Ansprache
anlässlich der Eröffnung des Studienjahres 1923/24
an der Eidgenössischen Technischen Hochschule
von Prof. A. Rohn, Rektor.
Hochgeehrter Herr Schulratspräsident,
Meine Herren Kollegen,
Liebe Studierende,
Zum zweiten Male begeht unsere Hochschule den Eröffnungsakt
des Studienjahres im "Auditorium maximum" des erweiterten
Hauptbaues.
Wenn auch mein Amtsvorgänger, Herr Altrektor Prof. Dr.
Wyssling vor Jahresfrist an dieser Stelle und Herr Schulratspräsident
Prof. Dr. Gnehm vor kurzem anlässlich der Generalversammlung
der Gesellschaft ehemaliger Studierender der Eidgenössischen
Technischen Hochschule die bedeutenden Aenderungen, die
die Hochschulbauten im letzten Jahrzehnt erfahren haben, bereits
gewürdigt haben 1), so glaube ich dennoch heute, da wir vor dem
baldigen Abschluss dieser grosszügigen räumlichen Entwicklungsperiode
unserer Hochschule stehen, und nachdem vor kurzem ein
letzter bedeutender Nachtragskredit zur Vollendung unserer Bauten
bewilligt worden ist, vor allem dem Schweizer Volke den tiefgefühlten
Dank aussprechen zu müssen im Namen der Studierenden
und Dozenten, denen diese neuen Räume zur Benutzung übergeben
werden. Dieser Dank gebührt dem Bundesrat, dem Parlament, dem
schweizerischen Schulrat, dem bauleitenden Architekten, kurz all
denen, die ihr Bestes zur Durchführung des Werkes beigetragen
haben.
Wir besitzen heute eine Hochschule, um die wir mit Recht
beneidet werden; ihr Umbau war glücklicher Weise beschlossene
Sache, als die Kriegswirren und deren Folgen unsere Volkswirtschaft
zu lähmen drohten.
Was jedoch beschlossen war, hätte wie manches andere
vorläufig unbeendet abgeschlossen werden können. Das Schweizer
Volk hat, weit vorausblickend, im Bestreben, der Zukunft Rechnung
zu tragen, unbeirrt durch die momentane Lage und ihre Folgen für
die intellektuellen Berufe und trotz des Hauptgebotes der heutigen
Zeit "Sparen" das einmal begonnene, stolze Werk durchführen
wollen; es ist eine Dankespflicht, zu Beginn des Studienjahres
dieser Leistung des Bundes zu gedenken; dies nicht zuletzt, um
den Rahmen zu kennzeichnen, in dem alle Bestrebungen der
Benützer dieser Bauten sich entfalten und einordnen werden. Möge
zunächst die Tendenz, die bei den Neubauten überall vorherrschte:
mehr Raum, mehr Licht, symbolisch sein für den frischen, gesunden
Geist, mit dem die Studien in der neuen Hochschule betrieben
werden sollen, und in dem sich Lehrer und Studierende ihrer Aufgabe
hingeben wollen.
Wir verkennen ja nicht, dass die Schwierigkeiten heute
grösser sind als früher, um diesen frischen, gesunden Geist, um die
Freude an der Arbeit bei der studentischen Jugend aufrechtzuhalten.
Viele unserer Studierenden haben grosse Opfer aufzubringen, um
die Hochschule besuchen zu können; andere lassen sich entmutigen
durch die schlechten Aussichten des Fortkommens in den intellektuellen
Berufen. Um so mehr wollen wir uns darüber freuen, dass
der Rahmen, der uns umgibt und die Einrichtungen, die unsere
Arbeit erleichtern, in jeder Beziehung so freundlich gestaltet sind
—so anspornend zur Entfaltung jugendlicher kräfte, zur Gewinnung
der Grundlagen des praktischen Lebens, die später für lange Zeit
Reserven bilden werden.
Gewiss werden wir in unserem Hauptbau in den nächsten
Jahren mehr Platz zur Verfügung haben als bei der Ausarbeitung
des Bauprogrammes angenommen werden musste. Für die Bauingenieurabteilung
z. B. wurde diesem, im Jahre 1909 aufgestellten
Bauprogramme eine Frequenz von 400 bis 450 Studierenden zu
Grunde gelegt. Nachdem diese Zahl mit 574 Studierenden bereits
im Jahre 1919 überschritten war, wird sie indessen dieses Jahr auf
etwa 220 sinken. Aehnliche Verhältnisse liegen an anderen Abteilungen
vor, während die elektrotechnische Richtung und die Abteilungen
für Bodenkultur ihre Anziehungskraft noch beibehalten haben.
