LEBEN UND STERBEN
IN DER SCHWEIZERISCHEN
BEVÖLKERUNG
REKTORATSREDE
GEHALTEN AN DER 82. STIFTUNGSFEIER DER UNIVERSITÄT BERN
AM 18. NOVEMBER 1916
VON
PROFESSOR DR. CHRISTIAN MOSER
BERN
AKADEMISCHE BUCHHANDLUNG VON MAX DRECHSEL 1917
Druck von Stämpfli & Cie.
Leben und Sterben
in der schweizerischen Bevölkerung.
Rektoratsrede,
gehalten an der 82. Stiftungsfeier der Universität Bern
am 18. November 1916
von Professor Dr. Christian Moser.
Hochgeehrte Anwesende!
Vor 82 Jahren, Mitte November 1834, wurde die
Universität Bern eröffnet.
Regierungsrat Neuhaus, der Rektor und ein weiterer
Vertreter der Professorenschaft hielten dabei
tiefempfundene, von berechtigter Begeisterung für die
Universität und die Wissenschaft getragene Reden.
Seither wird jedes Jahr der Gründung in einer
eigenen Stiftungsfeier gedacht. Dem neuen Rektor
kommt, der Übung gemäss, das Vorrecht und die Aufgabe
zu, über einen Gegenstand sich zu verbreiten,
der mit seinem speziellen, wissenschaftlichen Fachgebiete
eng verbunden ist, der aber zugleich ein allgemeineres
Interesse beanspruchen darf.
Gerne unterzieht sich der Sprechende dieser schönen
Sitte und bittet Sie, sehr geehrte Damen und Herren,
Ihre Aufmerksamkeit, soweit es die kurze, uns zur
Verfügung stehende Zeit gestattet, auf einige Untersuchungen
über Leben und Sterben in der
schweizerischen Bevölkerung hinlenken zu
wollen.
Zwei Gründe sind es hauptsächlich, die zu der
Wahl des Themas führten.
Zunächst ist zu sagen, dass alle Arten der Personenversicherung
auf die Vorgänge des Lebens
und Sterbens sich gründen, die für die menschliche
Gesellschaft und jeden Einzelnen von grösster Bedeutung
sind. Die Versicherung auf den Todesfall mit
ihren vielen Variationen, die Erlebensversicherung, die
Leibrenten-, die Unfall-, die Kranken-, die Invaliden-,
die Alters-, die Witwen- und Waisenversicherung, sie
alle erheischen zu ihrem wissenschaftlichen Aufbau
die Kenntnis der Sterbenswahrscheinlichkeiten.
Aber es ist noch ein zweiter, ganz besonderer
Grund vorhanden, der das Thema als ein gegebenes
erscheinen liess. Es sind jetzt vierzig Jahre verflossen,
seitdem wir in der Schweiz, in Ausführung
gesetzlicher Bestimmungen, über alle Geburten, Trauungen
und Todesfälle genau und einheitlich Buch
führen. Am 1. Januar 1876 trat nämlich das Bundesgesetz
betreffend Feststellung und Beurkundung
des Zivilstandes und die Ehe in
Kraft. Es sorgte für zuverlässige Registereintragungen.
Es schrieb vor, dass die Totenregister Jahr, Monat
und Tag der Geburt des Verstorbenen enthalten sollen,
sowie die Todesursache, wenn immer möglich ärztlich
bezeugt. Es zentralisierte die Bearbeitung des Beobachtungsmaterials.
Für jede Geburt, jeden Sterbefall
und jede Trauung haben die Zivilstandsbeamten einen
auf eine besondere Karte geschriebenen Auszug aus
den Zivilstandsregistern an die Zentralstelle, das eidgenössische
statistische Bureau in Bern, zu senden.
Mit dieser vorbildlichen Ordnung, die unserm Lande
zum Ruhme gereicht, ging Hand in Hand eine sorgfältige
Altersaufnahme der Bevölkerung bei
allen in den letzten vierzig Jahren veranstalteten Volkszählungen.
Damit waren die Forderungen erfüllt,
die die mathematische Versicherungswissenschaft zur
Ableitung zuverlässiger und auf breiter und solider
Grundlage beruhender Sterbetafeln aufstellt. Wir
dürfen uns heute in der Schweiz mit Recht dieser
Errungenschaft und der seit vierzig Jahren gewonnenen
Resultate freuen und den Männern unsern Dank abstatten,
die nicht ruhten, bis alle Voraussetzungen zur
Herstellung brauchbarer Mortalitätstafeln für die schweizerische
Bevölkerung vorhanden waren.
Wie Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren,
schon aus dieser Darlegung entnehmen wollen, ist für
uns die Hauptsache, uns mit diesen positiven, im
Laufe der letzten Jahrzehnte gewonnenen
Gesamtergebnissen über die Lebens- und Sterblichkeitsverhältnisse
in unserm Lande zu beschäftigen.
Nach einigen Ausführungen allgemeinen Inhalts
möchten wir kurz auf die Vorgeschichte
der nun 40jährigen Beobachtungen eintreten,
um sodann das durch die Absterbeordnung gegebene
Resultat dieser Beobachtungen selbst kennen
zu lernen und zu schliessen mit einem Blicke auf
weitere, noch der Lösung habende Aufgaben.
