Schweizerisches Strafrecht

Rektoratsrede gehalten an der 84. Stiftungsfeier der Universität Bern

den 14. Dezember 1918
von
Professor Dr. jur. Philipp Thormann.


Als mein juristischer Vorgänger vor 6 Jahren an dieser Stelle seine gehaltvolle Rektoratsrede begann, konnte er an ein Ereignis des Jahres 1912 anknüpfen, das Inkrafttreten des schweizerischen Zivilgesetzbuches, mit dessen Werden und Entstehen unsere Universität in besonders hervorragender Weise verbunden war 1). Der Kriminalist, der heute zu Ihnen spricht, muss bescheidener auftreten; die Zivilisten haben uns im Wettlauf um die Priorität in der eidgenössischen Gesetzgebung schon um ein volles Jahrzehnt geschlagen und noch steht es nicht fest, wann und wie wir das Ziel erreichen werden. Und doch wird das Jahr 1918 in der Entwicklungsgeschichte des schweizerischen Strafrechtes Erwähnung finden, wir haben nach beinahe 3 Jahrzehnten die Periode wissenschaftlicher Vorarbeiten zur Rechtseinheit abgeschlossen und die parlamentarische Beratung des Strafgesetzentwurfes steht unmittelbar bevor. Am 23. Juli 1918 hat der Bundesrat seine Botschaft an die Bundesversammlung zum Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches erlassen und der Entwurf ist in der Fassung veröffentlicht worden, welche die Grundlage der Beratung in den eidgenössichen Räten bilden soll. Dieses Ereignis ist zunächst wohl nur von den besondern Interessenten und einigen sehr gewissenhaften Zeitungslesern gebührend vermerkt worden, es bedeutet aber einen wichtigen Markstein in der Entwicklung unseres Strafrechtes und die Gelegenheit, an der Stiftungsfeier unserer Alma mater bernensis vor einer ausgewählten Zuhörerschaft auf die Bedeutung dieses Zeitpunktes aufmerksam zu machen, erschien mir zu reizvoll, um sie vorübergehen zu lassen. Nicht als ob in der Bevölkerung das Interesse für Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspflege besonders geweckt zu werden brauchte, es besteht schon; und jeder grössere Strafprozess und jede öffentliche Diskussion über diese oder jene Strafart erbringt hierfür den Beweis. Nicht ganz neidlos hat unser Kollege Gmür vor 6 Jahren


an dieser Stelle erklärt, es werde ihm vielleicht nicht so leicht gelingen, die Aufmerksamkeit der Zuhörer für den von ihm behandelten zivilrechtlichen Gegenstand wachzurufen, wie z. B. seinem kriminalistischen Kollegen, wenn er über Todesstrafe spreche, obgleich ich seine damals ausgesprochene Ansicht als ob schon dieses Thema an sich angenehm spannende Gefühle in der Brust des Zuhörers auslöse 2), nicht teilen kann. Es ist nicht zu bestreiten und bedeutet übrigens für den Strafgesetzgeber durchaus nicht immer eine Erleichterung seiner Aufgabe, dass die Nichtjuristen sich in sehr intensiver Weise um die Probleme des Strafrechtes kümmern und die praktische Anwendung des Rechtes bald billigend bald missbilligend verfolgen; ist doch die Frage, was ein Verbrechen sei und wie das Verbrechen zu bekämpfen sei, eine solche, deren Beantwortung in letzter Linie auf die grundlegende Weltanschauung des Einzelnen zurückgeht. Alle grösseren Zeit- und Geistesströmungen äussern hier ihren Einfluss, man beachte z. B. das 18. Jahrhundert mit seiner Aufklärungsbewegung und die neuesten Erscheinungen der positivistischen Schule in Italien. Bei einer solchen Diskussion stellt sich jetzt der Einzelne gewöhnlich auf den Standpunkt des die allgemeinen Interessen verfolgenden Gemeinwesens, wenn er nicht noch subjektiver die Stellung eines durch ein Verbrechen Verletzten sich vorstellt, selten nur denkt er daran, dass er vielleicht auch der die Strafe erleidende Teil sein könnte, und wenn er dies versucht, so fehlt ihm gewöhnlich aus guten und an sich gewiss löblichen Gründen die durch die Erfahrung geschaffene Fähigkeit hierzu 3). Jeder erwartet vom Strafrecht und seiner Anwendung, der Strafrechtspflege, zunächst den Schutz seiner selbst und seiner rechtlich anerkannten Interessen, und denkt, dass damit auch das Interesse des Gemeinwesens geschützt sei. Erst eine Jahrhunderte dauernde Entwicklung hat das Interesse des Gemeinwesens vorangestellt und die zunehmende Bedeutung der res publica im Gegensatz zum Individuum lässt sich in der Strafrechtsgeschichte deutlich verfolgen.

Die Sorge um die Gesetzgebung im Allgemeinen, die Strafgesetzgebung im Speziellen, bildet ein Kennzeichen jedes bedeutenden Herrschers und jeder fürsorglichen Regierung seit altersher: man erinnert sich für Frankreich an die Namen Franz I., Ludwig

XIV. und Napoleon I., für Deutschland an Karl V., Maria Theresia, Joseph II. von Oesterreich und Friedrich II von Preussen, bis dann im 19. Jahrhundert ein allgemeines Kodifikationsfieber ausbrach, dem nur einige kleinere Staatswesen sich entziehen konnten, so Uri, 4) und Nidwalden in der Schweiz bis zum heutigen Tag, die beiden Mecklenburg 5), Schaumburg-Lippe und Bremen 6) in Deutschland bis 1870. Die hübsche Sitte, dem lateinischen Titel Constitutio criminalis den Namen des Herrschers beizufügen, hat klangvolle Bezeichnungen hervorgebracht, von denen die Carolina 7), die Ferdinandea 8), die Theresiana 9) und Josephina 10) die bekanntesten sind; ja auch an Verwandtschaft hat es diesen jüngern oder ältern Damen nicht gefehlt, wie man denn z.B. die Bambergensis von 1507 als mater Carolinae und die Brandenburgica von 1516 als soror Carolinae bezeichnete; ihre nähere Bekanntschaft dagegen pflegte nicht sehr gesucht zu sein und jahrhundertelang hat der sanfte Name Carolina keine angenehm spannenden Gefühle in der Brust der Zuhörer ausgelöst.

Doch kehren wir zur schweizerischen Strafrechtsgeschichte zurück. Als die drei Waldstätte 1291 ihren ewigen Bund schlossen, gehörten sie zum allemannischen Rechtsgebiete; das Recht ihrer Bewohner war allemannisches Stammesrecht, gewohnheitsrechtlich weiter entwickelt und der Zersplitterung des germanischen Rechtes anheimgefallen. Der kurz vorher entstandene Schwabenspiegel von 1275 wird damals in den wilden Bergtälern noch nicht bekannt gewesen sein; später mag er in der Ostschweiz Beachtung gefunden haben, wenn gleich die besten Kenner der alten schweizerischen Strafrechtsgeschichte wie Osenbrüggen und Pfenninger ihm keinen grossen Einfluss zugestehen wollen 11).

