Psychisches
in den Körperfunktionen und
in der Entwicklung der Arten
Festrede
des Rektors
Prof. Dr. EUGEN BLEULER
gehalten
an der 91. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 29. April 1924
Zürich 1924.
Druck und Verlag: Art. Institut Orell Füssli.
In der Entwicklung der Lebewesen vermag die Auslese nur
Unzulängliches auszumerzen, nicht aber neue Wege zu finden.
Man suchte deshalb notgedrungen seit langem nach irgendeinem
Prinzip, das aktive Anpassung oder "Vervollkommnung" oder
wenigstens zunehmende Komplikation der Organismen bedingen
könnte. Lamarck hat eine solche Anpassung der Lebewesen
durch Übung oder aus einem "innern Gefühl des Bedürfnisses"
heraus angenommen; aber weder ihm noch seinen modernen
Nachfolgern ist es gelungen, die Zielstrebigkeit in ihrem Walten
wirklich zu beobachten oder nach Analogie des schon Bestehenden
verstehbar zu machen, so dass Plate die Anschauungen
Lamarcks als "nebelhaft" und die der Neolamarckisten als
"absurd"bezeichnete, und Weismanns Theorie ernst genommen
werden konnte, die jeden Einfluss eines Bedürfnisses auf die
Anpassung leugnet und rein auf den Zufall abstellt, es der Auslese
überlassend, aus einer Unendlichkeit von ziellosen Variationen
einzelne lebensfähige Formen herauszuzüchten. Man hat
aber nicht untersucht, ob der Zufall fähig wäre, das von ihm
Geforderte zu leisten. Sieht man nun genauer zu, so erweist er
sich dazu gänzlich ungeeignet.
Es gibt Arten, die durch mehrere geologische Zeitalter gleich
geblieben sind; ihre innern Möglichkeiten zu spontaner, zufälliger
Variation müssten also äusserst geringe sein — wenn nicht
irgendein zufallsfremder Einfluss die Art auf ihrem Optimum
festhält. Bildet nun die Verwitterung eines Felsens zufällig
eine menschenähnliche Form, so mag diese Jahrtausenden standhalten;
aber langer Zeiträume bedurfte auch die Entstehung
dieser Gestalt; wir dürften nicht erwarten, dass innert übersehbarer
Zeiten der wenig variable Felsen neue menschenähnliche
Gestalten hervorbringe. Wenn dagegen der Wind mit
Sand spielt und einem Haufen zufällig einmal eine gewisse
Ähnlichkeit mit einem daliegenden Menschen gibt, so wird der
nächste Windstoss die Form ebenso schnell verwehen, wie sie
der vorhergehende gebildet hat. So müssten labile Arten, die
innert absehbarer Zeiträume neue Eigenschaftskombinationen
hervorbringen können, so weit der Zufall in Betracht kommt,
auch wieder rasch verschwinden, zu einem ganz kleinen Teil
vielleicht durch Umwandlung in neue Arten, meistens aber
durch Aussterben; denn die Zahl der lebenvernichtenden möglichen
Änderungen ist ja unendlich, die der nützlichen äusserst
gering. Die Lebensdauer der bestehenden Arten müsste also,
wenn der Zufall dieselben geschaffen hätte, im grossen und
ganzen in einem bestimmten Verhältnis zu der Entstehungsdauer
und der Stabilität der Art überhaupt stehen; Zufallsformen,
die sich eine ganze oder auch nur eine halbe Million
Jahre gleich erhalten, würden eine so geringe Veränderlichkeit
voraussetzen, dass die verfügbare Zeit zur Bildung eines ausgesprochenen
Merkmals kaum genügend wäre.
Nehmen wir die besser übersehbare Entwicklung eines Auges
mit Schutzdeckel, Hornhaut, Linse, Glaskörper, Pigmentschicht,
Netzhaut, nur in einem Organismus von einem Kubikzentimeter
Grösse, so ergibt sich schon für das richtige lokale
Zusammentreffen, für die fokale Einstellung dieser Organe,
eine Unwahrscheinlichkeit von eins zu etwa einer Quintillion.
