Das ethische Problem
in der modernen Philosophie
REDE
GEHALTEN AM 15. NOVEMBER 1912
ZUR FEIERLICHEN ERÖFFNUNG DES STUDIENJAHRES VON
LEO MICHEL, O. P.
REKTOR DER UNIVERSITAET
FREIBURG (SCHWEIZ)
ST. PAULUS-DRUCKEREI 1913
Die Menschen unterscheiden rein physisch-mechanische
und sittliche Handlungen; sie unterscheiden eine physische
und eine sittliche Weltordnung; sie unterscheiden sittlich
gute, erlaubte und sittlich schlechte, verbotene Handlungen.
Das ist eine Tatsache des Bewußtseins und der äußeren
Erfahrung.
Das physisch Gute und das sittlich Gute, das physisch
Schlechte und das sittlich Schlechte sind nicht identische
Begriffe. Es kann etwas physisch gut sein, weil es Lust oder
Nutzen verursacht und dennoch sittlich schlecht sein.
Im Bewußtsein des Menschen liegt der kategorische Imperativ
des Sollens: du sollst das sittlich Gute tun und das
sittlich Schlechte meiden, auch dann, wenn das sittlich Gute
Schmerz oder das sittlich Schlechte Lust verursacht. Mit
diesem kategorischen Imperativ hängen zusammen die sittlichen
Phänomene als Konsequenzen, wie die Zurechnung,
Verantwortlichkeit, das Gewissen, Lohn und Strafe. Der
kategorische Imperativ und die sittlichen Phänomene können
nicht zurückgeführt werden auf die physischen Gesetze der
Natur, auf die physische Weltordnung; sie setzen ein Sittengesetz,
eine sittliche Weltordnung voraus. Soweit die Handlungen
der Menschen der äußeren Erfahrung unterworfen
sind, bestätigen sie diese Unterscheidung.
Der Zweck und die Aufgabe der Philosophie ist es, die
Tatsachen und Phänomene der Empirie, somit den Inhalt
des Bewußtseins und der äußeren Erfahrung zu erklären und
zu begründen. Die wissenschaftliche Forschung beginnt
damit, daß das, was bisher selbstverständlich war, zum
Problem wird. Ist nun der Unterschied zwischen der physischen
und der sittlichen Ordnung begründet? Liegt der
Grund in der Natur des Menschen, oder ist er nur ein Schein,
eine Täuschung, in welcher die Menschen befangen sind.
Damit ist das fundamentale Problem der Ethik gestellt, alle
übrigen ethischen Probleme setzen dieses voraus und müssen
auf dieses zurückgeführt werden.
Die Philosophie als Ganzes umfaßt alle Kategorien des
Seins. Das begriffliche Sein ist Objekt der Logik, das reale
wirkliche Sein ist Objekt der Metaphysik, das sittliche Sein,
die sittlichen Handlungen das Objekt der Ethik, und darum
ist die Ethik ein Teil der Philosophie. Die Philosophie als
einheitliche geschlossene Weltanschauung kann die sittlichen
Handlungen, die sittliche Ordnung und ihre Phänomene
nicht aus ihrem Bereiche ausschließen.
Die Ethik ist eine praktische Disziplin, die praktische
Philosophie. Alle praktischen Disziplinen beruhen auf theoretischen,
sie sind nichts anderes als Anwendungen theoretischer
Erkenntnisse zur Lösung praktischer Aufgaben.
In der Wissenschaft ist die Vernunfttätigkeit, die Erkenntnis,
die Spekulation und die Theorie früher als die Willenstätigkeit,
die Praxis; darum ist die Ethik als praktische
Philosophie abhängig von der theoretischen Philosophie;
diese muß gewisse Bedingungen erfüllen, von denen die
Möglichkeit der Ethik, der sittlichen Ordnung abhängig ist.
Jeder Versuch, eine Ethik konstruieren zu wollen, unabhängig
von der theoretischen Philosophie, jeder Versuch, die
Hegemonie der praktischen Vernunft, des Willens über die
spekulative Vernunft zu proklamieren, ist gescheitert und
mußte scheitern.
Insbesondere sind es zwei Kategorien von Bedingungen
und Voraussetzungen, welche die theoretische Philosophie
erfüllen muß — erkenntnistheoretische und metaphysische —
von welchen die Möglichkeit einer Ethik abhängig ist.
Kann die moderne theoretische Philosophie diese Bedingungen
erfüllen? Wir antworten mit Nein. In der modernen
Philosophie und mit den Prinzipien der modernen Philosophie
ist eine Ethik im eigentlichen. Sinne, eine sittliche Ordnung
nicht möglich. Das ethische Problem kann durch die
moderne Philosophie nicht gelöst werden.
I.
Die erkenntnistheoretischen Bedingungen der Möglichkeit
der Ethik.
Die sittliche Handlung setzt als Substrat die reale physische
Handlung voraus, wie die vernünftige Natur des
Menschen die animalische voraussetzt. Daher ist das Substrat
der sittlichen Ordnung die reale, physische Ordnung der
Natur. Die sittliche Pflicht, das Recht meines Mitmenschen
zu achten, hat zur Voraussetzung, daß es in Wirklichkeit
von meinem subjektiven Denken unabhängige Rechtssubjekte
gibt, daß zwischen den Menschen untereinander wirkliche,
reale Beziehungen existieren, welche in der allgemeinen
physischen Natur und in der spezifischen Natur des Menschen,
unabhängig von meinem Denken begründet sind. Daher
muß die theoretische Philosophie, die Erkenntnistheorie, den
Beweis erbringen, daß unsere Erkenntnis das wirkliche Sein
der Dinge erreicht, daß unsere Erkenntnis einen objektiv-realen
Wert besitzt. — Die Ethik als Wissenschaft setzt
allgemeine Begriffe und allgemeine, notwendige Prinzipien
von objektiv-realem Wert voraus, ohne welche überhaupt
keine Wissenschaft möglich ist, und umso weniger eine Ethik
als praktische Wissenschaft.
Die Erkenntnistheorie der modernen Philosophie ist nicht
imstande, diese Bedingungen zu erfüllen. Die Erkenntnistheorie
in der modernen Philosophie ist entweder eine empiristische
oder eine idealistische. Alle übrigen erkenntnistheoretischen
Formen und Versuche in der modernen Philosophie
müssen auf die eine oder andere dieser beiden Grundformen
zurückgeführt werden und beide erfüllen nicht die
Bedingungen für die Möglichkeit der Ethik.
Der Empirismus gelangt nicht zu allgemeinen Begriffen
und Prinzipien, die für die Ethik notwendig sind. Der Empirismus
kann höchstens nachweisen, wie die Menschen tatsächlich
handeln, er beschränkt sich auf das, wie es ist. Die Ethik
hat aber nicht allein zu zeigen, wie die Menschen tatsächlich
handeln, sondern auch wie sie handeln sollen, um sittlich gut
zu sein. Eine Hauptaufgabe der Ethik ist es, den Nachweis
zu erbringen, wie es sein soll. Auf dem Boden des Empirismus
kann höchstens eine Ethographie, eine Beschreibung der
Sitten und Gewohnheiten der Menschen, oder eine Moralstatistik
gedeihen, aber keine Ethik als Wissenschaft.
Der Idealismus hat den Kontakt und die Fühlung mit
der Wirklichkeit verloren. Seine allgemeinen Begriffe und
Prinzipien haben nur einen regulativen Wert für das Denken,
aber keinen konstitutiven, objektiv-realen Wert; darum sind
sie nicht hinreichend zur Begründung der Ethik als praktischer
Wissenschaft.
Kant versuchte allerdings eine Synthese zwischen Empirismus
und Idealismus, ist aber im Grunde ein Idealist geblieben.
Der Idealismus bei Kant erscheint in der Form des
Subjektivismus, Phänomenalismus, und darum ist seine
Ethik nur eine Dialektik der sittlichen Begriffe a priori, oder
eine Phänomenologie der sittlichen Erscheinungen des denkenden
Subjektes, ohne allen praktischen Wert. Der Idealismus
von Fichte, Schelling und Hegel kommt über Kant nicht
hinaus.