Gewohnheitsgemäss lasse ich zunächst einige Angaben folgen
über die Aufnahme von Studierenden in das erste Semester des
Studienjahres 1923/24; vergleichsweise füge ich die entsprechenden
Zahlen des letzten Jahres hinzu.
Die Abnahme der Frequenz, die 1921 eingesetzt hat, ist die
natürliche Folge der Ereignisse der letzten Jahre. Während an der
2. Abteilung z. B. vor dem Kriege die Zahl der Stellenangebote für
junge Ingenieure, zur Mehrzahl aus dem Auslande, die der Absolventen
übertraf, sind gegen Schluss des Krieges und besonders
nachher zahlreiche "Ehemalige", die in angesehener Stellung in den
kriegführenden Staaten, besonders in Deutschland, Oesterreich und
Russland tätig waren, zurückgekehrt; es war unsere Pflicht, sie im
Lande unterzubringen. Hierdurch, sowie durch die allgemeine wirtschaftliche
Depression, die besonders die intellektuelle Tätigkeit
trifft; ferner, weil unsere Hochschule in den Aufnahmen und in
Frequenz an der E. T. H.
während der Wintersemester 1923/24 und 1922/23. 1923/24 1922/23
Zahl der angemeldeten Studierenden . . . 395 428
Zahl der Aufnahmen auf Grund von Maturitätszeugnissen 259 265
Zahl der angemeldeten Studierenden, die sich
-
einer Aufnahme-Prüfung unterziehen
mussten 136 163
hiervon hatten Erfolg 85 97
Gesamtzahl der neuaufgenommenen Studierenden 1) 344 362
wovon Ausländer 47 48
Die neuaufgenommenen Studierenden verteilen
sich auf die einzelnen Abteilungen
wie folgt:
1. Architektenschule 16 21
2. Ingenieurschule 42 58
3. Maschineningenieurschule 136 143
4. Chemische Schule 41 35
5. Pharmazeutische Schule 14 15
6. Forstschule 16 13
7a. Landwirtschaftliche Schule 39 55
7b. Abteilung für Kulturingenieure . . . . 10 10
8. Abteilung für Fachlehrer in Mathematik
und Physik 7 6
9. Abteilung für in Naturwissenschaften . . 12 6
10. Militärwissenschaftliche Abteilung . . . 11 —
der ganzen Studienorganisation in keiner Weise andere Grundsätze
als vor dem Krieg verfolgt, d. h. eine nachgewiesene allgemeine
und fachliche Vorbildung wie früher als unerlässlich für die Zulassung
erachtet; schliesslich auch infolge der für Ausländer zu teuren
Lebenskosten in unserem Lande ist die Frequenzabnahme unserer
Hochschule zur Genüge erklärt.
So gerne wir bereit sind, die früheren Wechselbeziehungen
mit dem Auslande weiter zu pflegen, Ausländer bei uns gastlich
aufzunehmen und unsere Absolventen nach allen Weltteilen zu
entsenden, so klar steht uns aber heute auch vor Augen, dass
diese Frequenzabnahme notwendig war; denn wir können nicht mit
gutem Gewissen dazu beitragen, eine akademische Jugend heranzubilden,
die nach Vollendung ihrer Studien keine zielbewusste
Tätigkeit entfalten kann. An unserer 2. Abteilung liegen nunmehr,
nachdem die Zahl der Studierenden des ersten Semesters von 130
im Jahre 1919 in diesem Jahre auf 42 zurückgegangen ist, die Verhältnisse
so, dass mit Sicherheit für Beschäftigung der Absolventen
gesorgt werden kann. Hoffen wir, dass nach Stabilisierung der
politischen Verhältnisse in Europa auch im Studium und in der
technischen Praxis wieder eine freiere Betätigung ermöglicht werde
ohne zu starre Einengung durch Landesgrenzen.
Für Sie, meine lieben Studierenden, bedauern wir gewiss
nicht, dass jedem von Ihnen mehr Raum bei uns eingeräumt werden
kann, und dass jedem eine grössere Anteilnahme unserer Lehrkräfte
gesichert ist. Denn die Eigenart des technischen Studiums verlangt
ja einen möglichst regen Kontakt zwischen Ihnen und Ihren Lehrern.