Um nun aber ein Auge zu bilden, sind noch sehr viele andere
Bedingungen zu erfüllen; man denke an die Anordnung von
Tausenden von Nervenendigungen im Verhältnis zu den Pigmentkörperchen;
ferner müsste überhaupt die Fähigkeit, an
passender Stelle eine Linse zu bilden, im Gewebe vorhanden
sein, was sich als eine ganz verzwickte Zumutung erweist, wenn
wir berücksichtigen, dass neue Organe an unnützen Orten niemals
auch nur andeutungsweise beobachtet worden sind, obschon
ein Augennerv in der Leber oder eine Netzhaut im Oberschenkel
nicht so viel schaden könnten, um die Auslese in Aktion
zu setzen. Es müssten ferner alle Instinkte des Tieres, die eine
Benutzung optischer Wahrnehmungen nötig oder möglich
machen, und die dazugehörigen Gestalten und Funktionen der
Bewegungsorgane des Individuums gleichzeitig gebildet werden,
und das, und noch vieles andere, auch gleichzeitig bei einem
grossen Teil aller Individuen einer Art in einem bestimmten
Gebiet. Was wollen solchen Zahlen und Verhältnissen gegenüber
eine Million Jahre besagen, die man allerhöchstens geneigt ist,
der Bildung einer Art zu gewähren?
Nun handelt es sich aber bei der Entwicklung der Arten
niemals bloss um ein einziges Organ oder Merkmal, sondern
immer um eine Umbildung aller seiner zahlreichen Eigenschaften,
die unendlich fein aneinander angepasst sein müssen,
um als harmonische Einheit den Bestand des Lebens zu ermöglichen.
Noch jetzt formuliert trotzdem eines der neuesten
führenden Werke: der Frosch bekommt nicht deswegen Lungen
und Gangbeine, weil er sich gezwungen sieht, aufs Land zu
gehen, sondern er geht aufs Land, weil er (zufällig) seine Kiemen
und Flossen verloren und an deren Stelle zum Landleben geeignete
Organe bekommen hat. Diese Vorstellung setzt eine
Unendlichkeit von Unwahrscheinlichkeiten voraus. Das Wassertier,
das seine Kiemen verliert, ist ja eine arme Missgeburt, die
ertrinkt, auch wenn sie zufällig gleichzeitig Lungen bekommen
hat, und wenn sie zufällig aufs Land geworfen würde, so würde
sie ersticken, weil sie mit den Lungen nichts anzufangen wüsste,
und sie würde verhungern, weil sie die Nahrung, die ihre Instinkte
und Reflexe ihr verschaffen können, nicht mehr findet,
und weil sie mit ihren Flossen sie nicht erreichen könnte. Kurz,
unzählbare Funktionen und Chemismen und Organe müssten
gleichzeitig in ganz bestimmter Richtung umgestaltet sein, um
das Geschöpf lebensfähig zu machen. Ein einziger der notwendigen
Reflexe verlangt ein Gewirre von Nervenfasern in
genau fixierter Anordnung, und da müsste zufällig jedes einzelne
Fäserchen nicht nur im richtigen Zeitpunkt entstanden sein,
sondern so zu liegen kommen, dass es mit den andern zusammen
seine ganz spezielle an bestimmte Verhältnisse angepasste und
sich individuell weiter anpassende Funktion ausüben könnte.
Und nun werde von den Millionen Einzelheiten in tausend Jahren
eine geschaffen — bis die andern Millionen Teilfunktionen und
Teilorgane zufällig aus einer, wörtlich, unendlichen Menge von
Möglichkeiten sich eingestellt hätten, müsste die erste Teilerscheinung
schon lange wieder der Veränderlichkeit zum Opfer
gefallen sein, und die Artentwicklung müsste von vorn anfangen.