In Wirklichkeit werden die alten Eidgenossen von der Strafrechtseinheit nicht wesentlich entfernt gewesen sein, da ihre Täler und Wohnstätten nahe beieinanderlagen und ähnliche Lebensbedingungen schafften: es ist aber für die damalige Rechtsunsicherheit charakteristisch, dass sie dieser mehr oder weniger übereinstimmenden Rechtsüberzeugung nicht trauten und gewisse wichtige Fragen schriftlich regelten. So enthalten die Art. 6 bis 8 der ersten Bundesurkunde Bestimmungen über Tötung, Brandstiftung, Begünstigung, Raub und Schädigung am Vermögen. Auf Totschlag

wird die Todesstrafe angedroht, wer den Totschläger begünstigt oder beschirmt, soll verbrannt werden; "Der Brandstifter soll nimmer für einen Landsmann gehalten werden" Ganz ähnliche Bestimmungen finden sich im Bundesvertrag von 1315, Art. 12 bis 15, den die Eidgenossen nach der Bluttaufe von Morgarten, nicht mehr in gelehrter lateinischer Sprache sondern deutsch und allgemein verständlich niederschrieben 12). Doch ist die Aeusserung unseres Kollegen Hilty in seiner Nationalratsrede vom 16. Juni 1898 bei Anlass der Beratung über die Eintretensfrage auf die Verfassungsbestimmungen über die Rechtseinheit, die älteste Eidgenossenschaft habe eine grössere Zentralisation im Strafrecht besessen als die heutige Eidgenossenschaft von 1898 13), nur cum grano salis und als politisches Argument verständlich, man vergleiche den Umfang der 4 Bestimmungen der ältesten Bünde mit dem Bundesstrafrecht, das in der Kronauerschen Sammlung von 1902 über 300 Druckseiten ausfüllt 14); und von Zentralisation kann bei einer Uebereinstimmung des Gewohnheitsrechtes nicht wohl gesprochen werden.

Der kleine Ansatz eines geschriebenen eidgenössischen Strafrechtes verkümmerte überdies bald wieder, indem die spätem Bünde, namentlich die mit Luzern (1332), Zürich (1351) und Bern (1353), keine einheitlichen Strafrechtsbestimmungen mehr enthielten, sondern nur die Bundeshülfe für den Fall einer vom Gericht eines Bundesgliedes ausgesprochenen Todesstrafe versahen. Zwischen Stadt und Land bestand wahrscheinlich die Uebereinstimmung der Rechtsüberzeugung schon nicht mehr, und die Städte hielten es wohl mit Rücksicht auf ihre. Rechtsaufzeichnungen nicht für notwendig, sich einem gemeinsamen Recht unterzuordnen 15).

Dagegen finden sich uns interessierende Stellen in den 3 grossen folgenden Bundesbriefen, dem Pfaffenbrief von 1370, dem Sempacher- oder Frauenbrief von 1393 und dem Stanser Vorkommnis vom 22. Dezember 1481. Art. 3 des Pfaffenbriefes verbietet den Geistlichen die Anrufung eines geistlichen oder eines fremden weltlichen Gerichts, "denn sie sollen von jeglichem Recht nehmen an den Stätten und vor dem Richter, da er ansässig ist, es wäre denn in betreff einer Ehe oder in geistlichen Sachen", unter Androhung der Entziehung von Schutz und Schirm (Art. 4);


der Sempacherbrief stellt in seinem 2. Artikel die Verpflichtung der verbündeten Länder und Städte auf, den Eidgenossen jeden Hausfriedensbruch und jede Plünderung zu untersagen "es sei im Krieg, im Frieden oder in Sühne" ohne freilich eine bundesrechtliche Strafnorm aufzustellen. Dagegen enthalten die Artikel 4 ff. eine eigentliche Kriegsordnung, ein Militärstrafrecht für Kriegszüge in Erfüllung von Bundespflichten, aus der speziell das Verbot der Fahnenflucht, des Plünderns während der Schlacht, ferner Bestimmungen zum Schutze der Klöster, Kirchen und Kapellen, ferner zum Schutze der Frauen vor Gewalttat und Ungebühr hervorgehoben seien. "Und zu Ehren der Jungfrau Maria, damit sie ihre Gnade nicht entziehe, befehlen die Eidgenossen, dass man Frauen und Töchter nicht stechen, schlagen oder misshandeln soll; nur wenn diese selbst durch Gewalttat oder Geschrei erheblich schaden, soll man sie strafen nach verdienen". Das Stanser Vorkommnis endlich enthielt Bestimmungen gegen Friedensbruchs ("Uebermut, Aufruhr oder Gewaltsamkeit") wobei Gerichtstand und Recht des Ortes der begangenen Tat vorbehalten bleiben (Art. 2 bis 5), und in Art. 11 werden die Bestimmungen des Pfaffenbriefes von 1370 bestätigt, was den Beitritt von Bern und Glarus, die 1370 nicht mitgewirkt hatten, sowie der neuen Bundesglieder Freiburg und Solothurn zu den Grundsätzen der Ausscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit im Sinne der Nichtanerkennung der Immunität der Geistlichen vor den weltlichen Gerichten bedeutete.

Abgesehen von diesen wenigen geschriebenen bundesrechtlichen Rechtssätzen galt überall allemannisches Gewohnheitsrecht in geschriebener oder ungeschriebener Form (Stadtrechtssatzungen, Weistümer, Urteilsbücher), zweifellos in Bern und Freiburg auch Recht burgundischen Ursprungs, ohne dass, wie Pfenninger nachweist 16) eine Trennung oder Ausscheidung nach Herkunft getroffen werden könnte. Wenige öffentliche Strafen, aber dafür um so strengere, z. B. bei unehrlicher oder schändlicher Tötung (Mord) das Rad, Todesstrafe in der Regel auch bei Brandstiftung, Raub, Notzucht Diebstahl im 2. Rückfall; in Fällen ehrlicher Tötungen im Affekt (Totschlag) wird von Obrigkeitswegen der Abschluss von Sühneverträgen (Thädigungen, liebliche Richtungen) begünstigt, um die


Blutrache zurückzudrängen, auf leichterem Unrecht (den sog. Freveln, welcher Name sich noch im heutigen Wald- und Feldfrevel erhalten hat) stehen meist Geldbussen, welche teils dem Verletzten, teils dem Inhaber des Gerichtsbannes zukommen. Das Friedensrecht, wie wir es in den spätem Quellen so vollkommen ausgebildet finden und das von Pfenninger an Hand der bernischen Stadtsatzung von 1539 in klassischer Weise dargestellt worden ist, bildet die Grundlage und den normalen Zustand des Gemeinwesens, seine Störung ist der Friedensbruch in mannigfaltigster Form, den es zu verhüten gilt. Gegen Ende dieser Zeitperiode tritt die öffentliche Strafe in abschreckender und grausamer Gestalt immer mehr hervor, sei es als Todesstrafe (Enthaupten, Hängen am Galgen, Rädern, Verbrennen, Lebendig begraben, Ertränken, Vierteilen usw.), sei es als verstümmelnde Strafe mit Anlehnung an die Talionsidee (wie Zungenausreissen, Ohrabschneiden, Handabhauen, Augenausstechen usw.). Die Freiheitsstrafe kommt als "Türmen" (Einschliessung im Turm) vor, Verbannung und Eingrenzung sind auch hiezu zu rechnen; von den schimpflichen Strafen hat sich die Trülle (Drehhäuschen) bis ins 18. Jahrhundert erhalten.