Bevor ich zur Frage der Organisation des akademischen
Unterrichtes, die ich kurz zu behandeln beabsichtige, übergehe,
möchte ich zunächst an dieser Stelle noch ein Wort dafür
einlegen, dass die Ausländerzuschläge auf die Studiengebühren,
wie sie vor einigen Jahren, dem Beispiel des Auslandes folgend,
auch bei uns eingeführt wurden, baldmöglichst wieder beseitigt
werden. Wir können uns des Eindruckes nicht erwehren, dass solche
Ausnahmen den demokratischen Grundlagen unseres Staates und
den im besten Sinne des Wortes internationalen Zielen der Technik
widersprechen. Unser kleines Land im Herzen Westeuropas ist sich
gewöhnt, ein Bindeglied zu bilden. Von jeher empfingen wir in
unserem Hause Vertreter aller Staaten, die in friedlicher wissenschaftlicher
Arbeit feste Bande knüpften. An unserer Hochschule
sind wertvolle Beziehungen aufgenommen worden zwischen Schweizern
und Ausländern, die hier unsere Einrichtungen, unsere Industrie
kennen lernten, Beziehungen, die später für alle Beteiligten nur
von Vorteil waren.
Die eigenartige geographische Lage der Schweiz und ihre
demokratischen Traditionen verleihen ihr nicht nur Rechte, sondern
auch Pflichten. Dazu rechnen wir vor allem die Gewährung des
akademischen Aufenthaltrechtes zu den gleichen Bedingungen
wie für Inländer — dies besonders zu einer Zeit, wo in manchem
Staat der intellektuelle Mittelstand unterzugehen droht und sich
nur mit ungeahnten Opfern erhalten und einen Nachwuchs sichern
kann. Gewiss bringt das Studium eines jeden unserer Studierenden
dem Bunde namhafte finanzielle Opfer, die das Schweizervolk
jedoch wie manch anderes Werk, das aus den eigenartigen Verhältnissen
des Landes entsprungen ist, zu übernehmen gewillt sein
wird. Wir hoffen somit zuversichtlich und wissen uns hierin gleicher
Ansicht mit dem gesamten Lehrkörper, dass es den Oberbehörden
unserer Hochschule gelingen möge, baldigst die früheren Traditionen,
die keinen Unterschied bezüglich der finanziellen Leistungen
unserer Hörer kannten, wieder herbeizuführen.
Meine Herren Studierenden, besonders Sie, die Sie zum
ersten Male unser Haus betreten: Nicht die Absicht, als Lehrer
dem Schüler gegenüber zu treten, sondern lediglich die Liebe zur
reiferen Jugend und zugleich zum Lehr- und technischen Beruf
veranlasst mich, Ihnen heute einige Wegleitungen für Ihre Studienzeit
zu geben.
Die meisten Dozenten unserer Hochschule sind erst in
späteren Jahren, nachdem sie im praktischen Leben beruflich
tätig gewesen sind, zum Lehrfach übergetreten. Sie kennen von
der Pädagogik hauptsächlich, was sie die eigene Studienzeit, das
Leben und sodann das aufrichtige Bestreben nach Verständnis der
Jugend, der sie helfend zur Seite stehen möchten, gelehrt hat. Auf
dieser Grundlage möchte ich zu Ihnen sprechen; noch mehr vom
Standpunkte des schaffenden Ingenieurs aus als von dem des
akademischen Lehrers. Ich bin mir dabei wohl bewusst, das niemals
Erfahrungen anderer für Sie lebendige Gestalt annehmen werden;
das würde Sie ja des Reizes und des hohen Wertes der Selbsterkenntnis
berauben. Mögen indessen diese wenigen Wegleitungen
Anregungen geben, Lind den Lebensweg, den Sie an unserer Hochschule
vorbereiten, ein wenig ebnen helfen.
Meine Herren! Sie wissen, dass die sogenannten gelehrten
Berufe heute durchschnittlich selten den materiellen Erfolg mit
sich bringen, der die Tätigkeit auf anderen Gebieten begleitet. Ich
setze also voraus, dass Sie zu uns kommen im klaren Bewusstsein,
dass Sie aus uneigennützigem Interesse, aus Liebe zum gewählten
Berufe, also mit gewissen Idealen gewappnet, höhere Studien
betreiben wollen. Sie wollen einige Jahre dem Kultus der Erkenntnis
der Wahrheit widmen, die ja gemeinschaftliche Grundlage aller
Wissenschaften ist. Allein diesem Kultus zu lieb, frei von jeder
materiellen Rücksichtnahme auf spätere Ziele lohnt es sich, zu
studieren, sobald dieses Studium durch die Fürsorge der Eltern
oder aus eigener Kraft ermöglicht werden kann.
