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Strafrecht und Schuld.

I.

Am dies academicus des vergangenen Jahres habe ich an dieser Stelle über ein Rechtssprichwort geredet, das für das heutige Strafrecht zum Glaubenssatz geworden ist, über das Sprichwort: keine Strafe ohne Gesetz. Niemand soll von einer Strafe getroffen werden, wenn nicht eine geschriebene, mit verbindlicher Kraft ausgestattete Norm besteht, die ein bestimmtes menschliches Verhalten unter eine Strafdrohung stellt. Erst die strenge Durchführung dieses Satzes gewährleistet das Recht der Freiheit des Einzelnen gegenüber Willkürakten des Staates und insbesondere der Strafgerichtsbarkeit.

Aber der Satz: keine Strafe ohne Gesetz bedeutet schliesslich nur einen äusserlichen Rahmen, aus dem der Strafrichter nicht hinaustreten darf. Verurteilen kann er nur, was ein Gesetz verbietet und mit Strafe bedroht. Nicht auf die sittliche Wertung einer menschlichen Handlung kommt es zunächst an. Mag ein Verhalten sittlich minderwertig, unehrenhaft, schädlich sein —solange das Strafgesetz schweigt, ist eine Verurteilung nicht möglich.

Das ist politische Klugheit, ein Zugeständnis des allmächtigen Staates an den Einzelnen, das in Jahrhunderten erkämpft werden musste. Die abschliessende Lösung des Rechtsproblems, wen die staatliche Strafe treffen darf, ist aber damit keineswegs gegeben. Erst hinter dem heute kaum mehr umstrittenen Satz: keine Strafe ohne Gesetz erheben sich die eigentlichen strafrechtlichen Zweifelfragen. Man hat auch sie mit einer Formel zu beschwören versucht, mit dem Satz: keine Strafe ohne Schuld. Unternimmt man es aber, die Auswirkung dieses Satzes in Gesetzgebung und Rechtsprechung festzustellen, so ergibt

sich bald genug, dass es mit seiner Geltung vielfach höchst mangelhaft bestellt ist.

Diese Tatsache ist namentlich darauf zurückzuführen, dass es noch keiner Philosophie gelungen ist, das Wesen der menschlichen Schuld so zu erfassen und zu erklären, dass die Jurisprudenz mit einem feststehenden, allgemein anerkannten Begriff zu rechnen vermöchte. Und aus sich selbst heraus vermag sie ihn nicht in einer Weise zu gestalten, die ihm die Zustimmung aller Kreise sichern könnte, ganz abgesehen von den nicht Wenigen, die von der Anerkennung eines menschlichen Verschuldens überhaupt nichts wissen wollen. Allein wenn man, wie es die heutige Gesetzgebung in der Hauptsache tut, das Strafrecht nach der Schuld orientiert, so braucht man sichere Maße. Die Rechtswissenschaft und der moderne Gesetzgeber kommen daher dazu, zwar nicht einen allgemeinen philosophischen Schuldbegriff aufzustellen, aber wenigstens bestimmte Schuldformen juristisch zu bilden. Ihre Erfüllung soll die Voraussetzung der Bestrafung sein. Die Herbeiführung eines deliktischen Erfolges — einer Tötung, einer Vermögensschädigung — genügt für sich allein nicht. Erst die bestimmt geartete persönlich-innerliche Verbindung eines Verhaltens mit dem verursachten Erfolg macht den Täter strafrechtlich verantwortlich. Es kann hier nicht von allen Streitfragen und Feinheiten dieser strafrechtlichen Schuldlehre die Rede sein. Nur ihre einigermassen gesicherten Resultate will ich herausstellen. Das Strafrecht nimmt die Schuldform des Vorsatzes an, wenn der Täter den Tatbestand eines Deliktes mit Wissen und Willen erfüllt, wenn er bei seiner Handlung sich der schädlichen Konsequenzen seines Verhaltens bewusst ist und trotz der in ihm lebendigen. Vorstellung auf die Herbeiführung des schädigenden Erfolges ausgeht. Aber auch Fahrlässigkeit ist Schuld. Der Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches hält sie dann für gegeben, wenn der Täter die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht oder nicht berücksichtigt hat. Und diese pflichtwidrige Unvorsichtigkeit wird weiter dahin erklärt, dass der Täter die Vorsicht nicht beobachtet habe, zu der ihn die Umstände und seine persönlichen

Verhältnisse verpflichteten. Strafbar ist jedoch aller Regel nach nur die vorsätzliche Verübung eines Deliktes. Fahrlässigkeit dagegen wird nur in denjenigen Fällen, die das Gesetz ausdrücklich bestimmt, bestraft.

II.

Das derart festgelegte System der strafrechtlichen Schuldhaftung muss demjenigen, der nicht tiefer sieht, von einer wunderbaren Geschlossenheit erscheinen. Aber der Schein trügt. Trotz der Kunst, mit der die Rechtswissenschaft operiert hat, ergeben sich bei der Anwendung dieser Sätze auf Schritt und Tritt Schwierigkeiten. Die Gründe sind mehrfach. Sie liegen einmal darin, dass hinter diesen scheinbar festgefügten Formen die Unsicherheit und Unabgeklärtheit des allgemeinen philosophischen Schuldbegriffes stehen. Sie sind ferner darin zu finden, dass die Anschauungen darüber, was mit dem Strafrecht erreicht werden soll, zu allen Zeiten himmelweit auseinandergingen.

