RECHT UND SITTLICHKEIT
REKTORATSREDE
GEHALTEN AN DER 83. STIFTUNGSFEIER
DER UNIVERSITÄT BERN
AM 24. NOVEMBER 1917
VON
D. MORITZ LAUTERBURG.
ORD. PROFESSOR DER THEOLOGIE
BERN
AKADEMISCHE BUCHHANDLUNG VON MAX DRECHSEL 1918
SCHWEIZERISCHE
POLYGRAPHISCHE GESELLSCHAFT
LAUPEN - BERN
Unter den Erschütterungen der Kriegszeit ist jeder Nachdenkliche
auf die elementaren menschlichen Existenzbedingungen
in materieller wie in geistiger Hinsicht aufmerksam geworden. Was
sonst beinahe selbstverständlich schien, wurde zur brennenden
Frage. Und ohne viel Mühe liesse sich zeigen, dass eine der
Wurzeln, auf die sich die grossen Gegenwarts- und Zukunftsbedenken
zurückführen lassen, die Frage nach dem Verhältnis von
Recht und Sittlichkeit ist. Darin liegt die Rechtfertigung unseres
Themas. Ob der zusammenschliessende Rechtswille in einem Volk
und weiter innerhalb der Menschheit je gänzlich zerbrochen werden
könne, und ob die Forderung des Unbedingten, die Stimme des Gewissens,
je ungehört verhallen oder zur Unwirksamkeit verurteilt sein
werde, das mögen mit Grund müssige Zweifel heissen, die hier dahingestellt
bleiben sollen. Aber über das beziehungsreiche Nebeneinander,
Widereinander und Füreinander der
beiden genannten Instanzen einige Klarheit zu gewinnen, dies Bemühen,
dem unsere Ausführungen dienen möchten, dürfte nur dann
als unnütz gescholten werden, wenn man vorzöge, Moral, Recht
und Gerechtigkeit als blosse Schlagworte gelegentlich im Munde
zu führen. Um trügerische Erwartungen fernzuhalten, sei voraus
bemerkt, dass die Buntheit des konkreten Lebens zwar als Hintergrund
durchweg vorausgesetzt wird, doch in die Zeichnung der allgemeinen
Richtlinien, worauf wir uns notwendig beschränken
müssen, nicht mitaufgenommen werden kann. Und zur Verständigung
über den Sprachgebrauch diene die Notiz: Recht ist im
folgenden in dem wissenschaftlich bestimmten Sinn des positiven,
gesetzten Rechtes aufgefasst, nicht etwa als entscheidende Norm
überhaupt, Sittlichkeit Sittlichkeit nicht in dem weiten Verstande des
vernunftbestimmten Handelns, wobei das Recht ohne weiteres davon
mitumfasst wäre, sondern in einer engem Bedeutung, die noch
zu umschreiben sein wird.
In unserm urteilenden Bewusstsein finden wir nebeneinander rechtliche
und sittliche Massstäbe und gebrauchen beide jeden Tag.
Wenden wir sie auf eine und dieselbe Tat an, so geschieht es
jedenfalls nach methodisch verschiedenem Verfahren, oft auch mit
abweichendem Ergebnis. Dort und hier bedient sich die Sprache,
nicht nur die deutsche, gleicher oder stammverwandter Ausdrücke,
und doch macht es einen wesentlichen Unterschied, ob z. B. das
Wort Pflicht im einen oder im andern Sinn gebraucht wird. Worin
liegt der Grund der Unterscheidung?
Er wird von vornherein und durchgängig zu mindern Gunsten
des Rechts angegeben, wenn in üblicher Weise auf den Kantischen
Gegensatz Autonomie und Heteronomie, Selbstgesetzgebung
und Fremdgesetzgebung, abgestellt wird, in der Meinung,
die Frage damit abschliessend zu entscheiden. Recht ist die in
einer menschlichen Gemeinschaft zu praktischer Geltung gebrachte
Regel und Ordnung des Zusammenwirkens. Wer hier sich unterzieht,
so heisst es dann, der folgt, vielleicht aus recht minderwertigen
Beweggründen, einem fremden, ihm von aussen her auferlegten Gesetz,
wogegen wirkliche Pflicht immer nur aus der eigenen Erkenntnis
des an sich Guten entstehen kann. Wenn der Rechtsphilosoph
RUDOLF STAMMLER, übrigens selbst auf KANT fussend, im
letzten seiner drei Hauptwerke*) gegen solche Anschauung, die
dem rechtlichen Wollen die Heteronomie schlechthin anheftet, protestiert,
so kann er sich darauf berufen, dass sie einseitig auf den
Standpunkt eines widerwilligen Rechtsunterworfenen eingestellt
ist.**) Wir werden uns überhaupt hüten müssen, wo der reine Begriff
zu erfassen wäre, erfahrungsmässige Unzulänglichkeiten der
Betrachtung zu Grunde zu legen. Das wirkliche Recht setzt nicht
nur einen gebundenen, sondern als Kehrseite und noch vorher einen
verbindenden Willen voraus; und wenn wir fragen, wo dieser
letztere wurzle, so können wir nicht bei der Gemeinschaft stehen
bleiben, als wäre sie ein selbständiges tyrannisches Wesen, sondern
werden schliesslich wieder auf das Bewusstsein der einzelnen geführt,
als in welchem der Gedanke der Gemeinschaft seine Heimstätte
hat. Der Idee nach ist eine vollständige Rechtsordnung,
die von allen Teilnehmern als Ausdruck ihres persönlichen Rechtswillens
erkannt würde, durchaus denkbar; und schon in der Wirklichkeit
mag es vorkommen, dass ein gesetzgeberischer Akt der tiefsten,
selbstlosesten Einsicht seiner Urheber in das in gegebener Lage
Notwendige entstammt, und dass er mindestens von einem Bruchteil
der Unterstellten in ähnlichem Sinne aufgenommen wird.
