Wirkung des Teers kannte oder HIPPOKRATES der ihn bei der Wundbehandlung benutzte.

Sobald irgend eine wichtige Entdeckung gemacht wird, beobachtet man ja stets die Erscheinung, daß zunächst die Richtigkeit der Entdeckung angezweifelt, dann aber nach Vorgängern gesucht wird, die "schon lange vorher" dasselbe behauptet. Nun ist es ja gewiß richtig, daß selten ein großer Gedanke sofort entwicklungskräftig auftritt, für gewöhnlich muss er mehrmals geboren werden oder in verschiedenen Formen auftauchen bis er wirken, Leben und Kräfte wecken kann, aber nur der ist der wahre Entdecker, der die Beziehungen klar erkannte und nur der ein "Wohltäter der Menschheit" — ein viel mißbrauchtes Wort — der die Entdeckung praktisch nutzbar zu machen verstand. "Wissen allein" sagt HELMHOLTZ" ist nicht Zweck des Menschen auf der Erde.... das Wissen muß sich im Leben auch betätigen."

Von einer Antisepsis oder Asepsis konnte erst die Rede sein, als die Bakterien nicht nur entdeckt, sondern auch ihre Beziehungen zu den Krankheiten erkannt waren. Also weder ATHANASIUS KIRCHER (1671) noch der Anatom JACOB HENLE, der schon 1840 ein Contagium animatum und Beziehungen zwischen den Parasiten als Krankheitserregern und dem Verlauf der Krankheiten angenommen hatte, noch SEMMELWEIS waren die Entdecker der antiseptischen Wundbehandlung. Sie wurde vorbereitet durch die Arbeiten von EHRENBERG und FERDINAND COHN, dem großen Lehrer ROBERT KOCHS (1847), und die botanisch-biologische Entdeckung der Panspermie durch PASTEUR (1860) und geschaffen durch die technisch-klinische Ausarbeitung der Methode durch LISTER (1867).

Die Beteiligung der Botanik an diesen so wichtigen Erfindungen und Entdeckungen ist relativ gering. Die Botaniker hatten die Bakterien ganz beiseite gelassen, da mit ihnen morphologisch und systematisch nicht viel anzufangen war. Selbst die Entdeckungen PASTEURS, der bekanntlich nicht Arzt war, haben sie nicht aus ihrer .Zurückhaltung herausgerissen und so ist denn — eine sehr merkwürdige Erscheinung — eine doch im wesentlichen botanische Disziplin außerhalb der Botanik zu einer selbständigen Wissenschaft geworden. Dass die Bakteriologie sich so glänzend entwickelte, ist wesentlich das Verdienst der Medizin. Der botanische Teil trat von Jahr zu Jahr mehr in den Hintergrund — man mußte ja neuerdings die Bakterien für die Botanik förmlich zurückerobern — und das medizinisch-technische wurde Hauptsache. Die Bakteriologen von heute sind keine Botaniker.

In seiner Rektoratsrede "Heilkunde und Pflanzenkunde" bemerkt der Berliner Kliniker GEBHARDT: "Die kühle, zurückhaltende und abweisende Stellung der meisten Pflanzenforscher (gegenüber der Bakteriologie) liess sich deuten als eine Art wissenschaftlicher Orthodoxie, als Furcht auf unsichere Wege zu geraten, als Abneigung, wieder zum Nutzen und im Dienste der Heilkunde zu

arbeiten (wie ehedem!). Sie nutzte, indem sie beitrug die Sturm- und Drangperiode der Bakteriologie zu kürzen, Illusionen frühzeitig zu zerstören."

Besser verstand die Chemie es sich zur Geltung zu bringen. Denn bei der Bekämpfung der Bakterien spielen ja chemische Präparate die Hauptrolle. Die systematische Durchprüfung der von der Chemie dem Arzte zur Verfügung gestellten antiseptisch wirkenden Präparate durch ROBERT KOCH war der Beginn einer neuen Ära der angewandten Chemie. Der allezeit rege Erfindungsgeist der Chemiker hat den schon bekannten Antisepticis rasch zahlreiche neue hinzugefügt und noch lässt der Strom der Entdeckungen nicht nach. Denn das große Problem ein Mittel zu finden, das selbst die so resistenten Sporen der Bakterien sicher tötet und das doch für den tierischen Organismus unschädlich ist, ist vollständig noch nicht gelöst.

Die medizinischen Aufgaben der Chemie wuchsen und ein neues Zeitalter der Iatrochemie brach an, als die Lehre von den Infektionskrankheiten auch an zahlreichen anderen Stellen Bakterien als Erreger von Krankheiten nachwies, wo man sie bisher noch nicht kannte, sondern nur ahnte.