Von einer besondern schweizerischen Strafrechtsentwicklung kann bis 1500 nicht gesprochen werden, wie auch die Eidgenossen sich stetsfort als Glieder des hl. römischen Reiches deutscher Nation betrachten. Mit dem Schwabenkrieg (1499) beginnt die Loslösung vom Reiche, sich äussernd in der Nichtbeachtung der spätem Reichsabschiede, der selbständigen Bündnispolitik nach Westen und Süden und der politischen Neutralität im 30jährigen Kriege, als deren Frucht die völkerrechtliche Anerkennung der Selbständigkeit der Schweiz im Frieden von Münster (1648) erscheint. Ohne diese politische Bewegung wäre die Schweiz vielleicht zur Stratrechtseinheit gekommen, wenn sie die 1532 auf dem Reichstage zu Regensburg erlassene peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. die berühmte Carolina, angenommen hätte. Zwar fand die Carolina hie und da im Gerichtsgebrauch einiger Stände und zugewandter Orte Anwendung, so namentlich in Basel und Schaffhausen, in den Gebieten des Fürstbischofes von Basel und des Fürstabtes von St. Gallen, im Wallis und im bernischen Waadtlande nach 1750; in


Luzern wurde seit 1606 ein Auszug aus der Carolina als Anweisung für das peinliche Verfahren vor dem Ratsrichter benutzt; als direkte Gesetzesquelle wurde sie aber nicht anerkannt, auch nicht als Muster für die einheimische Gesetzgebung gebraucht; offenbar erwiesen sich die Abneigung gegen das die Carolina wesentlich beeinflussende römische Recht und das Festhalten am Friedensrecht und den einheimischen Satzungen als zu stark. Dagegen hat die Carolina im 18. Jahrhundert, wohl in Ermangelung einer auf ständige Truppen zugeschnittenen einheimischen Kriegsordnung, als Militärstrafrecht der kapitulierten Schweizerregimenter in fremden, vornehmlich französischen, Diensten Anwendung gefunden, und zwar bezeichnenderweise hier als Ausdruck nationalen Rechtsgefühles, da in den Kapitulationen stets die schweizerischen Stände sich die eigene Gerichtsbarkeit vorbehielten 18) und durch das Offizierskorps der Regimenter ausüben liessen.

Trotz des Aufgebens der Einheit der Rasse und der Sprache durch die Aufnahme von Freiburg in den Bund und die Gebietserwerbungen einzelner Stände im Westen und Süden kann von einem grundsätzlichen Gegensatz der Rechtsanschauungen auf dem Gebiete der Strafrechtspflege nicht gesprochen werden. Neben den alten Coutumes brachten gerade die waadtländischen Gerichte im 18. Jahrhundert vereinzelt die Carolina zur Anwendung, jedenfalls nicht auf Veranlassung Berns hin, das in seinen deutschen Landschaften die Carolina nicht berücksichtigte. Erst das 19. Jahrhundert mit seinen kantonalen Kodifikationen, die unter dem Einflusse fremder Gesetzgebung und der Wissenschaft standen, hat den Unterschied stärker hervortreten lassen.

Bis zum Ende der alten Eidgenossenschaft blieb die Aufzählung der einzelnen Verbrechen und Frevel in den Gerichtssatzungen überaus lückenhaft, überall mussten Herkommen und Gerichtsgebrauch aushelfen. Die Zahl der im öffentlichen Interesse zu bestrafenden Handlungen nimmt zu, die Strafen selbst werden gemildert, an Stelle des alten Richtens nach Gnade tritt vielfach die Ausübung des Begnadigungsrechtes durch die Obrigkeit in den Vordergrund. Die Todestrafe wird im 18. Jahrhundert nur noch vereinzelt anders als durch Enthaupten oder Hängen vollstreckt;


Körperstrafen, Ehrenstrafen, Bussen und Verbannung bleiben in Anwendung und die Freiheitsstrafen erhalten noch im 18. Jahrhundert in den Schallenwerken eine neue Ausgestaltung 19. Im 18. Jahrhundert wird auch der Mangel vollständiger geschriebener Rechtsquellen fühlbarer. 1719 beschloss der Grosse Rat von Bern, durch eine Kommission die Frage prüfen zu lassen, "ob eine Kriminalsatzung erlassen werden solle". Die Kommission erstattete ihr Gutachten im Jahre 1728 unter der Ueberschrift: "Ob in Criminalibus etwas praecises zu statuieren," wobei sie die Gründe für und wider erörterte. Es wird namentlich die Schwierigkeit hervorgehoben, "eine solche Criminal Constitution zum Stand zu bringen, die auf alle verfallende Casus könne gerichtet seyn, u.s.f. Denn durch eine General Constitution leicht etwas statuiert werden könnte, dessen man sich hernach gereuwen möchte". Auch die Furcht vor der Formaljurisprudenz machte sich geltend: "Was dann die Form der Procedur betrifft, haltet man vor das sicherste, solches wie bisher der disposition eines weisen Rathes zu überlassen, aus Beysorg, dass man mit introducierung vieler formaliteten nicht anderes als grosse weitleuffigkeiten wie etwan durch die teutschen Juristen geschieht, einführen wurde, zumahlen schwährlich wird zu erzeigen seyn, dass bey unserer patriotischen Manier einicher ohnschuldiger weiss hingerichtet worden seye" Das ist nichts anders als die altschweizerische Abneigung gegen das fremde Juristenrecht und den Formalprozess. Andererseits wurde darauf aufmerksam gemacht, "dass nicht nur gute Gsatz das beste Zeichen einer wohlbestellten Respublic, sondern noch die allgemeine Sicherheit und die Wohlfahrt eines ganzen Lands denen weltlichen Regenten nebst dem hochen gewalt, insonderheit auch dieses beyleget, dass sie ihrer Underthanen bossheit vermitlest guter Zucht dermassen im zaum und in solcher Leitung halten, dass wan sie nicht aus guter gewohnheit das böse meiden, dennoch aus Furcht empfindlicher straaf von den lasteten abgeschreckt, der beleydigte vor fernerem Schaden geschirmt und dadurch insgemein der nuzen der menschlichen Societet befürderet werde" und sodann neben der grossen Notwendigkeit auch die Möglichkeit Abfassung einer Criminal-Ordnung bejaht. 1732 beschloss der Rath trotzdem in negativem Sinne mit der Begründung, "wie

dass alle halsgerichtliche Ordnungen über die verfallende Casus nichts praecises statuieren, sondern den Richter auf die Umbständt und den Raht der Gelehrten weisen"20). Es fehlte somit an Wagemut, um diesen karolinischen Standpunkt zu verlassen, vielleicht auch an einer geeigneten Persönlichkeit, welche die Arbeit unternommen hätte. Auch in Zürich klagt der Landvogt Johann Kaspar Escher über "den Mangel eines vollständigen Poenalgesetzes und das zu weitgehende freie arbitrium judicia" 21). In der 2. Hälfte des Jahrhunderts bleiben jedoch die Einflüsse der Aufklärungsperiode nicht unbeachtet: 1777 schrieb die bernische ökonomische Gesellschaft einen Preis von 100 Louis d'or für die beste Abhandlung über Kriminalgesetzgebung aus; die Ausschreibung erregte europäisches Aufsehen, 1782 wurde die Arbeit .zweier sächsischer Juristen, v. Globig und Huster preisgekrönt. Von 1783 datiert das neue Reglement für das Schallen- und Arbeitshaus der Stadt Bern, das lange Zeit und über die Grenzen des Landes hinaus als vorbildlich angesehen wurde 22). 1783 wurde durch Rathsbeschluss die Anwendung der Folter verboten 23). Zu einer gesetzgeberischen Leistung kam es jedoch nicht mehr; 1797 wurde noch ein von Karl Ludwig Haller, dem spätem Restaurator, verfasstes "Gutachten Mrhghhrn. der Committierten über die Verbesserung der hiesigen Kriminal-Prozessform" veröffentlicht.

