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Die Geisteskrise des XIV. Jahrhunderts

REDE

GEHALTEN AM 16. NOVEMBER 1914
ZUR FEIERLICHEN ERÖFFNUNG DES STUDIENJAHRES VON
DR. GALLUS MANSER O. P.
REKTOR DER UNIVERSITÄT
FREIBURG (SCHWEIZ)
ST. PAULUS-DRUCKEREI

In der Geschichte des höheren mittelalterlichen Geisteslebens bildet das 13. Jahrhundert unbestritten den Höhepunkt. Es war, wie ein Gegner der Scholastik sagt, groß durch seine Kathedralen, Universitäten, Päpste, Könige, Künstler, Legisten und Übersetzer, groß durch die Schöpfung seiner Philosophie und Theologie; 1 Kein Schisma trübte damals den Frieden der abendländischen Völkerfamilie; eine gewaltige wissenschaftliche Renaissance sproßte rasch, reich und kräftig empor durch die Erschließung, und Verarbeitung des aristotelischen, neuplatonischen, arabischen, byzantinischen Wissens. Die ersten und ruhmreichsten Universitäten: Paris, Bologna, Oxford, Montpellier, Cambridge bridge mit Toulouse, Padua und Salamanca gehören dem 13. Säkulum an.

Mag man über die wissenschaftlichen Resultate des 13. Jahrhunderts verschieden denken! In jedem Falle wird 'es schwer halten, ein anderes Jahrhundert aufzuzeigen, das

viele große Denker und mächtig originelle Gestalten zählt, wie das 13. Jahrhundert. Ich nenne hier Wilhelm von Paris, Alexander Hales, Albert d. Gr., Thomas von Aquin, Bonaventura, Roger Bacon, Siger von Brabant, Vinzenz von Beauvais, Aquasparta, Raimundus Lullus, Gottfried von Fontaines, Heinrich von Gent, Duns Skotus und die beiden Oxforder Dozenten Rob. Grossetête und Kilwardby.

Vielfach verschieden sind die Prinzipien, von denen die Forscher des 13. Jahrhunderts ausgehen; verschieden ihre Methode, Horizonte und Resultate. Wirr und stürmisch wogten die Ansichten durcheinander! Eine Zeit außerordentlicher Mannigfaltigkeit!

Niemand wagte damals — wenigstens offen die Harmonie der kirchlichen Offenbarung mit der gesunden Menschenvernunft in Frage zu stellen. Alle anerkannten auch die höchste kirchliche Obrigkeit als letzte entscheidende Instanz in Glaubenssachen. Weiter galt die Unterordnung des Staates unter Kirche und Papst in Spiritualibus als unverrückbar feststehend. Mit - dem christlichen Dogma von der creatio stellte die Kirche gewissen dunklen Lehrpunkten des Aristotelismus und vor allem dem monistischen Neuplatonismus und dem von ihm ganz durchtränkten Arabismus eine heilsame Schutzwehr entgegen. Kurz und gut: das 13. Jahrhundert war seiner herrschenden Tendenz nach kirchlich gesinnt.

Aber, Verehrteste, das war nur eine Seite desselben Auch die Vernunft sollte im ausgedehntesten Sinne zu ihren Rechten kommen. «La raison et les sciences», sagt Picavet, - — er ist kein Anhänger der Scholastik — «se retrouvent partout au XIIIme siècle.» 1 Für die kühneren, furchtloseren

Geister sollte die ganze Natur wissenschaftlich zu einer zweiten Offenbarung Gottes werden, um dann als rationelle Synthese der übernatürlichen Offenbarungslehre,. der sacra Theologia, der regina omnium scientiarum als Unterbau zu dienen. Fingerzeige zu diesem großen Plan hatten schon die Kirchenväter gegeben. Nun war die Zeit gekommen! Das Riesenmaterial der soeben erschlossenen früheren Wissensschätze sollte als Baumaterial dienen; der christliche Geist Wegweiser sein. Den Ausgangspunkt bildete die Abstraktion, wenigstens für die Thomisten. Das flüchtige Einzelne in der Natur hat nur dann wissenschaftlichen Wert, wenn es in seiner Vielheit auf die Einheit in der Wesenheit «quidditas», das Universale zurückgeführt wird. Hier liegt der einzige Anker objektiv unveränderlicher wissenschaftlicher Gesetze auch der ersten Beweisprinzipien, auch des Kausalprinzips. Von hier und nur von hier aus, ist ein Aufstieg zum Dasein und der Natur einer immateriellen Seele und zu Gott, der ersten intelligenten Ursache möglich, deren ewig unveränderlicher Geist die unveränderlichen Wesenheiten der Dinge und ihrer Gesetze erklärt, und damit die Wissenschaft ermöglicht. So ragt das Ewige in das flüchtig Zeitliche hinein, versöhnen sich Werden und Sein, Materie und Geist, Diesseits und Jenseits.

Kurz gefaßt: das 13. Jahrhundert dachte eminent metaphysisch. Das dankte es dem großen Meister von Stagira. Auf seiner Metaphysik als Basis ruht die Einheit der mittelalterlichen Disziplinen, ruht der unternommene Riesenplan: wissenschaftlich, Gott und die Schöpfung, Philosophie und Theologie, Natur und Übernatur, Wissen und Handeln, Staat und Kirche in Einklang zu bringen. In diesem Sinne hatte das 13. Jahrhundert mit Riesenanstrengungen eine christliche Weltanschauung zu schaffen versucht.

Unter düstern Auspizien begann das 14. Jahrhundert. Der arge Zwist zwischen Bonifaz VIII. und Philipp dem

Schönen dauerte noch fort. Bald begann der unheilvolle Kampf zwischen Papsttum und Ludwig dem Bayer. Dann folgte das große abendländische Schisma (1378-1417), wo zwei und drei Päpste von den Gläubigen ihre Obedienz forderten, «das Übermaß des Übels», wie Katharina von Siena es genannt, bis endlich das Konstanzer Konzil wenigstens diesem Elende ein Ende machte.

Zumeist verlegt man den eigentlichen Zusammenbruch der mittelalterlichen Weltanschauung in das Ende des 15. und anfangs des 16. Jahrhunderts, in die Zeit eines Pomponatius (1462-1526). Meines Erachtens mit Unrecht. Die große Krisis des mittelalterlichen Denkens fällt in das 14. Jahrhundert, wofür ich einige Beweise und erklärende Ursachen vorbringen möchte.

I.

Die Geschichte der Philosophie des 14. Jahrhunderts kennt vorzüglich fünf Hauptgeistesrichtungen: Mystizismus, Averroismus, Thomismus, Skotismus und Okkamismus. Verehrteste! Seien Sie ohne Furcht und Sorge. Ich werde diese Richtungen nur insofern heranziehen, als sie auf den Zersetzungsprozeß der christlichen Weltanschauung einen namhaften Einfluß ausübten und auch das nur kurz und in Bezug auf die prägnantesten Züge.