Es gab ja schon einmal ein Zeitalter der Iatrochemie. Als die Alchemisten bankerott gemacht hatten, da sie ihr Ziel, unedle Metalle in edle zu verwandeln, nicht erreichen konnten, trat in jener Zeit, da der menschliche Geist die Fesseln der geistlosen Scholastik zerbrach, wo auch die Naturforschung —mit GOETHE zu reden — vom Staunen zur Betrachtung überging, in jener großen Zeit, in der HUTTEN ausrief: "Es ist eine Lust zu leben", PARACELSUS mit der These hervor: Die Chemie ist dazu da, um Krankheiten zu heilen, denn alle Krankheiten im Organismus sind anormal verlaufende chemische Prozesse. PARACELSUS, der wie alle Neuerer Zeit seines Lebens zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt war, und durch seine derbe Art sich so unbeliebt machte, daß sein Charakterbild erst in neuester Zeit von all den verzerrenden Zügen befreit

wurde, die seine Zeit hinein gezeichnet, war Schweizer. "Von der Natur bin ich nicht subtil gesponnen", sagte er von sich, "ist auch nicht meines Landes arth, daß man was mit seidenspinnen erlange. Wir werden auch nicht mit Feigen erzogen, noch mit medt, noch mit waizenbrodt, aber mit Käs, Milch und Haferbrodt. Das kann nit subtil gesellen machen". PARACELSUS war unzweifelhaft die markanteste Persönlichkeit, der originellste Arzt des XVI. Jahrhunderts. "Kein Mensch," sagt LIEBREICH, "hat für die Heilung der Krankheiten so mächtig gewirkt als er."

Des PARACELSUS medizinisch-chemische resp. pharmakologische Lehren, die jenes Zeitalter der Chemie bis in die Mitte des XVII. Jahrhunderts beherrschten, sind längst vergessen. Sie bilden aber in gewisser Hinsicht den Kern der Lehren der heutigen medizinischen Chemie und Pharmakologie, die ja die Vorgänge im Organismus, im gesunden und kranken, gern auf chemische Vorgänge zurückführen. Unbestritten aber dürfen wir den prächtigen Mann als den Schöpfer der pharmazeutischen Chemie und Pharmakochemie betrachten, denn seiner Lehre ist es zu danken, daß wir von nun an nicht nur chemische Präparate als Heilmittel angewendet finden, sondern daß auch die Quinta essentia aus zahlreichen Drogen extrahiert wurde. Auf ihn geht also in letzter Linie auch unsere moderne Heilmittelchemie zurück, die sich in unseren Tagen so glänzend entwickelte.

Als A. W. HOFMANN 1871 seinen bekannten Vortrag "Die organische Chemie und die Heilmittellehre" hielt, in dem er in schwungvollen Worten die Dienste schilderte, die die Chemie der Medizin geleistet, war noch nicht einmal die Morgenröte dieser Zeit erschienen. Erst 1873 erfand KOLBE die Synthese der Salizylsäure, die, historisch betrachtet, der Ausgangspunkt der Fabrikation synthetischer Heilmittel wurde. Denn durch Paarung der Salizylsäure, deren antiseptische Wirkung bereits KOLBE selbst feststellte, mit der 1834 von RUNGE im Teer entdeckten Karbolsäure, deren Verwendbarkeit als Antisepticum schon LISTER kannte,

gelangte NENCKI zum Salol, das, von SAHLI in den Arzneischatz eingeführt, jetzt sich in allen Pharmakopoëen Bürgerrecht erworben hat und einen neuen Typ, den der Darmantiseptica, bildet. Denn während die zuerst dargestellten neuen synthetischen Heilmittel nur äußerlichen Zwecken, vornehmlich der Wundbehandlung oder, wie das Chloroform, der Narkose dienten betrat man mit dem Salol den neuen Weg der innerlichen Anwendung der Antiseptica, der von dem Tage an gewiesen schien, als es sicher war, dass viele Krankheiten Infektionskrankheiten d. h. von Mikroorganismen bedingt sind.

Auch ein zweites Produkt der organischen Synthese aus der gleichen Gruppe von Heilmitteln hat von Bern aus seinen Eroberungszug angetreten. Das Guajakol, der Hauptbestandteil des Buchenholzteerkreosotes, der längst als Bekämpfungsmittel der Tuberkulose, der schlimmsten Geißel des Menschengeschlechtes bekannt war, wurde ebenfalls von SAHLI in den Arzneischatz eingeführt.

Phenol, Salizylsäure und Salol haben sich aber nicht nur selbst im Arzneischatze erhalten und befestigt, sie wurden die Ausgangspunkte ganzer Klassen neuer synthetischer Heilmittel, die, nach dem Prinzipe der Analogie aufgebaut, zwar eine Erweiterung, aber nicht immer eine Verbesserung des Arzneischatzes bedeuteten.