War die eigentliche Strafgesetzgebung sehr lückenhaft und unvollständig, so hatte dafür der Gesetzgeber, namentlich in den protestantischen Kantonen, sich sehr eingehend mit der Sittengesetzgebung befasst. Die Chorgerichtssatzungen enthielten Strafbestimmungen über Gotteslästerung, Ehebruch, Hurerei, Blutschande, Kuppelei, Trunkenheit und Völlerei, Schwören und Fluchen, Zauberei, Schwarzkünste, abergläubische Ceremonien und Schatzgraben, das Spielen, ferner Kleider- und Tanzordnungen. "Nach dem Rausche des ausschweifend lebenslustigen Mittelalters, sagt Pfeninger 21), folgte die Reformation mit dem wohltätigen Jammer peinlicher Selbstzucht". Bern hat z. B. von 1529 bis 1798 nicht weniger als 9 Chorgerichtssatzungen erlassen, je 3 im Zeitraum eines Jahrhunderts, und die Satzungen mit rücksichtsloser Schärfe gegen Gross und Gering zur Anwendung gebracht 25). Die Strenge der von Calvin beeinflussten Genferischen Gesetzgebung ist bekannt


und über das Strafrecht Zürichs fällt Bluntschli das Urteil: "Der sittliche Ernst und die Strenge, welche die Reformation den Gemüthern aufgeprägt hatte, machte geneigter, harte Strafen anzuwenden u. s. f."26).

Das spezifisch schweizerische an der Strafrechtsentwicklung von 1500 bis 1798 besteht eigentlich mehr in negativen Momenten, der Ablehnung der Carolina und des römischen Rechtes (vom Crimen laesae majestatis abgesehen) und der Ausschaltung der gelehrten Jurisprudenz; als positive Momente sind zu nennen: Beibehaltung des Friedensrechtes, Weiterbildung der Rechtsquellen nach dem Vorbild der alten Gerichtssatzungen und teilweise Beibehaltung der alten Gerichtsgebräuche. Das Ergebniss war nicht befriedigend; die Abschreckungsidee beherrschte die ganze Strafrechtspflege und erst die erwähnte Preisauschreibung weckte wieder in weitern Kreisen das Interesse für die Frage nach Rechtsgrund und Zweck der Strafe; die Lust am Theoretisieren und Philosophieren erwachte als Folge der Aufklärungsideen und trug nicht wenig zum Umsturze bei, der Ende des 18. Jahrhunderts eintrat. Die neue Zeit rief einer neuen Gesetzgebung, die Vernunft sollte die Welt regieren an Stelle der Tradition, und die Vernunft sollte in. Gesetzesparagraphen gefasst jedermann verständlich gemacht, gedruckt und vervielfältigt werden. Eine der ersten Aufgaben der einen und unteilbaren helvetischen Republik war daher die Schaffung eines Strafgesetzbuches, nachdem durch Beschluss vom 12. Mai 1798 die "Tortur in ganz Helvetien abgeschafft" worden war. Es war aber leichter, Prinzipien zu proklamieren als ernsthafte Gesetzgebungsarbeit zu leisten; innere und äussere Feinde gefährdeten die Existenz der jungen Republik, von einer ruhigen Vorbereitung der gesetzgeberischen Entwürfe konnte keine Rede sein. Da griff man kurzerhand zu einem fremden Vorbild, dem französischen Code pénal von 1791, suchte dasselbe rasch für schweizerische Verhältnisse zurechtzustutzen, wobei man den Urtext in höchst mangelhafter Weise übersetzte. Eine eigentliche Beratung in den helvetischen Räten fand kaum statt. Am 1. April 1799 nahm der Grosse Rath das "Peinliche Gesetzbuch" an, der helvetische Senat folgte am 4. Mai 1799. Das Gesetz enthielt Bestimmungen über die Verbrechen und deren Bestrafung und sollte

.'.'.' . später durch ein Gesetz über die korrektionellen Fälle und eine Strafprozessordnung ergänzt werden. Damit war äusserlich wenigstens, für den wichtigsten Teil der Strafrechtspflege, die Strafrechtseinheit geschaffen. Ungefähr die Hälfte der den einzelnen Verbrechen gewidmeten Artikel wird von den "Verbrechen gegen das gemeine Wesen" (Staatsverbrechen) eingenommen und die hier sehr häufig angedrohte Todesstrafe hat dem Gesetz zum Rufe grosser Härte verholfen. Bedenkt man aber, dass die Todesstrafe ohne Verschärfung durch Enthaupten vollstreckt werden sollte, und dass im übrigen die Körperstrafen grundsätzlich durch längere Freiheitsstrafen (Zuchthaus und Kettenstrafe) ersetzt wurden, so muss dieser Ruf nicht als zutreffend bezeichnet werden. Wenn man sich über den Mangel an nationalem Selbstbewusstsein hinwegsetzen kann, der in der Entstehungsgeschichte des Gesetzes sich kundgibt, so ist ein sachlicher Fortschritt zu konstatieren, so schon in der Tatsache, dass die Diebe nicht mehr gehängt werden sollen. In den 2 folgenden Jahren 1800 und 1801 ist das peinliche Gesetzbuch mehrfach durch Novellen im Sinne der Milderung abgeändert worden. Beachtung verdienen namentlich auch die Grundsätze über die Gleichheit der Strafe ohne Rücksicht auf Ring und Stand des Verbrechers (§210), sowie das Verbot der Einziehung (Confiskation) der Güter des Verurteilten (§ 212).

Die Vermittlungsakte vom 19. Februar 1803 stellte die kantonale Souveränität auf dem Gebiete der Strafgesetzgebung wieder her und enthielt als einzige die Strafrechtspflege betreffende Bestimmung in Art. 8 die Vorschrift, dass kein Kanton einem gesetzmässig verurteilten Verbrecher eine Freistatt gewähren soll. Die Kantone waren aber meist nicht zu einer sofortigen Gesetzgebung vorbereitet und behielten daher teilweise das helvetische peinliche Gesetzbuch als subsidiär geltende Rechtsquelle neben den Gerichtssatzungen bei, so Bern bis 1866, Solothurn bis 1859, Waadt bis 1843 und Thurgau bis 1841, Luzern und Basel bis in die 20er Jahre. So gewannen sie Zeit, um Spezialgesetze und Codifikationen vorzubereiten. Sehr auffallend und nur als politische Prinziperklärung verständlich ist die Tatsache, dass Freiburg durch Gesetz vom 28. Juni 1803 die Carolina mit einigen Abänderungen als geltendes Recht proklamierte, auch Schwyz verwies im organischen

Gesetz über Rechtsverfahren in Kriminalfällen vom 14. März 1835 auf die Carolina, "wobei aber unbenommen bleiben sollte, sich auf die in verschiedenen Staaten eingeführten Strafgesetze und besonders den allgemeinen Gerichtsgebrauch zu beziehen und Rücksicht zu nehmen". Als Curiosum sei ferner erwähnt, dass im Fürstentum Neuenburg, das 1815 als Kanton der Eidgenossenschaft beitrat, die Regierung im gleichen Jahr ihre Ansicht dahin äusserte, die Carolina sei "comme une sorte de raison écrite" anzuwenden, was in Berlin nicht geringes Erstaunen hervorgerufen haben soll 27). Nach der Revolution von 1848 wurde am 5. Juli vom Neuenburgischen Grossen Rathe feierlichst der Beschluss gefasst: "La loi dite Caroline ne pourra désormais recevoir d'application dans le Canton de Neuchatel". Mit 1803 begann die bis heute dauernde Epoche der kantonalen Kodifikationen, die auffallend konstrastiert mit der Zurückhaltung der Gesetzgebung in den vergangenen Jahrhunderten. Gegen 50 Strafgesetzbücher. sind in den 25 Republiken erlassen worden, und es lohnt sich kaum, die Zahl der Nachtragsgesetze und Novellen festzustellen. Es begannen Aargau 1805, St. Gallen 1807/1808 und 1819, Tessin 1816, bezeichnenderweise neue Kantone, die ihre Gesetzgebungshoheit manifestieren wollten. Dann folgten Basel 1821 und 1824, Luzern 1827. In einigen Kantonen fanden mehrfache Revisionen statt, so in Basel (1821 und 1824, 1835, 1846, 1872 mit Nachtragsgesetzen), Solothurn (1859, 1874 und 1885), Luzern (1827, 1837, 1860, 1906). Die ältesten noch in Rechtskraft befindlichen sind die Gesetze von Waadt 1843, Graubünden 1851 und Aargau 1857, alle durch Nachtragsgesetze teilweise modernisiert, die neuesten diejenigen von Neuenburg 1891, Appenzell I. Rh. 1899, Luzern 1906, Glarus 1899. Einzig Uri 28) und Nidwalden schlossen sich dieser Bewegung nicht an. Es würde den Rahmen meines heutigen Vortrages weit überschreiten, wenn ich Ihnen die Wandelungen dieser kantonalen Gesetzgebung schildern sollte und es wird für meine Zwecke wohl genügen, wenn ich darauf verweise, dass jedes Gesetz als Produkt seiner Zeit und seiner Generation aufzufassen ist. Nicht bloss der Stand der Strafrechtswissenschaft der betreffenden Zeit spiegelt sich darin wieder, sondern oft auch das gesetzgeberische Vorbild einer fremden Codifikation. Nicht dass sklavisch kopiert