Auch die niedern Kulturen der staatlichen Entwicklung kannten ein Strafrecht. Aber die Orientierung nach dem Schuldbegriff war ihnen fremd.. Nicht darauf kam es an, ob der Missetäter schuldhaft fremde Rechtsgüter verletzt oder gefährdet hatte. Allein der schädigende Erfolg war massgebend. Nicht nur in den alten Rechten, sondern auch im Mittelalter ist Tieren, die Schaden stifteten, der Prozess gemacht worden. Nach alten Sakralrechten erregt auch die zufällige Rechtsverletzung den strafenden Zorn der Götter. Die Blutracheordnung, deren Reste man heute noch vereinzelt beobachten kann, trifft nicht nur den Täter, der eine Schuld auf sich geladen hat, sondern auch den schuldlosen Stammes- und Familienangehörigen. Alle diese Strafrechte sind anethisch. Jeder, der den Frieden stört, in fremde Rechtskreise einbricht, eine Verletzung verursacht, ist ohne Rücksicht auf die Schuld ein strafwürdiger Verbrecher, ja die Strafe trifft unter Umständen ganz unbeteiligte Personen.

Überall aber zeigt sich früh schon die allmähliche Abkehr von der reinen Erfolgshaftung. Das spätere römische Recht

und das kanonische Recht lassen das rechtbrecherische Kind bis zum vollendeten siebenten Jahre straflos. Auch die Anerkennung der Geisteskrankheit als eines Strafausschliessungsgrundes bricht sich allmählich Bahn. Schon das mittelalterliche Rechtsbuch des Sachsenspiegels stellte den Satz auf: "Über rechten Toren und über sinnlosen Mann soll man nicht richten." Mehr und mehr zieht die sittliche Idee in das Recht ein, dass nicht die Verursachung einer Schädigung allein den Verletzer strafbar machen kann, dass vielmehr auf den bösen Willen das entscheidende Gewicht gelegt werden muss. Die Wertung der Persönlichkeit tritt in den Vordergrund. Nur wer einer Schuld fähig ist, kann ein Verbrechen verüben und dafür bestraft werden — nicht das kleine Kind, nicht der Geisteskranke, nicht der im Momente der Tatverübung Bewusstlose, die alle einen schuldhaften Willen nicht zu bilden vermögen.

Das Alles erscheint uns heute fast selbstverständlich. Aber es ist eine Täuschung, anzunehmen, dass jede Erfolgshaftung schon aus dem geltenden Strafrecht verbannt wäre. Noch ist die Entwicklung nicht zu einem völligen Abschluss gelangt. Gewiss, das Prinzip der Schuldhaftung beherrscht das heutige Strafrecht, aber zahlreich sind noch die Residuen der alten Erfolgshaftung. An zwei Beispielen lässt sich das besonders deutlich erweisen:

Einmal an der heutigen gesetzlichen Ordnung der vorsätzlichen Körperverletzungsdelikte. Wäre auch hier die Schuldhaftung rein durchgeführt, so könnte der Täter immer nur für diejenige Verletzung bestraft werden, die er verursachen wollte oder mindestens hätte voraussehen können. Die geltenden Gesetze aber überlegen anders. Sie grenzen die verschieden schweren Fälle lediglich im Hinblick auf den verursachten Erfolg voneinander ab. Voraussetzung ist allerdings immer, dass der Täter den schuldhaften Willen hatte, in die körperliche Unversehrtheit eines andern einzugreifen. Bei seiner Bestrafung wird aber nicht vornehmlich auf die Intensität seines Willens, sondern auf den eingetretenen Erfolg abgestellt. Das Gesetz gründet seine Strafabstufungen darauf, ob die Verletzung den Tod des Angegriffenen, oder einen erheblichen

bleibenden Nachteil, oder eine mehr oder weniger lange Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hatte (z. B. zürcher. Strafgesetzbuch §§ 133 und 144). Ob der Wille des Täters wirklich auf die Herbeiführung einer solchen Wirkung ausging oder nicht, gibt nicht den Ausschlag. Wer einem andern, um ihn zu züchtigen, einen Backenstreich versetzen will und so unglücklich zuschlägt, dass das Auge des Getroffenen ausrinnt, muss die schwere Strafe, die auf Körperverletzung mit erheblichem bleibenden Nachteil steht, über sich ergehen lassen. Er wird nach dem Erfolg, nicht nach der Intensität seines Willens, seiner Schuld bestraft. So zeigt sich der Zwiespalt zwischen den Anschauungen der Erfolgs- und der Schuldhaftung bei den Körperverletzungsdelikten. mit besonderer Deutlichkeit. Er offenbart aber auch die Schwierigkeit einer nach der reinen Schuldhaftung hin orientierten Lösung. Grau ist hier die Theorie. Wie kaum ein anderes Gebiet ist die Strafjustiz der öffentlichen Kritik ausgesetzt, ja von den im Volke lebenden Anschauungen abhängig. Und wenn der Strafrichter den unglückseligen Täter, der harmlos züchtigen wollte, aber eine schwere körperliche Schädigung verursachte, mit einer geringfügigen Geldstrafe entlässt, so ist es leicht möglich, dass die Mißbilligung weiter Kreise sich gegen ihn erhebt. Trotz alledem wagt der Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches den kühnen Schritt, auch bei den Körperverletzungsdelikten das Prinzip der Schuldhaftung zur reinen Geltung gelangen zu lassen. Nach Artikel 110 gilt für den Täter, der die von ihm herbeigeführte schwere Folge weder verursachen wollte, noch voraussehen konnte, die Strafe der von ihm gewollten Körperverletzung. Die grundsätzliche Richtigkeit dieser Lösung steht ausser Zweifel. Allein noch einige Aufklärung wird notwendig sein, bis diese geläuterte Auffassung im Volksbewusstsein einen sichern Boden finden wird.