Eine Definition des Lebens und seines Aufhörens,
des Sterbens, darf sich hier erübrigen.
Wir sind uns alle bewusst, dass sich mit dem
Begriffe des Lebens überhaupt, des Lebens in allen
seinen Formen, stets etwas Geheimnisvolles, nicht zu
Ergründendes verbindet, und dass da wohl vor allem
die Worte unseres grossen Haller gelten:
"Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist,
Zu glücklich, wenn sie noch die äussre Schale weist."
Das Leben, wie mannigfaltig spielt es sich in der
ganzen uns umgebenden Erscheinungswelt ab! Die
Natur hat es individualisiert.
Farbenprächtig stellt uns der Frühling Tausende
und Tausende von sprossenden, blühenden, summenden,
an goldnem Sonnenschein sich freuenden Einzelwesen
dar. Aber nur ein kleiner Teil davon rettet sich ins
nächste Jahr hinüber, um nach einer kürzern oder
längern Reihe von Jahren ebenfalls zu verschwinden.
Da ist nichts beständig als der Wandel und nichts
sicher als der Wechsel der Erscheinungsform.
Nicht nur die Geschöpfe dieser Erde nehmen an
dem grossen Gange des Lebens und Verwelkens teil;
auch unser Erdball selbst, wenn wir in diesem allgemeinen
Sinne sprechen wollen, ist nur ein Individuum,
ein geringes, unscheinbares Einzelwesen in der
unzählbaren Menge der Himmelskörper, die den Raum
bevölkern. Die Millionen und Millionen Sonnen, von
deren Existenz ein Blick ins Weltall Kenntnis gibt,
lassen uns ehrfurchtsvoll die Grossartigkeit der Schöpfung
ahnen, aber auch sie, diese Sonnensysteme, weisen,
wie der verschiedene Baumbestand eines Waldes,
ein Alter auf, ein Alter, nach dem man sie sogar in
Gruppen einzuteilen gewohnt ist.
So lernen wir unsere Erde als ein Individuum
erkennen. So lernen wir die mannigfaltigen Geschöpfe
der Pflanzen- und Tierwelt auf ihr als Einzelwesen
ansehen: alle zum Leben erhoben, alle der Vergänglichkeit
unterworfen! Der Wissenschaft bleibt es auch
da vorbehalten, in dem Vergänglichen das Unvergängliche
zu suchen, im Wandel der Erscheinungen, wie
sich Helmholtz ausgesprochen hat, das Gesetz zu
finden.
Sehen wir den Menschen an! Auch er hat seines
Bleibens nicht. Er altert ebenfalls. Bald früher, bald
später gibt es auch hier für die physische Existenz
jedes Einzelnen einen Abschluss.
"Die Persönlichkeit beginnt", wie dies unser Zivilgesetzbuch
in Art. 31 in zutreffender Weise und mit
schlichten Worten ausspricht, "mit dem Leben nach
der vollendeten Geburt und endet mit dem Tode."
Die Lebensdauer einer einzelnen Person ist
zum voraus unbestimmt. Wenn wir jedoch eine
Gesamtheit von Personen beobachten, wenn wir
gar die Totenregister eines ganzen Landes uns ansehen
und die Zahl der Toten irgend eines Alters mit
der Zahl der Lebenden vergleichen, aus denen sie
stammen, so tritt uns, wie dies bei Massenerscheinungen
gewöhnlich zutrifft, eine merkwürdige Regelmässigkeit -
entgegen.
Wir sehen nämlich, dass von einer grossen Gesamtheit
von Lebenden eines gewissen Altersjahres
auch ein mehr oder weniger bestimmter Teil als Tribut
des Todes im Laufe eines Jahres wegstirbt. Wir sehen,
wie dieser Teil mit den Altersjahren sich ändert.
Durch Zusammenfassung der Beobachtungen von
den niedrigsten bis zu den höchsten Altern ist man
dazu gelangt, für die beobachtete Gesamtheit eine sogenannte
Absterbeordnung zu konstruieren, die,
wenn das Überleben in den Vordergrund gestellt wird,
in der Form einer Überlebensordnung erscheinen
kann.
Erst durch die Aufstellung solcher, nach dem
Alter fortschreitenden Tafeln ist es möglich
geworden, die Sterbens- und Überlebenswahrscheinlichkeiten
in einer Weise zu erfassen, die die Einführung
wichtiger Personenversicherungsarten
mit recht grosser Zuverlässigkeit
gestattet.
Gerade die Ungewissheit, die über der fernern
Lebensdauer des Einzelnen schwebt, dagegen die
relative Gewissheit, die sich für den Gang des
Absterbens einer Gesamtheit von Personen bestimmten
Alters ergibt, hat der für viele Volkskreise
so notwendigen und im allgemeinen so segensreich
wirkenden Lebensversicherung gerufen,
einer Institution, die nunmehr in unserm Lande schon
so sehr verbreitet ist, dass das schweizerische Versicherungskapital
bei den konzessionierten Gesellschaften
über 5/4 Milliarden Franken beträgt, und dass die
aus den Prämien zurückgelegten mathematischen Reserven
auf rund 400 Millionen Franken gestiegen sind
— Summen, die für ein kleines Land mit nicht einmal
4 Millionen Einwohnern als recht ansehnliche bezeichnet
werden müssen.