Und wenn einmal tausend neue Eigenschaften gleichzeitig
vorhanden wären, so würden sie erst keinen lebensfähigen
Organismus, sondern ein Chaos von sich widersprechenden oder
jedenfalls nicht zusammengehörenden Funktionen und Organen
bilden; denn eine aktive Abstimmung der Einzelfunktionen
auf einander, wie wir sie innerhalb der Individuen sehen,
wäre ja in der Generationsfolge ausgeschlossen. Noch niemals
aber haben wir ein neues Organ auch nur angedeutet angetroffen,
das nicht in harmonischem Einklang wäre mit allen andern
Eigenschaften seines Trägers.
Nach Einigen sollen die Mutationen über den Graben helfen;
aber die Unwahrscheinlichkeiten werden nicht kleiner, wenn
man einzelne Eigenschaften in zufälliger Richtung sich plötzlich
ändern lässt. In der Grosszahl der Mutationen, wenn nicht in
allen, ist ausserdem der Zufall in diesem Sinne schon wegen
der Häufigkeit lebensfähiger Resultate auszuschliessen; Lebensfähigkeit
bedeutet hier ja eine harmonische Umbildung und
Anpassung vieler, in gewissem Sinne aller, alten Eigenschaften
an die neue. Die Häufigkeit der Wiederholungen ganz bestimmt
gerichteter Mutationen beweist übrigens, dass sie, wenigstens in
der Mehrzahl, Ausdruck irgendwelcher Tendenzen sind, die zum
Voraus schon in der Ursprungsart bereit liegen. Deshalb, und
aus noch anderen Gründen fällt es mir überhaupt nicht ein,
an Mutationen im ursprünglichen Sinne von de Fries zu glauben.
In der Physiologie des Individuums sehen wir lauter raffiniert
zweckmässige Einrichtungen. Wenn der Zufall sie zu schaffen
vermochte, warum konnte er nicht auch die zweckmässigste
aller Einrichtungen hervorbringen, diejenige, die eine richtige
Anpassung der Arten an die wechselnden Umstände garantiert,
d. h. die Vererbung erworbener Eigenschaften? Dass er gerade
das nicht getan, wäre um so auffallender, als die Vererbung der
individuellen Anpassung sich leichter als alle andern Eigenschaften
entwickeln könnte, weil sie, auch nur in leisen Andeutungen
vorhanden, den mit ihr begabten Wesen die gewaltigste
Waffe im Kampf ums Dasein verliehen hätte.
Nun ist aber daran zu denken, dass erfahrungsgemäss unter
veränderten äusseren Umständen, Bastardierung, Domestikation,
Versetzung von Pflanzen in zu mageren und zu fetten
Boden, Veränderung der Temperatur, und unter vielen anderen
Einflüssen, die die Züchter benutzen, oder die ein Klimawechsel
mit sich bringt, erfahrungsgemäss die Stabilität einer Art ins
Wanken kommt; die Auslese mag dann einzelne neue, an die
veränderten Verhältnisse angepasste Formen am Leben erhalten,
und möglicherweise können diese wieder stabilisiert werden,
sobald die Umstände gleich bleiben. Dem ist unter anderem
entgegenzuhalten, dass, so weit nicht Neukombinationen von
Eigenschaften in Bastardierungen, oder Ausnutzung der von
jeher in der Art liegenden Variationsmöglichkeiten und event.
Vererbung erworbener Eigenschaften in Betracht kommen, die
Beständigkeit solcher neuer Formen eine so geringe ist, dass
man kaum anzunehmen vermag, es könnte ohne die schützende
Hand des Menschen eine so grosse Zahl derselben erhalten
bleiben, wie sie zu einer Artbildung nötig wäre.
Doch sind das Nebensachen; von dem Augenblicke an, da
man den äusseren Umständen auch nur einen die Variabilität
erhöhenden oder beschränkenden Einfluss zuschreibt, ist das
Prinzip der zufälligen Änderung aufgegeben, und hat man es
mit einer zielgerichteten Anpassung zu tun, gehe sie nun durch
die Erfahrungen des Körpers oder des Keimes.