Indem nun Paulsen 1 die Ergebnisse der Erkenntnistheorie
der modernen Philosophie auf die Ethik anwendet,
kommt er zu folgenden Ansichten: «Es kann eigentlich keine
allgemein gültige Moral in concreto geben. — Damit ist schon
gesagt, daß es auch für verschiedene Zeiten eine verschiedene
Moral gibt. — Und nun wird man noch einen Schritt weiter
gehen und sagen müssen: auch für verschiedene Gruppen
desselben Volkes, ja zuletzt für die verschiedenen Individuen
gilt eine besondere Moral. — Bestehen bleibt dabei andererseits,
daß die Regeln der Moralphilosophie auch nicht schlechthin
allgemeingültig sind.»
1
Mit Vorliebe vergleicht Paulsen 1 die Ethik mit der Diätik
und der Hygiene und sagt: «Wie für den Engländer und
Neger eine verschiedene Diätik gilt, so auch eine verschiedene
Moral. — Und so ist auch das Verhalten eines Engländers
gegen einen Neger nicht bloß tatsächlich ein anderes,
als gegen einen Landsmann, sondern es gilt für diesen Verkehr
auch wirklich eine andere Moral. — Läßt man eine verschiedene
Moral für Engländer und Neger zu, dann gibt es
wohl auch eine verschiedene Moral für Männer und Weiber,
für Künstler und Kaufleute, ja schließlich also eine besondere
für jeden einzelnen Menschen? In der Tat, die Folgerung
wird gelten. Aber ich sehe nicht, wie sie vermieden werden
kann.» Wir geben Paulsen recht. Nach den Ergebnissen der
Erkenntnistheorie der modernen Philosophie sind seine Folgerungen
unvermeidlich. Es kann keine allgemein gültige
Moral und somit auch keine Ethik als Wissenschaft mehr
geben. Und insofern ist auch die Ansicht Paulsens 2 von der
Bedeutung der Ethik folgerichtig. «Der Geltungsbereich
jeder Moralphilosophie fällt hier noch immer mit dem Kulturkreis
zusammen, aus dem sie selbst hervorgeht, sie mag sich
nun dieser Beschränkung bewußt sein oder nicht. Ihre Aufgabe
kann nur sein, die allgemeinen Umrisse einer Lebensführung
zu ziehen, deren Innehaltung für Genossen dieser
Kulturgemeinschaft Bedingungen gesunder, tüchtiger und
glücklicher Lebensentwicklung ist.» Die Herren- und
Sklaven-Moral Nietzsches ist nur eine weitere Folgerung.
Eine andere Bestätigung der Unfähigkeit der modernen
Philosophie, auf Grundlage ihrer Erkenntnistheorie eine
Ethik zu begründen, liefert uns Paulsen durch sein Bekenntnis
der Ohnmacht der modernen Philosophie dem moralischen
Nihilismus gegenüber. Den moralischen Nihilismus
schildert Paulsen folgendermaßen 3 : «Er ist in konkretpersönlicher
Erscheinung charakterisiert durch die vollständige
Abwesenheit des Gewissens in jeder Gestalt, sowohl der
des Pflichtbewußtseins als der eines Lebensideals. Als Theorie
oder Räsonnement verneint er die Gültigkeit irgendwelcher
Pflichtgebote oder Sittengesetze. Er sagt: «Pflicht ist ein
leerer Name; das Leben ist der Kampf ums Dasein, und im
Kampfe ums Dasein ist jedes Mittel recht, Mord, Lüge,
Gewalttat sind gut, vorausgesetzt, daß sie erfolgreich sind;
sie sind bloß von den Schwächeren, von den Herdentieren als
schlecht verschrieen, weil sie nicht mit können; oder auch:
Recht und Gesetz und Religion ist von den Gewaltherrschern
erfunden, um die Gemüter der Unterworfenen innerlich zu
knechten; der Aufgeklärte weiß, daß ihn nichts bindet. Und
ebensowenig wie es Pflichten gegen andere gibt, kann auch
von Pflichten gegen das Eigenleben die Rede sein. Sogenannte
Ideale sind Seifenblasen, an denen sich Kinder ergötzen, oder
mit denen listige Leute die Toren täuschen. Gut ist: tun
und rücksichtslos durchsetzen, worauf eben gegenwärtig die
Begierde gerichtet ist. Irgendwo war als das Symbol eines
vornehmen Russen angeführt: «Je ne crois rien, je ne crains
rien, je n'aime rien; — mich bindet nichts, keine Sitte und
keine Pflicht, keine Furcht und keine Hoffnung, keine Liebe
und kein Ideal; das freie, souveräne Individuum lebt im
Augenblick, unbekümmert um die Zukunft, wie um die Vergangenheit.»
—
Nachdem Paulsen so den moralischen Nihilismus geschildert
hat, fragt er sich nun: «Ist es möglich, den Nihilismus
zu widerlegen, kann, wer so räsonniert, durch Gründe genötigt
werden, einzugestehen, daß er unrecht hat? — Ich
glaube nicht. — Logisch läßt sich dieser Standpunkt durchaus
festhalten. Man kann ihn nicht zum Eingeständnis der
Falschheit zwingen.» Wenn aber die moderne theoretische
Philosophie ohnmächtig ist dem moralischen Nihilismus
gegenüber, dann kann sie umsoweniger fähig sein, eine sittliche
Ordnung, eine Ethik zu begründen.
Die Erkenntnistheorie der modernen Philosophie führt
schließlich zum Agnostizismus. Da man vielfach zur Überzeugung
kam, daß man mit der Vernunft in der modernen
Philosophie keine Ethik begründen kann, hat man den Versuch
gemacht, ohne Vernunft eine Moral zu schaffen. Die
englischen Moralphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts,
wie Jacobi und Herbart, haben den Moralsensismus oder
Moralsentimentalismus geschaffen. Nicht mit der Vernunft,
sondern mit einem moralischen Sinn und Instinkt, mit dem
Gefühl und Gemüt soll die Moral möglich gemacht werden.
Der Moralsensismus ist eine Tat der Verzweiflung, und es
war eine leichte Sache für Kant, seine Haltlosigkeit nachzuweisen.
Der Versuch, eine durch, die Vernunft und theoretische
Philosophie nicht bedingte Ethik zu schaffen, wurde nicht
aufgegeben, und so hat man den Voluntarismus geschaffen.
Was die Vernunft nicht kann, soll der Wille ermöglichen.
Schopenhauer, Wundt und Paulsen sind die hervorragendsten
Vertreter des Volontarismus.
Der Voluntarismus behauptet, daß der, Wille die primäre
Seite des Seelenlebens ist. Der Primat im Menschen gehört
dem Willen und nicht der Vernunft, daher ist der Wille und
nicht die Vernunft in der Moral bestimmend und maßgebend.
So sagt Paulsen: 1 «Man kann sagen: Die Entscheidung über
die Natur des höchsten Gutes ist überhaupt nicht eigentlich
Sache des Verstandes, sondern des Willens..... Der Verstand
als solcher weiß überhaupt nichts von Werten, er
unterscheidet wahr und unwahr, aber nicht gut und schlecht.»
Also der Wille und nicht die Vernunft bestimmt was gut
oder schlecht ist. Gut ist, was ich will, schlecht, was ich nicht
will, also wird die Moral, die Ethik durch den Willen und
nicht durch die Vernunft bedingt.
Der Wille kann aber nur das Materialprinzip und nicht
das Formalprinzip der Sittlichkeit sein. Die Philosophie,
wenn sie überhaupt möglich ist, ist und bleibt eine Vernunftwissenschaft
und kann nur durch die Vernunft und nicht
durch den Willen hervorgebracht werden, und solange die
1
Ethik eine praktische Philosophie sein soll, kann sie nur, wie
die Philosophie überhaupt, durch die Vernunft und nicht
durch den Willen begründet werden. Nicht Wille, sondern
Vernunft, nicht Voluntarismus, sondern Intellektualismus ist
die eigentliche Vorbedingung der Möglichkeit der Ethik.