Das zweite Beispiel dafür, dass auch im geltenden Recht die Erfolgshaftung noch ihr Wesen treibt, führt auf das Gebiet des sog. Übertretungsstrafrechts. Noch heute wird vielfach in der Literatur, der Gesetzgebung und der Rechtsprechung die Ansicht vertreten, dass bei der Beurteilung von Polizeiübertretungen

auf das Verschulden gar nicht abzustellen sei, dass die rein objektive Erfüllung des Tatbestandes genüge, um den Missetäter zu bestrafen. Man hat für diese Fälle den Ausdruck "Formaldelikte" geprägt. Wer an verbotenem Orte badet oder fischt, wer irgendeine der zahllosen Polizeivorschriften, mit denen der Staat den Bürger heute mehr denn je segnet, nicht einhält, soll bestraft werden, auch wenn ihn nicht der Schein einer Schuld trifft, ja auch wenn er seine Gutgläubigkeit und Ahnungslosigkeit einwandfrei dartun kann. Noch kürzlich hat das aargauische Obergericht diesen Standpunkt sehr energisch vertreten. Bei der Beurteilung eines Jägers, der die Vorschriften der Jagdgesetzgebung übertrat, erklärte es, die Frage des Verschuldens spiele bei derartigen Delikten keine Rolle. "Aus allgemein legislativ-politischen Gründen" werde dem äussern Erfolg die Hauptbedeutung beigemessen und ihm gegenüber die vom Täter bekundete Gesinnung nicht wesentlich beachtet. Die Strafe müsse ihn ohne Rücksicht auf die gute oder schlechte Beschaffenheit seines Wollens treffen.1) — Das war in der Tat bis in die neueste Zeit die allgemein verbreitete Anschauung. Auch das Bundesgericht hat sie in früheren Entscheiden gelegentlich vertreten. Bei Zollübertretungen, meinte es, könne der Täter die Bestrafung nicht durch den Beweis seiner Gutgläubigkeit abwenden. Es handle sich um Formaldelikte, bei welchen der Mangel der rechtswidrigen Absicht die Bestrafung nicht ausschliesse.2) Später jedoch hat das Bundesgericht diese Ansicht nicht mehr uneingeschränkt festgehalten. Gerade auch bei Zollübertretungen fordert es jetzt die Prüfung der Schuldfrage.3) Ganz uneingeschränkt gelangt aber der Satz, dass auch bei Polizeiübertretungen keinen Schuldlosen eine Strafe treffen darf, in der zürcherischen Gerichtspraxis zur Geltung. Zum Mindesten muss dem Täter eine Fahrlässigkeit bewiesen werden können.4) Ja diese gerichtliche Praxis war so stark geworden, dass die neue zürcherische Strafprozessordnung von 1919 den

Gesetzessatz aufstellen konnte, dass nur die schuldhafte Verübung einer Polizeiübertretung Strafe zur Folge haben könne (§327). Auf dem gleichen Boden stehen auch die eidgenössischen Strafgesetzentwürfe.

So ist deutlich eine Entwicklungslinie erkennbar. Die strafrechtliche Erfolgshaftung ist zwar noch nicht völlig beseitigt. Sie spukt noch in der Gesetzgebung und in Juristenköpfen. Aber sie scheint ihrem Ende nahe.

Schon zeigt sich aber ein neuer, ganz anderer Horizont. Auch das mühsam in Jahrhunderten errungene Prinzip der strafrechtlichen Schuldhaftung soll überwunden werden. Wiederum kommt das Problematische des Begriffes der menschlichen Schuld, um den sich unser ganzes heutiges Strafrecht dreht, zum Vorschein.

Weil es noch Niemandem gelang, die menschliche Schuld als etwas Reales, auch nur als etwas begrifflich Fassbares zu erweisen, ist man dazu gekommen, sie zu leugnen. Der rein naturwissenschaftlich orientierte, bis zum Äussersten konsequente Determinismus ist zu diesem Schlusse gelangt. Weil das Kausalgesetz auch das menschliche Handeln bestimmt, weil es keine Willens-, keine Entschliessungsfreiheit geben soll, so steht nach der strengen deterministischen Auffassung der Mensch in Allem, was er tut und lässt, unter einem Zwang. Dann kann er aber auch nicht schuldhaft handeln. Ist das richtig und hat diese Lehre die Zukunft für sich, so ist damit dem Strafrecht die Schicksalsfrage gestellt. Wenn Strafe Schuld voraussetzt, eine menschliche Schuld aber nicht mehr anerkannt wird, so muss man auch mit der Strafe ein Ende machen. — Es ist nicht zufällig, dass vor Allem ein Naturwissenschaftler, ein Arzt, in der Tat diese Konsequenzen für das Recht gezogen hat — der Italiener Lombroso, der Begründer der. sog. anthropologischen Strafrechtsschule. Für ihn gibt es keine menschliche Schuld, kann es also auch keine Strafe geben. Der Verbrecher ist biologisch zu erklären. Sein Handeln ist die Folge besonders gearteter Gehirnbildungen und bestimmter körperlicher Defekte eines Menschen. Unter ihrem Zwang steht sein Tätigwerden. Wer das Recht bricht, ist ein geborener Verbrecher. Selbstverständlich

mussten Lombroso und seine Schüler, nachdem sie das Strafrecht niedergerissen hatten, einen Ersatz schaffen, denn das Problem, wie der Staat und die Gesellschaft sich gegen das Verbrechen schützen müssen, ist geblieben. An die Stelle der Strafe, die sich nach der Schuld richtete, tritt nach dieser neuen Anschauung ein System sichernder Massnahmen, ein System der sozialen Verteidigung zur Bekämpfung gefährlicher Menschen.