Sie studieren, weil Sie sich später auf frei gewählter Bahn
betätigen, weil Sie unabhängiger denken und handeln wollen, weil
Sie hoffen, auf diesem Weg etwas mehr zu leisten als der Durchschnitt,
dem es nicht vergönnt ist, an Werken von besonderem
innerem Gehalt schöpferisch mit ZU arbeiten.
Der ideale Lohn der Ingenieur-Arbeit ist, wie mein Amtsvorgänger
letztes Jahr so trefflich sagte 1), die schöpferische Tätigkeit
—auch wenn sie, möchte ich hinzufügen, zu Beginn des praktischen
Lebens sich zunächst nur im bescheidenen Rahmen entfalten
lässt.
Bei Ihrem Studium werden Sie davon überzeugt sein, dass
es für Sie eine wesentliche Erleichterung bedeutet, Ihre Kenntnisse
in zusammenhängender, einheitlicher und systematischer Weise an
der Hochschule erwerben zu können. Es gibt aber auch andere
Wege, steinigere Pfade durch Selbststudium, vielfach nach harter
Tagesarbeit, die das Ziel erreichen lassen; Wege, die jedoch infolge
der nötigen Zähigkeit und Selbstzucht unter Umständen mehr zur
Festigung des Charakters beitragen, als das bequemere Hochschulstudium.
Uebrigens kämpfen heute besonders in den Staaten, die
der Krieg hart mitgenommen hat, auch viele Hochschulstudenten
mit den gleichen Schwierigkeiten, da sie neben dem Studium für
Selbsterhaltung sorgen müssen. Das praktische Leben würdigt
nicht den Hochschulabsolventen als solchen, sondern lediglich den
Träger der erworbenen Kenntnisse; die Praxis würdigt aber noch
mehr, wenn es auch hierzu oft längere Zeit braucht, die Männer,
die aus eigener Kraft die gleichen Kenntnisse erworben haben.
Die heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse bringen es mit
sich, dass das Fortkommen in der Praxis schwieriger geworden ist.
Viele jungen Leute, die unter früheren Verhältnissen sich höheren
Studien gewidmet hätten, liessen sich zurückschrecken. Durch die
Frequenzabnahme ist bereits eine grössere Auswahl eingetreten.
Ich hoffe, dass Sie alle, liebe Studierende des ersten Semesters,
zielbewusst unter uns sitzen, in der Absicht, jeder mit seinen Fähigkeiten
sein Bestes zu leisten; denn die heutige Zeit ist nicht dazu
angetan, ohne eigene, feste Absichten, beispielweise blos der Familientradition
zu lieb, die Hochschule zu beziehen. Die heutige Zeit
stellt hohe Anforderungen an die Gesinnung des Einzelnen, ganz
besonders derer, die vermöge der Pflege des höchsten ethischen
Gutes, der wissenschaftlichen Wahrheit, später führend und in bescheidener
Art belehrend und versöhnend im Leben wirken wollen.
Die Organisation des technischen Studiums erscheint oft dem
Fernerstehenden etwas straff. Sie mag in der Tat von jenen der
Studierenden, die in kürzester Zeit, nach Massgabe unserer Normalstudienpläne
das Diplom erlangen wollen, eine gewisse strenge
Selbstdisziplin erfordern, die zum Teil höhere Anforderungen an die
Willenskraft stellt, als es für die Universitätsstudien — hier aber
auch nur zum Teil — der Fall ist.
Zweifellos ist der technische Beruf und somit auch seine
Vorbereitung ein eigenartiger. Durch seine notwendige Vertiefung
und Verkettung, durch die Verantwortungen, die er bedingt, fordert
er stets die gesamten Kräfte seiner Vertreter. Nicht ohne naheliegende
Begründung ergibt es sich z. B., dass so wenige Ingenieure
sich der Politik widmen, weil die Zersplitterung ihrer Tätigkeit, die
sie zur Folge hätte —Zersplitterung ist überhaupt ein Uebel unserer
Zeit — selten mit der Berufausübung zu vereinbaren ist.
Mehr als für andere Gebiete erfordert das technische Studium
einen systematischen Aufbau, ein richtiges Ineinandergreifen und
Aneinanderreihen der Disziplinen. Aus diesem Grunde arbeiten die
meisten unserer Studierenden nach Massgabe der schon erwähnten
Normalstudienpläne, die entsprechend der logischen Reihenfolge
der zu behandelnden Gebiete aufgestellt worden sind. Z. B. ist in
der Abteilung, die mir am nächsten steht, der Bauingenieurschule,
die Vorbereitung in den mathematischen und physikalischen Grundlagen,
in der Materialkunde, der Geologie unerlässlich, bevor die
Vorlesungen und Uebungen über Ingenieurwissenschaften besucht
werden können; aber auch unter diesen ist ein gewisses System
einzuhalten; z. B. müssen die Baustatik Lind der Grundbau vor dem
Brückenbau, das Vermessungswesen vor dem Eisenbahn- und Strassenbau,
die Hydraulik vor dem Kraftwerkbau behandelt werden.