Mangel an Originalität, übertriebene dialektische Spitzfindigkeiten, unnützes Schulgezänk, starre, barbarische Sprache, gelten allgemein als Schattenseiten des 14. Jahrhunderts. 1 Sie sind aber doch nur von sekundärer Bedeutung und zum Teil eher schon eine Wirkung des sinkenden Geistes als Ursachen desselben.

Ein viel tiefer greifendes Zersetzungsmoment finden wir in dem Mystizismus. 2 Ich übersehe dabei nicht, was Meister Eckehart (1260-1327) zur Hebung der deutschen Sprache und für die Verinnerlichung des religiösen Geisteslebens Erstaunliches und Herzerquickendes geleistet hat. Dagegen

erhielt die wissenschaftliche Sprache in seinem Munde eine früher nie gekannte Zweideutigkeit. Und was schlimmer ist: in ihm triumphierte der neuplatonische Monismus.

Man wird und mag über den Sinn einzelner seiner Stellen weiter streiten. Aber die Leugnung jeglicher Distinctio in der Trinität 1, die Leugnung eines der Kreatur eigentümlichen Seins 2, seine Auffassung von der creatio als eines ewignotwendigen innern Hervorgehens des Partikulären aus Gott dem Allgemeinen 3, seine Ansicht von der ewigen unerschaffenen Wesensgleichheit des menschlichen Seelengrundes mit Gott 4, die merkwürdige Lehre, wie wenn unsere Kindschaft Gottes durch die Gnade der generatio des Sohnes Gottes aus dem Vater vollständig identisch wäre 5, alle diese Sätze, die Johann XXII. verurteilte und die in seinem Werk nachweisbar sind 6, tragen pantheistisches Gepräge. «Deus est primus actus formalis in on-mi opere artis et naturae», hatte Eckehart gesagt. 7 Das erklärt vieles. Gott war ihm nicht allein die Wirkursache des Geschöpfes, sondern die Formalursache.

Wir sind über Eckeharts Einfluß auf seine Zeit nicht genügend orientiert. Vielleicht war er noch größer, als man glaubt. Auch Tauler (1300-1361), Heinrich Suso (1300-1365) und Johannes Ruysbroeck (1293-1381) bedienen sich noch vielfach pantheistisch klingender Ausdrücke. Stark an Eckehart lehnt sich später der Pantheismus eines Nic. von Cusa an (1401-1464), dem dann Giordano Bruno (1548-1600) mit Vorliebe folgt. Wir berühren hier die Fährte, auf welcher der Pantheismus des Mittelalters von Skotus Erigena begründet, in die Neuzeit hinüberging.

Auch in England gab es im 14 Jahrhundert pantheistisch angehauchte Mystiker. Vom Gedanken geleitet: das Geschöpf besitzt kein ihm eigenes Sein, also auch keine eigene Tätigkeit, leugneten Joh. von Mirecourt 1 und Guido von Medonta die menschliche Freiheit. 2 Vielleicht war schon ihr Geistesführer Thomas Bradwardine auf diesem Wege zu seinem theistischen Determinismus gelangt. Der Pantheismus erhob im 14. Jahrhundert öfters ziemlich kühn und verwegen sein Haupt.

Das bestätigt weiter der gleichzeitige Averroismus. Seine Grundthesen: von dem einzigen allen Menschen individuell gemeinsamen Intellectus und von der ewig unerschaffenen Welt, die eigentlich nur eine innere Selbstentwicklung Gottes ist, tragen offen monistischen Charakter und standen im direkten Gegensatze zum christlichen Theismus.

Aber der Averroismus des 14. Jahrhunderts griff noch ein viel tieferes Moment der christlichen Weltanschauung an. Er rüttelte an ihrer Basis, gegen die im 13. Jahrhundert nur Siger von Brabant schüchtern, verdeckt und erfolglos anzukämpfen gewagt hatte.

Nichts, sagt Sante Ferrari, war dem 13. Jahrhundert heiliger und typischer gewesen, als die Überzeugung von der Harmonie des christlichen Glaubens mit der Vernunft. Kein Ruf sollte, so bemerkte er, für die kommende freie Wissenschaft der Renaissance klangvoller werden als, jener von der Duplex Veritas, der Satz: es kann etwas theologisch wahr sein, was philosophisch als falsch erwiesen ist. 3 Er proklamiert den Krieg zwischen Christentum und Philosophie im Prinzip. Nichts wie er, müßte den Glauben an die Göttlichkeit des Christentums so tief erschüttern und dem religiösen Leichtsinn Tür und Tor öffnen.

Alles das geschah nicht erst unter Pomponatius im

16. Jahrhundert, sondern schon im 14. Zwei Universitäten zählten eifrige Anhänger dieses neuen Geistes. In Paris; dem «Ruhme aller Hochschulen» verfocht Johannes Jandunus als gefeierter Lehrer der Philosophie: die Unmöglichkeit der. creatio 1, der göttlichen Vorsehung der. Einzeldinge 2, den Intellectus numerice unus 3, die Leugnung der Freiheit 4, hielt aber als Katholik das Gegenteil für richtig. Und schon vor Jandunus hatte sein Freund 5, Petrus von Abano (U c. 1315) an der damals hochberühmten Paduaner medizinischen Fakultät, die gleichen Lehren vorgetragen 6.

Dieser neue Geist zählte im 14. Jahrhundert. mehr Freunde als man bis dato glaubte 7, wenn auch nicht alle Averroisten alle averroistischen Lehrsätze verfochten. Padua, das einen großen Einfluß auf Bologna und Ferrara und den Büchermarkt von Venedig ausübte, galt damals als vollständig durch den Averroismus verseucht. Aus ihm gingen später die schärfsten Verteidiger der neuen Richtung. hervor: Paul von Venedig (U 1429), Franciscus Zabarella (U 1411); Cassandra Fidele, Nicolaus di St. Sofia und Pomponatius. 8

Der neue Geist soll auch seine praktischen Früchte getragen haben. Wieder .. nicht erst unter Pomponatius — sondern schon im. 14. Jahrhundert war Padua, wie Petrarca

klagt, ein Herd des Unglaubens; wo die averroistischen Ärzte geneigter wären, allen möglichen astrologischen Zauberkünsten Glauben zu schenken, als den christlichen Wahrheiten, die sie alle samt und sonders geleugnet hätten, wäre der drohende Arm des Gesetzes nicht gewesen. 1 Selbst bei Pietro d'Abano muß der Glaube an die Göttlichkeit des Christentums nicht sehr stark gewesen sein, da er den Ursprung der Religionen, auch der christlichen, auf die bloße Konstellation der Gestirne zurückführt 2 und hie und da über von Christus gewirkte Wunder zynisch sich äußert. 3

Aus derselben Paduanerschule ging jener merkwürdige Mann hervor, den Clemens VI. zu den schlimmsten Häretikern zählte 4, der 1312 Rektor der Pariser Universität war und mit Okkam auf Ludwig den Bayer den Haupteinfluß ausübte. Ich spreche von Marsilius von Padua, welcher mit Jandunus jenes Buch verfaßte, das Jahrhunderte antizipierte und das unter dem Titel: «Defensor pacis» der Einheit von Kirche und Staat, wie das christlich denkende 13. Jahrhundert sie aufgefaßt, den furchtbarsten Krieg ansagen sollte.