Eine andere Gruppe synthetischer Arzneimittel, die der Antipyretica, die berufen sind die Temperatur herabzusetzen, um das Fieber zu bekämpfen, ging vom Antifebrin aus, dessen antipyretische Eigenschaften ganz zufällig entdeckt wurden. Aus dieser Klasse der acetylierten Amine hat es bekanntlich besonders das Phenacetin zu Ruf und Ansehn gebracht, aber auch zahlreiche andere Glieder der Gruppe, durch mannigfache Variierung des Grundprinzipes erhalten, erfreuen sich der Beliebtheit bei den Ärzten.

Auf ganz anderem Wege gelangten wir zu einem anderen wichtigen Fiebermittel, dem Antipyrin. Schon vorhin habe ich darauf hingewiesen, daß bereits PARACELSUS den Gedanken aussprach,

daß aus den Arzneipflanzen die wirksamen Stoffe extrahiert werden sollten. Damit eröffnete er der Pharmakochemie die Pforte. Es dauerte aber noch lange, bis diese Pforte eine Paradiesespforte wurde. Da die chemische Durchforschung der Arzneipflanzen zunächst auf einen falschen Strang geriet, vergingen noch 300 Jahre bis auf diesem Felde Früchte reiften. Erst die Entdeckung des Morphins im Opium durch den Apotheker SERTÜRNER und des Chinins in der Chinarinde durch die Apotheker PELLETIER und CAVENTOU eröffneten die Reihe der glänzenden Entdeckungen des XIX. Jahrhunderts auf diesem Gebiet. Viele tausend von der Pflanze gebildete Stoffe sind seither in reiner Form isoliert worden und viele derselben sind, wenn sie auch nicht an Stelle der Droge traten und treten konnten, doch als wertvolle Heilmittel erkannt worden.

Die glänzenden Erfolge der synthetischen d. h. aus den Elementen aufbauenden Chemie, die uns nun schon 130000, nicht von der Natur gebildete, sondern im Laboratorium erzeugte Substanzen beschert hat — von denen allerdings nur ein kleiner Teil praktische Bedeutung erlangte — reizten natürlich die Chemiker, denen nichts mehr unmöglich schien, dazu, auch den Versuch zu wagen, die in der Natur vorkommenden, von der pflanzlichen Zelle erzeugten Substanzen künstlich aufzubauen. Das stolze Ziel ist bei vielen Körpern erreicht worden. Nachdem es gelungen war die Konstitution, den inneren Bau, die gegenseitige Lagerung der Atome im Molekül aufzuklären, stiess der Aufbau aus den bekannten Teilstücken nur selten auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Ja, heutzutage gilt die Synthese ganz allgemein als Schlussstein der Beweisführung für eine Formel.

Lange Zeit spielte das Problem künstliche Alkaloide, in erster Linie natürlich künstliches Chinin darzustellen, in der organischen Chemie eine große Rolle. Gerade seine Schwierigkeit reizte die Forscher. Denn es zeigte sich bald, dass die Verhältnisse nur selten so einfach lagen wie bei der Synthese des ersten Alkaloides, dessen

künstlicher Aufbau LADENBURG 1888 gelang d. h. bei der Base des Schierlings, dem Coniin. Aber der Grund, daß wir noch heute die Bildung der organischen Basen lieber der Pflanze überlassen, die uns ja bis auf den heutigen Tag noch am billigsten auch Zucker, Stärke, Harze und Öle fabriziert und von einer Fabrikation künstlicher Alkaloide nur erst in beschränktem Masse die Rede ist, liegt hauptsächlich daran, daß die Konstitution der meisten organischen Basen erst neuerdings aufgeklärt wurde und endgiltig die Akten nur über wenige geschlossen sind.

Aus jener Zeit, wo zahlreiche Chemiker an der Arbeit waren künstliches Chinin zu machen, stammt nun auch die Entdeckung des Antipyrins (1884). KNORR hat zwar nicht das Problem gelöst, synthetisch das Chininmolekül aufzubauen — das war damals noch gar nicht möglich, denn die Formel des Chinins steht ja auch heute noch nicht in allen Teilen sicher fest — aber er hat den Arzneischatz mit einem wertvollen Heilmittel bereichert, das, wenn auch nicht die erste künstliche organische Base — das war das Kairin und das Thallin — so doch die bis heute wertvollste geblieben ist und von dem sich jetzt zahllose andere Heilmittel ableiten.

In neuerer Zeit treten die Versuche künstliche Basen herzustellen etwas zurück gegen zwei andere Probleme, denen man eine gewisse Bedeutung nicht absprechen kann.

Eine der für den Arzt lästigsten Eigenschaften vieler Heilmittel ist es ja bekanntlich, daß sie neben der beabsichtigten Hauptwirkung oft unangenehme "Nebenwirkungen" zeigen, ja es gibt zur Zeit wohl kein Heilmittel, das ganz frei von diesen nicht beabsichtigten Nebenwirkungen wäre. Man hat daher den Versuch gemacht, künstliche Ersatzmittel für von der Pflanze gebildete Substanzen herzustellen, denen die ungünstigen Nebenwirkungen abgehen und sodann durch Einschiebung von Atomkomplexen in von der Pflanze gebildete Moleküle oder Paarung mit anderen Körpern diese in ihrer Wirkung zu modifizieren gesucht. Bestrebungen der erstgenannten

Art führten zum Eucain, solche der zweiten zum Dionin, Heroin, Euchinin, Aspirin und dem Theobromino-Natrium salicylicum, dem sog. Diuretin.