Eine andere Konsequenz des Subjektivismus und Relativismus
der Erkenntnistheorie in der modernen Philosophie
ist der Moralindividualismus und der Moralautonomismus.
Die sittlichen Prinzipien, soweit man noch solche annimmt,
können auf die äußeren Handlungen, die Beziehungen der
Menschen untereinander überhaupt nicht angewandt werden,
sie haben nur Geltung für das handelnde Subjekt, das Individuum,
und dieses ist in der sittlichen Ordnung autonom.
Kant selbst hat diese Konsequenz aus seinem Subjektivismus
gezogen, indem er erklärt, daß die sittlichen Prinzipien,
das Sittengesetz, nur Anwendung finden können auf die
Gedanken, Gesinnungen, überhaupt auf die inneren Handlungen,
das Forum internum, und nicht auf die äußeren
Handlungen, das Forum externum. Die äußeren Handlungen
des Menschen gehören nach Kant, nicht zur sittlichen Ordnung,
sondern zur Rechtsordnung und diese hat mit der
Sittlichkeit nichts gemein. Sittlichkeit gründet sich auf
Autonomie, das Recht auf Heteronomie. Daher ist Recht
kein sittlicher Begriff, Rechtserfüllung beruht nicht auf sittlichen
Motiven, Rechtspflichten sind keine sittlichen Pflichten,
das Recht hat mit dem Gewissen nichts zu tun. Wenn
aber die äußeren Handlungen, die Beziehungen des Menschen
zu seinen Mitmenschen, also die eigentliche Praxis, nicht zur
sittlichen Ordnung gehören, dann hat die Ethik, die sittliche
Ordnung, keinen realen, wirklichen Wert, wenigstens nach
außen, und hört somit auf, eine praktische Philosophie zu
sein.
Eine logische Folge des Moralindividualismus und Autonomismus
ist die Negation des Naturrechtes. Ein Naturrecht
wird nach solchen Voraussetzungen a priori unmöglich,
denn das Naturrecht hat die Beziehungen der Menschen untereinander,
insoweit diese durch die äußeren Handlungen zum
Ausdruck kommen, zu bestimmen und zu regeln, nach den
allgemein gültigen Prinzipien der Sittlichkeit, welche sowohl
auf das Forum internum, wie auf das Forum externum ihre
Anwendung finden müssen.
Es ist ferner eine logische Konsequenz des Moralindividualismus
und Autonomismus, daß die Jurisprudenz, Soziologie
und Nationalökonomie keine ethischen Wissenschaften
sein können. Ja selbst die Pädagogik muß logisch, soweit sie
das äußere Verhalten des Kindes in Betracht zieht, von der
Ethik losgelöst werden. Die moderne Philosophie kann
diesen Wissenschaften keine ethische Grundlage und Prinzipien
geben. Diese Konsequenzen mögen vielen als übertrieben
erscheinen, sie sind aber dennoch logisch, sie können
nicht allein berechtigterweise gezogen werden, sondern sie
sind auch tatsächlich gezogen und angewandt worden. So
kommt es, daß viele in der Jurisprudenz, Nationalökonomie,
Soziologie und Politik, ja selbst Pädagogik, Theorien und
Ansichten verteidigen, die ihnen selbst praktisch als absurd
erscheinen und mit ihrem sittlichen Bewußtsein in Widerspruch
stehen. Man kann es noch als ein Glück ansehen,
daß die Menschen oft weder in der Theorie noch in der
Praxis konsequent sind; selbst die Philosophen, die oft in
der Praxis besser sind als ihre philosophischen Theorien.
Denn, wenn auch die gesunde, natürliche Vernunft durch
Sophismen vergewaltigt und durch eine sogenannte wissenschaftliche
Methode geknebelt wird, durchbricht sie von Zeit
zu Zeit, besonders im praktischen Leben, den unnatürlichen
Zwang und protestiert gegen ihre Vergewaltigung. Sollten
aber einmal die erkenntnistheoretischen Prinzipien der modernen
Philosophie konsequent durchgeführt werden, dann
wird man klar sehen, daß eine Ethik nicht mehr möglich ist,
eine sittliche Ordnung nicht mehr begründet werden kann.
Die Vertreter der modernen Philosophie lieben es nicht,
wenn man auf die destruktiven Tendenzen und Wirkungen
ihrer Erkenntnistheorien verweist, und man hat es Nietzsche
sehr übel genommen, daß er. die Konsequenzen gezogen und
gewissen Vertretern der modernen Wissenschaft «Feigheit
vor jedem rechtschaffenen Ja und Nein — Halbheiten und
Drei-Achtelsheiten» vorgeworfen hat. 1 Paulsen will beschwichtigen.
«Vor allem ist zu sagen: Keine Theorie der
Erkenntnis ändert an dem Bestand und Wert unserer Erkenntnis
das mindeste. Die Wissenschaften bleiben nach
wie vor, was sie sind; von einer Aufhebung oder Zerstörung
des Wissens durch eine theoretische Reflexion über das
Wissen kann nicht die Rede sein. Und auch die Bedeutung
der Wissenschaften für uns bleibt dieselbe, weder ihr praktischer
noch ihr theoretischer Wert wird durch die Kritik
vermindert. Unsere Astronomie, Physik, Psychologie, Geschichte,
sind uns was sie sind, und leisten uns was sie leisten,
ganz ohne Rücksicht auf den Ausfall einer nachträglichen
erkenntnistheoretischen Überlegung, wie sie denn auch in der
geschichtlichen Entwicklung von ihr auf keine Weise als abhängig
erscheinen.» 2 Eine ganz seltsame Ansicht, um sich
aus der Verlegenheit zu ziehen und die destruktiven Konsequenzen
der modernen Erkenntnistheorien zu leugnen.
Man hat ja immer behauptet, daß die Fortschritte der
modernen Wissenschaft durch die moderne Erkenntnistheorie
bedingt sind, ja daß selbst der Aufschwung der Naturwissenschaften
der aprioristischen Kant'schen Erkenntnistheorie
zu verdanken sei. Kant war jedenfalls einer andern Ansicht
als Paulsen und würde sehr erstaunt sein, daß seine erkenntnistheoretische
Synthese für Bestand, Wert und Bedeutung
der Wissenschaften belanglos wäre. Es wäre ein Testimonium
paupertatis für die moderne Philosophie, wenn ihre
Erkenntnistheorie für die Wissenschaft keine Bedeutung
hätte.