Die Theorie des Paduaners ist scheinbar kompliziert und doch auch wiederum einfach.

Ziel und Zweck des Staates ist nicht das irdische Wohl der Bürger allein, sondern auch das ewige. 5 Quelle jeder

staatlichen Autorität ist die Souveränität des Volkes 1, das als höchste legislative Autorität 2, seine Behörden wählt 3, absetzt und überwacht. 4

Sorgt der Staat auch für das ewige Wohl des Volkes, so steht die Kirche unter ihm. So ist es auch. Doch macht Marsilius eine für die spätem Zeiten wichtige Unterscheidung. Es gibt in der Kirche eine doppelte Gewalt:

a) Die erstere ist . dem Priestertum wesentlich, quillt aus seiner göttlichen Einsetzung hervor und besteht in der Macht, zu konsekrieren und Sünden zu vergeben. 5 Hier, also de jure divino, sind sich alle Priester der ganzen Welt einander gleich. Der Bischof hat keinen Vorrang vor dem einfachen Priester und der römische Papst nicht vor den übrigen Bischöfen. 6 Hier ist Christus allein das Haupt. 7 Weder zu Petri Zeit noch nachher gab es einen Primat. 8. Der römische Bischof hat ihn nur usurpiert. 9 Weder er allein, noch er mit den Kardinälen, noch die Bischöfe allein oder insgesamt, besitzen das Recht zu Glaubensentscheidungen. 10 Auch besitzen sie weder eine besondere Weihgewalt 11 noch irgendwelche richterliche Autorität. 12 Christus allein weiht unmittelbar alle Priester 13, spendet die Sakramente

1, straft die Häretiker, aber erst jenseits 2. Die Heilige Schrift ist die einzige Quelle des Glaubens. 3 Im Zweifel über ihren Sinn entscheidet das aus Priestern und Laien besammelte Concil 4, dem aber ebenfalls jede Strafgewalt abgeht 5. b) Die zweite dem Priestertume zufällig eigene Gewalt beschlägt nur die äußere kirchliche .Verwaltung. 6 Sie kommt ausschließlich dem Staate zu, der namens des Volkes die Zahl der Weihekandidaten bestimmt 7, sie in Bischöfe und Priester ausscheidet 8, Fehlende absetzt und bestraft 9, Concilien beruft 10, Kirchensteuern erhebt 11, die Benefizien verwaltet und über sie verfügt 12, und sogar die Spendung der Sakramente im Notfall erzwingen kann 13.

Ein seltsamer Geist, der aus diesem Defensor pacis uns entgegenweht! Im Gegensatz zum christlichen Staate des 13. Jahrhunderts eine Renaissance der altheidnisch griechisch-römischen Staatstheorien, infiltriert von den damaligen extrem demokratischen Volkstendenzen Norditaliens 14, alles aber beseelt von dem .giftigsten Hasse gegen

Papst und Hierarchie, verursacht durch den Streit zwischen Bonifaz VIII. und Philipp dem Schönen, dessen Kronjuristen schon früher ähnliche Grundsätze losgeschlagen hatten. 1 Es war der neue Geist, der da herrschte!

Der Mann aber, welcher der ganzen neuen Bewegung einen zusammenhängenden wissenschaftlichen Charakter zu geben verstand und dazu eine ungewöhnliche Propaganda für sie entwickelte, das war W. Okkam (U 1349). — Ich sehe ab, Verehrteste, von einer genaueren Analyse seines Systems. 2 Ich. darf Sie nicht mit gar zu hartem Brote bedienen. Aber auf den geheimnisvollen Schlüssel seines Systems, der uns sofort den ganzen Zusammenhang seiner Theorie wie mit einem Schlaglichte verständlich macht, möchte ich Sie hinweisen.

Hauck hät Okkam den Pfadfinder von der mittelalterlichen zur modernen Erkenntnistheorie genannt. 3 Das ist ausgezeichnet gesagt. Okkam hat Duns Skotus gegenüber,. der dem Universale in der Natur eine übertriebene Bedeutung beilegte, den entgegengesetzten extremen Satz aufgestellt: es gibt in der Natur nur Einzelnes, das Allgemeine ist in keiner Weise real begründet 4 ; folgerichtig erkennen wir auch nur Singularia; Folgerichtig ist inhaltlich das Objekt der sinnlichen und geistigen Erkenntnis dasselbe 5: das Aristoteles.

Singulär-Einzeln-Tatsächliche. Folgerichtig gibt es keine real begründete. Vielen gemeinsame Dingwesenheiten; also haben unsere Allgemeinbegriffe, die formell einzig Gegenstand der Wissenschaft sind 1, gar keine Realität 2, sind nur Zeichen für eine collectio = Menge konkreter, äußerlich einander ähnlicher Einzelngegenstände. 3

Und wie war Okkam auf diese Wege gekommen? Indem er die species impressae 4 und die inhaltliche Abstraktion rundweg leugnete 5.

Das Weitere ergab sich wie von selbst. Haben die Allgemeinbegriffe keine Realität, so fällt die ganze Metaphysik. Dann haben die Begriffe «Sein, Substanz, Ursache, Wirkung u. s. w.» nur subjektive Bedeutung und Okkam gibt es zu 6; dann wankt das Kausalprinzip, die große Säule aller Wissenschaft, und Okkam gibt. es wieder zu 7; dann wankt jeder Beweis für die Existenz und Eigenschaften Gottes 8, für die Geistigkeit der Seele u. s. w.; auch alles das gibt Okkam zu 9 und ganz logisch leugnet er auch die Unterscheidung zwischen an sich guten und an sich schlechten Handlungen 10 = Lostrennung der Ethik von der Metaphysik:

Über Staat und Kirche drückt er sich zwar schlau und vorsichtig aus. Doch gehört die Unterordnung der Kirche unter den Staat 11, und des Papstes unter das Allgemeine

Concil 1 zu seiner Lehransicht. Ob einer oder mehrere Päpste verschlägt für die Einheit der Kirche nichts. 2 In einem Punkt geht er über Marsilius hinaus. Er leugnet nicht allein den göttlichen Primat des Papstes 3 und seine Irrtumslosigkeit 4, sondern stellt auch die Unfehlbarkeit des Allgemeinen Concils, das aus Priestern und Laien bestehen soll 5, ohne Papst tagen 6 und im Notfall vom Kaiser berufen werden kann, 7 in Frage. 8 Ganz im Geiste des 16. Jahrhunderts vertritt Okkam verblümt immer und immer wieder den Gedanken: zur göttlichen unfehlbaren Kirche genügt es, wenn nur einige, vielleicht nur Kinder im Stande der Gnade, den in der Heiligen Schrift enthaltenen Glauben bekennen und bewahren. 9

Soweit waren die neuen Ideen schon im 14. Jahrhundert gelangt! Okkam hat mit der christlichen Weltanschauung des 13. Jahrhunderts allseitig und kräftig aufgeräumt.