Um auf den Zufall abzustellen, müsste man ferner nachweisen,
dass er wirklich die Materialien und Kräfte zur Verfügung
hat, die die vorkommenden Neugestaltungen erlauben.
Die Verwitterung eines Felsens wird aus physikalischen Gründen
niemals eine genaue menschliche Form hervorbringen können;
ein Tropfstein wird niemals eine genaue Tischform nachahmen,
eine Höhle keine menschliche Wohnung. Letzteres schon deshalb.
nicht, weil die gestaltenden Kräfte keine Möglichkeit
haben, rechtwinklige Formen zu schaffen. Könnte der Zufall
aus lebender Substanz ein Auge bilden? Es hat noch niemand
das wahrscheinlich zu machen nur versucht, und ich vermute,
es wäre so unmöglich, wie wenn er aus einer Urne mit lauter
weissen und schwarzen Kugeln drei rote herausgeben sollte.
Ist nun die blosse Zufallsvariation als positiver Faktor der
Entwicklung der Arten ausgeschlossen, so bleibt nur die Annahme
entweder einer Zielstrebigkeit in der Funktion der lebenden
Substanz selber, oder dann die einer absichtlichen Formierung
von aussen, etwa wie der Techniker eine Lokomotive
zweckmässig konstruiert. Mit der letzteren Möglichkeit rechnet
man in der modernen Wissenschaft nicht —mit Recht, sehen wir
doch in dem Weltgeschehen, so weit wir es verfolgen können,
niemals etwas anderes als einen direkten Zusammenhang des im
Gang befindlichen Mechanismus nach kausalen Verbindungen.
Die so zu postulierende Zielstrebigkeit der lebenden Substanz
ist nun nachweisbar und verstehbar. Zunächst sehen wir sie
als funktionelle Anpassungstendenz des Individuums, ohne die
unter unsern wechselnden Umständen ein lebefähiges Ding
nicht existieren könnte. Wichtig ist dabei, dass die Anpassungsreaktion
nicht nur gegenwärtige Erfahrungen, sondern auch
vergangene benutzt. Bewimperte Einzeller flimmern dargebotene
Tuschekörnchen zunächst wie Nahrungskörper in den
Mund, stossen sie aber aus und nehmen sie dann bald überhaupt
nicht mehr an, wie wenn sie nun ihre Unverdaulichkeit kennen
gelernt hätten. Sie kürzen auch unter bestimmten Umständen
den Weg zur Nahrung nach Massgabe der Erfahrung ab, reagieren
auf wiederholte einseitige Belichtungen rascher als auf
die erste. Unser Körper härtet uns gegen eine Menge von Einflüssen
ab, indem er anders als früher darauf reagiert. Das Kind,
das sich an einer Flamme gebrannt hat, zieht nicht nur den
Finger zurück, sondern widersteht von nun an allen Lockungen
der glänzenden Hitzequelle, sie zu berühren. Die Koordination
der Bewegungen beim Schreiben wird durch Wiederholung
immer geschickter und automatischer. Das ABC oder Gedichte
werden durch öfteres Hersagen auswendig gelernt. Alle diese
Funktionen haben etwas Gemeinsames, das wir mit Hering
Gedächtnis oder mit Semon Mneme nennen, wobei wir uns auf
den sinnlosen Streit nicht einlassen, ob es auch "Gedächtnis"
nach irgend einer andern Definition sei. Tatsache ist, dass auf
allen diesen Gebieten durch Nachwirkung früherer Erfahrungen
ähnliche Reaktionen später in Art und Stärke anders, leichter
und meist angepasster verlaufen. Die lebende Substanz sammelt
Erfahrungen, richtet ihr späteres Handeln darnach, und es
kommt ihr Summierungsmöglichkeit von Reizen und Übungsfähigkeit
zu.