Abzuweisen ist aber noch ein anderes Vorurteil, bei dessen Bestehen
der Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit wieder
schon in der Wurzel durchschnitten scheint, die Meinung nämlich,
als ob das Recht im Zwang sein wesentliches Unterscheidungsmerkmal
besitze. Der Satz, den KANT im gleichen Jahr, da er aus
Altersgründen sein Lehramt niederlegte, seinen «Metaphysischen
Anfangsgründen der Rechtslehre» (1797) einfügte: «Recht und
Befugnis zu zwingen bedeuten einerlei», hat allzulange seinen nachteiligen
Einfluss ausgeübt. Doch hatte schon ein Jahr zuvor der Kriminalist
P. J. A. FEUERBACH in seiner «Kritik des natürlichen
Rechts» eine davon abweichende Ueberzeugung vertreten, und für
die gegenwärtige Rechtswissenschaft ist nach dem Zeugnis von
GEORG JELLINEK *) die Ansicht, dass die Erzwingbarkeit
zum Rechtsbegriff konstitutiv gehöre, in eine schwer zu behauptende
Defensive zurückgedrängt. «Das Recht würde nicht
aufhören, Recht zu sein, wenn die Anwendung mechanischer
Machtmittel zu Gunsten desselben allgemein überflüssig würde»
(AD. MERKEL). Auf seinem Gebiet finden sich tatsächlich,
wie von juristischer Seite häufig nachgewiesen worden ist,
zahlreiche Bestimmungen, auch abgesehen vom Völkerrecht,
die solcher Sanktion ermangeln. Die Fähigkeit des Rechts, motivierend
zu wirken, baut sich auf einer ganzen Reihe sozialpsychologischer
Nötigungen auf, zu denen die Furcht vor der Androhung
rechtlicher Nachteile bloss ergänzend hinzutritt. Auf diese Weise
steht allerdings der Zwang, den man das Ende der Vernunft genannt
hat, nebst andern garantierenden Mächten hinter dem
Recht; nicht aber kann ihm verstattet werden, sozusagen im Herzen
des Rechts seinen Thron aufzuschlagen.
Handelt es sich im bisher Gesagten um Abwehr unnötiger und
unbilliger Diskreditierungen des Rechtsbegriffs, so drohen von der
andern Seite verkehrte Auffassungen von dem, was Sittlichkeit
heissen darf. Wäre Sittlichkeit nichts anderes als Verneinung
jedes Bedürfnisses und damit schliesslich und
folgerichtig auch jedes Tätigkeitsbedürfnisses und des Lebenswillens
überhaupt,*) dann freilich wäre kein anderes Verhältnis als das des
polaren, ausschliesslichen Gegensatzes denkbar zwischen ihr und dem
Rechte, das mit seinen Regeln des zusammenstimmenden Verhaltens
durchgängig die Ordnung und den Schutz materieller und ideeller,
niedriger und höchster Bedürfnisse im Auge hat. Aber jenes sittliche
Verständnis ist nur eine entartete Form, zu der die Forderung des
Unbedingten unter dem Einfluss buddhistischer Weltanschauung herabsinken
kann. Am Nichts mag sich einer berauschen, nachdem er
mit allen Hoffnungen Schiffbruch gelitten und dabei den Gottesgedanken
verloren hat. Wahre Sittlichkeit strebt nicht hinter die
Schöpfung zurück, sondern vorwärts. Sie hat dabei noch Gelegenheit
genug, das Glück des Leidens, die Seligkeit des Opfers und
die das Herz schwellende Entsagung kennen zu lernen. Wirkliche
Bedürfnisse, fremde und eigene, sind an sich für die Sittlichkeit
keineswegs der zu vernichtende Feind, sondern ein Stoff, den sie
nach überlegenem Plan zu bilden, zu richten und zu gestalten hat.
Wie ist aber nun solches Ordnen und Gestalten zu denken? Das
Leben verläuft in Handlungen; die Handlungen sind begleitet und
getragen von einer innern einheitlichen Willensrichtung, die wir als
gute oder böse Gesinnung bezeichnen. Das Recht bezieht sich auf
das äussere Verhalten und kann die Gesinnung seiner Natur nach
weder schaffen noch zur Verantwortung ziehen; nur insoweit wird
es sie mitberücksichtigen, als sie sich in Taten kundgibt oder kundzugeben
droht. Ist es nun etwa so, dass die Sittlichkeit bloss und
allein mit diesem verborgenen Grunde der Gesinnung, unter
Absehen von allein, was daraus folgt, zu tun hat? Hat sich das sittliche
Urteil zurückzuziehen, sowie das unsichtbare Innere sichtbar
zu werden beginnt und ein äusseres Verhalten in Frage kommt?
Soll ein richtiges Benehmen immer nur unter rechtlichem Gesichtspunkt
als richtig gewertet werden dürfen? Das scheint in
der Tat die Meinung STAMMLERS zu sein. Im Gegensatz zum
rechtlichen als einem verbindenden Wollen konstruiert er ein «getrenntes
Wollen», dem es an Mitteln, sich durchzusetzen, fehle und
das darum den einzelnen bei sich selbst lasse. Gegenstand der Ethik
sei dieses getrennte Wollen, die «wünschenden Gedanken», die nach
dem Gesetz der innern Lauterkeit zu gestalten seien. An diesem
Punkt muss vom ethischen Standpunkt aus gegen die Aufstellungen
des geistesmächtigen Rechtssystematikers, dessen Begeisterung für
richtiges Recht selber von echt sittlichem Geist durchweht ist, entschiedener
Widerspruch laut werden.*) Mögliche Konflikte
zwischen beiden Gebieten blieben dann freilich vermieden,
wenn das Recht allein zu bestimmen hätte, wie man
zusammenleben soll, und wenn es für den sittlichen Menschen
in dieser Hinsicht nur darauf ankäme, das rechtlich Richtige gut,
d. h. mit der lautem Gesinnung überzeugter Hingebung zu wollen.**)
Aber die sittliche Wahrheit müsste sich dabei eine unzulässige Verkürzung
gefallen lassen. Die ungemeine Vertiefung des sittlichen
Denkens, die im Rückgang vom äussern Werk auf das reine Herz,
vom Erfolg auf den guten Willen lag, darf nicht der Gefahr ausgesetzt
sein, zu einer sittlichen Uninteressiertheit an der Formung
des gemeinsamen Lebens verfälscht zu werden; sonst wird einem
Pharisäismus der Gesinnung Vorschub geleistet, der ebenso hohl und
eitel ist wie der entgegengesetzte. Was ist denn überhaupt jenes getrennte
Wollen des Einzelmenschen, das nur mit seiner eigenen Läuterung
beschäftigt ist und von jedem Gegenüber absieht? Das gibt
es in Wahrheit nirgends, darum kann es auch nicht Gegenstand
einer Lehre sein. Gerade für LUTHER, den Wiederentdecker
religiöser und sittlicher Innerlichkeit, ist es neuerdings wieder als
wesentlicher Punkt seiner Anschauung nachgewiesen worden, dass
der einzelne niemals, auch wenn er vor Gott tritt, für sich allein dasteht;
der Beziehung auf andere wird er sich allezeit, gerade auch
in seinen höchsten Augenblicken, wie im Gebet, bewusst bleiben.*)
Mit jedem Gedanken, den wir ernsthaft fassen, mit jeder
innern Handlung greifen wir in unsere Umwelt ein und wirken
wir irgendwie zum Guten oder zum Schlimmen in der Gemeinschaft
und auf die Gemeinschaft. Der Sittlichkeit verwehren, auch unter
ihrem eigenen Gesichtspunkt das Leben zu bestimmen, heisst ihr
die Realität absprechen. Der sittliche Mensch, in seiner Vollendung
gedacht, ist ein Gesetzgeber für die ganze Welt, nicht durch
Forderungen, die er an andere richtet, sondern durch die unwidersprechliche
Macht der in ihm sich offenbarenden Lebenswahrheit.