War sein Einfluß groß? Dufourcque nennt ihn im 14. Jahrhundert herrschend. 10 Das ist viel gesagt. Aber er war offenbar sehr groß! Das bezeugen die beiden Pariserverbote von 1339 und 1340, die von «vielen» Anhängern reden 11 ; das beweist eine Warnung Clemens VI. vom Jahre 1340 12; beweisen die zahlreichen Ermahnungen der G.-K. des Predigerordens «de tenenda doctrina fr. Thomae»:

mehrere haben sicher eine Spitze gegen Okkam 1. Fast alle Universitäten besaßen glühende Okkamisten: Goddam in Cambridge und Oxford; Marsilius von Inghen in Heidelberg; in Wien: Heinrich von Hessen; Köln war ganz in diesem Fahrwasser 2; Bologna besaß eine eigene okkamistische Schule; Rom hatte sogar in Armand von Bauvoir einen okkamistischen Magister Sacri Palatii; in Paris: Joh. Buridanus, Nic. d'Oresme, Albertus von Sachsen. Einer aber war es, der unter den Pariser Dozenten bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts die okkamistischen Konsequenzen bis auf die Spitze trieb und damit den ausgeprägtesten Atomismus verband, wie Lange richtig betonte. 3 Das war Nicolaus von Autricuria, i. J. 1346 von Clemens VI. verurteilt. Schon er zweifelte daran, ob die Erwerbung unserer Erkenntnis von außen, von Seite der äußern Erkenntnisobjekte irgend welchen Einfluß voraussetze. Weder die Erkenntnis irgend einer Wirkung noch einer Seinsveränderung der Weltdinge hält er für sicher. Ganz logisch bezweifelt er daher auch das Kausalprinzip, sogar das Kontradictionsprinzip, und daher wiederum logisch die Gültigkeit jedes schließenden Beweisverfahrens, die Existenz des eigenen Leibes und des eigenen Verstandes. Bekanntlich hat E. Kant das Dasein der äußern Welt nie in Frage gestellt. Nicolaus hielt es nicht für unmöglich, daß sie nur eine Fiktion unserer Vorstellung wäre. 4, Sehr bezeichnend nannte der englische Kritiker Rashdall unsern Okkamisten des 14. Jahrhunderts den «Hume des Mittelalters». 5

Soweit waren vereinzelte Okkamisten schon im 14. Jahrhundert gelangt! Andere waren vorsichtiger und weniger logisch.

Welchen Einfluß, und zwar herrschenden, der Conciliarismus — Unterordnung des Papstes unter das Concil —, auf die Theologen des 14. Jahrhunderts ausübte, auf die Mehrheit des Concils in Pisa und anfänglich auch in Konstanz ist allbekannt. Ihm huldigten ganze Universitäten wie z. B. Bologna. 1 In einer 1381 erschienenen Schrift äußert sich ein Theologe vom Ansehen des Heinrich von Langenstein geringschätzig über die göttliche Einsetzung des Papstes. 2 Ein Jahr vorher hatte ein anderer deutscher Theologe, Konrad von Gelnhausen, in einem Briefe, der in Paris erschienen war, die Unfehlbarkeit des Papstes offen geleugnet. 3 Wie stark Gerson, der berühmte Kanzler der Pariser Universität, von diesen Ideen beeinflußt war, bedarf keiner Erwähnung.

Die okkamistische Auffassung von der Heiligen Schrift als einziger unfehlbarer Glaubensquelle, die jeder nach seinem subjektiven Ermessen interpretiert, die Auffassung des Marsilius und Okkam von der Kirche als einer bloß unsichtbaren Heilsanstalt gewisser Auserwählter, gehörten schon im 14. Jahrhundert zu den Grundirrtümern Wiclifs (U 1384), dem nachher Johannes Hus und später Luther, der sich bekanntlich außerordentlich rühmte, ein «Okkamist» zu sein «Sum enim Occanicae factionis», sagt er, und der Okkam nicht allein den «Fürsten» der Scholastik nennt, sondern offen bekannte, die Lehre des Neuerers ganz in sich aufgenommen zu haben, «penitus imbibitam teneo». 4

Einen ganz außerordentlich schlagenden Beweis für den gewaltigen Einfluß der neuen Geistesrichtung bietet uns

Peter d'Ailly (1350-1420), der 1380 in Paris promovierte, 1389 Kanzler der Universität war, nachher Hoftheologe Karis VI. und Bischof wurde und als Kardinal im Konstanzer Concil zu den einflußreichsten Würdenträgern gehörte, und den Luther ebenfalls hochschätzte. 1

Peter d'Ailly unterschrieb alle philosophischen Grundthesen Okkams, d. h. wie dieser war auch er ein Gegner der Abstraktion und leugnete daher die Realität der Allgemeinbegriffe, bezweifelte das Kausalprinzip, hielt die Existenz Gottes für unbeweisbar; nicht einmal so viel hält er für beweisbar, daß der Mensch ein höheres Ziel hat als sich selbst. 2 In einem wichtigen Punkte ging er noch über Okkam hinaus: er bezweifelte auch die Objektivität der Sinneserkenntnis. 3

In seiner Habilitationsschrift vom Jahre 1380 leugnet er offen die Unfehlbarkeit jeder äußeren sichtbaren kirchlichen Autorität: des Papstes, des allgemeinen Concils, überhaupt der römischen Partikularkirche. Auch ihm schwebt die Idee vor von der Unfehlbarkeit einer unsichtbaren allgemeinen Kirche derjenigen Einzelnpersonen, die im Innern den wahren Glauben und die Gnade besitzen. 4 Merkwürdig ist es und für den Einfluß des Okkamismus vielsagend, daß eine Habilitationsschrift derartigen Inhaltes dennoch ohne weiteres von der Pariser Universität akzeptiert wurde! Auch später auf den Synoden zu Pisa 5 und Konstanz hat Peter.

d'Ailly als Theologe, trotz sonstiger vielfacher Frontänderungen, wesentlich dieselben Ideen vertreten. 1

Ein typisches Merkmal des antimetaphysischen Charakters der neuen Richtung des 14. Jahrhunderts ist ihr ausgesprochener Voluntarismus. Der wirkliche Metaphysiker führt die Gesetze auf die Dingwesenheiten zurück und diese auf die unveränderlichen Ideen Gottes, durch die auch das göttliche Wollen bedingt ist. So geht das Erkannte allüberall in der ganzen spekulativen Ordnung dem Gewollten voraus. Diese intellektualistische Auffassung ermöglicht die Annahme von sittlichen Handlungen, die an sich schlecht sind, welche Gott nie wohlgefällig sein können, weil sie seinen ewigen Ideen und daher seiner Wesenheit zuwider sind, z. B. die Lüge, der Haß Gottes, die Blasphemie. Sie allein stößt einen wirksamen Riegel vor gegen den absoluten Moralrelativismus.