Diese Art zweckmässiger Anpassung ist man gewohnt, wie
das ihr zugrunde liegende Gedächtnis nur einer Psyche zuzuschreiben,
und die Analogie solcher körperlicher Funktionen
mit dem psychischen Verhalten ist denn auch von jeher aufgefallen.
Pauly, der, von ganz anderen Erwägungen ausgehend,
die prinzipielle Zweckmässigkeit der Umgestaltung der Organismen
nachgewiesen hat, redet dabei direkt vom Walten einer
Psyche. Es wäre nun ganz müssig, sich darüber zu streiten, ob
man es da wirklich mit einer Psyche zu tun habe oder nicht.
Die Antwort hängt in erster Linie davon ab, wie man den
Begriff der Psyche umschreibt. Wenn man die Bewusstheitsqualität,
das innere Wissen um das, was der Organismus erfährt
oder tut, als das Kriterium betrachtet, so müsste man zuerst
wieder untersuchen, ob der Organismus eine solche Bewusstheit
hat, und wir würden damit nicht fertig. Ich erwähne nur, dass
der Naturwissenschafter einerseits keinen Grund hat, ein solches
Kriterium anzunehmen, und dass er anderseits auch die
Bewusstheit aus den bekannten physiologischen Funktionen
ableiten kann. Doch ist das heute Nebensache. Wir beschränken
uns darauf, die Psyche und die körperlichen Funktionen
objektiv anzusehen und das Gemeinsame von beiden unter einem
Begriff herauszuheben; können wir doch die Psyche von Tieren
und von Geisteskranken —und auch die jedes andern Menschen
— studieren, ohne uns darum zu kümmern, wie jedes
seine Gefühle und Gedanken selbst wahrnimmt.
Da finden wir bei Organismus und Psyche ganz allgemein
eine Tendenz, das Leben zu erhalten, nicht nur passiv widerstehend,
sondern aktiv Energiespender aufnehmend, die Energien
verwendend zu Angriff und Verteidigung und vor allem
zur Anpassung an die wechselnden Umstände. Eine solche
lebendige Anpassung setzt Erfahrung, Gedächtnis voraus.
In dem Begriff des Gedächtnisses ist eingeschlossen der der
Assoziation,: das Kind sieht die Flamme; dadurch werden die
Spuren (Engramme) des früheren Erlebnisses: Flamme-Berührung-Schmerz-Zurückziehen
wieder belebt (ekphoriert);
aber die allgemeine Tendenz, das Schädliche, d. h. das Schmerzhafte
zu vermeiden, äussert sich seit der Erfahrung vom Gebranntwerden
schon beim Sehen der Flamme in Zurückziehen
des Fingers oder doch in Unterdrückung der Berührungstendenz,
d. h. das ekphorierte Engramm des Schmerzes, das an
das Engramm "Flamme-berühren" durch gleichzeitiges Erleben
assoziiert ist, verhindert die neue Berührung der Flamme
genau wie ein gegenwärtiger Schmerz. In psychischen Ausdrücken
würden wir sagen: das Kind hat erfahren, dass die
Berührung der Flamme schmerzt; es hat Angst vor ihr bekommen
und vermeidet sie deshalb. Genau das Gleiche könnte sich
aber auch bloss nervenphysiologisch abspielen, als bedingter
Reflex in Zusammenarbeit höherer und tieferer Zentren, als
einfacher Reflex im Rückenmark, im letzteren Falle hauptsächlich
statt individueller Erfahrungen diejenigen von langen
Vorfahrenreihen benutzend. Auf solcher Wiederbelebung von
Gedächtnisspuren nach Analogie der erlebten Verbindungen
von Engrammen, die sich ganz gleich psychisch oder physisch
beschreiben lässt, beruhen die physiologischen Anpassungen und
in der Psyche, d. h. in der Hirnrindenfunktion nicht nur einfache,
sondern, wie sich leicht zeigen lässt, auch die höchsten
psychischen Reaktionen, so vor allem die logischen Formen
und der Inhalt unseres Denkens und die Bewusstheitsqualität,
und es ist hinzuzufügen, dass die angedeuteten Tatsachen überhaupt
genügen, um die ganze Psyche so weit zu verstehen, wie
wir eine andere physiologische Funktion, sagen wir die Verdauung,
verstehen. Wir kennen also keinen Grund, in unserer
Psyche noch andere Elemente zu vermuten.