Bei diesen Versuchen zeigte sich nun freilich, daß das Ziel nicht so leicht zu erreichen war, dass, wenn auch z. B. unangenehme Wirkungen auf das Herz ausgeschlossen werden konnten, doch oft solche auf die Nieren eintraten und umgekehrt. Namentlich aber trat auf das deutlichste hervor, daß es zur Zeit völlig unmöglich ist, die Heilwirkung irgend eines in Aussicht genommenen Körpers sicher voraus zu sagen. Kein Gebiet ist noch so dunkel und auf keinem gibt es noch so viele Überraschungen als auf dem der Heilmittelsynthese. Die Beziehungen zwischen chemischer Konstitution des Heilmittels und seiner pharmakologischen Wirkung — deren Studium mit den schon 1868 veröffentlichten Untersuchungen von BROWN und FRASER über das Strychnin und Methylstrychnin einsetzt — sind nur erst in einigen wenigen Fällen erkannt. Und das ist ja gar nicht verwunderlich. Kennen wir doch nur die Konstitution der einen Komponente. Die andere, der Organismus, auf den das Heilmittel einwirkt, ist ein auch chemisch so kompliziertes Gebilde, dan wir noch ziemlich ratlos vor ihm stehen.

Nicht ausführen, nur andeuten konnte ich, nach welchen Hauptgrundsätzen die moderne Chemie bei der Herstellung synthetischer Heilmittel verfährt. Sie lehnt sich, wie Sie sehen, vielfach an die Natur an und benutzt ihre Winke. Aber sie geht auch ihre eigenen Wege. Es ist interessant zu sehen, daß die an das Jodoform anknüpfenden Versuche der Herstellung von jodierten Substanzen, wie die an die längst bekannte Phenolsulfosäure anknüpfenden, den Schwefelsäurerest einzuführen — für beide fehlt es zunächst an Analogien in der Natur — zu zum Teil sehr wertvollen Substanzen geführt haben, von denen einige ja sogar in unsere neue schweizerische, bekanntlich sehr fortschrittliche Pharmakopoöe aufgenommen worden sind, wie das Vioform, das Xeroform das Sozojodol und das von einem meiner Schüler erfundene Airol

Kein Zweifel: Die Dienste, welche die Chemie der Heilkunde leistete und täglich noch leistet, sind außerordentliche. Aber ebensowenig wie PASTEUR der Erfinder der antiseptischen Wundbehandlung ist und erst LISTER kommen mußte, um die Entdeckungen für die Medizin nutzbar zu machen, ebensowenig ist die Chemie allein imstande, diese Fragen zu lösen. Sie bedarf der Medizin, speziell der Pharmakologie dazu. Es ist gemeinsame Arbeit von Naturforschung und Heilkunde, was wir hier vor uns haben.

Und gemeinsame Arbeit von Chemie und Medizin ist auch das was wir medizinische oder physiologische Chemie nennen. Aus der innigsten Durchdringung von Chemie und Heilkunde entstanden, hat sich diese Disziplin, von deren hervorragendsten Vertretern wir zwei — NENCKI und DRECHSEL — hier in Bern wirken sahen, zu immer grösserer Bedeutung emporgearbeitet und das Band, das Chemie und Klinik von jeher umschlang, zu einem unlösbaren gemacht. Wie denn auch niemand mehr die "Notwendigkeit chemischer Betrachtung, als unabweislicher Grundlage für das Verständnis der Geheimnisse des Lebens", bezweifelt. "Chemia est para medicinae" schrieb 1636 ZACHARIAS BRENDEL. Der Satz ist heute nicht mehr giltig. Er war es zu einer Zeit, wo die Iatrochemiker herrschten. Seit dem Beginn des XIX. Jahrhunderts ist die Chemie selbständig geworden. Sie ist nicht mehr nur die Magd der Medizin. Wir treiben Chemie um ihrer selbst willen. Ja, die Chemie hat sich sogar neuerdings durch die Bestrebungen der mathematisch-physikalischen Richtung in ihr ihren höchsten Zielen merklich genähert.

Ich möchte der Bemerkung KANTS daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen sei" — auch in der Abänderung von DU BOIS REYMOND, der für Mathematik "Mechanik der Atome" zu setzen wünschte, nicht unbedingt zustimmen, denn ich finde, daß jede Wissenschaft ihre eigenen Gesetze in sich

trägt und die Grundsätze einer anderen Wissenschaft nicht für sie unmittelbar maßgebend sind.