Schon in den Theorien der Neuerer des 14. Jahrhunderts, — und nicht erst später —, springt der Gedanke so häufig durch: an sich und vor Gott ist eigentlich alles gleich wahr und gleich gut und gleich bös! Dahin gehört Eckeharts Satz. «Deum blasphemia laudare» 2; dahin die Andeutung des Averroisten Jandunus: was philosophisch wahr ist und theologisch falsch, lasse sich vor Gott sehr wohl vereinen, denn ihm wäre ja alles möglich 3; dahin gehört weiter Robert Holkots Meinung: Gott könnte absichtlich jemanden täuschen 4. In der berüchtigten anonymen Schrift «Ober die Arten die Kirche zu einigen», die sicher dem 14. Jahrhundert angehört und die Finke neuerdings Dietrich von Nieheim zusprach, wird dem Satz offen das Wort geredet: «für die Einigung der Kirche sind List, Trug,

Gewalt, Kerker und Tod ganz erlaubte Mittel» 1. Der berüchtigte Satz: der Zweck heiligt die Mittel, war somit längst vor Nicolo Machiavelli und den viel verleumdeten Jesuiten bekannt! Nach Nicolaus von Autricuria kann Gott den Haß Gottes uns vorschreiben und wenn er es tut, ist es verdienstlicher ihn zu hassen als ihn zu lieben. 2 Okkams Sophistereien grenzen hie und da, wie der protestantische Ritter sagt, geradezu an Frevel. 3 Auch er hält den Haß Gottes, den Diebstahl und Ehebruch nicht für an sich schlechte Handlungen. 4 Gott kann jemanden ohne Sünd und Schuld ewig verdammen. 5 Alles das hat Peter d'Ailly,. der Mann mit dem gewaltigen kirchlichen Ansehen, den Zeitgenossen den «Hammer der Häretiker» nannten, mit ausdrücklicher Berufung auf Okkam, mit dem er teilweise die gleichen Beispiele gemein hat, ebenfalls gelehrt. 6 «Daß die Kirche trotzdem ihr sittliches Bewußtsein nicht verlor, war; so sagt der Protestant Tschackert, wahrlich nicht das Verdienst ihrer tonangebenden Geister.» 7

Hochverehrte Versammlung! Die Geisteskrise des 14. Jahrhunderts war mächtig und tiefgreifend. Sie, hat das 16. Jahrhundert in allen wichtigen Thesen antizipiert. Sie ging wissenschaftlich in mehreren Punkten über Hobbes und John Locke hinaus. Sie war für die christliche Weltanschauung des 13. Jahrhunderts erschütternd durch ihre tiefgreifenden, in alle Kreise eindringenden monistisch-subjektivistisch-antimetaphysischen Tendenzen, welche den Unterschied und die Harmonie von Glaube und Wissen, Philosophie und Theologie, Kirche und Staat, Wissen und Wollen, metaphysischen und empirischen Wissen untergruben!

II.

Welches waren die wichtigsten Ursachen dieser merkwürdigen, fast plötzlich hereingebrochenen Geisteskrise?

Eine schwer zu beantwortende Frage! Derartig gewaltige Zeiterscheinungen und Geistesumwälzungen wird man kaum je befriedigend erklären. So viele innere und äußere mitspielende Triebfedern entziehen sich dem forschenden menschlichen Geiste, der auf Tatsachen, die Jahrhunderte hinter ihm liegen, zurückschaut. Und das gilt hier um so mehr, als die philosophisch-theologische Literatur des 14. Jahrhunderts uns verhältnismäßig am wenigsten zugänglich und bekannt ist. Wir müssen uns also mit wenigen allgemeinen Andeutungen begnügen.

Unter den Ursachen, welche die Krise beförderten, sind solche, die mehr den Niedergang des christlich-kirchlichen Sinnes, andere den des wissenschaftlichen Ernstes und andere, die den Ruin beider zugleich beförderten. Und wiederum gehören mehrere Ursachen dem 14. Jahrhundert, andere dem dreizehnten an. Beginnen wir mit dem letzteren.

Die Sympathien, welche wir für das 13. Jahrhundert hegen und einleitend unverkennbar zum Ausdrucke brachten, lassen uns für seine Schattenseiten nicht blind sein. Es besaß deren manche, wie jede Periode der Kulturgeschichte. Es war groß in seinen von idealem Schwunge und mit wunderbarer Schaffensfreude getragenen Plänen. Aber menschliche Bestrebungen und Erfolge decken sich so selten gegenseitig. Der Plan, wissenschaftlich Glaube und Wissen in Harmonie zu bringen und auf Grund dieser Einheit Philosophie und

Theologie, Natur und Übernatur, Staat und Kirche theoretisch und praktisch zu einigen, trug etwas Gewaltiges und Kühnes an sich. Aber der Kühnheit des Planes entsprach die Größe der Schwierigkeit des zu lösenden Problems. Und hier gehen die Lösungsversuche auch der größten Scholastiker des 13. Jahrhunderts oft bedeutend auseinander. Das 13. Säkulum ist seinen erzielten Resultaten nach weniger homogen, als viele sich vorstellen. Sein synthetisch von oben herab konstruierendes Streben ließ es oft genug an der soliden, analysierenden, von unten aufbauenden Kleinarbeit fehlen. Es trägt mannigfach den Charakter des Überstürzten, Unverdauten und Unbeherrschten an sich. Das sollte sich später rächen und hat sich faktisch gerächt. Manche Keime der Krise des 14. Jahrhunderts trug schon das dreizehnte in seinem Schoße und sie sollten rasch genug ausreifen.

Dazu rechnen wir an erster Stelle die verschiedenen, teilweise unhaltbaren und verworrenen Auffassungen des Verhältnisses von Glaube und Wissen.

Eine christliche Weltanschauung, wie das 13. Jahrhundert sie tatsächlich anstrebte, mußte wissenschaftlich drei Forderungen stellen: Wahrung des von der Kirche überwachten christlichen Glaubens; zweitens Wahrung der Rechte der Menschenvernunft; endlich drittens die harmonische Unterordnung des Einen unter das Andere bei Wahrung der begründeten Rechtsansprüche beider. Die Lösung dieses Problems war keine leichte Sache.

Wer einseitig und ausschließlich nur die Rechte des Glaubens betonte, verfiel rettungslos dem Fideismus und Traditionalismus, weil er die Möglichkeit jedes natürlichen und daher philosophischen Wissens untergrub. Nun wissen wir, daß der Satz: aus sich und ohne Voraussetzung des Glaubens kann die Vernunft nichts erkennen, nicht allein von Skotus Erigena aufgestellt wurde 1, sondern auch dem 13. Jahrhundert nicht ganz fremd war. So hielt Raimundus Lullus (1235-1315) ohne den Glauben jede Gotteserkenntnis

für unmöglich. 1 Zuweilen wurde auch der Ausspruch des Propheten: «nisi credideritis, non intelligetis» in diesem Sinne interpretiert.