worden wäre wie zur Zeit der Helvetik, man strebte namentlich nach Kürze und hie und da nicht ganz glücklicher Originalität. Die Strafrechtstheorien äusserten ihren Einfluss, mussten aber oft vor den praktischen Rücksichten zurücktreten 29). Man versuchte im Hegel'schen Sinn eine Proportionalität zwischen Delikt und Strafe zu schaffen und gleichzeitig die Besserung und Spezialprävention anzustreben. Gewiss hat der Napoleonische code pénal von 1810 viele westschweizerische Gesetzgebungen beinflusst, aber gerade Neuenburg hat in seinem neuesten Gesetz von 1891 eine bemerkenswerte Selbständigkeit gezeigt, und wenn das deutsche Reichsstrafgesetzbuch von 1870 seinen Einfluss namentlich in Zürich, Baselstadt und Solothurn äusserte, so ist wieder in neuester Zeit die Gesetzgebung dieser Kantone durch Aufnahme neuer Rechtsideen dem deutschen Rechte vorangeeilt.

Im Strafensystem treten die Freiheitsstrafen immer mehr in den Vordergrund, die Körperstrafen verschwinden, zuletzt in der Bundesverfassung von 1874 Art. 65 endgültig untersagt, die Todesstrafe wird immer mehr auf Mord beschränkt; von 1874 bis 1879 bundesrechtlich ausgeschlossen, seit 1879 wieder in 8 Kantonen und 2 Halbkantonen eingeführt, kommt sie nur selten zur Anwendung.

Durch Verbesserungen in den Strafanstalten suchte man die Freiheitsstrafen menschlicher und nutzbringender zu gestalten, wobei der Grundsatz der gewerblichen Arbeit im geschlossenen Raum namentlich von den grossen Musteranstalten Regensdorf (Zürich), Basel und Lenzburg (Aargau), derjenige der landwirtschaftlichen Arbeit im Freien besonders in Witzwil (Bern) und Bellechasse (Freiburg), in neuester Zeit auch von einigen Anstalten der Kantone St. Gallen, Aargau und Waadt befolgt wird. Hieraus entstand ein edler Wetteifer, der auch auf die Vorarbeiten zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch seinen Einfluss ausübte.

Die Bundesgesetzgebung hat die kantonale bis heute nicht wesentlich gefördert, indem keiner der beiden eidgenössischen Poenalcodices, weder das Militärstrafgesetzbuch von 1851 noch das Bundesgesetz über Bundesstrafrecht von 1853 als vorbildliche Leistungen betrachtet werden konnten; die Bundesverfassung äusserte dagegen einen Einfluss durch Aufstellung des Grundsatzes

der Rechtsgleichheit (Art. 4), des Verbotes der Körperstrafe (Art. 65), vorübergehend auch der Todesstrafe, welch letztere für politische Delikte ausgeschlossen bleibt, und durch das Verbot der Ausweisung und Verbannung von Schweizerbürgern (Art. 44 und 60). Auch die Vorarbeiten für ein schweizerisches Strafgesetzbuch haben die kantonale Gesetzgebung der letzten 20 Jahre wesentlich beeinflusst, eine Anzahl kantonaler Gesetzesrevisionen, Novellen und Nachtragsgesetze lassen deutliche Spuren hievon erkennen, während in andern Kantonen gerade die Tatsache der Reformarbeit des Bundes auf diesem Gebiete lähmend gewirkt hat. Man beachte, dass die offiziellen Vorarbeiten auf dem Gebiete der Strafrechtsvereinheitlichung bis in das Ende der 80er Jahre zurückgehen, und dass die Abstimmung über die Verfassungsrevision (Uebertragung der Gesetzgebungshoheit an den Bund) am 30. Juni 1898, also vor mehr als 20 Jahren stattfand. '

In heutiger Zeit wird niemand den Beruf des Staates zur Kodifikation des Strafrechtes bestreiten, die Strafrechtsreform stand nicht bloss bei uns, sondern in fast allen Kulturstaaten vor Ausbruch des Weltkrieges in erster Linie; über die politische Frage, wer in unserem Bundesstaate diese Aufgabe durchzuführen habe, ob Bund oder Kanton, ist heute nicht mehr zu streiten und es lässt sich nicht leugnen, dass ein grosszügiger, einheitlicher Kampf gegen das Verbrechen mit Rücksicht auf die Kleinheit der kantonalen Territorien durch die kantonale Gesetzgebung allein nicht durchführbar, ist. Dagegen lohnt es sich freilich auch heute noch, darüber zu sprechen, auf welchen Grundsätzen dieses Gesetzbuch aufgebaut werden solle. Der bekannte Schulgegensatz der Strafrechtstheoretiker braucht freilich dabei nicht in gleicher Weise zur Geltung zu kommen, wie bei der Diskussion einer wissenschaftlichen Streitfrage, denn ein Strafgesetz . ist kein Lehrbuch; es stellt keine wissenschaftlichen Wahrheiten auf, sondern schreibt den Richtern und andern Behörden ihre Tätigkeit in bestimmten Fällen (bei Vorliegen dieser oder jener Handlungen) vor. Dabei lässt sich oft diese Anordnung mit verschiedenen strafrechtlichen Anschauungen in Einklang bringen, während andererseits die gleiche strafrechtliche Grundanschauung die verschiedensten Massregeln im einzelnen praktischen Fall rechtfertigen kann, oder die


Gesetzesvorschrift sieht eine richterliche Freiheit vor, die es dem Richter ermöglicht, ohne mit dem Wortlaut des Gesetzes in Kollision zu geraten, andern Anschauungen zu folgen, als diejenigen waren, welche dem Gesetzgeber vorgeschwebt haben. So weiss z. B. jeder Strafrichter, dass er auch bei Anwendung eines auf dem Vergeltungsprinzip aufgebauten Strafparagraphen in der Strafzumessung die Grundsätze der Sicherung der Gesellschaft vor dem Uebeltäter berücksichtigen darf, soweit der Strafrahmen des Gesetzes ihm das gestattet; und umgekehrt wird bei der Anwendung eines Institutes wie z. B. der bedingten Verurteilung, wo scheinbar nur eine Zweckidee verfolgt wird, niemand den Richter verhindern können, aus Gründen anderer Art die ihm gesetzlich gewährte Möglichkeit nicht zu benützen. Mag der Praktiker daher auch oft geringschätzig über theoretische Grundregeln denken, da ihm die seinem Rechtsgefühl entsprechende Erledigung des Einzelfalles viel wichtiger dünkt, der Gesetzgeber darf jedenfalls nicht in diesen Fehler verfallen und es bleibt noch heute wahr, was der berühmte bayerische Kriminalist und Strafgesetzgeber Anselm von Feuerbach 1804 bei Anlass der Kritik des Kleinschrodischen Entwurfes zu einem peinlichen Gesetzbuch für die Kurpfalz-Bayerischen Staaten schrieb: "Das erste Erfordernis einer Kriminalgesetzgebung ist, dass sie ein Prinzip habe, dass ihr ein Hauptgedanke zum Grunde liege, den sie planmässig in dem ganzen Umfang aller einzelnen Bestimmungen verfolgt, Es soll dieser Gedanke nicht etwa in Worte zusammengefasst, wie der Grundsatz einer Wissenschaft, so als Grundgesetz aller besonderen Gesetze, den Eingang in die Gesetzgebung eröffnen; er soll und muss nur vorhanden gewesen sein in dem Geiste des Gesetzgebers, muss diesen bestimmt und geleitet haben, muss daher in der Gesetzgebung selbst durch seine Resultate, durch die Konsequenz und Einheit der Verordnungen, durch die Möglichkeit der Zurückführung aller einzelnen Bestimmungen auf ihn selbst, sein Dasein jedem Aufmerksamen offenbaren."30)