Es ist bemerkenswert, dass kein einziges Volk,
weder des Mittelalters noch des Altertums, uns
brauchbare Angaben über die Lebensdauer
und die Sterblichkeit hinterlassen hat. In einer
kürzlich erschienenen Abhandlung spricht sich denn
Prof. Czuber auch dahin aus (vgl. E. Czuber, Vom
Leben und Sterben. Versicherungswissenschaftliche Mitteilungen.
Wien, September 1915), er halte dafür, "dass
wir endgültig darauf verzichten müssen, über die
Sterblichkeit in längst vergangenen Zeiten etwas Verlässliches
festzustellen; unsere Vorfahren haben uns
nichts Brauchbares hinterlassen, woraus wir sie erschliessen
könnten".
Die ersten halbwegs verwendbaren Arbeiten über
die Sterblichkeit in den verschiedenen Altersjahren
stammen aus England und den Niederlanden.
Unter der Voraussetzung einer stationären
Bevölkerung leitete gegen Ende des 17. Jahrhunderts
der englische Astronom Edmund Halley die
erste grundlegende, allgemein bekannt gewordene Absterbeordnung
ab.
Er wählte die Angaben über die Sterbefälle der
Angehörigen der Augsburgischen Konfession der Stadt
Breslau, einer Stadt, von der anzunehmen war, dass
die Bevölkerungszahl während langer Zeit ziemlich
gleich geblieben sei. Die Zusammenstellungen rührten
von dem gelehrten Pastor Kaspar Neumann her,
der sie seinem grossen Zeitgenossen Leibniz zur
Kenntnis brachte. Sie wurden dann, vielleicht unter
Mitwirkung von Leibniz, durch Heinrich Justell,
den Sekretär der Royal Society, dieser und damit
Halley übermittelt.
Die Arbeit Halleys ist in den Philosophical
Transactions des Jahres 1693 erschienen und im
Jahre 1875 in Band XVIII der Veröffentlichungen
des Institute of Actuaries wieder abgedruckt
worden.
Es ist bezeichnend, dass Halley, der als erster die
Bahn eines Kometen, des Halleyschen Kometen,
berechnete, gleichfalls an die Aufstellung einer Absterbeordnung
ging. Dabei mochte ihn der Gedanke
leiten, dass die Gesetze des Lebens und Sterbens in
ähnlicher Weise zu erforschen seien und Gültigkeit
haben wie die Naturgesetze.
Die nämliche Anschauung kommt in vielen Abhandlungen
der Folgezeit in oft recht drastischer Weise
zum Ausdruck, namentlich auch in dem 1741 zum
erstenmal erschienenen Buche des preussischen Feldpredigers
und spätem Oberkonsistorialrates Johann
Peter Süssmilch, betitelt: "Die göttliche Ordnung
in den Veränderungen des menschlichen Geschlechtes,
aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben
erwiesen."
Schon vor Halley wurden in England einige die
Mortalitätsstatistik betreffende Arbeiten, namentlich von
J. Graunt, ausgeführt. Das nämliche ist von den
Niederlanden zu sagen, denen die Wissenschaft neben
andern berühmten Männern einen Christian Huygens
verdankt.
In der Schweiz hat sich mit der Lebensdauer
und der Sterblichkeit in einzelnen Gegenden und Kantonen
im Laufe der Zeiten eine recht grosse Zahl von
Forschern beschäftigt. Wir nennen hier namentlich
den waadtländischen Pfarrer Jean Louis Muret
und sein bekanntes preisgekröntes Werk: Mémoire
sur l'etat de la population dans le paya de
Vaud, erschienen zu Yverdon im Jahre 1766. Ferner
seien, und teils schon aus früherer Zeit, unter andern
erwähnt: Jakob Bernoulli, Leonhard Euler,
Duvillard, Cramer, Joly, Odier, de Candolle,
Edouard Mallet, Heyer, Lombard, Marc
d'Espine, Christoph Bernoulli, Alexander
Kocher, Schrämli, P. L. Dunant, Wilhelm
Gisi Hermann Kinkelin, Gustav Zeuner,
Dr. Joseph Durrer und Dr. Johann Jakob
Kummer.
Gefördert wurde die Theorie der Populationsstatistik
im allgemeinen durch den genialen Leonhard
Euler, der über Wahrscheinlichkeitsrechnung
und ihre Anwendungen nicht weniger als 14 Abhandlungen
schrieb.
Besondere Erwähnung verdient die Arbeit des
Berners Alexander Kocher, des Vaters unseres
verehrten Herrn Prof. Theodor Kocher.
Im ersten Heft des zweiten Bandes der "Neuen
schweizerischen Viertel-Jahresschrift", gedruckt bei
J. A. Weingart in Bern, findet sich ein in der Bernischen -
Naturforschenden Gesellschaft unterm
26. April 1845 von Herrn Regierungsrat Dr. J. R.
Schneider gehaltener Vortrag über die Kochersche
Mortalitätstafel. Diese gründet sich auf Angaben, die
aus den sieben Kantonen Bern, Genf Neuenburg,
St. Gallen, Solothurn, Thurgau und Zürich erhältlich
waren.