Der "Normalstudienplan" verfolgt nur den Zweck, diese
systematische Reihenfolge anzudeuten, ohne irgendwie für die Dauer
der Studien massgebend sein zu wollen. Diese hängt von vielen
Faktoren ab: Gesundheitsverhältnisse, Militärdienst, praktische Tätigkeit,
gleichzeitiges Interesse für andere, vielleicht nicht technische
Wissensgebiete ausserhalb der eigentlichen Fachrichtung, Wunsch
nach besonderer Vertiefung in einzelnen Gebieten usw. Die Einhaltung
des Normal-Studienplanes ist vor allem eine wirtschaftliche
Frage. Unser Studium ist — ich wiederhole es — nur straff vorgeschrieben
für jene, die in kürzester Frist das Diplom erwerben
wollen. Es liegt den Behörden und dem Lehrkörper fern, diesbezüglich
irgendwelche Vorschriften machen zu wollen. Der Normalstudienplan
ist lediglich eine Wegleitung, die dem beinahe selbsttätigen,
natürlichen, allmählichen Aufbau des Lehrstoffes angepasst
ist. Die Studierenden, die ihre Studien nach Massgabe des Normalstudienplanes
vornehmen wollen, müssen natürlich die angegebene
systematische Reihenfolge der Lehrgebiete beachten und sich dementsprechend
vorbereiten, sodass sie sich mit Nutzen an den weiter
anschliessenden Uebungen beteiligen können. Ist diese Vorbereitung
ungenügend, so verliert der Studierende nur zu leicht den
Kontakt mit dem Lehrstoff; er wird entmutigt, verliert die Freude
am Studium und somit auch viel Zeit. Es empfiehlt sich auch,
wenn der Normalstudienplan dem Studium zu Grunde gelegt wird,
die Vordiplomprüfungen zu den frühesten Terminen abzulegen, da
andernfalls die Vorbereitung auf diese Prüfungen die Betätigung im
Uebungssaal beeinträchtigt.
In früherer Zeit (vor 1908) war unsere Studienordnung eine
festere. Aus jener Zeit stammt der Weltruf der E. T. H. Weit über
unsere Grenzen waren unsere Absolventen gesucht und beliebt wegen
ihres Wissens, ihres Könnens und ihrer Arbeitsfreude.
Heute leben wir im Zeichen der "Studienfreiheit": das goldene
Ziel der studierenden Jugend, die den Drang nach ungehemmter
Betätigung empfindet; die schönste Studienordnung für den zielbewussten
jungen Mann, der dem alten demokratischen Diktat: kein
Recht ohne Pflicht, nachlebt — eine Studienordnung, die jedoch
an den jungen Mann, der gleichzeitig den trauten Kreis der Familie
und den strengeren Zwang der Mittelschule verlässt, hohe ethische
Anforderungen stellt. Jeder unter Ihnen möge sich seine Studienfreiheit
so einrichten, wie sie seinen Aspirationen und seinen Charakter-Eigenschaften
entspricht. Wir sind gewillt, jedem auf dem gewählten
Wege zu helfen. Bedenken Sie hierbei aber rechtzeitig, dass es
nicht jedem glückt, das Diplom zu erwerben, und sorgen Sie frühzeitig
dafür, dass Sie dennoch wenigstens einen qualifizierten
Abgangs-Ausweis erhalten, der über Ihre Leistungen während der
Studienzeit Auskunft gibt und die ersten Schritte im praktischen
Leben erleichtert.
Gewiss ist es Ihr erster Wunsch, Kenntnisse zu erwerben,
der Wissenschaft zulieb, sowie es unser erstes Bestreben ist, solche
Kenntnisse zu vermitteln, ohne weitere Rücksicht auf die Art ihrer
späteren Verwertung. Damit wollen wir aber nicht die Bedeutung
des abgeschlossenen Hochschulstudiums herabsetzen; wir wollen
den Wert des qualifizierten Abgangsausweises oder des Diplomes
in das richtige Licht setzen. Ob zu Recht oder Unrecht — das
habe ich hier nicht zu entscheiden — wird in unsern Ländern bei
der Heranziehung junger Kräfte nach Massgabe der von zuständigen
Behörden ausgestellten Ausweisen geurteilt; in der Meinung, dass ein
Studierender, der sich den Prüfungen unterzogen hat, damit im allgemeinen
den besten Nachweis für den Besitz genügender Kenntnisse liefert.