Da die Platoniker des 13. Jahrhunderts die ersten und höchsten philosophischen Erkenntnisse, ähnlich dem Glauben, auf eine göttliche illuminatio zurückführten, war die Selbständigkeit der Vernunfterkenntnis schwer zu retten und eine klare, bestimmte, logisch durchführbare Abmarkung zwischen Glaube und Wissen schlechterdings unmöglich. Das zeigt sich dann in hervorragendem Grade bei Roger Bacon (1210-1294), der nicht bloß seine experimentellen Erkenntnisse auf eine mystische göttliche Erleuchtung zurückführte, sondern der Menschenvernunft als solcher jedes selbständige Wissen absprach, und die Heilige Schrift als einzige Quelle alles menschlichen Wissens proklamierte. 2 Es ist wohl eine starke Ironie des Schicksals, daß der vorgebliche Begründer des modernen experimentellen Wissens dem menschlichen Wissen im Prinzip jede Berechtigung abgesprochen hat. Logisch gelangte dann derselbe Bacon zu einer absolut einseitigen Auffassung des Verhältnisses von Kirche und Staat. Weil es nur göttliche Erkenntnisse gibt, gibt es auch nur göttliche Rechte, — das Naturrecht und Zivilrecht werden wie die Philosophie auf die Heilige Schrift zurückgeführt —, und daher besitzt der Papst als Haupt der Kirche über Staat, Fürsten, Kaiser, in jeder Hinsicht die absolute Autorität. 3 Es gibt keine dem Staate als solche eigene Rechte. Wie hier die Vernunfterkenntnis in der Glaubenserkenntnis aufgeht, so verschlingt die Kirche den Staat. Es ist das eine Theorie, die jener eines Marsilius von Padua und Okkam diametral entgegengesetzt ist. Wie bedeutungsvoll das ist, leuchtet sofort ein, wenn wir uns daran erinnern, daß in

der Geschichte extreme Ansichten zumeist die entgegengesetzten extremen Ansichten. ins Leben rufen.

Wer dagegen einseitig und ausschließlich nur die Rechte der Vernunft betonte, mußte den Rationalismus verfallen, weil er die Rechte des christlichen Glaubens antastete und zuletzt notgedrungen die christlichen Geheimnisse in Wissen umwandelte. So wollte Raimundus Lullus — den Glauben vorausgesetzt — die tiefsten Geheimnisse des Glaubens, die Trinität, Erbsünde u. s. w. durch die bloße Vernunft beweisen 1, und auch Heinrich von Gent (1217-1293) hielt es für möglich, Glaubensartikel apodiktisch zu beweisen. 2 Beide sind von den Viktorinern beeinflußt, und ihr theosophischer Rationalismus hat später auf die Mystiker, speziell auf Raymundus von Sabunde (U 1432) und Nicolaus von Cusa (1401-1464) eingewirkt.

Beide erwähnten Lösungsversuche — der fideistische und rationalistische —, beruhten auf einer Vermengung und Identifizierung von Glaube und Wissen. Den einen — Fideisten —. schwebte der Gedanke vor: Glaube und Wissen harmonieren, weil alles, was die Vernunft erkennt, schon in der Heiligen Schrift enthalten ist; die andern — Rationalisten — wurden von der schon den Gnostikern und Arabern bekannten fatalen Überzeugung verleitet: Glaube und Wissen harmonieren, weil das, was in der Heiligen Schrift enthalten ist, — sogar die Geheimnisse, wenigstens in Bezug auf die Existenz —, auch durch die Vernunft beweisbar ist. Und da bei diesen Lösungsversuchen jeweilen eines von Beiden, entweder die Selbständigkeit des Glaubens, oder jene des Vernunftwissens geopfert werden mußte, lag der Gedanke, den das 14. jahrhundert verteidigte: Glaube und

Wissen sind überkauft unvereinbar, sie stehen im notwendigen Gegensatze, — Duplex veritas —, nicht mehr ferne. Hafner hat daher unseres Erachtens tief geblickt, als er die Vermengung von. Glaube und Wissen zu den Ursachen des Niederganges der Scholastik rechnete. 1

Alles das erklärt es uns, warum Thomas von Aquin (U 1274), im Gegensatze zu den meisten seiner Zeitgenossen, zum Teile sogar zu Albertus Magnus, die Harmonie von Glaube und Wissen auf die scharfe Unterscheidung beider aufbaute. Verschiedenes kann nur auf Grund der Unterscheidung und ängstlicher Respektierung des Verschiedenen, in Harmonie gebracht werden. Das war sein Grundsatz, den schon Aristoteles in seiner Staatslehre so scharf durchgeführt hatte. Was Glaubenssatz ist, kann daher nie bewiesen werden, und was beweisbar ist, nie ein Glaubenssatz sein. Beide, Glaube und Wissen, unterscheiden sich scharf durch ihr formelles Objekt. Beide unterscheiden sich aber auch ebenso scharf durch ihren verschiedenen Ursprung. Hier setzt Thomas für den Ursprung aller' natürlichen Erkenntnisse an Stelle der platonischen Illumination die abstractio ex rebus sensilibus. Damit gründete er alle natürlichen Wissenschaften auf die äußere und innere sinnliche Erfahrung, und es gelang ihm damit zugleich, eine Grenzlinie zu ziehen für die Vernunft gegenüber den Glaubensgeheimnissen, die deshalb nicht beweisbar sind, weil die äußere abstraktiv erkannte Natur für sie keinen genügenden Anhaltspunkt bietet. Damit war auch die scharfe Unterscheidung zwischen Philosophie und sacra Theologia gegeben, weil die erstere als Unterlage an sich evidente Vernunftprinzipien besitzt, die letztere aber von den geoffenbarten Glaubensartikeln ausgeht. Und da nun in der abstraktiv-metaphysisch aufgebauten wissenschaftlichen Synthese die Teilwissenschaften stufenweise je nach ihren verschiedenen Objekten ihr eigenes Gebiet und ihre eigenen Rechte besitzen, teleologisch aber den höheren wieder untergeordnet werden,

besitzt die Philosophie, überhaupt das natürliche Wissen, zwar ihr eigenes Gebiet, verhält sich aber zur höheren Theologie potentiell und ist ihr daher in der Gesamtsynthese untergeordnet, wie die Natur der Übernatur. Und ebenso hat der Staat nach diesen Prinzipien zwar sein eigenes Gebiet, seine eigene Rechtsphäre in. Bezug auf das zeitliche Wohl der Bürger, ist aber, weil und insofern das Zeitliche dem Jenseits gegenüber potenziell sich verhält, der Kirche. in :spiritualibus untergeordnet.

So bestehen Selbständigkeit und Unterordnung von. Glaube und Wissen, Philosophie und Theologie, Natur und Übernatur, Staat und Kirche nebeneinander. Das ist die Harmonie von Glaube und Wissen bei Thomas, auf Grund ihrer scharfen Unterscheidung. Es leuchtet ein, daß die Frage über das Verhältnis von Glaube und Wissen für das Mittelalter nicht bloß eine religiöse war, wie einige behaupten, sondern eine eminent wissenschaftliche, weil das Wohl und Weh der Wissenschaft von ihrer verschiedenen Lösung abhängig war!