Die verdienstliche Arbeit Kochers ist mit viel
Umsicht und. grosser Gewissenhaftigkeit ausgeführt;
ich halte sie von allen Darstellungen, die aus der
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts stammen, als
eine der besten und logisch schärfsten. Es ist namentlich
von Interesse, zu sehen, dass Alexander Kocher,
in Anlehnung an eine 1839 erschienene einschlägige
Schrift Ludwig Mosers (L. Moser, Die Gesetze der
Lebensdauer), sich frei zu machen suchte von der nicht
zutreffenden Voraussetzung einer stationären Bevölkerung
und dass er damit, soviel es ihm möglich
war, die Fehler, die in frühern Darstellungen so oft
vorkamen und auch in spätem wieder auftauchten,
vermied.
Prof. Ludwig Schläfli, dessen Bild unsern
Saal ziert, hat sich in seinen Rechnungen des öftern
auf die Kocherschen Zahlen gestützt.
Genannt mögen ferner noch werden die Sterbetafel
von Gisi, die nach den Angaben von 15 Kantonen
hergestellt und später von Kinkelin ausgeglichen
wurde, sowie eine eigene Tafel Kinkelins, die
sich auf die Erfahrungen im Kanton Basel-Stadt
gründete. -
Aber für die Herstellung einer wirklich schweizerischen
Absterbeordnung fehlte bedauerlicherweise
genügendes und genügend zuverlässiges Material.
Auf Anregung des Standes Glarus fand am
21. Februar 1866 in Bern eine Zusammenkunft von
Vertretern der Kantonsregierungen statt, die über einheitliche
Formulare für die Eintragungen in die meistens
von den Geistlichen geführten Zivilstandsbücher
und über die gemeinsame Verarbeitung des Materials
beriet.
Mit grosser Wärme nahm sich der Vorsitzende
der Konferenz, Bundesrat Karl Schenk, der Angelegenheit
an.
Indessen hatten sich an der Konferenz nicht alle
Kantone vertreten lassen. Einige gaben erst für das
Jahr 1870 und die folgenden Jahre die Zusage, ihre
Aufzeichnungen nach den vereinbarten Formularen einzurichten.
Zudem war die Fragestellung selbst noch
nicht derart, dass sie allen Anforderungen, die die
Ableitung von Mortalitätstafeln erheischen, genügt
hatte.
In dem im Jahre 1870 erschienenen ersten schweizerischen
Berichte über die Bevölkerungsbewegung
(für das Jahr 1867) wird denn auch bemerkt:
"Um den Rückstand, in welchem wir uns befinden,
einigermassen aufzuwiegen, sollte die Schweiz
einen Schritt weitergehen und sobald als möglich ihre
Zusammenstellungen der Bevölkerungsbewegung nach
den neuesten Forderungen der Wissenschaft und der
Praxis (Lebensversicherung) einrichten."
Wir wollen hier beifügen, dass die wissenschaftlich
richtige und einwandfreie Ableitung einer Absterbeordnung
keine so einfache Sache ist, wie man auf den
ersten Blick glauben sollte. Im Laufe der Zeit hat
sich eine ganze Theorie der Sterblichkeitsmessung
entwickelt. Viel zur Abklärung hat beigetragen,
was gerade in der Schweiz darüber geschrieben wurde,
und zwar von den Professoren H. Kinkelin in Basel
und Gustav Zeuner in Zürich. In seinem geschätzten,
1869 erschienenen Buche: "Abhandlungen aus der
mathematischen Statistik" zeigte Zeuner mit aller Klarheit
und Schärfe, unter Anwendung der Infinitesimalrechnung,
wie aus den Massenbeobachtungen über Leben
und Sterben einer Gesamtheit die Absterbeordnung
ermittelt werden kann. Dabei sind nicht nur an die
Darstellung der Bevölkerungsbewegung, sondern
auch an die Volkszählungen strenge Anforderungen
zu stellen. Es genügt nicht, dass in dem
Bruche, der die Sterbenswahrscheinlichkeit ausdrücken
soll, nur der Zähler richtig ist. Der Ermittlung des
Nenners muss gleiche Sorgfalt zuteil werden.
Aber auch hier ist zu sagen, dass noch die eidgenössische
Volkszählung vom 1. Dezember 1870 an
grossen Mängeln litt. Den Altersangaben wurde zu
wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was zum Teil dem
Umstande zuzuschreiben ist, dass die Zählung mit
sonstigen Fragen überladen war. Tag und Monat der
Geburt wurden so häufig nicht verzeichnet, dass das
Material in dieser Hinsicht sich zu einer allgemeinen
Bearbeitung als untauglich erwies. Von vielen Tausenden
lagen überhaupt keine oder unzuverlässige
Altersangaben vor, so dass der Bericht, aus der Feder
Dr. Kummers und veröffentlicht im Jahre 1874,
mit Nachdruck betont: "Die Frage wird auch in Zukunft
wieder an uns herantreten: wollen wir die Volkszählungen
und die Totenlisten so organisieren, dass
daraus für die Lösung der Mortalitätsfrage ein brauchbares
Material erwächst, oder soll unsere Statistik nur
einem an eine Mauer gemalten Fenster gleichen, welches
zwar von weitem einem wirklichen Fenster ähnlich
sieht, aber kein Licht ins Haus gelangen lässt."