In Amerika z. B., wo die Lebensbedingungen dank der grossen
Naturreichtümer und der Grösse des Landes im Verhältnis zur
Gesamtbevölkerung wesentlich von den unsrigen abweichen, wird
allerdings nur auf die Tüchtigkeit und Brauchbarkeit des Mannes
abgestellt, auf das Ergebnis einer Probezeit, die in praktischer
Beziehung grössere Anforderungen an den Menschen als die Ablegung
von Diplomprüfungen stellt. Uebrigens spielt in Amerika
die Fachtüchtigkeit nicht die gleiche Rolle wie in Europa; der
junge Mann ist viel mehr auf den frühen Verdienst eingestellt, er
spezialisiert sich selten und versucht abwechselnd sein Glück auf
verschiedenen Gebieten; dies hängt zusammen mit den zahlreichen
Erwerbsmöglichkeiten, die Amerika bietet. Das Studium der Ingenieur-Wissenschaften
ist im Grunde genommen ein zweifaches; während
der drei ersten Semester widmet sich der Studierende den grundlegenden
exakten Wissenschaften; hierauf verlangt der Uebergang
zur technischen Anwendung eine ziemlich andere Einstellung.
Die Ziele der propaedeutischen Fächer sind die Lehre des
logischen, des funktionellen Denkens, während die angewandten
Wissenschaften in erster Linie die Vorbereitung auf die praktische
Betätigung vor Augen haben und neben dem Wissen auch das
Können vermitteln. Die Technischen Hochschulen sind relativ
jung; sie haben sich den Bedürfnissen der Praxis entsprechend
entwickelt. Demzufolge sind die angewandten Wissenschaften in
fortlaufender Entwicklung begriffen. Ich brauche nur auf die Einführung
des Eisenbeton, an den Bau von Kraftwerken, an den Wettbewerb
zwischen hydraulischer und kalorischer Energiegewinnung
hinzuweisen. Das Ueben im "Können" erfordert eine stete Betätigung
im Zeichensaal, im Laboratorium und im Seminar, im Kontakt
und im Gespräch mit Ihren Lehrern — dies viel mehr, als es auf
nicht technischen Gebieten der Fall ist. Bis zum letzten Semester
wird jedoch sowohl bezüglich des Wissens als auch des Könnens
nur Grundsätzliches im Vortrag und in den Uebungen behandelt.
Wenn auch naturgemäss die Uebungen der höheren Semester mehr
Umfang erhalten als jene der propaedeutischen Lehrgebiete, so
handelt es sich dennoch hierbei nur um Uebung des Könnens in
wenigen prinzipiellen Punkten. Der Studierende, der die zum
Schlussdiplom gehörende schriftliche Arbeit ausführt, wird dabei
wohl zum ersten Male der Schwierigkeit gewahr, die in der systematischen
Verwertung und der Zusammenfassung der bisher geübten
Grundlagen liegt. Grosse Freude wird er indessen an dieser ersten
eigenen schöpferischen Gesamtleistung empfinden.
Beim Beginn Ihrer Studien wollen Sie nicht vergessen, dass
unsere Hochschule Studierende von sehr verschiedenartiger Vorbereitung
aufnimmt; die einen mit mehr technischer, die anderen mit
mehr humanistischer Vorbildung. Die einen werden sich schneller,
die anderen mit etwas mehr Arbeitsaufwand den mathematischen
Vorträgen der ersten Semester anpassen. Der Uebergang von den
propaedeutischen zu den angewandten Wissenschaften wird ebenfalls
wieder manchem Studierenden Schwierigkeiten bereiten. Mancher
unter Ihnen wird ungern das sichere Gebiet grundlegender
Wissenschaften mit dem der praktischen Anwendungen vertauschen,
unter anderem weil diese durch wirtschaftliche Anforderungen
wesentlich mitbedingt werden. Der Gegensatz wird noch ausgeprägter,
wenn ein Jahr praktischer Tätigkeit in das Studium eingefügt
wird, weil es noch wesentlich mehr die materiellen Realitäten
des Lebens fühlen lässt.
Eine solche praktische Tätigkeit während des Studiums wird
besonders von den Architekten und Maschineningenieuren als erwünscht
bezeichnet, während sie in den Abteilungen für Bodenkultur
zum Teil vor, zum Teil nach dem Studium stattfindet. Ich möchte
es jedem Studierenden warm ans Herz legen, sei es während oder
am Schluss der Studien, einmal wirkliche Fühlung mit jenen zu
nehmen, deren Arbeit er später leiten und beaufsichtigen soll.