Recht und Sittlichkeit treffen also nach unserer Anschauung
auf gleichem Boden zusammen, insofern das unbedingte Gebot, dem
die Sittlichkeit untersteht, notwendig auch für das gemeinschaftliche
Leben seine Ansprüche stellt. Dann könnte man sich versucht fühlen,
die beiden genau auf der nämlichen Linie zu denken, das eine als die
natürliche Fortsetzung und Verlängerung des andern. Das ist die
landläufige Vorstellung, die der Bezeichnung des Rechts als des
ethischen Minimums in den meisten Fällen zu Grunde
liegt. Das Gesetz sorgt dafür, dass jedermann berechtigte fremde
Ansprüche respektieren muss; es verbietet Raub und Totschlag, es
schützt die Guten und Friedlichen vor dem Ueberfall der Schurken
und Betrüger; dadurch hilft es wenigstens ein Mindestmass von Sittlichkeit
verwirklichen. Gelegentlich, wie bei MACHIAVELLI und
HELVETIUS, ist diese Ansicht bis zu dem Verzicht auf jedes
über das Recht hinausgehende Plus der Sittlichkeit fortentwickelt
und gibt sich in diesem Fall mit dem Satz zufrieden: die Gesetze

machen die Menschen gut. Allein sie übersieht eine Reihe der wesentlichsten
Punkte, in denen sich die Eigenart der beiden Teile ausprägt.
Denn seinem geschichtlichen Begriffe nach kann das Recht
auch Unrichtiges, ja Unmoralisches in sich schliessen, ohne dadurch
seinen Rechtscharakter aufzugeben. Dass dadurch die Sittlichkeit
nicht gefördert wird, es sei denn indirekt durch das unter dem Druck
hervorgetriebene gegensätzliche Empfinden, liegt auf der Hand.
Aber auch da, wo das Recht (wie in der Abwehr gemeinschaftzerstörender
Tendenzen) sich mit mehr oder weniger feststehenden
sittlichen Anschauungen inhaltlich berührt, ja deren Ertrag und Niederschlag
darstellt, bleibt es doch, genau gesprochen, nicht hinter
der Sittlichkeit zurück, sondern ist vielmehr seiner Natur nach auf
anderes gerichtet, als sittliche Mahnungen, ob auch in reduziertem
Ausmasse, durchzuführen. Die Gesinnungen, die guten und die
bösen, konstitutiv für das sittliche Leben, entziehen sich seinem Befehle,
so dass es nicht wunder zu nehmen braucht, dass innerhalb
der Schranken des Rechts ja bei peinlicher Innehaltung bestehender
rechtlicher Vorschriften doch ausgesprochene Unsittlichkeit, wie
Geiz, Selbstsucht, Gemeinheit immer noch Platz hat. Nehmen wir
endlich noch hinzu, dass manche Verordnung rechtlicher Art, wie
etwa über das Links- und Rechtsgehen, mit Gesinnung überhaupt
nichts zu tun hat, sondern lediglich dem formellen Bedürfnis entspringt,
im Interesse friktionsfreier Bewegung irgendwelche Regel
aufzustellen, so können wir nicht mehr im Zweifel sein über die relative
Selbständigkeit des Rechtsgebietes
neben dem moralischen, moralischen. eine Selbständigkeit, die von
einigen neueren Denkern so stark empfunden worden ist, dass sie in
übertreibender Verabsolutierung für die Idee des Rechts einen
vierten Platz neben den transzendentalen Normen des Wahren, des
Guten, des Schönen verlangten.*)
In Wirklichkeit gibt es indessen trotz dem Gesagten nicht nur
mannigfache Beziehungen zwischen sittlichem und rechtlichem
Denken, sondern es gibt auch einen direkten Zugang, der
vom sittlichen Imperativ zum Gedanken des
Rechts führt. Der sittliche Imperativ — was besagt er, wie lautet
er? Häufig ist seit KANT nachgewiesen worden, dass die einheitliche
Gesetzmässigkeit des guten Willens an sich keine konkrete
Bestimmtheit aufweisen kann, sie vielmehr erst in ihrer Anwendung
auf die ewig wechselnden Aufgaben bekommt. Immerhin dürfen
wir wohl in andeutender Umschreibung folgendes behaupten. So
unendlich verschieden nach Zeiten, Völkern, Individuen und Lagen
die Aussagen des Gewissens sind, zwei Grundsätze bilden darin den
festen, beharrlichen Rückgrat: «Wahre deine persönliche
Würde». wobei freilich die Frage, worin wahre Würde
zu suchen sei, abweichender Beantwortung offenbleibt, und andrerseits:
«Füge dich als ein tüchtiges Glied in das
Ganze dem du zugehörst», wobei der Kreis enger oder
weiter bestimmt werden kann. Das Erste mag nun zwar selbst'
für Robinson auf seiner Insel, ja für einen ganz vereinzelt und abstrakt
vorgestellten Menschen seine gewisse Gültigkeit immer noch
behalten; das Zweite dagegen deutet sofort auf eine unumgängliche
Voraussetzung: dass ein solches konkretes Ganzes
existiert, worin ich mit allen andern meine Stelle zugewiesen bekomme
und wo ich überhaupt erst den Stütz- und Angriffspunkt
für meine Kraftentfaltung finde. Diesen allgemeinen Zusammenhang,
von dem wir gewiss sein können, dass kein einzelner ihm
entrinnt, schafft und erhält das Recht, das Recht in seinem allgemeinsten
Sinn und nach seiner jeweiligen Ausprägung. Das Recht
ist die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens; es ist das —
vielleicht noch sehr mangelhafte — Produkt der jede Entwicklung
allererst ermöglichenden konsolidierenden konsolidierenden Vernunftkraft.