Beides, die zweckdienliche Organisation der Totenlisten
und der Volkszählungen, wurde erreicht.
Das anfänglich viel angefeindete Zivilstandsgesetz
erwuchs, wie bereits erwähnt wurde, mit dem 1. Januar
1876 in Kraft. Seit dem 1. Januar 1912 sind an
seine Stelle nunmehr die Bestimmungen des Zivilgesetzbuches
getreten. Das Zivilstandsgesetz brachte,
wie wir schon betonten, die erwünschte Zentralisation
und eine für die ganze Schweiz einheitliche Beobachtung
der Bevölkerungsbewegung, der Geburten, Trauungen
und Sterbefälle.
Sodann wurde die Volkszählung des Jahres 1880
absichtlich nicht mehr überladen, um der Frage nach
dem Alter die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.
So konnte denn im Jahre 1883 die erste allgemeine
schweizerische Mortalitätstafel,
gestützt auf die Totenlisten der Jahre 1876 bis 1881,
die Geburtsangaben aus der nämlichen Zeit und die
Volkszählung des Jahres 1880 veröffentlicht werden.
An dieser Stelle ist der Ort, um der Verdienste
ihres Bearbeiters, Herrn Dr. J. J. Kummers, zu gedenken.
Dass wir nunmehr, seit 1876, eine vom versicherungswissenschaftlichen
und, wir wollen, mit Rücksicht
auf die Todesursachenstatistik, beifügen, vom
medizinischen Standpunkte aus so treffliche Organisation
der Sterberegister besitzen, ist in nicht geringem
Masse ihm zu verdanken.
Die Universität Bern hat Herrn Kummer denn
auch, bei der Feier ihres 50jährigen Bestandes im
Jahre 1884, zum Ehrendoktor der Medizin ernannt,
nachdem sie ihm schon früher, im Jahre 1873, die
Würde eines Ehrendoktors der Philosophie verliehen
hatte.
In dem 40jährigen Zeitraum, über den wir nun
zuverlässiges Material besitzen, also von Beginn des
Jahres 1876 an bis Ende 1915, sind im ganzen über
2 1/3 Millionen Todesfälle verzeichnet worden.
Die vier im gleichen Zeitraum vorgenommenen
Volkszählungen zeigen, wie sich die Einwohner der
Schweiz auf die einzelnen Altersjahre jeweilen verteilten
und in welchem Grade eine Zunahme der Bevölkerung
stattfand. Für diese Zunahme ist neben dem
Geburtenüberschuss auch der Wanderungsüberschuss,
der positiv oder negativ sein kann, von
Bedeutung.
Die Wohnbevölkerung der Schweiz betrug bei der
letzten Zählung am 1. Dezember 1910 3 3/4 Millionen,
genauer 3,753,293, und steht gegenwärtig schätzungsweise
um mehr als 100,000 höher. Sie hat sich seit
100 Jahren ungefähr verdoppelt. Für den Kanton Bern
speziell wissen wir, dass die nach Angliederung des
Juras verlangte und im Jahre 1818 vorgenommene
Zählung 333,278 Einwohner ergab. Auf Mitte des
letzten Jahres wurde ihre Zahl ziemlich genau auf
das Doppelte, nämlich auf 665,390, berechnet.
Die Stadt Bern, die bei der Aufnahme von 1764,
also vor 152 Jahren, mit 13,681 Einwohnern schon
eine recht bedeutende Stadt war, wies im Jahre 1818
17,552 Einwohner auf. Die Zahl hat sich im Laufe
von 100 Jahren mehr als verfünffacht und dürfte im
gegenwärtigen Zeitpunkte mit rund 100,000 einzuschätzen
sein, so dass, wenn man für Grossstädte eine
Einwohnerzahl von je mindestens 100,000 verlangt,
Bern nunmehr in ihre Reihe eintritt.
Der Geburtenüberschuss in der Schweiz, im vergangenen
Jahre 1915, bezifferte sich noch auf 24,015 oder
6.2 %o der Bevölkerung. Er stellt die Differenz dar
zwischen der Zahl der Lebendgebornen, 75,550 oder
19.5 %o der Bevölkerung, und der Zahl der Todesfälle,
51,535 oder 13.3 %0 der Bevölkerung.
Die Relativzahlen, und zwar sowohl die Geburten-als
die Sterbeziffern, sind für frühere Jahre des 40-jährigen
Zeitraums, namentlich auch für das erste Jahr,
1876, bedeutend grösser.
Wir stehen auch in der Schweiz, namentlich
seit Beginn dieses Jahrhunderts,
in ganz ausgesprochener Weise vor der internationalen
Erscheinung des Geburtenrückganges,
der allerdings durch den gleichzeitigen
Rückgang der Sterblichkeit sich
weniger fühlbar gestaltet.
Der Geburtenüberschuss stellt bekanntlich, im
Gegensatze zum Wanderungsüberschuss, die sogenannte
natürliche Bevölkerungszunahme dar. Sie ist
noch am grössten in den Kantonen Uri, Solothurn,
Freiburg, Nidwalden und Bern, gering in den Kantonen
Glarus, Graubünden, Tessin und Waadt, unerheblich
oder in einzelnen Jahren sogar negativ im
Kanton Genf.