Dabei kann aber immer noch fraglich sein, ob dieser Hauptgedanke ein durchaus einheitlicher sein soll, ob alle andern Rücksichten ihm in jeder Hinsicht untergeordnet werden sollen, ob nicht mehrere Ideen, sei es gleichberechtigt oder doch in ein gewisses


Verhältnis zueinandergestellt nebeneinander bei der Schaffung des Rechtssatzes mitwirken dürfen. "Die"Gleichberechtigung zweier Ideen wird von der Theorie zwar dann bekämpft werden müssen, wenn sich innere Widersprüche daraus ergeben und die Idee des Rechts dadurch gefährdet erscheint; der zweite Weg wird' bei den Kompromissen in der Gesetzgebung oft, und nicht selten mit Erfolg, eingeschlagen. Je mehr der Gesetzgeber mit der Rechtsüberzeugung der breitesten Volkskreise rechnen muss, was zur Zeit Feuerbachs nicht im gleichen Masse der Fall war wie heute, desto schwieriger wird die ausschliessliche Betonung eines einzigen Grundgedankens oder eines einzigen Strafzweckes werden, weder können wir heute ein Strafgesetz schaffen, das die reine Vergeltungsidee im Kantischen Sinn zur Richtschnur nimmt, noch gestattet es die fortgeschrittene Humanität, die Abschreckung mit allen ihren Konsequenzen als massgebend zu betrachten, ebensowenig dürfte es aber richtig sein, etwa im Sinne der reinen Besserungs- oder Sicherungstheorie unter vollständiger Aufhebung der Strafmaxima und Verneinung des Sühneprinzipes gewisse Rechte des Individuums ganz hinter dem Interesse der Gemeinschaft zurücktreten zu lassen.

Was unser Kollege Eugen Huber in seiner meisterhaften Abhandlung "Ueber die Realien der Gesetzgebung" über die Bedeutung des vorhandenen Rechtszustandes oder der Ueberlieferung bei der Schaffung neuen Rechtes gesagt hat, 31) gilt für das Strafrecht so gut, wie für das Zivilrecht. "Keine Gesetzgebung lässt sich denken, die nicht bereits einen gegebenen Zustand der Ordnung vor sich hat" und ebenso wie die plötzliche und vollständige Aufhebung des Privateigentums oder der Schuldverpflichtungen einer Rechtsidee nicht Genüge leisten könnte, so wäre auch die vollständige Preisgabe der bisherigen Grundlage des staatlichen Strafrechtes ohne Vergewaltigung der Rechtsüberzeugung weiter Kreise nicht denkbar. Nun erhält aber das Strafrecht seit Jahrhunderten seine Vertiefung und Begründung in der, ethischen Idee der Schuld und der Sühne, der Vergeltung verschuldeten Uebels durch Uebernahme eines Uebels; die reine Zweckmässigkeit der Massregel, möge sie noch so anerkennenswerte Resultate, haben, lässt das Rechtsgefühl kalt und drückt die Strafrechtspflege auf


den Standpunkt einer Polizeieinrichtung herunter Freilich die Handhabung und Vertretung eitler göttlichen Gerechtigkeit wird der Staat ohne Selbstüberhebung nicht beanspruchen können und wenn die Strafjustiz von der Talion zum Prinzip der Proportionalität zwischen schuldhafter Tat und Strafe übergegangen ist, so tritt uns sofort die Frage entgegen, welcher Masstab dann als der gerechte anzusehen sei, warum wir einen Diebstahl mit zwei Monaten Gefängnis, einen andern, weil dabei ein Fenster eingedrückt wurde, mit zwei Jahren Zuchthaus als gesühnt ansehen? Fürwahr eine Frage, die heute niemand mehr mit der Aufstellung einer absoluten Strafskala zu beantworten den Mut oder die Ueberhebung hätte. Zwei Sätze dürfen jedoch als Niederschlag der ethischen Anschauungen ohne Bedenken übernommen werden: "Je schwerer die Schuld, desto schwerer die Strafe"; und. in Bezug auf das Höchstmass: "Die Strafe soll, kein Rechtsgut vernichten, das wertvoller wäre, als das durch die schuldhafte Tat vernichtete." Die Todesstrafe bei Eigentumsdelikten erscheint uns von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet als unannehmbar; ein Rückfall in die abschreckenden und inhumanen Strafen der früheren Zeit ist durch diesen Gedanken ausgeschlossen, andererseits tritt die gleiche Frage auf in Bezug auf die Verwahrung vielfach Rückfälliger ohne zeitliches Maximum (Art. 40 Entwurf) und die Streichung einer Höchstgrenze für die Geldbusse (Art. 45 Entwurf).

Grundsätzlich steht der schweizerische Strafgesetzentwurf auf diesem soeben geschilderten Standpunkte: "Der Richter misst die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu" (Art. 60), ja er hat sich bemüht, in einzelnen Partien dieses Prinzip folgerichtiger durchzuführen als die bisherige Gesetzgebung; wie z. B. bei den Körperverletzungen (Art. 108 bis 111) in Abweichung von der im heutigen Recht meist geltenden Kausalhaftung. 32)

Das hat auch Professor Stooss, der Verfasser des 1. Entwurfes in seinem Bericht an das Justizdepartement 1899 mit aller Deutlichkeit erklärt: "Der schweizerische Entwurf betrachtet die Strafe als Vergeltung , und bemisst die Strafe nach der Schuld des Täters. Es ist dies die Auffassung, die allein dem Rechtsbewusstsein des Volkes und dem Wesen und dem Begriff der Strafe nach ihrer geschichtlichen Entwicklung entspricht". 33). Und wenn auch


weder die Erläuterungen zum Vorentwurf 1908 noch die Botschaft des Bundesrates vom 23. Juli 1918 sich in dieser bestimmten Weise äussern, was auf Zweckmässigkeitserwägungen politischer Art zurückzuführen sein mag, so hat gewiss das Wesen der Strafen des Entwurfes seit 1899 keine grundsätzliche Aenderung erfahren. 34) Ja gerade mit dieser Auffassung ist die Verschiedenheit zwischen den Strafen und den sichernden Massnahmen begründet worden, und das System der mildernden Umstände und ihres Einflusses auf die Strafzumessung (Art. 61) kann gar nicht anders motiviert werden als mit der geringeren Schuld und dem geringeren Vergeltungsbedürfnis in den gesetzlich näher umschriebenen Fällen.