Le droit est ce qui est établi, sagt PASCAL. Es erhebt den strikten
Anspruch. sich jetzt, in den eben vorliegenden besondern
und bedingten Verhältnissen ohne Abzug und Vorbehalt durchzusetzen.
Wenn es dazu freilich unter Umständen auch des Zwangs
bedarf, so gewährt es dafür dem einzelnen möglichste Sicherheit darüber,
wessen er sich in der Gesellschaft zu versehen hat und was
morgen sein wird. Gäbe es diesen verlässlichen Grund nicht, so
wäre es nicht lediglich soziale, sondern ethische Aufgabe, Pflicht
des menschlichen Geschlechts gegen sich selber, ihn herzustellen.*)
Gibt es ihn aber — und soweit der geschichtliche Blick reicht,
sehen wir das Leben in Familie, Sippe, Staat, materieller und ideeller
Kultur unter diesem Organisationsfaktor stehend — so weiss
sich das sittliche Interesse ihm in bestimmter Weise verbunden, weil
zweckvolles Handeln sonst nirgends fussen könnte.
Um dieses bedingenden Zusammenhangs willen, und zunächst
noch gänzlich abgesehen von der grossem oder geringem Vortrefflichkeit
des Rechtsinhaltes, ist jedes empirische Recht, das unter
soziologischem Gesichtspunkt unzweifelhaft als ein Seinsgebilde
sich darstellt, dennoch zugleich dem Sollen im höchsten
Sinne zugewandt. Dem sittlichen Wert beigeordnet, wird es von
dessen Abglanz mitbestrahlt. Die geschichtlich allgemeine Tatsache
des Rechts erweist sich insofern als eine allgemeingültige, und das
seiner Erscheinung nach immer bloss Bedingte kann hier, so paradox
es klingen mag, seiner Bedeutung nach unbedingt bejaht
werden.
Allein hier stossen wir nun auf ein Faktum, das als die Tragödie
der Kultur bezeichnet worden ist.**) Das Leben
ist in seinem tiefsten Grunde ein Kampf, Kampf gegen seine eigenen
Erzeugnisse. Der lebendige, subjektiv bewegte Geist schafft sich
seine sichtbaren Gebilde; er will sich darin wiedererkennen, sich
daran bereichern, zu grösserer Entfaltung, Kraft und Geschlossenheit
hinansteigen. Aber dieses Ziel wird nie restlos erreicht. Denn
alsbald gewinnen die objektivierten Inhalte eine eigene, zwar
nicht etwa naturgesetzliche, sondern ebenfalls durch die Vernunft
bestimmte, kulturelle Entwicklung und bedrohen hinfort
kraft ihrer selbständigen Logik den Geist mit der Gefahr, dass
er, statt durch die Kulturerzeugnisse im Höchsten gefördert zu
werden, vielmehr an seiner lebendigen Kraft einbüsst. So ist, um es
an einem jedem Gebildeten naheliegenden Beispiel zu veranschaulichen,
die menschliche Sprache freilich unentbehrlich, um den
in kategoriale Formen gefassten Erkenntnisinhalt einander zu übermitteln,
geistigen Besitz festzuhalten und zu mehren, ja die Sprache
hilft uns denken und unsere Gedanken weiterführen: und doch,
gegenüber dem innersten, unmittelbaren Erleben ist sie nicht bloss
unzulänglich, sondern oft genug tötender Buchstabe oder vielmehr
eine Verführung und Verfälschung — «sobald man spricht, beginnt
man schon zu irren». Nicht darf sich um solcher Einsicht
willen die Welt in ein Trappistenkloster verwandeln. Aber sie wird
sich erinnern müssen, dass man, wie FRIEDRICH HEBBEL
sagt, «die Tiefe der Welt durch den Kalkül nicht erschöpft» und
den eigentlichsten Sinn der Sprache mit den gerade herrschenden
Regeln und Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache nicht umspannt.
Von keineswegs gleicher, doch vergleichbarer Art ist das Verhältnis
zwischen dem Recht und dem Teil des schöpferischen
Lebens, den wir Sittlichkeit nennen. Das Recht ist gültige
Satzung. Trotz seiner geschichtlichen Wandelbarkeit kann
man sagen: es lebt und besteht in der Fixierung. Aus seinem Positivitätscharakter
leiten sich seine übrigen Eigenschaften ab. So viel
Spielraum auch dem freien Ermessen des Richters innerhalb der
Grenzen des Gewohnheitsrechtes, bewährter Lehre und Ueberlieferung
durch das Gesetz selbst eingeräumt werden mag,*) soweit
kann keine freirechtliche Bewegung gehen, dass sie die Unverbindlichkeit
des geformten Rechts zum allgemeinen Grundsatz erhöbe;
denn nichts anderes bedeutete dies als Wegfall der Rechtssicherheit
und Rechtsbeständigkeit, die den nächsten Zweck der Rechtspflege
ausmacht, und ohne die jeder höhere Zweck verfehlt werden
müsste.
Die Sittlichkeit dagegen drängt, gerade umgekehrt, in
expansiver expansiver Kraft über jede Fixierung hinaus. Da sie im Unbedingten
ruht und von dem Bewusstsein der Spannung zwischen
Ideal und Wirklichkeit getragen ist, genügt ihr auch der gelungenste
Kompromiss nicht und kann sie sich mit keiner Antizipation des
Ideals auf die Dauer befreunden. Denn nicht etwa von der sogenannten
Durchschnittsmoral ist hier die Rede, die näher besehen
nichts weiter ist als ein Gemengsel von Anstand, Klugheit und
philiströsem Behagen; und ebensowenig stellen wir unsere Betrachtung
auf die tatsächliche Sitte, dieses komplizierte «Mischprodukt
rechtlicher und sittlicher Bewertung»,*) das dem Guten — man
denke an die Kämpfe der grossen Erzieher der Menschheit —
ebenso oft im Wege stand, wie zur Grundlage diente. Wir fassen
die Sittlichkeit in ihrem Quellpunkt, wo sie allein lebendig ist. Sie
ist praktische Anerkennung des absolut Geltenden, dessen Aufruf
jeder Mensch mit noch nicht erstorbenem Gewissen vernimmt, und
von dem er auch dann innerlich nicht loskommt, wenn er die Kraft,
ihm in seinem Verhalten Geltung zu verschaffen, nicht aufbringt.