Der Bauingenieur z. B. soll sich nicht scheuen, eine Zeitlang
als Arbeiter auf dem Bauplatz tätig zu sein, die Zubereitung des
Beton oder das Nietschlagen zu erlernen, oder im Bureau eine
korrekte Pause auszuführen. Nur so gewinnt er Einsicht und Verständnis
nicht nur für diese Arbeiten selbst, sondern was ebenso
wichtig ist, für die Denkweise und die Anschauung des Arbeiters
und des sonstigen Hilfspersonals.
Der akademische Techniker ist dazu berufen, eine führende
Rolle in sozialwirtschaftlichen Fragen zu spielen; er muss sich
darauf vorbereiten. Ueberall steht er in Verbindung mit den so
grundlegenden Fragen des Arbeitgebens und Arbeitnehmens. Er
wird nur dann diesen Fragen gewachsen sein, wenn er einigermassen
im Stande ist, die beidseitigen Gesichtspunkte gegenseitig aus eigener
Anschauung abzuwägen. Nach meinem Dafürhalten ist Menschenkenntnis
eine der notwendigen, wesentlichen Eigenschaften des
akademischen Technikers; er muss ferner einen klaren, gesunden
Begriff der Notwendigkeiten des praktischen Lebens haben, über
eigene Initiative und schnelle Entschlussfähigkeit verfügen.
Die zwei Seiten, die ich bezüglich des Studiums hervorhob,
die theoretisch-vorbereitende und die angewandte, beherrschen
übrigens auch das praktische Leben, wo sie nur den materiellen
Verhältnissen etwas angepasst werden. Auf allen Gebieten der
praktischen Betätigung finden Sie Techniker, die mit Vorliebe wissenschaftlich
an der Abklärung der Grundlagen arbeiten, und solche,
die rein praktisch tätig sind, die Studien und Erfahrungen anderer
anwendend.
Neben den erwähnten zwei wesentlichen Teilen des Studiums
legen wir Ihnen aber noch die Pflege der allgemeinen Bildung
warm ans Herz. Dieser Ausdruck "allgemeine Bildung" ist viel
missbraucht worden und drückt nur ungenau das aus, was insbesondere
unsere Xl. Abteilung Ihnen bieten kann. Gewiss soll die
allgemeine Bildung in der Hauptsache auf der Mittelschule erworben
werden, weil die Hochschule sich auf die Fachbildung konzentrieren
muss. Immerhin sprechen gewichtige Gründe für einen weitern
Ausbau der allgemeinen, nicht technischen Kenntnisse auch an der
E. T. H. Zunächst benötigt der Techniker, der im besten Sinne des
Wortes international ist, reichliche Kenntnisse der modernen Sprachen;
ferner wird er seine allgemeine Bildung im Sinne der Spezialkenntnisse,
die er auf technischem Gebiete erwirbt, erweitern
wollen, z. B. auf sozialwirtschaftlichem Gebiet, dessen praktische
Betätigung schon empfohlen wurde. Der akademische Techniker
wird durch die Pflege der allgemeinen Bildung jede "Déformation
professionnelle" zu vermeiden suchen, und zugleich Interesse gewinnen
für Fragen, die ihn dazu befähigen, später leitend und führend
zu wirken. Nicht seine technische Sprache muss er hierzu
den anderen vermitteln wollen, sondern er muss sich jener des
Bauherrn, dem er seine Projekte überzeugend zur Ausführung empfehlen
will, bedienen. Mögen Sie auch in der Pflege der Sprache,
der Geschichte, der Sitten und Gebräuche anderer Völker die Liebe
zum Nächsten gewinnen, die Ihnen später ihre Tätigkeit im Ausland
sehr erleichtern wird. Gehen Sie dorthin in der festen Ueberzeugung,
dass die Menschen und ihre Gebräuche aus den allgemeinen
topographischen Verhältnissen ihrer Wohnstätten hervorgegangen
sind, und dass Sie sich ihnen anpassen müssen, wenn
Sie sich dort einleben wollen.
Meine Herren!
Das neue Reglement unserer Hochschule, das die Erfahrungen
berücksichtigt hat, die seit Einführung der Studienfreiheit
im Jahre 1908 gemacht worden sind, liegt beim Bundesrat zur Genehmigung.