Andererseits sind, wie schon in vielen geltenden Rechten, die Strafen des schweizerischen Entwurfes keine reinen Vergeltungsstrafen mehr, sie sind schon ganz wesentlich von Nützlichkeitsideen beeinflusst, wie sich namentlich aus den ziemlich aufs einzelne eingehenden Vorschriften über die Vollstreckung der Freiheitsstrafen (Art. 34, 35, 37) ergibt. Man beachte namentlich den Arbeitszwang, der nicht mehr Selbstzweck ist; "der Sträfling soll mit Arbeiten beschäftigt werden, die seinen Fähigkeiten entsprechen und die ihn in den Stand setzen, in der Freiheit seinen Unterhalt zu erwerben"; ferner die Bestimmungen über den progressiven Strafvollzug mit der bedingten Entlassung, der Stellung unter Schutzaufsicht u. a. m. (Art. 36, 44). Und die Berechtigung, ja auch die Wünschbarkeit dieses Einflusses ist schlechthin zuzugeben.

Betrachtet der Gesetzgeber die Strafjustiz als weltliche Einrichtung, was sie auch ist, so ergibt sich hieraus die Berechtigung, mit dieser Institution unter Beachtung der angegebenen Grundsätze auch bestimmte Nützlichkeitszwecke zu verfolgen. Und es steht fernerhin fest, dass die Beachtung dieses Gesichtspunktes für den Fortschritt der Strafjustiz, namentlich auf dem Gebiete des Strafvollzuges sehr segensreich gewirkt hat. Die Grundsätze der Besserungstheorie haben zur Reformierung der Strafanstalten geführt; die Erziehung zur Arbeit durch Arbeit, die moralische und intellektuelle Hebung der Sträflinge, die Bestrebungen zur Rehabilitierung der Entlassenen, die Erleichterung ihrer Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft, (bedingte Entlassung, Schutzaufsicht,


Stellenvermittlung) sind ebensoviele dem Zweckgedanken entsprungene Postulate. Die schönsten Gedanken edelster Humanität dürfen heute auch auf diesem Gebiete sich äussern und verdienen Beachtung, so lange sie nicht als schwächliche Konzession und Entschuldigung des Lasters erscheinen. Die Gerechtigkeit als leitendes Prinzip der Strafrechtspflege und die Auffassung der Strafe als Sühne des begangenen Uebels leiden doch nicht darunter, dass die Strafmassregel auch den Zweck verfolgt, in der Zukunft erwünschte und dem Staate nützliche Resultate hervorzubringen. Nur darf das Streben nach diesen nicht allein ausschlaggebendes Moment sein, ebensowenig wie es heute undenkbar wäre, eine starre Vergeltungstheorie als einzige Richtschnur zu nehmen. Ueber das Mass des Einflusses, das man diesen Zwecken einräumen will, lässt sich streiten; das Prinzip einer Vereinigungsmöglichkeit mit dem Wesen der Strafe wird dadurch nicht verneint.

Nun zeichnet sich der schweizerische Entwurf vor den geltenden Gesetzen dadurch aus, dass er die Verbrechensbekämpfung nicht einzig durch das Mittel der Bestrafung verfolgt, sondern den Gerichten noch anstatt oder neben der Strafe sichernde Massnahmen an die Hand gibt.

In einem weiteren Sinne gehört dazu auch die Unterbringung eines Unzurechnungsfähigen oder vermindert Zurechnungsfähigen in einer Heil- oder Pflegeanstalt, sei es zur Sicherung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (Art. 13) oder in seinem Interesse zur Behandlung oder Versorgung (Art. 14); Massnahmen, zu denen eine Strafuntersuchung nur den äussern Anlass gegeben hat und die aus Gründen der Zweckmässigkeit in diesen Fällen durch den Strafrichter anzuordnen sind, während sie sonst in die Kompetenz der administrativen Organe, namentlich der Vormundschafts- und Armenpflege, fallen. Die sichernden Massnahmen des Entwurfes im eigentlichen und engem Sinn sind richterliche Massnahmen, die vom Strafrichter als staatliche Reaktion an die Begehung einer schuldhaften, rechtswidrigen und strafbaren Handlung geknüpft werden. Solcher kennt der Entwurf drei: die Verwahrung vielfach Rückfälliger (Art. 40); die Einweisung liederlicher und arbeitsscheuer Täter in eine Arbeitserziehungsanstalt (Art. 41) und die Einweisung von Gewohnheitstrinkern in eine Trinkerheilanstalt (Art. 42).


Diese Massnahmen lassen bedeutend stärker als die Freiheitsstrafen einen Zweckcharakter erkennen:

a) Bei der Verwahrung vielfach Rückfälliger ist es die Sicherung der Gesellschaft vor diesen von der modernen soziologischen Schule als "unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher" bezeichneten Individuen Die Verwahrung datiert mindestens 5 Jahre, ein Maximum ist nicht vorgesehen. Sie tritt an die Stelle von Zuchthaus und Gefängnis. Theoretisch dient sie hauptsächlich dem Sicherungszweck, tatsächlich wird die zwangsweise Einschliessung ebensosehr als Strafe empfunden; nicht zu billigen sind dagegen der Wegfall eines Maximums und der Ausschluss der Begnadigung (Art. 418).

b) Bei der Einweisung in die Arbeitserziehungsanstalt tritt die Erziehung Liederlicher und Arbeitsscheuer durch Arbeit zur Arbeit in den Vordergrund. Die Dauer der Einweisung soll daher nicht von der Schwere des Deliktes abhängig gemacht werden. Nur Arbeitsfähige sollen hier in Betracht fallen. Die Einweisung dauert im Minimum 1 Jahr, das in früheren Entwürfen vorgesehene Maximum von 3 Jahren ist leider aus dem letzten Entwurf verschwunden. Die Massregel tritt an die Stelle der Gefängnisstrafe.

c) Die Einweisung in die Trinkerheilanstalt bezweckt die Heilung der Gewohnheitstrinker, die wegen eines Vergehens mit Gefängnis verurteilt worden sind, wenn ihr Vergehen mit der Trunksucht im Zusammenhang steht. Die sichernde Massnahme wird hier, mit Recht, nicht an Stelle der Strafe, sondern nach Vollzug der Strafe angeordnet. 35) Die Dauer der Einweisung ist von der Heilung abhängig, darf jedoch zwei Jahre nicht überschreiten. Die sichernde Massnahme ist hier zur Strafe in das grundsätzlich richtige Verhältnis gebracht, dass sie neben die Strafe tritt und ihre besondern Zwecke ungehindert und ohne Rückwirkung auf die Strafe verfolgt. Die beiden erstgenannten Massnahmen dagegen, Einweisung in die Verwahrungs- und die Arbeitserziehungsanstalt werden fakultativ vom Richter an Stelle der Freiheitsstrafe angeordnet, letztere fällt vollständig weg, und es muss angenommen werden, dass nach der Ansicht des Gesetzgebers diese Massregeln die Straffunktion mit enthalten, 38) da doch