In erkenntnistheoretischer Hinsicht gab es ebenfalls schon im 13. Jahrhundert. Vorarbeiter für die Krise des 14. Jahrhunderts. Nicht zwar, daß jemand unseres Wissens schon damals die Realität der menschlichen Erkenntnis offen in Frage gestellt hätte. Davor schützte die Scholastiker des 13. Jahrhunderts jene berühmte platonische göttliche Illumination, an die sie so fest glaubten. Aber es wurden Theorien aufgestellt, welche, sobald jene Illuminationstheorie sich wissenschaftlich als unhaltbar erwies, sicher und direkt zum Subjektivismus führten. Ist der Erkennende dem äußeren Erkenntnisgegenstand gegenüber in erster Linie passiv, oder verhält er sich nur aktiv? Von der Beantwortung dieser Frage hing die Realität der Erkenntnis ab. Nur die Passivität, und zwar bezogen auf den Erkenntnisinhalt, rettet die Objektivität der Erkenntnis.. Sie setzt aber die berühmten species impressae voraus. Diese hatten bereits im 13. Jahrhundert entschiedene Gegner. Schon Wilhelm von Auvergne oder Parisiensis (U 1249), leugnete sie auf

der ganzen Linie. 1 Ihm folgten Roger Bacon 2 und Dietrich von Friberg (gest. nach 1310) 3. Wie heftig Heinrich von Gent die intellektuellen species impressae befehdete, ist bekannt. 4 Diesen folgten dann im 14. Jahrhundert — noch vor Okkam — Petrus Aureolus (U 1322)5, und Wilhelm Durandus (U 1332) 6. Daß die Gegner der species impressae zugleich die aristotelische abstractio zu einem Krüppelbegriff verstümmelten, ist bekannt, und war nur eine logische Folgerung ihrer Voraussetzungen, sowie die These von der Priorität der intellektuellen Erkenntnis der Singularia vor der Erkenntnis des Allgemeinen.

Stark voluntaristische Anschauungen verfochten Heinrich von Gent, Roger Bacon und Duns Scotus (U 1308), der nicht bloß zeitlich, sondern auch der Geistesrichtung nach auf der Grenze der beiden Jahrhunderte stand. Sein Satz: Gott könnte eine Bewegung ohne Bewegtes hervorbringen «potest facere motum sine mobili» 7 zeigt uns, wie bei ihm, trotz der spekulativen Begabung, das metaphysische Wissen im Niedergange begriffen war und wie der Voluntarismus bereits in die tiefsten philosophischen Fragen eingedrungen war. Wir sind daher kaum sehr erstaunt, wenn er einem der tiefsten aristotelisch-metaphysischen Sätze, dem berühmten: «omne, quod movetur ab alio

movetur», nicht ohne jede Einschränkung zustimmen kann. 1 Bekanntlich hat der Okkamismus diese Frage wieder aufgegriffen und weiter entwickelt.

Bei Meister Dietrich von Friberg, dessen wichtigste literarische Tätigkeit dem 14. Jahrhundert angehörte, lebte der neuplatonische monistische Geist, der nachher die Mystiker so sehr beherrschte, mächtig wieder auf. Die Allbeseelung des Himmels 2 und seine Annahme von geschaffenen Geistern, die in keiner Weise in Potenz wären 3, deuten darauf hin. Mehr noch seine Theorie über den Ursprung der geistigen Dinge aus Gott, wo er offenbar sehr stark an die intellektuelle Gott innerliche Emanation Plotins dachte und die Trinitäts-Processiones auf die creatio der Welt anwendet. 4 Sein intellektueller Determinismus war nur eine logische Folgerung dieser Voraussetzungen. 5

So war das 14. Jahrhundert angebrochen. Die riesige Geistesarbeit des vorhergehenden hatte eine Geistesermüdung zur Folge, wie solche allen großen Geistesepochen in der Kulturgeschichte folgten. Es gibt keinen kontinuierlichen menschlichen Fortschritt.

Diese Ermattung erklärt uns teilweise schon den Mangel an Originalität des 14. Jahrhunderts, seinen offenkundigen Niedergang im methodischen Denken, . seinen übertriebenen Formalismus, den der Scotismus überdies noch beförderte, wie de Wulf richtig sagte 6, seine Vorliebe für die Logik, die allmählich infolge des um sich greifenden Subjektivismus zu einer Hauptdisziplin wird, ja überhaupt für viele fast einzig noch Interesse hatte. Der Gebrauch der modernen nationalen Sprachen in Philosophie und Theologie verursachte. bei der anfänglich unausgebildeten Form derselben, große

Dunkelheit, Unklarheit und Mißdeutung der Lehren, die vor allem bei den deutschen Mystikern sich offenbart.

Der leichtfertige Studienbetrieb trug zu der sich vollziehenden Zersetzung weiteres bei. Die Universitäten vermochten sich nicht auf ihrer früheren Höhe zu halten. Paris, das einstige Zentrum der Studien, besonders der philosophischen und theologischen, fiel rasch. Die Jagd nach fetten Benefizien und hohen Ehrenstellen 1, die Verleihung der akademischen Grade nach verkürzter Studienzeit und mit allen möglichen Dispensen, dann und wann auf bloße Empfehlungen und klingende Münze hin 2, drückte das Niveau der Studien herunter. Tüchtige, weitsichtige Bischöfe hätten als Wächter der Hochschule dem Übel steuern können. Aber es fehlte Paris in dieser Periode auch an diesen. Die Mehrzahl derselben waren Legisten und Ärzte gewesen vor ihrer Erhebung, denen es daher an einer tieferen theologischen Bildung gebrach. 3 Paris und Bologna, mit anderen Hochschulen, wurden ehedem wiederholt durch die energische Intervention der römischen Papste vor Katastrophen bewahrt. Auch an diesen mächtigen Beschützern fehlte es in diesem Jahrhundert. Clemens V., Johannes XXII. und Clemens VI. waren zu schwach dazu. 4 Ein weiterer fataler Umstand kam noch hinzu; Bis zum 14. Jahrhundert hatten nur Paris, Oxford und Cambridge statutengemäß das Recht, den höchsten akademischen Grad der Theologie, den Titel «Magister» zu verleihen. Später übten auch andere Universitäten dieses Recht aus, die einen, indem sie unbefugt dieses Recht einfach an sich rissen; andere benutzten die Wirren des Schismas, uni dieses Privilegium sich von dem ihnen günstigen Papste zu erzwingen. 5 Das schadete nicht bloß dem Pariser-Studium, sondern dem Wissenschaftsbetriebe

überhaupt. Übrigens wurden mißbräuchlich auch an Orten akademische Grade erteilt, wo gar keine höheren Studien bestanden, was dann in der römischen Kurie jenen drastischen Ausruf «Cur non in stabulo porcorum» veranlaßte. 1

All diese Verhältnisse, Vorgänge und Tendenzen in Betracht gezogen, begreifen wir einigermaßen die sonst nicht leicht erklärliche Ignoranz des 14. Jahrhunderts in Bezug auf die großen Synthesen des vorhergehenden 13. Jahrhunderts.