"Mit Mathematik allein kann man jedenfalls in der Naturwissenschaft nur ausbauen nicht aufbauen", bemerkt C. ENGLER "jeder irgend erhebliche Aufbau und Neubau geht zunächst aus Empirie hervor und mit Mathematik allein ist auch in der Tat noch keine wesentliche typisch neue Entdeckung in der Wissenschaft der Natur gemacht worden". Vielleicht daß einmal ein NEWTON erscheinen wird, der "alle chemischen Vorgänge in der Denkweise und Sprache der mathematischen Physik darstellt", — es wäre dies gewiss sehr schön —, aber das liegt noch in weiter Ferne.

War es vielleicht im XVIII. Jahrhundert zulässig, der Chemie den Namen einer Wissenschaft abzusprechen und sie unter die "Experimentallehren" zu verweisen, wie KANT es tat, der hinsichtlich seiner chemischen Kenntnisse noch auf dem Standpunkte der Phlogistiker stand, so erscheint dies heute nach 120 Jahren nicht mehr angebracht. Denn heute ist ja die Chemie bereits von den Lehren der mathematischen Physik durchdrungen. Diese Durchdringung hat ihr nicht nur neue Bezirke eröffnet, sondern auch ihre Grundlagen erweitert und verstärkt und eine "Mechanik der Atome" wenigstens angebahnt.

Es ist erfreulich zu sehen, daß auch diese Fortschritte der Chemie der Medizin zugute gekommen sind. Wenn auch zunächst nicht in dem Umfange wie die Ergebnisse der analytischen und synthetischen Organischen Chemie, von denen vorhin die Rede war, sehen wir neuerdings doch schon in bemerkenswerter Weise auch die Lehren der physikalischen Chemie und auch der Physik in die Medizin eindringen und zwar nicht nur in die theoretischen Fächer, wie die Physiologie, sondern auch in die klinische Medizin. Man hat rasch begriffen, daß die Theorie der elektrolytischen Dissoziation, das Gesetz des osmotischen Druckes u. a. m. auch für die wissenschaftliche Medizin von grosser Bedeutung sind

und mehr wie die Physik hat bis jetzt die Heilkunde aus der Entdeckung RÖNTGENS Nutzen gezogen. Ich darf wohl hier auch daran erinnern, daß es der Berner Physiologe VALENTIN war, der das Blutspektrum entdeckte — eine Beobachtung von weittragender Bedeutung für die Chemie, Biologie und Medizin.

Aber selbst wenn man der Chemie nur den Rang einer Experimentallehre zuerkennen will, so darf sie sich damit getrösten, innerhalb dieses Rahmens schon so vieles geleistet zu haben, wie kaum eine andere ihrer Schwesterwissenschaften, denn sie hat gelernt, in vielem die Natur zu übertreffen.

"Was man an der Natur Geheimnisvolles pries,
Das wagen wir verständig zu probieren
Und was man sonst organisieren ließ,
Das lassen wir kristallisieren".

"Die Natur zu übertreffen" ist nun aber auch der Botanik gelungen und der angewandten noch viel früher als der reinen. Wir dürfen den Satz aufstellen, daß die grosse Mehrzahl der Pflanzen unmittelbar nicht für die Nahrung des Menschen brauchbar ist. Unsere Getreidepflanzen, unsere Obstsorten, die Leguminosen der Wein, die Dattel, die Olive sind erst durch die Hand des Menschen das geworden, was sie sind. Es sind, sehr alte, bis in das vierte Jahrtausend vor Christo zurückreichende "physiologische Experimente" — wie der Gelehrte sagen würde —die durch "Züchtung", — wie der Laie sagt —, die wertvollen Kulturformen erzeugten, die uns heute unentbehrlich sind, wie ja auch zahlreiche GenußmitteI wie der Tee, der Kakao, die Vanille erst durch einen Fermentierungsprozeß, also menschlichen Eingriff, wirklich brauchbar gemacht werden. Und physiologische Versuche, allerdings viel neueren Datums, sind es, die dazu geführt haben, auch die Arzneipflanzen durch Kultur zu verbessern. Diese Versuche stecken freilich noch in den Kinderschuhen. Nur bei wenigen Arzneipflanzen ist es geglückt, "die Natur zu übertreffen".

Bei dem Baume, der uns die Chinarinde liefert, hat die Kultur eine Rinde erzeugt, die über 10 Prozent mehr Alkaloide enthält, als je in einer natürlichen Rinde beobachtet wurden. Ich zweifle aber gar nicht daran, daß es möglich ist, ein ebenso glänzendes Resultat auch bei allen anderen Arzneipflanzen zu erzielen, ja es liegt sogar vollständig im Bereiche die Möglichkeit, das es gelingt, durch die Kultur einen Bestandteil zu unterdrücken und einen andern, der für die Medizin wertvoller ist, in seiner Menge so zu fördern, daß er zur Dominante wird. Denn dies Ziel ist nicht nur beim Apfel längst erreicht, dessen Urform bekanntlich sehr gerbstoffreich und sehr zuckerarm ist, während unsere heutigen Sorten das umgekehrte Verhältnis zeigen, sondern man kennt schon jetzt Mittel und Wege, z. B. ausschließlich den Chiningehalt der Chinarinden zu steigern.