Gelangt diese Lehre einmal zur Durchführung, so wird auch die Schuldhaftung der Geschichte angehören. Ihre Stelle hat ein anderes Prinzip, die Gefährdungshaftung, eingenommen.

Wie man sich auch zur Lehre Lombrosos stellt, Eines steht fest: ihr Einfluss auf die Entwicklung des Strafrechts der letzten 40 Jahre ist ungeheuer gross gewesen. Sie war die grosse Anregerin. Erst auf ihrer Grundlage konnte sich die heutige Anschauung vom Wesen des Verbrechens entwickeln, wonach die Kriminalität von individuell-anthropologischen, von physikalischen und von gesellschaftlichen Faktoren bedingt wird. Ohne eine Berücksichtigung dieser Gedanken erscheint uns heute eine Strafrechtsreform undurchführbar. Anderseits hat aber bis in die neueste Zeit kein Gesetzgeber es gewagt, das Prinzip der Schuldhaftung zugunsten einer reinen Gefährdungshaftung auszuschalten. Das blieb dem im Jahre 1921 erschienenen italienischen Strafgesetzentwurf vorbehalten. Er hat aus den vor Allem auf Lombroso zurückzuführenden Anschauungen die Konsequenzen gezogen. Die Unterscheidung zwischen Menschen, die schuldhaft handeln und solchen, die keine Schuld auf sich laden können, zwischen Zurechnungsfähigen und Unzurechnungsfähigen, lässt er fallen. Jeder haftet, wenn er einen Verbrechenstatbestand erfüllt. Er haftet nach dem Maße seiner Gesellschaftsfeindlichkeit und Gefährlichkeit. Sichernde Massnahmen, nicht Strafen treffen ihn. Der italienische Entwurf vermeidet auch folgerichtig den Ausdruck "Strafe". Er spricht überall nur von Sanktionen. Nur in einem Punkte wird er sich selbst untreu, hat er vom Überkommenen. sich nicht zu lösen getraut. Der Titel des Werkes lautet nach alten Mustern: Strafgesetzbuch (Progetto preliminare di Codice

Penale Italiano). Der italienische Entwurf hat bei seinem Erscheinen grösstes Aufsehen erregt. In der letzten Zeit scheint es freilich stiller um ihn geworden zu sein, und der heutige Stand der italienischen Politik lässt es mindestens zweifelhaft erscheinen, ob das kühn begonnene Werk weiter gedeihen wird.

III.

Ein Strafgesetzbuch ohne Schuld und Strafe wäre in der Schweiz und, anderswo, mindestens auf absehbare Zeit, nicht durchführbar. Das Volk würde ihm die Billigung versagen, ja es würde sich wohl mit aller Macht gegen die Abschaffung des Strafrechts auflehnen. Dem Gedanken, dass es keine menschliche Schuld, kein böses Handeln gibt, dass jeder Rechtsbrecher unter einem übermächtigen psychischen Zwang steht, wird es, trotz aller ihm vorgelegten Beweise, nicht zugänglich sein.

Trotz aller vorgelegten Beweise! Sieht man näher zu, so ist es freilich mit dieser Beweisführung höchst bedenklich bestellt. Von der Anschauung, dass das Kausalgesetz auch im Bereiche des menschlichen Handelns gilt, dass die einzelne Handlung das Abbild, das Ergebnis der innern Veranlangung eines Menschen, seines Charakters ist, wird man zwar ausgehen müssen. Aber diese deterministische Auffassung führt noch nicht zur Leugnung jeder menschlichen Schuld. Ein Handeln gemäss seiner Eigenart ist beim körperlich und geistig reifen Menschen noch nicht ein Handeln unter einem psychischen Zwang. Vielmehr besteht innert den Grenzen der individuellen Eigentümlichkeit eine gewisse Freiheit des Einzelnen, so oder anders wirksam zu werden. Man hat von Wahlfreiheit, von relativer Willensfreiheit gesprochen. Das Mißliche ist freilich, dass die Existenz dieser Wahlfreiheit ebensowenig exakt bewiesen werden kann, wie die gegnerische Behauptung, dass alles menschliche Verhalten rein zwangsläufig erfolge. Aber eine grosse Erfahrungstatsache, die jeder seiner selbst bewusste Mensch immer wieder erlebt, steht immerhin fest: Wir alle haben gute und schlimme Stunden. An uns alle tritt die Versuchung heran. Das eine Mal unterliegen wir, das andere Mal gehen wir als Sieger aus dem Kampf hervor. In uns allen lebt ein pochendes Gewissen, ein

Verantwortlichkeitsgefühl. Nur der Schwächling wird jede Wahlfreiheit leugnen. Gerade weil es sich bei alledem um Irrationales handelt, darf man hier auch den Dichter zitieren. In Conrad Ferdinand Meyers Hutten steht:

Ihr lieben Sterne, tröstlich allezeit,
Wer dächte, dass ihr arge Zwingherren seid!
Ihr seids! Als sich die Erde mir erhellt,
Ward mir ein widrig Horoskop gestellt.
Weil, als ich kam, der Widder just geglüht,
Bin ich von unverträglichem Gemüt.
Ein flackernd Himmelsirrlicht trägt die Schuld
An meiner Wanderlust und Ungeduld.
Gewissen, lasse fürder mich in Ruh!
Den Sternen schreib ich meine Sünden zu.
Doch überleg es, Hutten! Dreimal nein!
Ein Sklave willst du nie gewesen sein.
Du bist ein Feind von jeder Tyrannei
Und deine Sünden auch begingst du frei!