Wir müssen ferner bemerken: es gibt Wissenschaften
und Wissenschaften. Was die empirisch-positiven Wissenschaften
anbelangt, so hat der erkenntnistheoretische Standpunkt
praktisch allerdings weniger Einfluß auf Bedeutung
und Bestand dieser Wissenschaften, aus dem einfachen
Grund, weil die Wirklichkeit, das Gegebene stärker ist als
die subjektive Ansicht des Gelehrten. Ob ein Astronom in
der Erkenntnistheorie ein Idealist oder ein Realist ist, wird
praktisch für den Bestand und die Bedeutung der Astronomie
gleichgültig sein. Es handelt sich in diesem Falle nur um
den Standpunkt des Beobachters und nicht um die Sache
selbst. Theoretisch bleibt aber doch ein allgemein wissenschaftlicher
Unterschied bestehen. — Es gibt aber auch
Wissenschaften für deren Bestand und Bedeutung der
erkenntnistheoretische Standpunkt geradezu wesentlich ist,
ja sogar eine Bedingung der Möglichkeit dieser Wissenschaften
ist. So hat der erkenntnistheoretische Standpunkt
eine wesentliche Bedeutung für die Philosophie im allgemeinen,
insbesondere für die Metaphysik, ohne welche eine
Ethik nicht möglich ist. Mit der empiristischen und idealistischen
Erkenntnistheorie kann keine Metaphysik begründet
werden, und somit auch keine Moral und Ethik. Der verschiedene
erkenntnistheoretische Standpunkt ändert den
Wert und die Bedeutung der verschiedenen Wissenschaften,
und wir werden sehen, daß die Ethik Paulsens, vermöge
seines Standpunktes, wesentlich verschieden ist von der
eigentlichen Ethik; eine solche im historischen Sinne ist mit
der Erkenntnistheorie Paulsens nicht möglich. Auch die
Bedeutung der Wissenschaften für uns bleibt nicht dieselbe,
je nachdem der erkenntnistheoretische Standpunkt ein verschiedener
ist. Die Bedeutung des erkenntnistheoretischen
Standpunktes für uns ist eine geradezu wesentliche in den
praktischen Wissenschaften, also auch in der Ethik. Die
praktischen Wissenschaften leiten den Menschen zur Tätigkeit
an, bedingen und beeinflussen dieselbe, da natürlicherweise
die Tätigkeit durch die Erkenntnis, die Praxis durch
die Theorie bedingt ist. Wie die Ästhetik nicht allein eine
Beschreibung des Kunstschönen ist, sondern auch zugleich
Prinzipien und Regeln aufstellt, nach welchen das Kunstschöne
geschaffen werden soll, wie die Tätigkeit des Künstlers
bedingt und beeinflußt wird durch seinen ästhetischen
Standpunkt, so ist es auch in der Ethik.
Die Ethik ist nicht allein eine Ethographie, eine Beschreibung
der Sitten, der Moral als Praxis, sie ist auch eine Theorie,
welche Prinzipien und Regeln aufstellt, nach welchen der
Mensch handeln soll, um sein Glück und Wohlergehen zu
fördern. Bei einem normalen Menschen wird die Ethik als
Theorie, seine Handlungen, seine Praxis bestimmen und
beeinflussen; aber ebenso wird auch die Negation der Ethik
als Theorie, die Behauptung, daß eine Ethik als Theorie
philosophisch nicht begründet werden kann, eine Reaktion
hervorbringen, welche bei einem konsequent denkenden
Menschen zum moralischen Nihilismus führen wird. Wenn
Gewissen und Pflicht philosophisch nicht erklärt und begründet
werden können, so wird man konsequent zur Annahme
gedrängt, daß sie nur unerklärliche und unangenehme
Begleiterscheinungen der neurologischen Prozesse sind, von
denen man sich nach Möglichkeit losmachen soll.
Um den Schein zu wahren, daß der erkenntnistheoretische
Standpunkt den Wert und die Bedeutung der Wissenschaften
nicht ändere, und um den Schein zu wahren, als ob in der
modernen Philosophie eine Ethik noch möglich wäre, nimmt
man seine Zuflucht zu Kunstgriffen, die für die Nichtkenner
der Terminologie der modernen Philosophie geradezu irreführend
sind. Die moderne Philosophie arbeitet intensiv an
einer Umbildung aller Begriffe und Umwertung aller Werte.
Die herkömmliche, traditionelle, historische Terminologie
soll bleiben, aber der Sinn, die Bedeutung der Worte soll
geändert, umgedeutet werden; neue Begriffe, neue Werte
sollen ihnen unterlegt werden. Als Beispiel kann uns Paulsen 1
dienen. Nach seiner Ansicht gibt es keine Seele als Substanz:
Die Seele ist die auf nicht weiter sagbare Weise zur Einheit
verbundene Vielheit innerer Erlebnisse: aber, sagt Paulsen:
«Natürlich werden wir nun nicht sagen: also gibt es keine
Seele, und am Sprachgebrauch werden wir gar nichts ändern;
wir werden nach wie vor, von der Seele reden und von Vorgängen,
die in ihr sich zutragen, von Gedanken, die sie hervorbringt,
und von inneren Regungen, die sie hegt und ablehnt.
Wir werden uns auch nicht scheuen, das Wort Substanz
von der Seele zu brauchen, oder von ihren Zuständen und
Eigenschaften zu reden, selbst das verpönte Wort Seelenvermögen
werden wir nicht vermeiden. Es handelt sich nur
darum, ein für allemal uns deutlich zu machen, was wir
damit meinen. Und es wird sich dann herausstellen, daß alle
jene herkömmlichen Beziehungen in der Tat einen guten
Sinn haben, nur nicht diesen, den eine vom physikalischen
Atomismus mißleitete Metaphysik (Paulsen will offenbar
sagen: die herkömmliche Metaphysik) ihnen beilegt.» So
wird auch die Bezeichnung, das Wort «Ethik» beibehalten,
nur hat es nicht den Sinn und die Bedeutung, welche gewöhnlich
damit verbunden wird. Durch eine solche Praxis soll
der Schein gewahrt bleiben, als ob in der modernen Philosophie
eine Ethik noch möglich wäre.
II.
Die methaphysischen Bedingungen der Möglichkeit
der Ethik.
Aristoteles und Thomas von Aquin bezeichnen die Metaphysik
und gewisse metaphysische Bedingungen als eine
indispensable Grundlage der Ethik, denn die Ethik setzt die
reale metaphysische Ordnung der Dinge voraus und braucht
metaphysische Begriffe und Prinzipien.
Die moderne Philosophie bringt es entweder überhaupt
zu keiner Metaphysik oder sie ist so mangelhaft, daß sie die
geforderten Bedingungen nicht erfüllen kann.
Der Empirismus kommt zu keinen metaphysischen Begriffen
und Prinzipien, sondern er bleibt in der Erfahrung
stecken. Die Metaphysik ist für den Empirismus eine terra
incognita.
Der Idealismus, Subjektivismus und Phänomenalismus
bringen es zu keiner Metaphysik, weil sie das wirkliche Sein,
die reale Ordnung nicht erreichen und über die idealsubjektive
Ordnung nicht hinauskommen.
Es gibt moderne Philosophen, die die Metaphysik als
Grundlage der Ethik anerkennen, wie Leibniz, Wolff, Kant,
Schopenhauer und Hartmann. So sagt Kant 1 : «Die
Metaphysik muß vorausgehen und ohne sie kann es überall
keine Moralphilosophie geben.» Aber diese Philosophen
bringen es zu keiner eigentlichen Metaphysik.
Andere Philosophen erklären a priori, daß die Ethik nicht
auf die Metaphysik gegründet werden soll. So z. B. Wundt,
dessen Ethik eine Völkerpsychologie ist, als Konsequenz des
Psychologismus, oder Paulsen, dessen Ethik eine Diätik ist.
Die Evolutionisten brauchen auch keine Metaphysik, ihre
Ethik ist nur eine Physik der Sitten.
So haben wir folgendes Resultat: diejenigen Philosophen,
welche die Metaphysik als Grundlage der Ethik für notwendig
erachten, bringen es zu keiner Metaphysik; wieder
andere erklären die Metaphysik als unmöglich oder wenigstens
als nicht, notwendig für die Ethik.
Wir sind der Meinung, daß die Metaphysik eine indispensable
Grundlage der Ethik ist und bezeichnen als Minimum
der metaphysischen Bedingungen folgende: Erstens
die Substantialität, Kontinuität und Identität des Ich als
Prinzip der sittlichen Handlungen. Zweitens die Teleologie
der sittlichen Handlungen, d. h. die Zweckbeziehung der
sittlichen Handlungen unmittelbar auf das sittlich Gute und
mittelbar auf das höchste Gut, als letztes Ziel des Menschen.
Drittens die metaphysische Freiheit des Willens. Viertens
die Existenz eines persönlichen Gottes, als Prinzip und letztes
Ziel der sittlichen Ordnung.
I.
Der Begriff der Substanz hat für die Metaphysik und
Ethik eine fundamentale Bedeutung. Der Monismus, begründet
durch Spinoza, beherrscht die moderne Philosophie.