Diese unbedingte Forderung weist über jeden gegebenen Zustand
und das schon Erreichte hinweg; sie kennt keinen Stillstand, keine
träge Zufriedenheit und hat ihren Schwerpunkt nicht im Bestehenden,
sondern in dem. was werden soll. Daraus ergibt sich die
Unerschöpflichkeit ihrer Aufgabe. Und damit hängt auch zusammen
dass sie sich in Lehren und Vorschriften, wären diese noch
so reiner und erhabener Art, niemals einfangen lässt. Die Gewissenspflicht
in ihrer gottgeschaffenen Ursprünglichkeit lässt sich nicht
zum voraus statutarisch feststellen. Jedes dahinzielende Bemühen,
als Nomismus in der Geschichte übel bekannt, ist ein Versuch, die
Sittlichkeit mit Rechtscharakter zu bekleiden, und tut ihrem Wesen
grundsätzlich den gleichen Eintrag, wie wenn sie antinomistisch
nach Analogie eines Naturgesetzes verstanden würde. Mahnungen
und Weisungen, Gebote und Grundsätze haben ihre grosse Bedeutung
für Erziehung und Selbsterziehung; ihren praktischen Wert
erlangen sie jedoch nur in dem Masse, als sie den Menschen zu
selbsteigenem Suchen des Guten in stets erneuter Arbeit und selbstverleugnendem
Gehorsam veranlassen. Gelingt ihnen dieser Anstoss
zu ewiger Bewegung nicht, so fallen sie unter das Verdikt der unwirksamen
Moralpredigt oder einer das produktive sittliche Urteil
ausschaltenden Kasuistik.
Auf diese Eigenart des Sittlichen nachdrücklich aufmerksam
zu machen, schien notwendig, um das Problem klar und scharf
herauszustellen. Würde die Sittlichkeit in wenig tiefgreifender,
ja entstellender Weise als Beobachtung einer Summe von kodifizierbaren
Pflichten aufgefasst, dann wäre es freilich möglich,
dem gesamten Sittenkodex auch die gesamte Rechtspflicht in
Bausch und Bogen einzuverleiben; für die auf diesem Standpunkt
chronischen Kollisionsfälle wäre dann nur noch der Vorbehalt hinzuzufügen,
dass die eine Pflicht gegen die andere ausgespielt werden
darf. Ist aber das wahrhaft Gute immer nur eines, Gehorsam
gegen die höchste Norm, die ohne Rücksicht auf Wünschen und
Begehren, Meinen und Abwägen gebietet, so ist der Widerstreit
mit dem gesetzten Recht in dem Sinne, wie es
bereits angedeutet worden ist, nicht zu umgehen. Dieser Widerstreit,
der übrigens nicht als ein solcher zwischen verschiedenen
Personen oder Institutionen vorgestellt zu werden braucht, sondern
oft genug in einem und demselben Subjekt sich abspielt, nimmt
verschiedene Formen an. Er bezieht sich auf den uneingeschränkten
Gebrauch des Rechts, oder er geht bis zur gänzlichen oder teilweisen
Anzweifelung der rechtlichen Norm.
Was den Gebrauch des Rechts anbetrifft, so hat
• seinerzeit RUDOLF VON J HERING in einer weltbekannten
Schrift*) die Verfechtung des subjektiven Rechtsanspruchs als eine
Pflicht hingestellt zur Abwehr persönlicher Missachtung und
zur Stärkung der gesetzlichen Ordnung überhaupt. Er führte aus,
dass bei jeder Unterlassung solchen Kampfes das Rechtsgefühl,
der psychologische Urquell alles Rechtes, unberechenbaren Schaden
leide, zog freilich dabei die Wirkungen auf das Rechtsgefühl des
jeweilen unterlegenen Teils nicht in Betracht, griff vielmehr notgedrungen
zu der Voraussetzung, dass der niedergerungene Gegner
jedesmal auch moralisch im Unrecht sei. Im allgemeinen aber lässt
sich nicht leugnen, dass allerdings dem Recht als dem lebenumspannenden
System des genauen wechselseitigen Entsprechens von
Rechten, und Pflichten — die Mathematik der Geisteswissenschaften
ist es von HERMANN COHEN genannt worden —
seiner Natur nach die, ob auch unausgesprochene, Tendenz nach
lückenloser Anwendung und konsequenter Geltendmachung innewohnt.
•
Wie ganz anders stellt sich dagegen zum Kampf ums Recht
das bekannte Wort aus der Bergpredigt (Matth. 5, 40 f.): So jemand
mit dir rechten will und deinen Rock nehmen,
dem lass auch den Mantel; und so dich jemand
nötiget eine Meile, so gehe mit ihm zwei!
Man könnte dies Wort nicht gröblicher missverstehen. als wenn man
es als eine mit dem positiven Recht konkurrierende, ebenfalls irgendwie
rechtlich gemeinte und zu äusserlicher Beobachtung dargebotene
Vorschrift verstünde. Auch wendet es sich nicht an eine sektenhafte
Gruppe und redet nicht von ausnahmsweisen Verhältnissen. Sondern
allen, die es fassen können, erschliesst es den Blick in eine
Welt, wo nicht gerechnet, sondern schenkende Tugend geübt wird,
wo der einzelne seines ewigen Wertes so unmittelbar gewiss und
sicher ist, dass er gar nicht mehr fürchten kann, durch fremden
Willen geschädigt zu werden, dass vielmehr sein Tun und sein Erleiden,
sein Schweigen und sein Reden die Gemeinschaft von
innen heraus stärkt, die bösen Dünste aufzehrt, jeden Widerstrebenden
für das Gute gewinnt. Wer solch hohes Ziel einmal
lebendig erschaut hat, dem wird es zum unverlierbaren Gewissensinhalt
und bewahrt ihn vor der satten Meinung, in der Regelung
seiner Beziehungen zu den Mitmenschen von seiner Seite je fertig
geworden zu sein; es schützt ihn vor der geistigen Verkrüppelung,
die über das Recht nicht hinauszusehen vermag. Und wenn er hundertmal
mit Beschämung erkennen sollte, dass ihm jene höchste Energie,
die Böses mit Gutem überwindet, versagt ist, und wenn er sich
daher an die bescheidenere Regel halten muss, die der Bruder
KLAUS dem Rat von Konstanz (1482, 30. Januar) schrieb:
«Kann eine Sache nicht in der Freundschaft erledigt werden, dann
lasst das Recht das böseste Mittel sein»,*) so bleibt nichtsdestoweniger
jener Leitstern unbedingter Weisung richtunggebend über
ihm, und niemand wird im Ernst behaupten wollen, dass durch
den Aufblick dahin der Rechtssinn in seinem wahren Verstande
eine Schädigung erfahre.