Von diesem Erfahrungssatz der Wahlfreiheit muss auch das Recht beherrscht sein. Er muss die Grundlage auch des künftigen Strafrechts bilden. Es gibt eine menschliche Schuld und die ihr gemässe Reaktion ist die Strafe. Aber es wäre töricht, alle die Anfechtungen, die diese Anschauung erfahren hat und immer wieder erfahren wird, beiseite zu schieben. Sie haben der Entwicklung des Strafrechts die kräftigsten Impulse gegeben und diese Entwicklung kann man in den Satz zusammenfassen: An der Verfeinerung der Schuldlehre bemisst sich der Fortschritt des Strafrechts.

Dieser Satz ist geradezu das Programm einer aufgeklärten Kriminalpolitik. Er bedeutet einmal, was für den Juristen eigentlich selbstverständlich ist, dass die Lehre von den strafrechtlichen Schuldformen immer feiner ausgestaltet werden muss, dass auf Grund einer Beobachtung der Lebenstatsachen möglichst genau bestimmt werden muss, wann die schwerere Form des Vorsatzes und wann blosse Fahrlässigkeit gegeben ist. An dieser Arbeit ist man seit Jahrhunderten. Sie ist zum

grossen Teil geleistet. Dagegen ist die volle Durchführung des Satzes, dass keinen, der überhaupt nicht schuldhaft handelte, eine Strafe treffen soll, noch nicht erreicht. Auf die noch im geltenden Recht vorhandenen Überreste der Erfolgshaftung wurde bereits hingewiesen. Aber es sind Überreste, deren Verschwinden in Aussicht steht.

Das Schwierigste und Wichtigste in der Durchführung des Satzes: keine Strafe ohne Schuld, liegt jedoch anderswo. Für die Kriminalpolitik und die neue Strafgesetzgebung besteht wohl das Hauptproblem darin, diejenigen Kategorien von Rechtsbrechern zu erkennen, die, weil sie nicht schuldhaft handeln konnten, auch von einer Strafe nicht getroffen werden dürfen. Das neue Strafrecht betrachtet nicht mehr nur das Verbrechen, sondern vor Allem den Täter, den Menschen, die Persönlichkeit. Und wiederum handelt es sich, ähnlich wie bei der gesetzlichen Bestimmung der Schuldformen, darum, juristisch den Menschen, der schuldhaft handeln kann, zu kennzeichnen. Das geschieht durch die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit und ihrem Gegenstück der Unzurechnungsfähigkeit, womit aus praktischen Gründen noch ein dritter Begriff, die verminderte Zurechnungsfähigkeit, verbunden worden. ist.

Ebenso wie die reine Jurisprudenz versagt, wenn es sich darum handelt, in allgemein gültiger Weise den Schuldbegriff zu bestimmen, ist es ihr aus eigenen Mitteln nicht möglich, zurechnungsfähige und unzurechnungsfähige Menschen voneinander abzugrenzen. Sie muss hier wieder die Ergebnisse anderer Wissenschaften zu Rate ziehen, um auf ihrer Grundlage dann die juristisch verwertbaren Formeln zu bilden. So geht das Strafrecht von dem biologisch-psychologischen Satz aus, dass zurechnungsfähig ist, wer normal auf äussere und innere Reize reagiert, wer durch Motive normal bestimmbar ist. Allein dieser Satz ist für die juristische Verwertung viel zu unbestimmt vor allem weil der Begriff des Normalen nicht in absolut gültiger Weise feststellbar ist, weil noch Niemand den normalen Menschen gefunden hat, ja weil es ihn überhaupt nicht gibt. Der Richter, der urteilen muss, ob ein Mensch schuldhaft hat handeln können, braucht sichere Maße. Der

Gesetzgeber muss ihm für die Begriffe Zurechnungsfähigkeit — Unzurechnungsfähigkeit ganz bestimmte, im Einzelfall erweisbare Symptome zur Verfügung stellen. Dabei hat sich die gesetzgeberische Praxis herausgebildet, dass zunächst nur der Zustand der Unzurechnungsfähigkeit umschrieben wird, aus dem dann der Begriff der Zurechnungsfähigkeit mühelos abzuleiten ist. Wiederum kann hier nicht von allen bestehenden Streitfragen die Rede sein. Nur die einigermassen gesicherten Resultate sind darzustellen. Sie ergeben sich aus der im Artikel 10 des eidgenössischen Strafgesetz-Entwurfes enthaltenen Bestimmung:

"Wer wegen Geisteskrankheit, Blödsinns oder schwerer Störung des Bewusstseins zur Zeit der Tat nicht fähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss seiner Einsicht in das Unrecht der Tat zu handeln, ist nicht strafbar."