Der Monismus nimmt nur eine Substanz an; die konkreten
wirklichen Einzeldinge sind nur Erscheinungen, Akzidenzien,
Modi, Bestimmungen der einen Substanz. — Mit dem
monistischen Begriff der Substanz ist aber eine Ethik unmöglich,
denn angewandt auf die Ethik kommen wir zu
folgendem. Dilemma: Entweder ist das Ich die einzige Substanz,
oder es ist mein Ich keine Substanz.
Fichte behauptet, die einzige Substanz, das Ding an sich,
ist das Ich, alles übrige ist durch das Ich gesetzt und existiert
für das Ich. Dieser Solipsismus von Fichte schließt die
Möglichkeit der Ethik aus.
Spinoza und die Monisten entscheiden sich für die zweite
Alternative. Der Mensch ist keine Substanz, sondern nur
eine Vereinigung, Zusammensetzung oder ein Bündel von
zwei Gruppen von Erscheinungen, Modi, des physischen und
psychischen, der Ausdehnung und des Denkens. — Das was
wir den Körper des Menschen nennen, ist nur ein Konglomerat
von Modi der Ausdehnung; was wir Seele nennen, ein
Konglomerat von Modi des Denkens. — Im Menschen gibt
es nichts Beharrliches, er verändert sich fort und fort, die
Kontinuität und Identität des Ich, der Persönlichkeit ist
nicht möglich.
Die moderne Psychologie und Psychophysik acceptiert
die Anschauungen von Spinoza und hat auf Grund des
Monismus den Phänomenismus oder Aktualismus geschaffen.
Es gibt weder eine materielle noch eine geistige Substanz,
es gibt nur körperliche und psychische Zustände, Aktualitäten,
Erscheinungen oder Tätigkeiten.
Man meint Spinoza zu hören, wenn Taine 1 sagt: La
substance spirituelle est un fantôme, créé par la conscience,
de même la substance matérielle est un fantôme créé par
les sens, — il n'y a rien de réel dans le moi, — le moi n'est
que la trame continue des événements successifs. Nach
Ribot 1 ist das Ich ein: tout de coalition — ein Complexus
von Phänomenen. — Nach Comte ist das Ich: un état
fictive — eine metaphysische Fiktion. Nach Alfred Fouillée
ist das Ich die Einheit der Empfindungen und Wollungen. —
Spencer 2 weiß nichts von einer geistigen Substanz, was wir
Geist nennen ist nur ein Aggregat von Empfindungen und
Gefühlen. Von der englischen Psychologie überhaupt sagt
Ribot 3 : sie befaßt sich nur mit Phänomenen; was Seele
oder Geist ist, weiß sie nicht.
Die deutsche Psychologie steht auf demselben Standpunkt
und hat der Metaphysik gründlich entsagt. Fechner, Wundt
und Jodl anerkennen keine Lebenskraft, kein Lebensprinzip,
keine Seelensubstanz. Paulsen 4 resumiert den monistischen
Aktualismus indem er sagt: Ich bin mit Fechner und Wundt
der Überzeugung: Es gibt keine für sich seiende, beharrliche,
immaterielle Seelensubstanz. — Ein besonderes Ding «Seele»
gibt es überhaupt nicht.
Die körperlichen und die psychischen Zustände und Erscheinungen,
aus welchen der Mensch zusammengesetzt ist,
sind einerseits nur zwei Ausdrücke oder zwei Seiten ein und
desselben Dinges, der einen Substanz, andererseits sind die
psychischen Phänomene, und somit auch die Sittlichkeit, die
sittlichen Phänomene nur ein Ausdruck der körperlichen Zustände,
ein Ausdruck des Organismus. Die Folge ist, daß
die sittlichen Phänomene biologische Phänomene sein müssen
und biologisch erklärt werden müssen. Somit hat man das
ethische Problem in ein biologisches Problem verwandelt.
Der monistische Aktualismus will die Sittlichkeit, die sittlichen
Phänomene biologisch erklären. Die sittlichen Phänomene
sollen nur Begleiterscheinungen des neurologischen
Prozesses sein, oder Parallelerscheinungen einer bestimmten
biologischen Entwicklungsstufe. — Ist der Organismus
gesund, in sich und mit der Außenwelt harmonisch gestimmt,
dann ist auch das Ich sittlich gesund und gut; ist dagegen
der Organismus nicht gesund, nicht harmonisch gestimmt,
dann ist auch das Ich sittlich krank, schlecht.
Eine Folge des Versuches, die Sittlichkeit und die sittlichen
Phänomene biologisch erklären zu wollen, ist es, daß
der eigentliche Begriff der Ethik dabei zugrunde gehen muß,
daß die Ethik, die sittliche Ordnung a priori geleugnet wird
und nur die physische Ordnung übrig bleibt. Im monistischen
Aktualismus wird die individuelle Ethik zu einer individuellen
Hygiene und Diätik; ist der biologische Prozeß in
der Ordnung, dann ist auch die Sittlichkeit in Ordnung. Die
soziale Ethik wird zu einer Diätik der Massen, zu einer Volkshygiene.
Ist der soziale Organismus gesund, dann ist auch
die Volksmoral gesund.
Auf diese Auffassung der Ethik hat Lombroso seine
Theorie der Kriminalistik gegründet. Das Verbrechen, das
Laster ist ein notwendiges Produkt, eine biologische Funktion
des krankhaften Organismus. Der hereditär belastete, hygienisch
und diätisch schlecht gepflegte Organismus bringt notwendig
die Giftblüte des Verbrechens und des Lasters hervor.
Die sozialen Verbrechen sind notwendige Produkte des
kranken sozialen Organismus. Der Verbrecher ist nur das
Organ, welches den Virus, den Giftstoff aus dem kranken
sozialen Organismus ausscheidet und auf den krankhaften
Zustand aufmerksam macht.
In der Ethik des monistischen Aktualismus sind die Begriffe
der Verantwortlichkeit und Strafe nicht möglich. —
Wenn die sittlichen Handlungen nur biologische Funktionen
und Prozesse sind, dann kann von einer Verantwortlichkeit
und Strafe keine Rede sein. Für die Beschaffenheit seines
Organismus, für die biologischen Funktionen kann niemand
verantwortlich gemacht werden. — Ist das Ich keine Substanz,
ist die Kontinuität und Identität des Ich eine Fiktion,
dann würde ein anderes Subjekt die böse Tat begehen und
ein anderes Subjekt dafür bestraft werden, was gewiß ein
Unsinn wäre.
2.
Die sittliche Ordnung, die sittlichen Handlungen sind
wesentlich teleologisch. Durch seine Handlungen erstrebt
der Mensch sein Gesamtwohlergehen, seine Glückseligkeit.
Aber nicht alle Handlungen des Menschen fördern sein Wohlergehen;
er muß eine Auswahl treffen, manches tun, manches
lassen. Die Handlungen, die zweckmäßig sind fördern, die
unzweckmäßig sind, hindern sein Wohlergehen. Darum. setzt
die Möglichkeit der sittlichen Ordnung der Ethik objektivreale
Zwecke und in letzter Instanz einen letzten Zweck des
Menschen voraus.
Die moderne Philosophie leidet an Teleophobie, man will
von Zwecken nichts wissen. Spinoza 1 sagt: Omnes causas
finales nihil, nisi humana esse figmenta: Zwecke sind Fiktionen,
und soweit der Einfluß des Monismus reicht, teilt man
diese Ansicht. Wenn man in der modernen Philosophie noch
von einer Teleologie spricht, so versteht man darunter nur,
eine Zweckmäßigkeit ohne Zweckidee, eine Zielstrebigkeit
ohne Ziele, eine Teleologie ohne teleothetische Vernunft oder
den inneren, notwendigen Zusammenhang der psychisch-ethischen
Erscheinungen. Wenn nun Paulsen sagt, daß eine
solche Teleologie angenommen werden kann von den Materialisten
und nicht unvereinbar ist mit der Ansicht von Spinoza
und Schopenhauer, die alle insgesamt die Teleologie leugnen,
so geben wir dies zu, denn eine solche Teleologie ist eben die
Negation der eigentlichen Teleologie, und darum kann sie
nicht angenommen werden von jenen, die noch an einer
Teleologie festhalten.