Dagegen kommt es zu einem direkt feindseligen Gegensatz
durch die sittlich orientierte Theorie des Anarchismus.
Als deren entschiedensten Vertreter heben wir TOLSTOI
hervor, der auch über seinen Tod hinaus starken Einfluss
übt. Von der Liebesnorm aus verwirft er, wenigstens für die
höher stehenden Völker unserer Zeit, nicht nur das Recht in jeder
Form, sondern selbst die vertragliche Konventionalregel, lässt als
zusammenhaltende Kraft der künftigen Gesellschaft nur den
geistigen Einfluss der in der Erkenntnis fortgeschrittenen Menschen
auf die weiter zurückgebliebenen gelten und fordert seine Gläubigen,
um den neuen Zustand baldmöglichst herbeizuführen, zur
Renitenz gegenüber den Forderungen des heutigen Rechtsstaates
auf.*) Allen Hinweisen auf die sicher zu erwartenden schlimmen
Folgen des rechtlosen Zustandes wird die grundsätzlich nicht zu
bestreitende Behauptung von der unüberwindlichen Kraft der
Liebesgesinnung entgegengestellt. Aber wo findet sich diese in dem
erforderlichen Vollmasse? Welcher Ehrliche kann auch nur von
sich selbst versichern, dass er ihr regelmässig in seinem Tun und
Lassen gerecht werde? Dann erscheint es aber doch als eine ungeheure
Vermessenheit, ohne Rücksicht auf alle vergangene und zukünftige
Entwicklung die absolute Forderung als einzige Regel
und Grundlage des Zusammenlebens zu proklamieren, wie wenn ein
Wesen schon dadurch fliegen lernte, dass man ihm den irdischen
Boden unter den Füssen wegzieht.
Je höher ein sittliches Ideal ist, desto verhängnisvoller wird der
Versuch, es von seinen religiösen Wurzeln loszureissen.**) Die
«fünf Gebote» der Bergpredigt, die der russische Prophet unermüdlich
variiert, sind ihrem ursprünglichen Sinn und Zusammenhange
nach in die Botschaft von dem Reich Gottes eingebettet,
das als Ziel der Sehnsucht, nicht als menschliche, sondern
als göttliche Tat über allem, was Kultur heisst, weit hinausliegt.
Alle wirklich Grossen der christlichen Geschichte haben aus solchem
Glauben, den ihnen die Welt nicht geben und nicht nehmen
konnte, Mut, Kraft und königliche Freiheit geschöpft, um in den
Bedingtheiten und Unvollkommenheiten ihrer Zeit und ihres Ortes
nicht zu erlahmen, sondern aus dem Besten, was sie von oben als
Gabe empfangen hatten, die Verhältnisse schöpferisch umzugestalten.
Für Tolstoi dagegen ist das Christentum wesentlich
Lehre und Gesetz. Die Christen sollen durch ihr Tun und mehr
noch durch ihr passives Verhalten den Zustand der Vollendung herbeizwingen.
«Nur noch eine kleine Anstrengung, und der Galiläer
hat gesiegt!» (Russische Christenverfolgungen, S. 47.) Und dieses
selbstgeschaffene Gottesreich tritt dann natürlicherweise
in schärfsten Widerspruch zu allem, was Menschen sonst schon geschaffen
haben. Die praktische Wirkung eines solchen heroischen,
aber gesetzlich übernommenen Moralismus ist Auflösung und Zersetzung.
Nein, nicht dadurch wird die Sittlichkeit verdorben, dass sie das
Recht neben sich gelten lässt, viel eher dadurch, dass sie ihrerseits
meint Satzungen aufstellen zu müssen, die jedes geschichtliche
Leben und Wachstum zu unterbinden, statt zu fördern geeignet
sind. Sowie die erste Christengemeinde in der Weit zu wirken
begann, hat sie sich der vorgefundenen Rechtsordnung sogar dankbar
gefügt; der Apostel Paulus trug kein Bedenken, sie mit dem
Willen des Höchsten in Verbindung zu setzen, der ihm ein Gott
nicht der Unordnung, sondern des Friedens war (Röm. 13, 1 ff.;
I. Kor. 14, 33). Ist es nicht ein Segen für die Erziehung des
Willens, dass wir in eine natürliche Allgemeinschaft hineingenötigt
sind, während wir uns vielleicht gerne auf einen Kreis von lieben
Gesinnungsgenossen beschränken möchten, wo keine Widerstände
zu überwinden wären? Wirkt nicht dadurch das Recht mindestens
vorschulend für die Bildung und Uebung der höchsten sittlichen
Kräfte? Es zwingt zum Ernst; es prägt dem Geist zum ersten Mal
den Gedanken des unverbrüchlichen Gesetzes ein; und dem himmelstürmenden
Idealismus, der so leicht seine heldenhaften Gedanken
schon für die Vollendung der Sache nimmt, der blossen Gedanken-,
Wort- und Demonstrationsethik hält es mit seinem Realismus die
alleinige Geltung der Tat vor. Das Recht kann zwar aus sich selbst
nicht sittliche Pflichten hervorbringen.*) Aber ohne Zweifel ist
es sittliche Pflicht, das Recht, im Sinn des organisierten Ganzen
in runder Zustimmung anzuerkennen. Nur ein knechtischer
Sinn müsste es in seiner Totalität als unwürdige Heteronomie empfinden.
Allein, der «Blankoakzept», den wir so nach RADBRUCHS
Ausdruck gegenüber einem in sich selbständigen Gebiet in guten
Treuen ausstellen, kann doch in einzelnen Fällen mit elementarer
Gewalt ausbrechende Konflikte zwischen persönlicher
Ueberzeugung und kategorischen Zumutungen
der Rechtsgewalt nicht ausschliessen. Damit
deuten wir auf eine dritte, akute Form des berührten Widerstreites.