Ganz deutlich zeigt dieser Gesetzessatz eine zweifache Beziehung: Auf der einen Seite wird auf pathologische Dauerzustände — Geisteskrankheit, Blödsinn — hingewiesen, die von, einer solchen Intensität sind, dass dem Handelnden jede Einsicht fehlt. Auf der andern Seite schliesst aber auch eine vorübergehende schwere Bewusstseinsstörung —Rausch-, Vergiftungszustände usw. —, wenn dem Täter die Einsicht in das Unrecht seiner Tat fehlt, die Schuld aus. Umgekehrt hat der Richter jeden, bei dem ein derartiger Zustand nicht nachgewiesen wird, als schuldhaft Handelnden zu bewerten.

Die Grenzziehung zwischen Zurechnungs- und Unzurechnungsfähigen wird aber in ihrer juristischen Durchführung auch zur Grenze zwischen der Schuldhaftung und einer eventuellen Gefährdungshaftung. Denn es ist heute undenkbar, dass man den Geisteskranken, den chronischen Alkoholiker, die aus ihrem Zustande heraus töten und zerstören und eine stete Gefahr für ihre Umgebung bilden, unbehelligt lässt. Nur Strafe — das Korrelat der Schuld —kann sie nicht treffen. An ihre Stelle tritt ein System von sichernden Massnahmen. Die neuem Strafgesetzentwürfe, namentlich der schweizerische, der österreichische, der deutsche Entwurf, haben dieses System bis in alle Einzelheiten ausgebildet. Sie sehen auch vor, dass der Strafrichter und nicht mehr die in diesen Dingen weniger zuverlässigen

Verwaltungsbehörden gegenüber dem gefährlichen Unzurechnungsfähigen auf eine sichernde Massnahme erkennen. Praktisch gestalten sich die Verhältnisse so, dass der Richter, wenn sich in einem Strafprozess die Unzurechnungsfähigkeit, aber gleichzeitig auch die Gefährlichkeit oder wenigstens die Versorgungsbedürftigkeit eines Angeklagten ergibt, zwar von Schuld und Strafe freispricht, aber gleichzeitig die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt anordnet. Mit einem Schein von Recht hat man dagegen eingewendet, dass eine solche Anordnung nicht Sache des Strafrichters sei. Seine Aufgabe erschöpfe sich darin, den Schuldigen zu einer Strafe zu verurteilen und den Schuldlosen freizusprechen. Aber nur ein starrer Rechtsformalismus kann bei dieser Überlegung stehen bleiben; Man mag zwar davon ausgehen, dass es die erste Aufgabe des Strafrechts ist, gegenüber der bösen, schuldhaften Tat mit Strafen zu reagieren. Man muss aber gleichzeitig erkennen, dass das Strafrecht das vornehmste und tauglichste Instrument ist, um die Gesellschaft gegen schwere Gefährdungen zu schützen. Soll dieses weiter gesteckte Ziel erreichbar werden, so hat man dem Strafrichter auch die erforderlichen Mittel dazu in die Hand zu geben. Gewiss, der Rahmen des überlieferten Rechtes wird dadurch gesprengt. Das Strafrecht geht über die Grenzen hinaus, die ihm ängstliche Gemüter auch heute noch wahren möchten. Aber die Zweckmässigkeit, die hier zugleich Gerechtigkeit ist, muss den Ausschlag geben. Neben das eine System der alten Gesetzbücher, das ausschliesslich auf die Strafe eingestellt war, tritt ein zweites, das System der sichernden Massnahmen. Erst die Verbindung beider macht den Kampf gegen das gesellschaftsfeindliche Verbrechen aussichtsvoll.

Hat man diese Entwicklungstendenzen erfasst, so versteht man dann auch die ungeheure Bedeutung des Satzes, dass sich der Fortschritt des Strafrechts aus der Verfeinerung der Schuldlehre ergibt. Wenn der Strafrichter bei der Beurteilung eines Angeklagten zwischen der Verhängung einer Strafe und der Anordnung einer sichernden Massnahme wählen muss, so ist erste Voraussetzung die Klarheit über den schuldhaften Menschen

und die schuldhafte Tat. Daher das Bemühen, den Satz: keine Strafe ohne Schuld immer reiner durchzuführen, Daher die Arbeit, die Grenze zwischen Zurechnungsfähigen und Unzurechnungsfähigen so deutlich als möglich zu ziehen.

Freilich werden bei dieser Grenzziehung zahllose Rätsel ungelöst bleiben. Bei der Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit ist man vom normalen Menschen ausgegangen. Aber ihn gibt es nicht. Und anderseits erscheinen vor dem Strafrichter Menschen, die ihr Verbrechen in einem Zustande verübt haben, bei dem die Einsicht in das Unrecht der von ihnen verübten Tat zwar getrübt, aber nicht völlig ausgeschlossen war, Ihre Zahl ist Legion. Zu ihr gehören die geistig Schwachen, die Labilen, die moralisch Minderwertigen, die von einem schweren Leben und vom Laster Zermürbten, die unter dem Einfluss bestimmter Vergiftungen Stehenden usw. Die juristische Formel der Unzurechnungsfähigkeit passt nicht auf sie. Es ist aber auch nicht möglich, sie als in vollem Umfang schuldhaft handelnde Menschen zu bewerten. Für sie hat das moderne Strafrecht daher die Zwischenkategorie der verminderten Zurechnungsfähigkeit gebildet, und der schweizerische Strafgesetzentwurf hat diesen Begriff im Anschluss an die Umschreibung der Unzurechnungsfähigkeit geformt. Bei der Unzurechnungsfähigkeit Geisteskrankheit, Blödsinn oder so schwere Bewusstseinsstörung, dass die Einsicht in das Unrecht einer Tat nicht vorhanden ist. Bei verminderter Zurechnungsfähigkeit Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit oder des Bewusstseins, so dass die Fähigkeit zur Einsicht herabgesetzt ist. Hat man einmal diese Kategorie der unermesslich Vielen erfasst, so ist auch ihre strafrechtliche Behandlung gegeben. Ihre Schuld ist vermindert. Also müssen sie auch milder bestraft werden. Vielfach sind sie aber auch ihres Zustandes wegen gefährlich oder mindestens heil- und pflegebedürftig. Der Strafrichter, vor den sie wegen der Verübung eines Verbrechens kommen, muss sie daher bestrafen, zugleich aber, wenn es erforderlich ist, ihre Versorgung in einer Heil- oder Pflegeanstalt anordnen.