Im ganzen genommen zählt die Schweiz
mit Frankreich, Irland, Belgien und Spanien
zu den Ländern mit geringem Geburtenüberschuss.
Um nun auf die wichtigen Resultate bezüglich
der nach dem Älter geordneten Sterbenswahrscheinlichkeiten
zu sprechen zu kommen, erwähnen wir vor
allem, dass bis jetzt für folgende vier Perioden die
allgemeinen Absterbeordnungen vorliegen:
Zunächst, wie schon hervorgehoben, für die Zeit
von 1876 bis 1881, sodann für 1881 bis 1888, ferner
für 1889 bis 1900 und endlich für 1901 bis
1910.
Die verdienstlichen amtlichen Veröffentlichungen
bringen das Beobachtungsmaterial für Männer und
Frauen jeweilen getrennt, so dass wir dementsprechend
für die genannten vier Perioden im ganzen
acht Absterbeordnungen erhalten. Sie stimmen
in ihrem charakteristischen Verlaufe miteinander überein.
Hier finden sich (siehe Beilage A) für die zuletzt
abgeschlossene Beobachtungsperiode und für Männer
graphische Darstellungen über die Überlebensordnung,
die einjährigen Sterbenswahrscheinlichkeiten und die
Zahlen der Sterbenden, alles nach Altersjahren geordnet
und reduziert auf eine Basis von 100,000
Lebendgebornen. Die Zeichnung hat in freundlicher Weise
Herr Steiner-Stooss, Mitglied des mathematischversicherungswissenschaftlichen
Seminars, ausgeführt.
Das Material, das diesen Darstellungen zugrunde
liegt, ist zwar noch nicht veröffentlicht, wird aber amtlich
binnen kurzem zur Publikation gelangen.
Sie erkennen auf den ersten Blick, dass das Minimum
der Sterbefälle auf das schulpflichtige
Alter, und zwar auf das Alter von 12 Jahren, fällt.
Das Maximum treffen wir bei 70 Jahren, was geeignet
ist, uns auch für die schweizerische Bevölkerung
das bekannte Wort des Psalmisten in Erinnerung zu
rufen. (Dass in der Zeichnung bei diesem Alter die
Kurve der einjährigen Sterbenswahrscheinlichkeiten mit
der Kurve der Überlebensordnung zusammentrifft, ist
unerheblich und hängt selbstverständlich lediglich von
der Wahl des Massstabes ab.)
Die mittlere Lebensdauer für das männliche Geschlecht
beträgt 49 Jahre. Von 100,000 lebendgebornen
Knaben sterben nahezu 14,000 vor Vollendung
des ersten Lebensjahres. Von den Überlebenden bringt
es fast ein Drittel auf das Alter von 70 Jahren, aber
nur verschwindend wenige haben Aussicht, 100 Jahre
zu erreichen.
Die Absterbeordnung für das weibliche Geschlecht
verläuft in der Mehrzahl der Jahre günstiger als für
das männliche Geschlecht, so dass die mittlere Lebensdauer
mit 52 Jahren um drei Jahre grösser ist als für
das männliche Geschlecht.
Vergleichen wir die vier genannten Perioden unter
sich, so ergibt sich, dass die Sterblichkeit seit
1876 für beide Geschlechter und fast für
alle Altersgruppen von einer Periode zur
andern geringer geworden ist. Die mittlere
Lebensdauer stieg für das männliche wie für das
weibliche Geschlecht von der ersten bis zur vierten
Periode annähernd gleich, und zwar um die enorme
Ziffer von rund neun Jahren.
Immerhin haben wir in der Schweiz noch keine
so günstigen Sterblichkeitsverhältnisse, wie sie die nordischen
Staaten, Dänemark, Schweden und Norwegen,
aufweisen.
Die Beobachtungswerte für die erste Periode
(1876 bis 1881) erfuhren durch Dr. G. Schaertlin
eine Ausgleichung nach der Methode von Woolhouse.
Die amtlichen Darstellungen für die drei seitherigen
Perioden geben ebenfalls die nach der nämlichen
Methode ausgeglichenen Werte (siehe für die
vierte Periode die graphische Darstellung in Beilage A.
und die Zahlen in den Spalten 3 und 4 der Beilage B).
Doch möchten wir hier betonen, dass es für viele
Untersuchungen — und gerade für feinere — wohl
geboten ist, sich an die unausgeglichenen. Beobachtungsresultate
zu halten. Wir haben diese,
soweit sie die einjährigen Überlebenswahrscheinlichkeiten
betreffen, für alle Altersjahre und die Periode
1901 bis 1910 in der Beilage B (Spalte 2) wiedergegeben.
Wie man sich überzeugen kann, verlaufen
sie fast durchgehends mit ausgesprochener Regelmässigkeit.
Soweit die Alter der Erwachsenen, vom 20. oder
25. Jahre an bis zum Schlusse des Lebens, in Betracht
fallen, folgt der Verlauf der schweizerischen Absterbeordnung
mit grosser Treue der durch das sogenannte
Makehamsche Gesetz ausgesprochenen Beziehung.
Darnach nimmt die vom Alter abhängige Komponente
der Sterblichkeitsintensität mit dem Alter in geometrischer
Progression zu.