Hier liegen große Probleme der Zukunft. Die auf chemischer und botanischer Grundlage ruhende experimentelle "Pharmakophysiologie" wie ich diesen Zweig meiner Wissenschaft genannt habe, wird der Medizin noch viele Dienste erweisen, mehr vielleicht noch, als es die Systematik und Anatomie seither tun konnte.

Es sind also experimenteller Behandlung zugängliche pflanzenphysiologische Probleme, von denen ich den Fortschritt erwarte.

Längst hat ja auch die Botanik aufgehört, eine rein "beschreibende" Wissenschaft zu. sein. Sie ist nicht einmal mehr in ihrem systematischen Teil rein deskriptiv, in dem physiologischen ist sie längst zum Experiment geschritten. Wir kennen eine experimentelle Morphologie, jede Keimungs-, jede Entwickelungs-Geschichte ist experimenteller Natur. Und daß selbst die Mykologie experimenteller Behandlung zugänglich ist, hat uns ja unter anderen unser bernischer Kollege EDUARD FISCHER gelehrt, dem wir neben PLOWRIGHT, ERIKSSON und KLEBAHN den Ausbau der experimentellen Mykologie verdanken. Alle Disziplinen der scientia amabilis sind von der Naturbetrachtung zur Naturerforschung übergegangen.

Es ist eine Torheit jetzt noch zwischen "beschreibenden" und "experimentellen" oder gar "exakten" Naturwissenschaften unterscheiden zu wollen. Jedenfalls ist die Botanik genau so exakt wie die Chemie und jede unter einer bestimmten Fragestellung angestellte Beobachtung ist ein "Experiment".

Gar so tragisch braucht die Botanik übrigens die Sache nicht zu nehmen. Da nach der Definition des Physikers KIRCHHOFF selbst die analytische Mechanik (und damit die ganze Physik) eine Beschreibung der in der Natur vor sich gehenden Bewegungen ist (,,Beschreibung" hier allerdings im höchsten Sinne als "zusammenfassende Darstellung" verstanden), so darf das Wort "beschreibende Naturwissenschaften" auch auf die physikalisch. chemischen ausgedehnt werden. Am besten läßt man aber den Unterschied ganz fallen.

Uralt ist der Einfluß, den ein Zweig der Naturforschung, der allerdings erst in neuerer Zeit als Naturwissenschaft betrieben wird, die Psychologie, auf die Medizin gewonnen hat. In der Tat liegt kein Grund vor, die seelischen Vorgänge nicht ebenso wie alle übrigen Erscheinungen der Natur mit den Methoden der Naturforschung zu studieren. Unzweifelhaft ist die experimentelle Psychologie, die ja an unserer Universität ganz mit Recht ihr eigenes Laboratorium, ihren eigenen Fachvertreter hat, eine Naturwissenschaft Die Anwendung ihrer Lehren auf die praktische Medizin hat zur Psychotherapie geführt, die bekanntlich gerade hier in Bern in DUBOIS einen ihrer erfolgreichsten Vertreter besitzt. Eigentlich ist aber ein grosser Teil der Tätigkeit des praktischen Arztes überhaupt nichts anderes als Psychotherapie, d. h. er beruht auf seelischer Einwirkung des Arztes auf den Kranken. Der Arzt sucht durch Vorstellungen auf das Seelenleben des Patienten einzuwirken und erreicht dadurch oft mehr als durch ein Rezept oder verstärkt doch die unumgängliche therapeutische Behandlung durch die seelische.

Das ist wie gesagt, eine uralte Therapie. Durch die neuerlichen Ausgrabungen im Zweistromlande und nördlich davon haben wir

schon jetzt eine ungefähre Vorstellung der Therapie der Sumerer, Babylonier und Assyrier Jahrtausende vor Christi Geburt erhalten. Gar häufig begegnen wir auf den Keilschrifttafeln den umfangreichsten sogenannten "Beschwörungsformeln" und erst ganz am Schlusse folgt das Heilmittel. Man nennt das gewöhnlich "Aberglauben" und spricht in hochmütigem Tone von jenen "dunklen" Zeiten, Ich glaube ganz mit Unrecht. Viel wahrscheinlicher ist es, daß schon in jener vier, zum Teil sogar sechs und sieben Jahrtausende hinter uns liegenden Zeit die Psychotherapie bei den sich einer reichen Kultur erfreuenden Sumerern, den Völkern des Euphratthales und auch bei den Ägyptern hochentwickelt war und daß die Ärzte damals keineswegs im Aberglauben befangen waren, sondern die Anwendung der Heilmittel durch psychotherapeutische Massnahmen unterstützten, die suggestiv auf den Kranken einwirken sollten. Das erscheint um so wahrscheinlicher, als wir schon jetzt wissen, daß die Ärzte des Zweistromlandes sicher Hunderte, wahrscheinlich Tausende von, pflanzlichen Heilmitteln kannten und anwendeten, also keineswegs nur auf "Beschwörungsformeln" und sog. "symbolische" Handlungen angewiesen waren. Sehr wahrscheinlich besaßen die Babylonier eine in ein förmliches System gebrachte Suggestionstherapie.