Die Märtyrer aller Zeiten, so friedfertig sie im übrigen
gesinnt waren, wollten Gott mehr gehorchen als den Menschen,
lieber sterben, als ihr Heiligstes entehrt sehen. Schon aus dem vorchristlichen
Altertum tönt die unerschütterliche Berufung der Antigone
auf die ungeschriebenen Gesetze des Zeus wider das königliche
Machtgebot. Ist seither das Recht menschlicher geworden
und sind insofern die Anlässe zum Zusammenstoss vermindert, so
hat das Recht auf der andern Seite durch seine Verfeinerung selber
mit dazu beigetragen, die Empfindlichkeit des in seinen innersten
Interessen beleidigten Individuums zu steigern. Nicht bloss Ethiker,
auch Juristen haben für die Eigenart derartiger Konflikte volles
Verständnis. BLUNTSCHLI*) räumt ausdrücklich die Möglichkeit
ein, dass der staatliche Gehorsam sein Ende finde, weil das
innere unsichtbare Geistesleben in angeborner Freiheit walte.
Wann und wo indessen dieser Fall zur Wirklichkeit wird, dies
ist bei der durchaus individuellen Natur der Gewissensvorgänge
auf kasuistischem Wege nicht zu entscheiden. Die Echtheit des
Konflikts wird jeweilen für nüchterne Betrachtung um so schwierige
festzustellen sein, als auch mit jenen weitverbreiteten und vielverschlungenen
Selbsttäuschungen wird gerechnet werden müssen,
für die in der modernen Psychologie der Ausdruck Lüge des Bewusstseins
geprägt worden ist;**) das heisst, ein ideales Motiv,

wie es aus der gesinnungsmässigen Aufnahme eines letzten, unbedingten
Ziels stammt, etwa das Motiv der Gottes- und Bruderliebe,
wird nicht selten in den Vordergrund des Bewusstseins geschoben,
obschon andere, weniger wertvolle Motive für das Verhalten
tatsächlich den Ausschlag gaben, oft ohne dass sich der
Handelnde über die vorgenommene Verschiebung aus eigenen Kräften
genügend klar zu werden vermag. Für unser Thema kommt
jedoch der in seiner Reinheit vorgestellte Gegensatz der Gewissensnötigung
zur bestehenden rechtlichen Vorschrift in Betracht. Vorausgesetzt
nun, dass der dem Gesetz also Ungehorsame nicht von
seinem partiellen Widerspruch zu einem prinzipiellen Anarchismus
überzugehen beabsichtige, wird von ihm erwartet werden müssen,
dass er mitten im Konflikt die Notwendigkeit der Rechtsgrundlage
achte und ehre, und dass er daher die gesetzlichen Folgen seines
Tuns oder Unterlassens, seine Bestrafung, willig, nicht als ob er
sich über ein erlittenes Unrecht zu beklagen hätte, auf sich nehme. *)
Doch bleibt ihm seit Sokrates' Zeiten der rechtmässige Trost, dass
die Opfer der sich selbst Treuen für die Nachwelt nicht umsonst
gebracht sind.
Noch ein anderer Weg tut sich freilich hier auf und verheisst
rascheren Sieg. Durch rechtbrechende Gewalt
neues Recht schaffen! Alle edeln Kräfte des Volkes
sammeln, um in einem gewaltigen, plötzlichen Durchbruch den
lähmenden Druck der Verhältnisse abzutun und das Ideal eines
von Ungerechtigkeit freien gesellschaftlichen Zusammenlebens in
die Tat umzusetzen! Welcher Warmherzige würde nicht als unbeteiligter
Zuschauer solchem Beginnen, getragen vom Gefühl
aufopfernder Pflichterfüllung, vielleicht erfüllt von dem religiösen
Bewusstsein eines «von Gott beauftragten Schnitters» (CROMWELL),
seine ganze freudige Teilnahme schenken! Wenn nur
nicht die Wirklichkeit ihre Rechte unerbittlich forderte. Wenn
nur nicht nach dem Abbruch der harten Kruste, die das Leben des
Volkes umschloss, ein unberechenbarer naturhafter Kampf aller
Elemente, der schlimmen wie der guten, sich abspielte, bevor aus
dem trüben Chaos, dem schrecklichen selbstmörderischen Wirrwarr
die neue Schöpfung erstehen kann. Und noch immer gilt für solche
lebensgefährliche Krisen eines Volkes das Wort, das CARLYLE*)
als tragische Erkenntnis den Girondisten in den Mund
legt: Was wir schliesslich bekommen, ist nicht eine Republik der
Tugenden, sondern nur eine Republik der Kräfte, tugendhafter
und anderer.
Wie kaum hervorgehoben zu werden braucht, handelt es sich
bei den zuletzt berührten Vorgängen, aufs grosse Ganze gesehen,
nicht um Bestreitung des Rechts überhaupt, sondern um einen
Kampf gegen bestehendes und für besseres neues Recht. Wer aber
dächte, dass dabei stets nur Wunschinteressen materieller Selbstbehauptung
ausschliesslich und allein die Triebfeder bilden und
ideale Motive höchstens als Verbrämung Verwendung finden,
der studiere einmal die Geschichte des spätem Calvinismus; er
wird dann einsehen, dass theoretische und praktische Verfechtung
des Revolutionsrechtes einem hochgespannten, aufrichtigen, ob
auch irregeleiteten, sittlichen Idealismus entspringen kann. Diese
Tatsache fügt sich dann aber wieder nur einem allgemeinem Gedankenzusammenhang
ein, der von jeder gewaltsamen Umwälzung
vollständig absieht. Das Sittliche als das vorwärtsdrängende,
nie rastende Streben in der Richtung
der normgemässen Bestimmung hat unzweifelhaft
ein näheres, unmittelbareres Interesse an
dem, was rechtens sein sollte, als an
dem, was rechtens ist.
Mit diesem Satze ist keineswegs beabsichtigt, das Geringste von
dem zurückzunehmen oder nachträglich einzuschränken, was über
den sittlichen Wert des bestehenden Rechtes gesagt worden
ist. Gehört ja doch zu den unter allen Umständen zu berücksichtigenden
Realien jeder Gesetzgebung immer auch das bisherige
Recht,*) so dass das mit hellster Begeisterung begrüsste neue,
soll es überhaupt lebensfähig sein, mit jenem stets in einem mehr
als nur formalen Zusammenhang stehen wird. Und noch viel weniger
will natürlich dem Missverständnis Vorschub geleistet sein, als
sei die Tätigkeit des Richters, der, ohne nach etwas anderem zu
fragen, einfach den Willen des geltenden Gesetzes durchführt, sittlich
nicht so gar hoch zu veranschlagen, während doch jeder Einsichtige
erkennt, dass die Berufstreue, Gewissenhaftigkeit und Gerechtigkeit
des Richters eben in seiner unbedingten, auch durch
eigenes subjektives Empfinden nicht beirrbaren Rechtlichkeit sich
erweist. Allein allenthalben im Rechtsleben selber wird der Zug
nach dem Richtigen (STAMMLER) angetroffen, ein
Streben, das Recht nach der Idee objektiver Gerechtigkeit weiterzugestalten;
und was ich behaupte, ist lediglich dies, dass dieser
Zug der sittlichen Anlage des Menschengeschlechts entstammt.