Eine Konsequenz der Leugnung der Teleologie ist es, daß
die moderne Ethik den Begriff des «Sollens» nicht begründen
kann und leugnen muß. Gibt es keine Zwecke, kein letztes
Ziel, auf welche sich die menschlichen Handlungen beziehen,
so gibt es auch kein Sollen. Gibt es aber kein Sollen, dann
kann es auch kein Sittengesetz geben. Es fällt jeder Unterschied
zwischen dem Sittengesetz und den übrigen Naturgesetzen.
Daher sind nach der modernen Ethik die Gesetze
der Moral Naturgesetze unseres eigenen Wesens, die sittlichen
Handlungen nur automatische Reaktionen, die durch
die Umstände ausgelöst werden. Wenn also die Menschen
im allgemeinen nicht lügen, so geschieht dies nicht darum,
weil das Lügen nicht sein soll, sondern weil es nicht sein kann.
3.
Was die Freiheit des Willens anbelangt, können wir uns
kurz fassen. Wer die Freiheit des Willens leugnet, der leugnet
den Unterschied von Gut und Bös, Recht und Unrecht, die
Ethik überhaupt. Der kategorische Imperativ: Du sollst
das Gute tun und das Böse meiden, setzt das Können voraus,
und dieses Können ist die Freiheit. Kurz und gut bemerkt
Thomas von Aquin 1 : «Respondeo dicendum, quod homo
est liberi arbitrii; alioquin frustra essent consilia, exhortationes,
praecepta, prohibitiones, praemia et poenae.» Ohne
Freiheit des Willens, keine Sittlichkeit.
Spinoza leugnet rundweg die Freiheit des Willens: in
rerum natura nullum datur contingens 2 : Alles, auch die
menschlichen Handlungen, sind notwendige Entwicklungsmomente
des einen Seins. Diese Auffassung ist allgemein in
der modernen monistischen Philosophie. Die moderne Philosophie
kennt überhaupt nicht einen Willen im gewöhnlichen
Sinne, noch weniger eine Freiheit des Willens. Paulsen
sagt 1 : «Die moderne Philosophie hat das Problem (der
Willensfreiheit) freilich nicht gelöst, aber sie läßt es fallen.»
Als Ersatz für die metaphysische, wahre Freiheit des
Willens hat man die sogenannte psychologische Freiheit des
Willens erfunden, über welche Paulsen 2 sich folgendermaßen
äußert: «Frei wird eine Handlung genannt, sofern sie ihre
nächste Ursache in dem Willen des Handelnden hat, unfrei
dagegen, sofern sie durch äußere Gewalt bewirkt wurde, sei
es unmittelbar durch physischen Zwang, sei es mittelbar
durch Drohung, Vorspiegelung falscher Tatsachen etc.» Eine
solche Willensfreiheit schließt nur den äußeren Zwang aus,
aber nicht die innere Notwendigkeit und Determination.
Diese bleiben bestehen im Sinne des Monismus, weil der Wille
des Handelnden innerlich notwendig bestimmt wird. So sagt
Spinoza 3 : «res, quae ad aliquid operandum determinata est,
a Deo necessario sic fuit determiriata», und darum «voluntas
non potest vocari causa libera, sed tantum necessaria.»
Gemäß dieser Theorie der psychologischen Willensfreiheit
ist der Wille selbst nur ein Produkt der Umstände und Zustände,
in welchen sich der Mensch befindet. Die einzelnen
Willensakte und Handlungen des Menschen sind wie ein
Sproß am Baum. Indem Paulsen 4 die Frage stellt: «Wie
kommt ein Mensch, ein menschlicher Wille in die Welt?»,
antwortet er: «Wie das Tier, so wird der Mensch von Eltern
gezeugt und geboren, er gleicht ihnen nach dem Leibe und
nach der Seele; er ererbt so gut ihr Temperament, ihre Begierden,
ihre sinnlich-intellektuellen Kräfte, wie ihre körperlichen
Eigenschaften. Er empfängt den ganzen leiblich-geistigen
Habitus des Volkes, aus dem er geboren wird, als
Naturausstattung.» Somit ist der Wille des Menschen die
Summe der Eigenschaften seiner Eltern und seines Volkes.
«Diese Anlage», fährt Paulsen weiter, «entwickelt sich dann
unter dem bestimmenden Einfluß der Umgebung, der Natur
und vor allem der Menschenumgebung. Das Kind wird durch
die Familie hineinerzogen in die Lebensform seines Volkes.
Es eignet sich dessen Sprache an und mit der Sprache ein
mehr oder minder vollständiges System von Begriffen und
Urteilen. Es wird hineinerzogen in die Sitten und Gewohnheiten
seines Volkes, von welchen die meisten Menschen
lebenslänglich im Handeln und Urteilen bestimmt werden.
Es wird in die Schule getan und nimmt hier die allgemeine
Bildung der Zeit an, es wird in die Kirche geführt und empfängt
hier weiter Eindrücke, die, positiv oder negativ, auf
die Gestalt des inneren Menschen lebenslänglich Einfluß
üben. Es wird endlich aus dem Hause und der Schule entlassen,
aber nur um unter den Einfluß einer neuen erziehenden
Macht zu treten, der Gesellschaft.... Unablässig arbeitet
nun die Gesellschaft an ihm, sie sagt ihm mit Worten und
Taten, was recht und unrecht, was anständig und unanständig,
was gefällig oder anstößig ist.... Der Zusammenhang
scheint lückenlos: Volk und Zeit, Eltern und Erzieher,
Umgebung und Gesellschaft bestimmen jedem einzelnen
Menschen Anlage. und Entwicklung, Lebensstellung und
Lebensaufgabe. Er erscheint als ein Produkt der Gesamtheit,
aus der er hervorwächst: wie ein Sproß am Baum nicht
durch seinen Willen Form und Funktion hat, sondern durch
den Gesamtkörper, an dem er wächst.» So ist der Wille
des Menschen das Produkt, die Zusammensetzung von Elementen
und Gestaltungen der Eltern, Familie, des Volkes,
der Erziehung, der Schule, der Religion und Gesellschaft.
Die Willensakte des Menschen, seine Handlungen sind
automatische Reaktionen dieses Produktes und dieser Zusammensetzung,
die durch die Umstände und Anlässe ausgelöst
werden.
Es ist klar, daß nach einer solchen Ansicht vom Willen
und der Willensfreiheit, der Mensch für seine Handlungen
nicht verantwortlich gemacht werden kann, daß er nicht
strafbar ist, wenn man unter Verantwortlichkeit und Strafe
überhaupt noch sittliche Begriffe versteht. Die Strafe wird
zu einem Akte des Mißfallens oder des Widerwillens, ohne
Rücksicht auf die Schuld. Wie wir ein Tier, z. B. eine
Schlange töten, weil es Mißfallen oder Widerwillen erregt, so
töten wir auch einen Menschen.
«In der Tat», sagt Paulsen 1 «wie wir einen Baum ausschlagen,
wenn er schlechte Früchte trägt, oder ein bösartiges
Tier töten, so verfahren wir auch mit den Menschen.
Wir fragen nicht darnach, ob der. Verbrecher verantwortlich
oder schuldig sei, so, wie er ist, gefällt er uns nicht, durch die
Strafe drücken wir nur unser Mißfallen aus.»
Ein solches Verfahren ginge noch an, wenn der Verbrecher
nicht mehr wäre als ein bösartiges Tier; der Mensch bleibt
aber Mensch auch wenn er ein Verbrecher ist.