Der dem modernen Strafrecht eigene Dualismus: Strafe und Sicherungsmassnahme zeigt sich hier besonders augenfällig.

Der Richter verbindet im einzelnen Fall die beiden zur Bekämpfung des Verbrechens zur Verfügung stehenden Mittel miteinander. Das Verhältnis beider zueinander wird im schweizerischen Strafgesetzentwurf so gestaltet, dass gegenüber dem einer besondern Verhandlung bedürftigen vermindert Zurechnungsfähigen der Vollzug der ausgesprochenen Strafe vorläufig eingestellt wird. Zunächst soll die Heilbehandlung einsetzen. Ist ihr Grund weggefallen, so hat der Richter abschliessend zu entscheiden, ob und inwieweit die erkannte Strafe noch zu vollziehen ist, (Art. 13-15 des Entwurfes).

Hat man so versucht, "durch eine Verbindung von mildern Strafen mit sichernden Massnahmen der psychischen und intellektuellen Eigenart des vermindert Zurechnungsfähigen gerecht zu werden, so ist damit einer andern Kategorie noch nicht Genüge geschehen — dem jugendlichen Delinquenten. Seine Stellung in der Geschichte des Strafrechts ist von besonderer Eigenart. Diese Entwicklung kann freilich hier nur angedeutet werden. Sie schwingt zwischen zwei Punkten. Auf der einen Seite steht die allerdings seit Langem völlig verschwundene Auffassung, dass der Strafrichter auf das jugendliche Alter eines Delinquenten überhaupt keine Rücksicht zu nehmen habe. Auf der andern Seite wird gefordert, dass junge Menschen, etwa bis zum zurückgelegten 18. Altersjahr, für eine Missetat überhaupt nicht bestraft, sondern nur fürsorglich behandelt werden sollten. Auch in diesem Zwiespalt kann nur die Stellungnahme zur Frage der Strafschuld zu befriedigenden Ergebnissen führen. Aber wiederum liegt das Unheil in der Unabgeklärtheit des allgemeinen Schuldproblems. Zwar wird niemand der Behauptung widersprechen, dass der junge, auch körperlich noch nicht ausgereifte Mensch der sittlichen Persönlichkeit noch entbehrt. Aber fast unlösbare Zweifel steigen auf bei der Frage, ob der Unreife, noch in der Entwicklung Stehende deshalb überhaupt keine Schuld auf sich laden und daher auch nicht bestraft werden kann. Man ist geneigt, insbesondere um eine strafrechtliche Lösung zu finden, zwischen jugendlichem Alter und gewissen Zuständen der verminderten Zurechnungsfähigkeit eine Parallele zu ziehen. Allein es wäre

völlig unzureichend, die auf die vermindert Zurechnungsfähigen gemünzten Bestimmungen einfach auf den jugendlichen Delinquenten zu übertragen. Der junge Mensch, der eine als Vergehen bedrohte Tat begangen hat, bedarf einer besonderen strafrechtlichen Behandlung. Und wiederum ist es die Aufgabe des Strafrechts, juristisch diese Menschengruppen so zu kennzeichnen, dass der Schluss, was für eine Reaktion den Rechtsbrecher treffen soll, gezogen werden kann. Das Schwierigste ist hier die psychologisch richtige Unterscheidung der einzelnen Altersstufen. Da der Richter mit sicheren Maßen rechnen können muss, hat der Gesetzgeber diese Stufen zahlenmässig umschrieben. Der eidgenössische Strafgesetzentwurf, der hier nochmals als Beispiel für eine moderne kriminalpolitische Auffassung erwähnt werden soll, zeigt darin folgendes Bild:

Kinder unter vierzehn Jahren kommen für eine eigentliche strafrechtliche Behandlung überhaupt nicht in Betracht. Ihre strafrechtliche Unzurechnungsfähigkeit steht fest. Dagegen sollen, wenn das Kind sittlich verwahrlost, sittlich verdorben oder gefährdet erscheint, wenn es geisteskrank, schwachsinnig, blind, taubstumm oder epileptisch ist, die seinem Zustand angemessenen Anordnungen getroffen werden. Das ist wiederum typisches, in das Strafgesetz einbezogenes Massnahmenrecht, das aber weniger Sicherungs- als Fürsorgezwecken zu dienen bestimmt ist. Immerhin wagt sich auch schon in der für diese Altersstufe getroffenen Ordnung ein strafrechtliches Moment hervor. Die zuständige Behörde —die aber nie das ordentliche Strafgericht sein soll — hat das Kind, wenn sie es "fehlbar" findet, mit einem Verweis oder mit Schularrest zu bestrafen (Art. 84). Die Auffassung von der Strafschuld kommt also zum Vorschein, aber sie ist so völlig anderer Art, als bei ihrer Geltendmachung gegenüber dem reifen Menschen, dass man von einer eigentlichen strafrechtlichen Behandlung nicht sprechen darf. Anders bei den jugendlichen Rechtsbrechern zwischen dem vierzehnten und dem achtzehnten Lebensjahr. Ihre Behandlung vor Allem ist das psychologisch und juristisch schwierige Problem, denn hier begegnet man, sobald die Frage nach der Schuld aufgeworfen wird, ganz verschiedenen Auffassungen. In der