Alle Vorbehalte, die das Ethos dem gewordenen Recht
gegenüber zu machen genötigt ist, verwandeln sich gegenüber dem
werdenden in eine entschiedene Anteilnahme. Denn in alle geistigen
Bezirke dringt unerbittlich das schlechthinige Sollen und treibt
zur Anerkennung der überindividuellen Normen, die sich nur mit
dem objektiv Richtigen zufrieden geben. Was ist die im einzelnen
so verwickelte Geschichte des Naturrechts, des unzählige
Male schon totgesagten, als ein Phantom erklärten und mit seinem
Anspruch, wirkliches Recht mit unwandelbarem Inhalt zu sein,
tatsächlich nicht zu haltenden, — was ist diese Geschichte anderes,
als ein fortlaufender Beweis von der Unverwüstlichkeit der Ueberzeugung,
dass das positive Recht an juristischer Geltung nicht Genüge
finden darf, sondern sich aus dem Unbedingten her immer
neu und immer besser zu begründen versuchen muss! In wechselnden
Ausdrucksformen lebt diese Ueberzeugung stets wieder auf.
Das soziale Ideal, das STAMMLER in seiner kraftvollen Art
und mit Wärme als ragendes Ziel alles Gerechtigkeitsstrebens aufgewiesen
hat, die Gemeinschaft frei wollender Menschen, mit dem
doppelten Charakter der Gemeinsamkeit der Zwecke und der Anerkennung
aller einzelnen Teilnehmer als Selbstzwecke, es ist im
Grunde ein sittliches Ideal, das wissenschaftlich nicht bewiesen,
vom Gewissen nicht abgewiesen werden kann, ein Glaube,
ein Bekenntnis und eine Verheissung, für das Rechtsgebiet von
ähnlich umfassender Bedeutung, wie für das religiös-sittliche Leben
der Glaube an das Reich Gottes, und mit diesem auch inhaltlich
verwandt.
Welche Forderungen sich von da aus an künftige Gesetzgebung
stellen, diese Frage ist hier nicht weiter zu verfolgen. Gewiss ist
eines: jene Forderungen lassen sich nicht etwa in einer trockenen
Staatssittenlehre ein für allemal festlegen. Sie sind aber auch nicht
der so überaus unzuverlässigen öffentlichen Meinung anheimzugeben.
Sie erwachsen aus dem Herzensgrund von Männern und
Frauen, denen die Not der Zeit, die Not der Brüder in der
Seele brennt, die, auch um den Preis eigener Einbussen, gerechte
Verhältnisse wollen, in denen sich für alle gerecht leben lässt, und
für die entgegenstehende Schwierigkeiten da sind, um überwunden
zu werden. Es gehört zu den Hauptaufgaben einer mit reformatorischem
Geist erfüllten Kirche und Schule, ein Geschlecht zu
erziehen, das für Solidarität und göttliche Notwendigkeiten sich
zur Verfügung stellt. Noch nie ist im sozialen Fortschritt die
Widerstandskraft des geschriebenen Buchstabens gebrochen worden
ohne den mutigen geistigen Kampf gegen allerlei Blendwerk,
wodurch das Bild der wahren Gerechtigkeit verhüllt ward.
Für die zwischenstaatlichen Beziehungen
ist zu hoffen, dass nach dem Weltkrieg der Rechtsgedanke auf einem
Gebiet Eroberungen machen werde, wo er bis dahin nur
kümmerlich vertreten war. Die harte Erfahrung hat der Auffassung,
als ob die Staaten auf immer einen «Stirnerschen Verein von Egoisten»*)
bilden müssten, einen tödlichen Stoss versetzt und statt des
gefährlichen Gleichgewichts eine organisierte Gemeinschaft, gleichsam
eine Uebertragung der Losung der französischen Revolution
von den Individuen auf die Völkerindividualitäten, vor aller Augen
als zu erstrebendes Ziel hingestellt. Aber auch das ist klar, dass damit
auf ein Recht höherer Art hingewiesen ist. Die Menschheit

wird seiner nur dann würdig sein, wenn es in gegenseitiger Achtung,
Verständnis und Vertrauen seine entsprechende Stütze gefunden hat;
und darum wird mit besonders einleuchtendem Sinn in diesem Zusammenhang
von einer moralischen Macht des Rechtes gesprochen.
Der zuletzt gebrauchte Ausdruck beansprucht indes allgemeinere
Geltung. Er will uns daran erinnern, welches der letzte tragende
Grund jedes höher entwickelten Rechtes ist und bleibt. Nicht
der äussere Zwang kann es sein. Es ist die freie Hingebung an das
Wahre und Gute; und mag das Wahre und Gute auch zeitlich gefärbt
und bedingt sein, jene Hingebung ist etwas unbedingt Herrliches.*)
Man rettet und bewahrt nur das, was man
stets übertrifft; vor Auflösung schützt einzig
die Erfüllung. In diesem Sinn hat EUGEN HUBER, der
Schöpfer des schweizerischen Zivilgesetzbuches, den unsere Universität
seit fünfundzwanzig Jahren zu ihren Lehrern zählen darf,
die richtige Gesinnung als den grundlegenden Faktor des
gesellschaftlichen Lebens bezeichnet; sie erscheine für die Gemeinschaft
als die Quelle auch des objektiv richtigen Bestandes.**) Und
in welche Höhe und Tiefe die Gesinnung weist, das mag uns zum
Schluss MARTIN LUTHER sagen mit den Worten***): «Ein
Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand
untertan; ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge
und jedermann untertan. Durch den Glauben fähret er über sich in
Gott, aus Gott fähret er wieder unter sich durch die Liebe und
bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe.» Zu untrennbarer
Einheit sind hier miteinander verknüpft Persönlichkeit und
Gemeinschaft, Herrsein und Dienen, Gesetz und Freiheit.