vielfache Rückfälligkeit einerseits, Liederlichkeit und Arbeitsscheu andererseits nirgends als Strafaufhebungsgründe betrachtet werden. Es kann auch ohne weiteres angenommen werden, dass der erzwungene Freiheitsentzug, der mit beiden Massnahmen verbunden ist, eine strafähnliche Wirkung ausübt, betrüblich bleibt nur, dass,. der Strafcharakter vollständig unberücksicht bleibt bei der Frage, wie lange die Massnahme dauern solle, und dass nicht mit Unrecht gesagt werden kann, dass die sichernde Massnahme zwar der Wirkung nach, nicht aber in ihrem Wesen eine Strafe darstelle. Es haben sich daher namentlich in Deutschland. die Vertreter der klassischen Strafrechtsschule sehr bestimmt gegen das sogen. "Vikariieren" zwischen Strafe und sichernder Massnahme ausgesprochen. 37) Es dürfte sich empfehlen, den Charakter dieser sichernden Massnahmen noch genauer zu bestimmen, und wenn man ihnen die Straffunktion mit übertragen will, die Folgerungen in Bezug auf unsere oben aufgestellten Grundsätze über Berücksichtigung der Schuld und Maximalgrenze der Strafe zu ziehen. Ihre systematische Stellung ist dann zu suchen mitten zwischen den Strafen und den sogenannten reinen sichernden Massnahmen (Einweisungen in Heil-, Pflege- und Trinkerheilanstalten), ein Kompromisscharakter kommt ihnen zwar zu, jedenfalls aber nicht in viel höherem Masse als den Strafen, die auch seit langem nicht mehr reinen Vergeltungscharakter haben. Eine Notwendigkeit, besondere Bestimmungen über Aufhebungsgründe, Tod, Verjährung, Begnadigung, bedingten Erlass und Rehabilitation in Fällen dieser sichernden Massnahmen würde damit wegfallen und die Einheit des richterlichen Vorgehens wäre besser gewahrt als nach dem jetzigen Entwurf. 38)

Einen sehr weitgehenden Gebrauch macht der Entwurf von der Busse, indem er sie, abgesehen von den Fällen, in denen sie ausdrücklich angedroht ist, überall als Nebenstrafe zulässig erklärt, wo einem Vergehen Gewinnsucht zu Grunde liegt (Art. 47). Der Vergeltungscharakter ist unverkennbar. "Der Richter bestimmt den Betrag der Busse je nach den Verhältnissen des Täters so, dass er durch die Einbusse die Strafe erleidet, die seinem Verschulden angemessen ist"(Art. 45). Neu ist hierbei die Betonung der Berücksichtigung der Verhältnisse (gemeint sind in erster


Linie die Vermögensverhältnisse) des Täters und die an sich logische Unterdrückung des Maximums, das bei den Privatvermögen ja auch nicht besteht. Immerhin dürften grosse praktische Bedenken der letztem Neuerung gegenüber auftreten, namentlich wenn diese richterliche Allgewalt auch bei der Busse als Nebenstrafe und als Uebertretungsstrafe eingeführt werden soll. Durchaus zu loben sind der Wegfall der Busse im Falle des Todes des Verurteilten und die Ersetzung der Umwandlung nicht erhältlicher Bussen in Freiheitsstrafen durch die Aufstellung eines Uebertretungstatbestandes: "Nichtzahlen der Busse aus Böswilligkeit, Arbeitsscheu, Liederlichkeit oder Nachlässigkeit" (Art. 346).

Reichhaltig ist die Ausstattung Entwurfes an Nebenstrafen, indem neben den dem bisherigen Rechte bereits bekannten, der Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit (Art. 48), der Amtsentsetzung (Art. 49), der Landesverweisung (Art. 52) und dem Wirtshausverbot (Art. 53) auch die. Entziehung der elterlichen Gewalt und der Vormundschaft (Art. 50) und das Verbot, einen Beruf, ein Gewerbe oder ein Handelsgeschäft zu betreiben (Art. 51) bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen vorgesehen sind; endlich sind noch andere Massnahmen wesentlich präventiver Natur zu erwähnen, die Friedensbürgschaft (Art. 54), die Einziehung gefährlicher Gegenstände (Art. 55), der Verfall von Geschenken und andern Zuwendungen (Art. 56) und die öffentliche Bekanntmachung verurteilender oder freisprechender Erkenntnisse (Art. 58).

Dass auch der Grundsatz des bedingten Strafaufschubes bei kürzern Freiheitsstrafen in das neue Recht Aufnahme fand, konnte nach den Erfahrungen, welche die Mehrzahl der Kantone damit gemacht haben, nicht zweifelhaft sein, weniger befriedigt das gewählte System der "bedingten Verurteilung"nach dem französichen Vorbilde der Loi Bérenger, das in logisch und rechtlich nicht zu rechtfertigender Weise für den Fall der Bewährung während der Probezeit die Verurteilung als nicht geschehen betrachtet, damit eine Rechtsungleichheit schafft für die Behandlung späterer Rückfälle zwischen den erstmalig bedingt Verurteilten und den Vorbestraften und den Grundsatz, dass auf eine schuldhafte Tat eine Strafe folge, dabei ganz verloren gehen lässt. Dagegen begrüsse ich gerne die weitherzige Ordnung, welche, die Rehabilitation


(Art. 73 ff.) erfahren hat; es ist ein schöner Gedanke, der an die Besserungsfähigkeit des einzelnen Menschen anknüpft, wenn die Folgen der Bestrafung nach längerer Zeitdauer und als Belohnung für Wohlverhalten und sittliche Erneuerung dahinfallen sollen und die Löschung des Eintrages im Strafregister vorgenommen wird. 39)

Diese allgemeine Uebersicht wäre nicht vollständig, wenn dabei nicht wenigstens angedeutet würde, dass im Jugendlichenstrafrecht das neue Recht auch neue Wege einschlägt; der Gedanke, dass die Vergeltung hier vor der Erziehung zurückzutreten habe, lässt sich damit begründen, dass einerseits die Schuld bei den jugendlichen Tätern bedeutend geringer ist als bei Erwachsenen, dass der Staat ferner gegenüber Jugendlichen noch andere Pflichten übernommen hat als die, vergeltende Gerechtigkeit auszuüben, nämlich die Pflicht der Erziehung und Bildung und dass er künftiges Unheil in grösserem Masstabe verhüten kann, wenn er rechtzeitig in Erkennung der Symptome der Verwahrlosung die geeigneten Mittel zur Anwendung bringt. Auch ist die Erziehbarkeit und Besserungsfähigkeit des Menschen in jugendlichem Alter anders einzuschätzen als bei Erwachsenen.

Sie werden mir nach diesem kurzen Ueberblick zugeben, dass das Unternehmen einer Strafrechtskodifikation eine Reihe von interessanten Problemen zeitigt, deren Lösung die weitere Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens in unserem Staate ganz wesentlich im einen oder im andern Sinne beeinflussen wird. Schätzen wir uns glücklich, dass es uns gestattet ist, in diesen Zeiten dieser Friedensarbeit nachzugehen: einer Arbeit, die durch den Schutz der rechtmässigen Lebensinteressen den inneren Frieden des Landes stärkt, wenn uns gleich die Idee der alten Friedensordnung nicht mehr so gegenwärtig ist, wie unsern Vorfahren; einer Arbeit, die auch durch Entfernung und Unterdrückung gewisser Reibungsflächen den äusseren Frieden und die Neutralität des Landes sichert. Die Arbeit ist dringlich geworden, möge sie in Ruhe und Ueberlegung, in Verfolgung hoher Ideale, ohne Verletzung der heiligsten Ueberzeugungen weiter Volkskreise und in vorbildlicher Weise durchgeführt werden. Auch auf diesem Gebiet hat die Schweiz die hohe Pflicht, den Beweis dafür zu


erbringen, dass sie ein starkes Nationalitätsgefühl besitzt, dass die Verschiedenheit der sie bewohnenden Rassen die Lösung der Gesetzgebungsfrage nicht hindert, sondern im Gegenteil dem Interesse der Menschheit dienstbar macht. In letzter Linie sind die Probleme ja nicht nationaler Art, sondern solche der gesamten Kulturwelt. Glücklich aber wäre unser gegenwärtiges Geschlecht zu preisen, wenn spätere Generationen ihm das Lob spenden sollten, zur richtigen Zeit seine Aufgabe erkannt und erfüllt zu haben.


Anmerkungen.

reden.arpa-docs.ch
Rektorats Reden © Prof. Schwinges
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