Bejahung einer Schuld ist der eidgenössische Gesetzesentwurf auch hier von äusserster Zurückhaltung. Der Richter soll wiederum untersuchen, ob der junge Mensch sittlich verwahrlost, sittlich verdorben oder gefährdet, geisteskrank, schwachsinnig oder in seiner geistigen oder sittlichen Entwicklung ungewöhnlich zurückgeblieben ist. Sobald solche Symptome festgestellt werden, soll nach dem Entwurf auch hier eine strafrechtliche Schuld verneint werden und nicht auf eine Strafe, sondern nur auf fürsorgliche und nötigenfalls sichernde Massnahmen erkannt werden. Eine auch strafrechtlich zu wertende Schuld muss aber, wenn man sich nicht von allzu schwächlichen Überlegungen leiten lässt, auf dieser Altersstufe in gewissen Fällen doch angenommen werden. Der jugendliche Mörder, der Dieb, der Brandstifter, der Notzüchter ist zu bestrafen, wenn nach dem verständnisvollen Ermessen des Richters eine Schuld als festgestellt gelten muss. Immer aber wird man bei einer Bestrafung die Jugendlichkeit, die Unreife in Rechnung stellen, entweder indem man die für den erwachsenen Verbrecher bestimmten Strafen bei ihrer Anwendung auf Jugendliche mildert oder besser, indem man, wie die neuem Gesetze es tun, für diese jungen Menschen ein besonderes Strafensystem aufstellt.

Zwei Leitgedanken bestimmten meine Ausführungen:

Einmal der Satz, dass ohne Schuld keine Strafe mehr möglich sein sollte und zum Andern die These, dass der Fortschritt des Strafrechts an der Verfeinerung der Schuldlehre zu messen ist. Das sind nicht nur juristische, sondern auch ethische Postulate. Gelingt es, durch immer feinere•Unterscheidungen, den schuldhaft handelnden vom schuldlosen Rechtsbrecher zu sondern und jeden nach seinem Maß —entweder mit Strafen oder mit Massnahmen — zu treffen, so wird der Kampf gegen das Verbrechen aussichtsvoller werden. Ja man wird dann sogar wagen können, ein Wort wieder zu Ehren zu bringen, das in Jahrhunderten mißbraucht und zur Quelle schlimmster Streitigkeiten geworden ist, das Wort: Vergeltung. Man hat mit Emphase behauptet, der einzige Zweck der Strafe sei die Vergeltung

einer Missetat. Man hat sich dem Wahne hingegeben, es sei möglich, in einer fast mathematischen Gleichsetzung ein Verbrechen und die darauf auszusprechende Strafe gegeneinander abzuwiegen. Über diesem Bemühen, die Wiedervergeltung als das oberste Gesetz des Strafrechts zu erweisen und ein taugliches Talionsprinzip zu finden, hat man den Menschen vergessen, hat man das Recht mechanisiert. Nein, der Zweck der Strafe kann nicht Vergeltung sein. Sie strebt nach andern Zielen. Sie soll einmal, wenn durch das Verbrechen eine schwere Störung der Rechtsordnung herbeigeführt worden ist, diese Ordnung so gut als möglich wiederherstellen. Sie soll zugleich durch die Aufstellung eines Exempels der Gesamtheit der Rechtsgenossen zur Warnung und Abschreckung dienen. Vor Allem aber soll sie versuchen, auf den einzelnen Rechtsbrecher so einzuwirken, ihn so zu behandeln, dass er die Gesellschaft mit weitern Schädigungen verschont. Dieser Gedanke der Spezialprävention führt mit Notwendigkeit zu einer immer feinem Ausgestaltung der Schuldlehre. Er hat einerseits zur Folge, dass man die schuldlos Handelnden — die Unzurechnungsfähigen und in einem gewissen Umfange die Jugendlichen — aus dem eigentlichen Strafrecht ausscheidet und für sie ein System der sichernden und fürsorglichen Massnahmen entwickelt. Er lässt uns anderseits aber auch nach dem Maße ihrer Schuld die zurechnungsfähigen Rechtsbrecher unterscheiden und richtet die Strafe nach ihrer Persönlichkeit. Der Verbrecher aus Leichtsinn und Gelegenheit muss anders getroffen werden, als der Verbrecher aus Liederlichkeit und Willensschwäche oder gar als der Mensch, dem das Verbrechen zur Gewohnheit und zum Gewerbe geworden ist. So will das Recht Jeden mit seinem Maße messen und wenn ihm das gelingt, so ist es zu einer gerechten Vergeltung gelangt. Die gerechte Vergeltung aber ist zu einer Eigenschaft der Strafe und der Sicherungsmassnahme geworden.

Noch ist Vieles aus diesen Gedanken nur Plan, nicht Erfüllung. Und die letzten Ziele wird auch hier der Mensch nie erreichen. Aber schon das Streben nach der Gerechtigkeit ist ihm unverlierbarer Gewinn.