Ganz mit Recht fordert man vom Arzte, daß er, bevor er in das eigentliche Fachstudium eintritt, zunächst sich in den Naturwissenschaften Kenntnisse erwerbe. "Zur Erforschung der Tatsachen", sagt der Kliniker GEBHARDT, "ist dem Arzte die naturgeschichtliche Übung von vorbereitendem Werte. Er lernt die Sinne üben, schärfen und bewaffnen, Unterscheidungsmerkmale aufsuchen, Zusammengehöriges nebeneinander stellen und ordnen. Dieser Einfluß naturgeschichtlicher Methode und Vorübung läßt sich an den Arbeiten vieler hervorragender Ärzte nachweisen, an dem System SCHÖNLEINS, an den klassischen Beschreibungen ROKITANSKYS", und eben dieser selbe ROKITANSKY setzt einer seiner prächtigen Reden das Motto vor: "Der Adel der Heilkunde ist dieser, daß

sie eine Tochter der Naturwissenschaft ist", welchen Gedanken HELMHOLTZ in die Worte kleidete, "daß es der Jungbrunnen der Naturwissenschaft sei, in welchem die Medizin stets neues Leben und frische Kraft gewonnen habe".

Und unter Naturwissenschaft soll hier nicht nur Chemie, Physik und Botanik verstanden werden. Auch der Zoologie misst z. B. KÖLLIKER eine hohe Bedeutung bei.

Leider ist die naturwissenschaftliche Vorbereitung des Arztes zu kurz. Aber das ärztliche Studium ist ohnehin so lang, daß ich nicht wage, eine Verlängerung der Vorbereitungszeit vorzuschlagen. Namentlich eine gründliche botanische und chemische Schulung und genauere Bekanntschaft mit den Drogen und ihren Bestandteilen, also eingehende Beschäftigung mit Naturwissenschaften, würde dem Arzte, dessen ganze praktische Tätigkeit ja auf Naturbeobachtung gestellt ist, von großem Nutzen sein, ihn vor Schematismus und Einseitigkeit bewahren und ihm die Möglichkeit verschaffen, sich in der Flut der modernen naturwissenschaftlichen Theorien ein eigenes Urteil zu bilden. So würde sich die vielfach verlorengegangene Einheit von Naturforschung und Medizin, die HALLER als die Grundlage für den Fortschritt in der Medizin ansah, wieder herstellen.

Wenn ich einer innigeren Verknüpfung der Naturwissenschaften mit der Medizin oder richtiger einer Durchdringung der Medizin mit Naturforschung das Wort rede, befinde ich mich in guter Gesellschaft. In seiner geistvollen Rede "Das Denken in der Medizin" hat HELMHOLTZ schon vor 30 Jahren betont, dan der Arzt Naturforscher sein müsse, und daß die Medizin den Naturwissenschaften viele ihrer besten Bestandteile verdanke. "Um endlich" schließt HELMHOLTZ seine Rede "unsere Konsultation über den Zustand der Dame Medizin mit der Epikrisis zu schließen: so meine ich, wir haben alle Ursache mit dem Erfolge der Behandlung zufrieden zu sein, die ihr die naturwissenschaftliche Schule hat angedeihen lassen, und wir können der jüngeren Generation nur empfehlen, in derselben Therapie fortzufahren".

Ungeheuer ist noch das zu durchforschende Gebiet in Naturforschung und Heilkunde. Trotz allem Erreichten stehen wir noch am Anfang. Alle Kräfte müssen wir auf die Arbeit im eigenen Garten verwenden. Wir dürfen auf bis zu den höchsten metaphysischen Problemen vordringende Spekulationen um so eher verzichten, als wir uns mit ihnen auf ein fremdes Gebiet, in fremde Gärten begeben, in denen zwar lockende Früchte reifen, nach denen zu greifen aber für den Naturforscher nicht ganz ungefährlich ist. Denn ebenso, wie wir nur mit stillem Lächeln den Philosophen im Garten der Naturwissenschaft wandeln und sich dort verirren sehen, so ist auch selten viel dabei herausgekommen, wenn Naturforscher, den realen Boden verlassend, sich in Spekulationen verloren und Welträtsel zu lösen versuchten.