Um seine Theorie abzuschwächen, will Pausen 2, daß man
die Verbrecher, in der Praxis, als Menschen mit moralisch
perversen Instinkten, als Kranke und Irre behandle. Das
Zuchthaus söll zum Krankenhaus gemacht werden.
Eine andere Konsequenz der Leugnung der Teleologie
und der Freiheit in der modernen Philosophie ist, daß man
die Begriffe des sittlich Guten und sittlich Schlechten nicht
mehr konstruieren und rechtfertigen kann. Die Begriffe sittlich
gut und sittlich schlecht sind wesentlich Beziehungsbegriffe,
sie drücken eine Beziehung aus auf den letzten
Zweck, auf den Willen und auf das Sollen.
Die moderne Philosophie, besonders insofern sie monistisch
ist, faßt die Begriffe von Gut und Bös als Seinsbegriffe,
nicht als Beziehungsbegriffe, und kommt somit über die rein
physische Ordnung nicht hinaus, kann keine sittliche Ordnung
konstruieren.
Spinoza 3 erklärt offen, daß die Begriffe von Gut und Bös,
Vollkommen und Unvollkommen, Täuschungen, Vorurteile,
subjektive Erfindungen und Illusionen sind. Gut und Bös
sind nicht sachlich, innerlich und wesentlich verschiedene
Begriffe. Der Unterschied ist nur ein äußerlicher, gesellschaftlicher,
konventioneller. In Wahrheit und der Wirklichkeit
gibt es nichts Gutes und Böses.
Schopenhauer 1 hat Recht, wenn er sagt: «Spinoza versucht
hie und da, den Schein zü erwecken, als ob in seinem
System die Existenz einer sittlichen Ordnung, die Begriffe
von Gut und Bös noch möglich wären, aber gemeiniglich gibt
er diesen Versuch auf und leugnet jeden Unterschied zwischen
Gut und Bös und somit auch jede Möglichkeit einer sittlichen
Ordnung.»
Die Begriffe von Gut und Bös haben bei Spinoza und im
Monismus keine sittliche Bedeutung und keinen Wert. Gut
ist, nach Spinoza 2, das Verharren im Sein, die Kraft, die
Macht und Energie hiezu, gut ist das Leben, die Lebensfreudigkeit
und Lebenslust. Bös ist die Ohnmacht, Unfähigkeit,
die Impotenz im Sein zu verharren, die Verminderung
und Beschränkung der Lebensenergie, der Lebenslust und
Lebensfreude; das größte Übel der Tod und was zum Tode
führt: Krankheit und Schmerz. Dieser Auffassung von Gut
und Bös entsprechen bei Spinoza die Begriffe von Tugend
und Laster; auch diese sind keine sittlichen Begriffe, haben
keine sittliche Bedeutung.
Die Tugend ist nach Spinoza 3 die Macht, die Kraft des
Menschen, im Dasein zu verharren. Die Macht im Dasein sich
zu erhalten ist die erste Tugend und das einzige Fundament
der Tugend. 1 Je mehr ein Mensch seinen eigenen Nutzen,
seine Erhaltung erstrebt und erreicht, umso tugendhafter ist
er. 2 — Das Recht wird durch die Macht bestimmt, und
jeder kann nach dem höchsten Naturrecht tun, was er für
sich als nützlich erachtet. 3 — Das Laster ist die Ohnmacht
und die Schwäche des Menschen, im Dasein zu verharren,
seinen eigenen Nutzen zu suchen, die Lebenslust und Lebensfreude
zu genießen. Darum rechnet Spinoza die Demut, die
Reue, das Mitleid nicht zu den Tugenden, sondern zu den
Schwächen des Menschen. 4
Wie Spinoza, denken Comte und Taine, Spencer und
Littré, Wundt und Jodl. Wesentlich stimmt mit Spinoza
Paulsen überein, der auf das moderne Denken einen großen
Einfluß ausgeübt hat. Paulsen ist ein monothelistischer
Monist. Das einzige wirkliche Sein ist der allgemeine, blinde
Urwille, «er bestimmt das Leben ursprünglich als blinder
Drang, ohne Vorstellung von Zielen und Mitteln.» 5 Das
Leben also ist nur die konkrete Erscheinung, eine bestimmte
Realisierung des Urwillens, der nicht nach Zwecken handelt
und nicht frei ist. Was ist nun das Gute und Böse? Paulsen
antwortet zuerst auf die Frage, was ist das höchste Gut, das
letzte Ziel, und sagt: «eine bestimmte, konkrete Lebensbetätigung...
Wesensvollendung und vollendete Lebensbetätigung»,
1 oder die «die normale Ausübung der Lebensfunktionen,
worauf seine Natur angelegt ist.» 2 Das höchste
Gut also ist wie bei Spinoza 3, agere, vivere, esse, conservare.
Da aber das Leben nur in der Betätigung besteht, so ist die
Energie zum Leben das höchste Gut. Daher nennt Paulsen
seine Ansicht den «Energismus». Diese Energie zum Leben
ist wieder weiter nichts, als die Potentia, die Macht bei
Spinoza, die er die erste und einzige Tugend nennt. Das
Böse also, oder. das höchste Übel ist die Ohnmacht, die
Unfähigkeit der Lebensbetätigung, der normalen Ausübung
der Lebensfunktionen, die Beschränkung, Behinderung der
Wesensvollendung und der vollendeten Lebensbetätigung,
die Impotentia, wie Spinoza sagt, oder die Energielosigkeit.
Es ist darum nur konsequent, wenn Paulsen sagt: 4 «Was das
sittlich Schlechte oder Böse anbelangt, so wird die Ethik. es
konstruieren, wie die medizinische Diätik Störungen, Schwächen,
Mißbildungen konstruiert; wie hier diese Vorkommnisse
als Folge von äußeren Hemmnissen und Störungen angesehen
werden, die der Tendenz, der Anlage zu normaler
Entwicklung zuwider waren, so wird die Ethik das Schlechte
und Böse, nicht auf den eigentlichen Willen des Wesens selbst,
sondern auf ungünstige Entwicklungsbedingungen zurückführen,
unter denen die Anlage verkümmerte und Mißbildungen
erlitt.»
Konsequent und radikal hat die Resultate der modernen
Philosophie Nietzsche durchgeführt. Für den Übermenschen,
der ein Produkt der modernen Philosophie ist, sind 5 «Vernunft
und Tugend zum Ekel. — Er ist des Guten und Bösen
müde.» —. Der Übermensch ist jenseits von Gut und Bös,
diese Begriffe existieren für ihn nicht. «Jede Moral ist (nach
seiner Ansicht) im. Gegensatz zum laisser aller ein Stück
Tyrannei gegen die Natur, auch gegen die Vernunft.» 1 —
«Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral.» 2 — «Die
ganze Moral ist eine lange Fälschung.» 3 — «Moralbegriffe
sind Selbstbetrügerei». — «Die sittliche Weltordnung ist eine
Lüge und geht selbst durch die Entwicklung der neueren
Philosophie.» — «Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze
sittliche Weltordnung ist erfunden gegen die Wissenschaft —
gegen die Ablösung des Menschen vom Priester. — Ein
Priester-Attentat! Ein Parasiten-Attentat! Ein Vampyrismus
bleicher, unterirdischer Blutsauger.» 4 — Für den Übermenschen
ist der sittlich gute Mensch im hergebrachten
Sinne «ein Dekadent (Schwächung), das Herdentier, eine
Parasitenform auf Unkosten der Wahrheit und der Zukunft.» 5
Nietzsche steht allerdings nicht im besten Ansehen bei
gewissen modernen Philosophen, aber nicht etwa, weil er
Unrecht hat, sondern weil er als ein enfant terrible, ohne
Schonung dem großen Publikum gesagt hat, wohin die
moderne Philosophie führt und führen muß, und weil er mit
harten Worten auf die Inkonsequenz der modernen Vertreter
der Philosophie hingewiesen hat.
4.