Wir hoffen, im Laufe des Studienjahres alle übrigen
Reglemente nach Massgabe dieser Grundlage dem Geiste der Zeit
anpassen zu können, um hierauf auf Beginn des Studienjahres
1924/25 alle neuen Reglemente und damit das Einschreibeheft, das
bei sachgemässer Handhabung Ordnung und Vereinfachung bringen
wird, einzuführen.
Das Studienjahr 1923/24 wird die lang ersehnte Vollendung
unserer Neubauten mit sich bringen. Der prächtige äussere Rahmen
wird uns nach Ueberwindung grosser Schwierigkeiten — endlich
ohne Baugerüste — zur Verfügung stehen. Der Bund hat gewaltige
Opfer gebracht, die, wie schon einleitend erwähnt, bei uns allen,
die hier tätig sind, mit tiefer Dankbarkeit anerkannt werden. Immerhin
bleibt manches zu vollenden, manches auszubauen, um den
Geist wissenschaftlicher Forschung, der diese Räume beleben soll,
auf seiner althergebrachten Höhe zu erhalten und den Ansprüchen
der Zeit entsprechend fort zu entwickeln. Wir hoffen zuversichtlich,
dass die Bundesbehörden nach durchgeführter Festigung des Staatshaushaltes,
dem geistigen Ausbau unserer Hochschule, der Entwicklung
bestehender und der Gründung neuer Laboratorien und
Forschungs-Institute, das gleiche lebhafte Interesse wie im letzten
Jahrzehnt der räumlichen Entwicklung widmen werden.
Und nun, liebe Studierende, muss ich noch darauf hinweisen,
dass es im höheren technischen Beruf wie auf keinem anderen
Gebiet nötig ist, Freude an seinem Beruf zu finden, ja sogar Begeisterung.
Diese Freude entwickelt sich allmählich, in der Hauptsache
oft erst nach einigen Jahren praktischer Tätigkeit, sobald die
wirkliche schöpferische Arbeit einsetzt auf Grund immer neuer
Anwendungen und vertiefter Studien der Naturgesetze.
Der schweizerische Ingenieur- und Architekten-Verein hat
kürzlich in unseren Räumen einen Kurs über aktuelle Fragen und
neuere Forschungen auf dem Gebiet des Bau-, Maschinen- und Elektro-Ingenieurs
durchgeführt. Mehrere hundert ältere und jüngere
Kollegen sind während dieser Woche sieben bis neun Stunden täglich
den Ausführungen der Dozenten mit unermüdlicher Ausdauer
gefolgt. Diese älteren Kollegen sind durch das praktische Leben
gereift; sie kennen den Wert der Fühlungnahme mit der Hochschule;
sie sind ein beredtes Beispiel dafür, wie sehr die Männer
der Praxis den Wert der erneuten Vertiefung der wissenschaftlichen
Grundlagen der Technik hochschätzen.
Das ist der Geist, meine lieben Studierenden, den wir während
der kommenden Jahre bei Ihnen wachrufen möchten; mögen
Sie dem Beispiel dieser Vorgänger nachleben und dem Rufe der
höchsten schweizerischen Lehranstalt als Stätte wissenschaftlicher,
arbeitsfreudiger Vorbereitung auf die technische Laufbahn treu bleiben;
dies im Bewusstsein der Verantwortung, die Sie später auf
nationalem und internationalem Boden gegenüber dem Vaterland
und der Menschheit erwartet."...
Chers Etudiants de Suisse romande et du Tessin!
Mon allocution a été tenue dans la langue de la majorité de
nos étudiants; je tiens toutefois à souligner le caractère confédéral
de notre Ecole polytechnique en vous souhaitant une cordiale bienvenue
dans la langue des rives du Léman. Je ne puis répéter ici
en français les quelques indications relatives à vos études que je
viens d'esquisser, vous les aurez du reste suffisamment comprises;
mais je tiens à vous dire que vous êtes des nôtres, tous au même
titre, et que vos professeurs seront toujours heureux de pouvoir
vous aider et vous soutenir.
Meine Herren!
Einer Anregung meines Amtsvorgängers folgend, haben die
Vertreter des Verbandes der Studierenden, sowie diejenigen der
nationalen Vereinigungen unseren Eröffnungsakt durch Fahnen- und
Farbenschmuck verschönert. Wir danken ihnen für diese studentische
Begrüssung und erblicken darin das Wahrzeichen der guten
Beziehungen, die unsere Studierenden mit dem Lehrkörper in gemeinschaftlicher
Arbeit mit einander verbinden.
Hiermit erkläre ich das Studienjahr 1923/24, das 69. seit der
Gründung unserer Hochschule, als eröffnet.