Eine Art Verwandtschaft mit dieser Beziehung
weisen in der Schweiz, nebenbei erwähnt, die Resultate
der Krankheitsstatistik auf.
Wenn wir nämlich die Krankheiten nach ihrer
Dauer ordnen, was für die Tragweite statutarischer
Bestimmungen von Krankenkassen oft von Bedeutung
ist, so haben Beobachtungen, die bei der Krankenkasse
für den Kanton Bern vorgenommen wurden
und sich auf 360,000 Krankentage erstrecken,
gezeigt, mit welch grosser Regelmässigkeit die Entkrankungen,
sei es durch den Tod, sei es durch
Genesung, eintreten. Die Intensität der Entkrankung
ist anfangs sehr gross. Ihre mit der Krankheitsdauer
variable Komponente nimmt, nach den genannten
Massenbeobachtungen, die seither, auch anderwärts bestätigt
wurden, annähernd wie der reziproke Wert des
Quadrats einer linearen Funktion der Krankheitsdauer
ab.
Selbstverständlich ändern sich sowohl hier wie
auch bei dem Makehamschen Sterblichkeitsausdrucke
die eingeführten Parameter, je nach dem Milieu, dem
die Beobachtungen entstammen.
Eine aus den Beobachtungen der allgemeinen
Bevölkerung abgeleitete Mortalitätstafel wird, wie
Sie richtig schliessen werden, nicht für alle Fälle als
Grundlage von Versicherungsrechnungen gewählt werden
dürfen. Man wird sich vorher stets Rechenschaft
geben müssen, ob die zu wählende Tafel zutreffe oder
nicht.
Gestatten Sie, ein naheliegendes Beispiel anzuführen.
Wir besitzen an der Universität Bern seit ihrem
75jährigen Bestande, d. h. seit dem Jahre 1909, eine
Akademische Witwen- und Waisenkasse. Es
ist das eine recht segensreiche Einrichtung. Bei den
Berechnungen, die der Errichtung der Kasse vorausgingen,
und bei der seitherigen Bestimmung der Deckungskapitalien
hatte man sich zu fragen, welche
Sterblichkeit für die Professoren und ihre Frauen zugrunde
zu legen sei. Man war sich klar, dass man es
mit einer gewissen Auslese zu tun habe und dass eine
günstigere Sterblichkeit als die allgemeine
Volkssterblichkeit vorausgesetzt werden dürfe. Als eine
solche zutreffende Mortalitätstafel wurde die von vielen
Versicherungsgesellschaften verwendete Assurés français-Tafel
adoptiert. Gegenwärtig sind 10 Witwen
rentenberechtigt, und wenn auch wegen der kurzen
Dauer und der Kleinheit der Kasse noch keine Schlüsse
erlaubt sind, so ist es doch von Interesse, zu sehen, dass
diese Zahl der theoretisch berechneten recht nahe kommt.
In der Schweiz gelangen zurzeit, zur Messung der
Lebensdauer und der Sterblichkeit, über drei Dutzend
Mortalitätstafeln zur Anwendung, sei es, dass sie von
den öffentlichen oder privaten Versicherungsinstitutionen,
sei es, dass sie von anderer Seite, z. B. durch die
Gerichte, zur Festsetzung von Rentenkapitalien verwendet
werden.
Der allgemeinen Volkstafel kommt aber
stets die wichtige Aufgabe zu, als Kompass
zu dienen. Sie allein ist, was besonders hervorgehoben
zu werden verdient, aus so umfangreichen
Beobachtungen abgeleitet, dass alle wichtigem Altersjahre
eine befriedigende Besetzung aufweisen.
In der Gegenwart, in der wir leben, stellt sich
leider in den meisten europäischen Staaten neben der
gewöhnlichen Sterblichkeit, als besondere Sterblichkeit,
speziell für eine Reihe von Altersjahren des männlichen
Geschlechts, die Kriegssterblichkeit ein.
Mars regiert in grausamer Weise die Welt. Die Darstellung
der Kriegssterblichkeit dürfte, wenn einmal
der ersehnte Friede wieder eingekehrt sein wird, für
alle beteiligten Staaten von grösstem Interesse sein.
Ein gütiges Geschick, dem wir alle dankbar verbunden
sind, hat unser Land bis jetzt vor den Greueln
des Krieges bewahrt und dispensiert uns heute glücklicherweise
davon, von der Kriegssterblichkeit der
schweizerischen Bevölkerung zu sprechen.
Doch sind auch bei uns die Wirkungen des Weltbrandes,
soweit sie demographisch erfasst werden
können, ganz unverkennbare. Wir gestatten uns, nur
folgendes zu erwähnen.
Jahrelang, von 1897 bis und mit 1912, hatten
wir in der Schweiz eine Geburtenzahl, die immer
90,000 überstieg. Das letzte Jahr, 1915, erzeigte, wie
erwähnt, nur die Zahl von 75,550. Wir haben also,
gegenüber jenen Jahren, einen Geburtenausfall von
mehr als 14,000 zu verzeichnen. Dieser starke Rückgang
wird sich in der Zukunft in der verschiedensten Weise
geltend machen. Man denke z. B. nur an die spätere
Rekrutierung. Ja, es ist sogar möglich, dass selbst ein
Ausfall an Immatrikulationen im Jahre 1934 und den
folgenden Jahren, der Anfangszeit des zweiten Jahrhunderts
unserer Universität, zu verspüren sein wird.