Die Existenz einer sittlichen Ordnung und der sittlichen
Phänomene setzt ein Sittengesetz voraus, und dieses wieder
einen Gesetzgeber. Das Sittengesetz muß eine verbindliche
Kraft und eine Sanktion haben, die nur vom höchsten Gesetzgeber
hergeleitet werden können. Darum ist die Existenz
eines persönlichen Gottes, der Theismus, eine Bedingung der
1
Möglichkeit der Sittlichkeit, der Ethik. Auch Kant ist dieser
Ansicht.
Die moderne Philosophie steht nicht nur auf gespanntem
Fuß mit dem Theismus, sie rechnet im allgemeinen nicht mit
einem persönlichen Gott; sie ist atheistisch, für sie gilt was
Nietzsche sagte : «Gott ist tot!»
In der Tat, entweder behauptet man, daß die Existenz
Gottes nicht bewiesen werden kann, daß wir von Gott nichts
wissen können, dann zählt Gott in der Philosophie nicht, oder
man konstruiert den monistischen Gottesbegriff. Im Monismus
ist aber Gott kein persönliches, intelligentes Wesen. Im
Monismus ist Gott alles und nichts, er ist überall und nirgendwo,
er hat keine Vernunft und keinen Willen. Denn Gott ist
das eine Sein, welches für sich, getrennt von den Einzelndingen,
keine selbständige Existenz hat, sondern vollständig
aufgeht in den Einzelndingen. Es ist klar, daß man mit dem
monistischen Gottesbegriff keine Ethik begründen kann.
Paulsen kennzeichnet die Stellung der modernen Philosophie
dem Theismus gegenüber folgendermaßen: «Besteht
man darauf, als Theismus nur eine solche Anschauung gelten
zu lassen (welche Gott als Persönlichkeit der Welt gegenüberstehend
auffaßt), dann wird es schwer sein, denen zu widersprechen,
welche behaupten, die Wissenschaft führt zum
Atheismus. Hinzuzufügen wäre dann aber: «Der Atheismus
in diesem Sinne ist offenbar nicht das Ende, sondern erst
der Anfang der Philosophie.» 1
Eine Philosophie aber, welche als Abschluß zur Negation
eines persönlichen Gottes führt, oder mit der Negation eines
persönlichen Gottes als Bedingung der Philosophie anfängt,
kann keine Sittlichkeit, keine Ethik begründen.
Jodl 2 glaubt an die Möglichkeit einer monistisch-atheistischen
Ethik. Sein Gedankengang ist kurz folgender. Der
Monismus 3 will eine «immanente und nicht konsequente
Ethik, eine humane, soziale Ethik und nicht eine religiöse.»
Denn der Monismus «ist eine rein immanente Weltanschauung.» 1
«Der Monismus gilt — ob mit Recht oder Unrecht,
will ich einstweilen noch dahingestellt sein lassen — als eine
atheistische Denkweise, als ein hinter einem philosophischen
Begriff sich verbergender Atheismus.» 2 Daß der Monismus
mit Recht als Atheismus bezeichnet werden muß, ergibt sich
aus den Worten Jodls selbst, indem er sagt: «Wir Monisten
sind überzeugt, daß alle Begriffe von Gott nichts anderes
sind, als höchste, heiligste Begriffe des Menschen von seinem
eigenen Wesen. Daß Gott und Mensch freilich untrennbar
zusammengehören; aber nicht so, wie die alte Religion es
gemeint hat, daß Gott den Menschen geschaffen, sondern
vielmehr so, daß der Mensch Gott schafft, immer vollkommener,
immer vergeistigter, je mehr er selbst Geist und
vollkommen wird.» 3 Ein Gott, der vom Menschen geschaffen
wird, der im Werden sich befindet, ist kein Gott. Der Gott
Jodls ist die selbstvergötterte Menschheit. Folgerichtig ist
es, wenn Jodi ferner betont «daß der moderne Monismus
seinem innersten Wesen nach der Religion fern steht.» 4 —
«Daß die Religion im historischen Sinne als Ausblick ins
Transzendente, als Jenseitsglaube, als Verdoppelung der Welt,
in einem monistischen Gedankenkreise keine Rolle mehr
spielen kann, brauche ich hier nicht ausführlich zu erörtern.» 5
Wir bleiben dabei, daß der Monismus mit Recht als
Atheismus gilt. Nur macht sich Jodl den Einwurf: «Der
Atheismus scheint mit der Gottheit zugleich die ethische
Bedeutsamkeit des Lebens zu leugnen.» 6 Er antwortet mit
der Behauptung, daß gerade die neueste Entwicklung der
wissenschaftlichen Ethik, wie sie sich in den letzten drei
1
Dezennien. vollzogen hat, die völlige Klarheit und Gewißheit
erbracht hat, «daß Sittlichkeit ohne Mitwirkung religiöser
oder transzendenter Vorstellungen möglich ist.» 1 Jodl
nimmt den Wunsch für die Tat, die Hauptfrage ist, ob die
wahre Sittlichkeit und Ethik im Monismus möglich ist.
Die Ethik von Jodl ist ein evolutionistischer Sozialismus,
ein sozialer Eudämonismus, der Menschheitsdienst. 2 Die
Menschheit ist sich Selbstzweck. Solange die Ethik die
Wissenschaft sein will von den vernünftigfreien Handlungen
des Menschen, insofern sie mit dem objektiv-transzendentalen
letzten Zweck desselben in Beziehung stehen, ist eine Ethik,
eine Sittlichkeit ohne Mitwirkung religiöser und transzendenter
Vorstellungen nicht möglich.
Alf. Fouillée 3 spricht von der aktuellen Krise der Ethik
und äußert sich folgendermaßen: «Tout est remis en question.»
Alles steht in Frage, kein einziges Prinzip scheint
solid festgestellt zu sein. Man könnte erschütternde Seiten
darüber schreiben «comment les dogmes moraux finissent».
Um aus dieser Krise herauszukommen, müßte man, meint
Fouillée, durch den methodischen Zweifel alle bisherigen
Moralsysteme zersetzen und dann untersuchen, ob es möglich
ist, mit den Trümmern der verschiedenen Systeme eine neue
Ethik zu konstruieren. Wir glauben nicht, daß ein solcher
Versuch gelingen würde. Mit Bacon sagen wir: error est in
prima digestione: die moderne Philosophie besitzt nicht jene
Bedingungen, welche zur Konstruktion einer Ethik notwendig
sind. Folgerichtiger scheint uns Wahle zu sein 4, der
rundweg erklärt «die spekulative, theoretische Ethik ist unbedingt
bankrott worden. In der Philosophie ist nichts mehr
zu hoffen, und die kritische Summe des Haltbaren muß
gezogen sein.» Als Ergebnisse der modernen Philosophie
1
bezeichnet Wahle 1 : «Erstens : es gibt keine theoretische,
sondern nur eine praktische Ethik. — Zweitens: es gibt gar
kein ethisches Ideal, ethische Maxime oder Formel.» Und
wie soll dann die praktische Moral begründet werden? «Für
diejenigen, sagt Wahle, welche glauben, daß ein höherer
Wille sich ihnen offenbart hat, gibt es nur ein Gesetz: diesen
Verkündigungen und Geboten unbedingt, ohne jede Rücksicht
nachzukommen. Für die andern, die sich ungebunden
glauben, gibt es in aller Ethik nur des Staates: sic volo, sic
jubeo oder vielmehr educo: in der ethischen Not müssen sich
die, die ohne Gott sind, eine Autorität schaffen. Der Staat soll
sie erziehen, gemäß des Typus eines annähernd Glücklichen.» 2
Somit würde die Ethik allerdings aufgehört haben, eine philosophische
Disziplin, die praktische Philosophie zu sein; der
Bankrott wäre vollständig.
Nach unserer Ansicht gibt es nur eine mögliche Lösung
des ethischen Problems, diejenige, welche durch die erkenntnistheoretischen
und metaphysischen Begriffe und Prinzipien
der Philosophia perennis gegeben ist.