Der kluge englische Philosoph und Staatsmann BALFOUR hat einmal auf einer Versammlung der British association darauf hingewiesen, daß es eigentlich recht wünschenswert sei die jetzt niedergerissene Schranke zwischen Naturwissenschaft und Philosophie wieder aufzurichten. So weit möchte ich nicht gehen. Ohne philosophisches Denken kommt der Naturforscher nicht aus. Und es könnte manchem nichts schaden, wenn er logisch denken gelernt hätte und erkenntnistheoretisch geschult wäre. Und auch vom Arzte gilt das gleiche. "Gott ähnlich ist der Arzt, der Philosoph ist", sagt schon HIPPOKRATES. Aber es gibt innerhalb der Schranken unserer Erkenntnis so viel Gelegenheit, die guten Grundsätze der Philosophie anzuwenden, dass wir vorläufig gar nicht nötig haben, in ikarischem Fluge die Grenzen des Naturerkennens zu überfliegen, so lockend auch ein solcher Flug für jeden mit Phantasie begabten Forscher ist.

Gewiß ist eine Weltanschauung unser höchstes Ziel aber wir kommen erst zu ihr durch eine möglichst vollkommene Erdanschauung, um die es ja auch selbst einem GOETHE in erster Linie und mehr wie um eine Weltanschauung zu tun war.

Was wir in Naturforschung und Heilkunde brauchen, ist eine durch folgerichtiges Denken geregelte und geleitete Arbeit — wie sie KANT charakterisiert. "Die Vernunft muß" sagt er, "mit ihren Prinzipien, nach denen allein nur übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in der einen Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestellten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt."

"So lange es Leute von hinreichend gesteigertem Eigendünkel geben wird", sagt HELMHOLTZ, "die sich einbilden, durch Blitze der Genialität leisten zu können, was das Menschengeschlecht sonst nur durch mühsame Arbeit zu erreichen hoffen darf, wird es auch Hypothesen geben, welche als Dogmen vorgetragen, alle Rätsel auf einmal zu lösen versprechen".

Mit diesen Worten wendet sich der große Forscher aber nur gegen das "leere" Hypothesenmachen, nicht gegen die Hypothes selbst. Wir brauchen sie, um vorwärts zu kommen. "Wäre kein Colon, kein Magelhaes aus Spanien abgesegelt, so wären zwar viele Schiffbruche vermieden, aber auch keine neue Welt entdeckt worden".

Mehr wie vage Hypothesen brauchen wir aber ernste, strenge Arbeit.

Wie HALLER sich diese Arbeit des Universitätslehrers dachte, hat er in der berühmten Rede ausgeführt, mit der er die erste Sitzung der von ihm gegründeten Gesellschaft der Wissenschaft zu Göttingen eröffnete. "Die Bemühung, Jünglinge zu bilden", sagt er, "und das arbeitsvolle Amt eines akademisch gebildeten Lehrers erfordert eine einsame und gleichsam von aller Freundschaft ausgeschlossene Lebensart. Von den Büchern geht man zu den Vorlesungen, von denselben kehrt man wiederum zu anderen Arbeiten zurück und der Tag verstreicht unter stets angestrengten Seelenkräften;

er wird durch keine Erholung, durch keinen anderen Trost gemildert, als denjenigen, den das Bewußtsein gibt, seine Pflicht redlich erfüllt zu haben".

Diese Worte, die uns den ganzen Mann vor Augen stellen, wie er ernst und einsam durchs Leben ging und die seine Arbeitsweise so schön und schlicht charakterisieren, enthalten aber nicht das Rezept des richtigen Arbeitens für uns andere. Gerade die Disziplin als deren Begründer wir HALLER verehren, die Physiologie, hat uns gelehrt, daß das in steter Arbeit ermüdete Gehirn schlecht arbeitet und daß wir nicht nur dem Körper, sondern auch dem Geiste Erholung gönnen müssen.

Ich habe daher Ihnen, meine jungen Kommilitonen, die Sie in die Hochschule neu eingetreten sind, bei der feierlichen Immatrikulation die Mahnung mit auf den Weg gegeben, ihre Zeit recht einzuteilen zwischen Arbeit und Erholung. Dann kann man nicht nur vieles leisten, sondern sich auch lange leistungsfähig erhalten.

So wollen wir denn vereint weiter arbeiten und das Spekulieren denen überlassen, deren Beruf es ist. Es gibt noch reichlich zu tun, und zahlreiche, glänzenden Erfolg versprechende Aufgaben innerhalb der Grenzen des Erkennens in Naturforschung und

Heilkunde und in segensreicher Durchdringung und Zusammenarbeit beider. Ob DU BOIS REYMONDS "Ignorabimus" richtig ist oder nicht — wir wissen es nicht. Sicher ist das "Ignoramus" richtig. Ihm aber setzen wir ein freudiges und energisches "Laboremus" entgegen.