Es ist auch wahrscheinlich, dass das Zurückgehen der
Geburtenzahl noch weiter anhält. Zeigt sich doch,
dass die Zahl der neuen Ehen ebenfalls eine starke
Abnahme erfährt. Gegenüber 1913 hat das Jahr 1915
einen Ausfall an Verheiratungen von mehr als 7000
gebracht.
Die geringere Zahl der Geburten und die damit
verminderte Zahl der Sterbefälle des ersten Lebensjahres
hilft dazu mit, dass das Jahr 1915 auch eine
gegenüber 1913 um nahezu 4000 verminderte Zahl
von Sterbefällen erzeigt und mit seiner Sterbeziffer
von 13.3 %0 der Bevölkerung scheinbar recht günstig
dasteht. Gerade hier bietet sich, nebenbei bemerkt,
ein Schulbeispiel dafür, wie unwissenschaftlich es wäre,
in seiner Schlussweise sich lediglich auf solche Sterbeziffern
zu gründen, die auf die Verteilung der beobachteten
Personen nach ihrem Alter keine Rücksicht
nehmen.
Ein Blick auf den Zeitraum der letzten 40 Jahre
lässt die schweizerische Bevölkerung, die da in Freud'
und Leid an uns vorüberzieht, einem stetig fliessenden
Strome vergleichen. Tag um Tag, Stunde um Stunde
treiben die Kräfte des Todes ihr vernichtendes Spiel,
während die Geburten immer neues Leben bringen.
Eine der erfreulichsten Erscheinungen, die wir
feststellen konnten, ist die beträchtliche Verlängerung
der mittlern Lebensdauer.
Gewiss dürfte der allgemeinen Aufklärung,
den Universitäten und namentlich der medizinischen
Wissenschaft und Praxis daran ein
wesentliches Verdienst zuzumessen sein.
Wie es sich mit der Zu- oder Abnahme der mittlern
Lebensdauer in den kommenden Jahren
verhalten wird, können wir nicht sagen. Für den
Augenblick muss es uns genügen, zu wissen, dass die
Beobachtungen fortgesetzt werden, und wir hoffen, dass
sie auch in Zukunft sorgfältig bearbeitet und verwertet
werden.
Zu wünschen wäre, wir befinden uns da in voller
Übereinstimmung mit Prof. Westergaard in Kopenhagen
(vgl. H. Westergaard, Die Lehre von der Mortalität
und Morbilität), dass die genauen wissenschaftlichen
Methoden der Sterblichkeitsmessung noch mehr,
als dies bis jetzt geschehen ist und geschehen konnte,
angewendet würden auf die einzelnen Bevölkerungskreise,
auf die verschiedenen Berufsarten, auf Wohlhabende
und Arme, auf die Bewohner von Stadt und
Land und auf andere, einer Abgrenzung fähige Gruppen.
Es könnte auch die Lebensdauer unter Ausschluss
gewisser Todesursachen, z. B. der Unfälle, der Lungentuberkulose,
des Krebses, der verhütbaren ansteckenden
Krankheiten usw. dargestellt werden.
Dann würden wir in Leben und Sterben der Bevölkerung
noch tiefere Einblicke erhalten, Einblicke,
wie sie namentlich auch vom Standpunkte der sozialen -
Gesetzgebung und der Prophylaxis aus
je länger je mehr als höchst wünschenswert erscheinen.
So geht es auch hier wie überall. Jedes gelöste
Problem erweitert zwar den Horizont, ruft aber zugleich
zahlreichen neuen Problemen. Glauben
wir auch da an die Wissenschaft und ihre Zukunft,
an die Mission der Universitäten und
daran, dass das heilige Feuer der Vestalinnen
nicht erlöschen werde!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Möglicherweise
wird später einmal, ebenfalls an einer
Stiftungsfeier unserer Universität — möge es vielleicht
in 100 Jahren sein — von dieser Stelle aus wieder
über Leben und Sterben in der schweizerischen Bevölkerung
gesprochen werden. Viele Millionen neuer
Beobachtungen werden dann vorliegen. Auch jeder
von uns, sofern sein Tod in der Schweiz erfolgt, hat
alsdann seinen persönlichen Beitrag erstattet.
Durch den Lauf der Jahrzehnte hindurch, von einer
Generation zur andern, wird die Absterbeordnung in
grossen Zügen ein Spiegelbild der Bedingungen
darstellen, unter denen das Schweizervolk gelebt
haben wird, und damit eine Art objektiver Geschichtsschreibung -
bilden.
Möge der Sprecher von damals dann mit Befriedigung
auf die abgelaufenen Zeiten zurückblicken
können, möge er mit berechtigtem Stolze betonen
dürfen: hier ist ein Volk, wenn auch nur ein
kleines, das verstanden hat, sich selbst zu
beobachten und sich selbst zu regieren, und
möge es ihm vergönnt sein, in Dankbarkeit anzuerkennen:
über unserm Lande leuchtete ein
guter Stern!
Beilage A
Schweizerische Beobachtungen — 1901-1910.
Manner. Beilage B.
Beilage B (Schluss).