Einstens standen die religiösen Orden an der Spitze der wissenschaftlichen Bewegung. Auch im 14. Jahrhundert spielten sie noch eine große Rolle. Aber mit dem Zerfalle der klösterlichen Zucht und Strenge erlosch mehr und mehr der edle Feuereifer, und wuchs auf der andern Seite die Überhebung und Rechthaberei, die Sucht, auf dem Dispenswege so eilig als möglich die akademischen Titel, mit den an sie geknüpften Privilegien und Aussichten sich zu erwerben. 2

Dazu kam, daß der von 1348-1350 wütende schwarze Tod in ihre Reihen entsetzliche Lücken riß. Ganze Städte und Klöster wurden damals entvölkert. Florenz soll 60,000 Venedig 100,000, Siena 70,000, Pavia 50,000, Basel 14,000, Paris 50,000 Menschen verloren haben. Messina war ganz ausgestorben. Für die beiden großen Lehrorden, Dominikaner und Franziskaner, waren die Verluste unersetzlich. In Deutschland sollen die Minoriten 30,000 Mitglieder verloren haben. In der Fastenzeit 1348 allein verloren die Predigerbrüder in der Provence 378 Mitbrüder. Das Kloster in Marseille war völlig ausgestorben. Montepellier, ein wichtiger Studienort, besaß noch sieben Überlebende. Die böhmische Provinz wurde besonders arg hergenommen. Es ist möglich, daß die Chronisten etwas übertrieben bei ihren Verlustangaben. Aber wenn man die Klagen eines .Zeitgenossen, Petrarca, über das «allgemeine Sterben» und die

Berichte der Generalkapitel vernimmt, erscheinen die Angaben nicht sehr übertrieben. 1

Die thomistische Schule leistete den Neuerungen entschiedenen Widerstand. Aber sie besaß in dieser Zeit wenige hervorragende Köpfe. Es fehlten ihr Männer wie Capreolus und Cajetan. Von allen Seiten heftig angegriffen, wurde sie zu sehr auf, das Gebiet der bloßen Polemik verdrängt. Vielleicht fehlte es ihr an der nötigen Einsicht und Kraft überhaupt, um auf der von Albert und Thomas geschaffenen Basis positiv weiter zu bauen und, den neuen Bedürfnissen entsprechend, die empirischen, historischen, sozialen und sprachwissenschaftlichen Wissenszweige intensiver zu pflegen. Neuerer besaß auch der Dominikanerorden, wie Durandus, Dietrich von Friberg und Eckehard zeigen. Aber die Zentralleitung des Ordens mit der überaus großen Mehrheit der Ordensmitglieder trat dem Okkamismus energisch entgegen und stritt unermüdlich für die Lehre des großen Bruders Thomas. Ein seltsames Verhängnis war es für den Orden, daß, während der in seinen Schriften noch übertrieben neuplatonisierende Albertus Magnus in seinen letzten Zeiten des Lebens offenbar mehr und mehr voll Bewunderung seinem genialen Schüler Thomas sich anschloß, manche Schüler Alberts und wiederum Schüler der Schüler dem «jüngeren» Albert folgten, so mehrere Mystiker. Das brachte einen gewissen Zwiespalt in den Orden hinein, der in der Folgezeit vorzüglich in Deutschland seine Folgen hatte.

Jedenfalls war der Thomismus des 14. Jahrhunderts nicht im Stande, der hereinbrechenden wissenschaftlichen Zersetzung wirksamen Widerstand zu leisten. Das hinderte schon die gegenseitige Eifersucht der Orden. Die Krise schritt vorwärts!

An dem Zerfall des kirchlich-religiösen Geistes trug das 14. Jahrhundert selbst die größte Schuld. Hier schlugen äußere gewaltige Ereignisse der Kirche die schwersten 1

Wunden. Der Kampf zwischen Bonifaz VIII. und Philipp dem Schönen hatte dem Papsttume, unter der schlauen Vorgabe des französischen Königs, als vindizierte sich der Papst auch die weltliche Gewalt, bereits viele Sympathien geraubt.

Der bittere Kampf Ludwig des Bayer gegen Rom unter der geistigen Führung des Jandunus, Marsilius von Padua und Okkam war ein direkter Angriff auf die kirchliche Hierarchie.

Das «Avignonsche Exil» der Päpste (1305-1376) mit seiner Abhängigkeit des kirchlichen Oberhauptes von den französischen Königen, seiner heillosen Bureaukratie und dem Prunke des Hofes, der stets neue Steuern verlangte, erweckte mit der stark weltlichen Aufführung mehrerer Päpste neues Mißtrauen gegen das Oberhaupt der Kirche.

Dazu kamen in Frankreich, Italien und Deutschland ausgesprochen nationale Bestrebungen zum Vorschein, die der Weltkirche Roms mit dem Papste als hierarchisches Haupt gegenüber deutlich genug die Idee von Nationalkirchen vertraten. 1 Mit dem altheidnischen Begriffe vom Staate, den Marsilius von Padua entwickelt hatte, sollten auch die alten scharfen nationalen Gegensätze wieder aufleben! -

Was aber, neben der zunehmenden Verweltlichung des niedern und höheren Klerus die Autorität des Papstes am meisten, ja bis in die Grundfesten erschütterte, war das große abendländische Schisma (1378-1417), die Zeit, wo zwei und drei Päpste zugleich von den Gläubigen ihre Obedienz verlangten, die Zeit, von der man glaubte, sie sei jene des «Antichrists» und wo man anfing, den Papst selbst für den Antichristen zu halten. «Kein Ereignis», sagt Pastor, «hat dem großen Abfall vom Papsttume, welcher im 16. Jahrhundert eintrat, so nachhaltig vorgearbeitet, als die fast ein halbes Jahrhundert hindurch dauernde Kirchenspaltung.» 2 Damit schließen wir unsere sehr allgemein gehaltenen

skizzenmäßigen. Bemerkungen über die Ursachen der großen Krisis des 14. Jahrhunderts ab. Nur einen Gedanken gestatten Sie mir, Hochverehrteste, zum Schlusse noch hinzuzufügen, ein Gedanke, der das 13. und 14. Jahrhundert zugleich betrifft.

Was den Denkern der beiden genannten Jahrhunderte vielfach fehlte, das war der wissenschaftliche Fernblick, jener seherische Blick in kommende Geisteskämpfe, der die Folgerungen aufgestellter falscher oder richtiger Prinzipien bis zu den letzten durchschaute, und sich daher nüchtern prüfend vorsieht, der das Gesetz der eisernen logischen Konsequenz kennt, das nach Jahrhunderten erst früher aufgestellte Prinzipien in ihren Folgerungen richtet, sie billigt oder verdammt. Und wenn Thomas von Aquin alle übrigen Vertreter des 13. Jahrhunderts geistig überlebte, so geschah es durch seinen Fernblick. Er hat ihn, wie der Protestant Neander ihn nannte, zum Lehrer der Jahrhunderte gemacht! 1