So sind unter diesen Gesichtspunkten Funktionen der
Psyche, des Zentralnervensystems und des übrigen Körpers
wesensgleich. In bezug auf das "Gedächtnis der lebenden
Materie" hat Hering diesen Zusammenhang schon längst klar
gestellt und dazu gezeigt, dass auch die Wiederholung der Entwicklung
der Vorfahren in der des Individuums, die Vererbung
und das, was sich vererbt, ein diesen Gedächtnisäusserungen
gleicher Vorgang ist. Er findet freilich auch jetzt noch von
manchen Seiten Widerspruch; aber die Einwände, die gemacht
worden sind, stammen nicht aus der Beobachtung und sind
naturwissenschaftlich unhaltbar. Die Entstehung der Lebewesen
aus den Keimen ist also bis jetzt nur als die Folge einer
Ekphorie von phylischen Engrammen vorstellbar. Man meint
allerdings gewöhnlich noch, dass die verschiedenen Erbeigenschaften
im Keim durch bestimmte Molekülgruppen dargestellt
seien; doch ist das aus verschiedenen Gründen unmöglich;
widerspruchslos lässt sich nur die Engrammauffassung durchdenken.
Zum Verständnis der Vererbungstatsachen ist nun noch eine
andere Gruppe von körperlichen Funktionen herbeizuziehen,
die ebenfalls wesensgleich ist mit objektiv betrachteten psychischen
Vorgängen: der Nachrichtendienst zwischen den einzelnen
Körperelementen, der es erlaubt, dass die einen Körperbestandteile
in ganz ausgedehntem Masse sich nach dem richten können,
was in den andern vorgeht. Wenn ein Seeigelei sich in zwei —
oder sogar schon in mehrere — Zellen geteilt hat, und man
isoliert eine derselben, so kann aus dieser eine ganze Seeigellarve
entstehen. Die Wegnahme des andern Teils wirkt auf sie,
wie wenn sie "wüsste", dass etwas fehlt und was zu ergänzen
ist und wie sie die Ergänzung bewerkstelligen kann. Es ist also
in irgendeiner Form in jeder einzelnen dieser Zellen der ganze
"Bauplan" des Tieres aktionsfähig vorhanden, und er wird
ausgeführt mit Hilfe der Kenntnis, die jede Zelle von dem besitzt,
was die andern tun und zu tun haben. Und wenn man
von einer Organanlage, z. B. von dem Zellenhäufchen, das eine
Gelenkpfanne werden soll, die Hälfte wegnimmt, so kann der
Rest doch wieder ein ganzes Organ in der richtigen Form bilden,
wenn auch meist um die Hälfte kleiner. Was da vor sich geht,
kann man bezeichnenderweise in andern als psychologischen
Ausdrücken gar nicht kurz beschreiben; ich wende solche deshalb
an, mit der Bitte, ja nichts hineinzulegen, was nicht in den
genannten Tatsachen schon enthalten ist. Jede der übrig bleibenden
Zellen hat also "bemerkt", wie viele und welche von den
andern fehlen, und jede richtet ihre Tätigkeit in steter Fühlung
mit der aller andern so ein, dass auch mit dem verminderten
Material wieder ein Organ entsteht, von der Form, wie sie im
Bauplan vorgesehen ist. Oder, wenn man bei gewissen Embryonen
im Vielzellenstadium ein Stückchen, das Haut werden
sollte, mit einem andern, das zu einem Gehirnteil bestimmt war,
vertauscht, so wird jedes derselben so beeinflusst, dass es den
Körperteil nicht bildet, zu dem es bestimmt war, sondern den,
der an jene Stelle gehört. Viele einfachere Tiere bis hinauf zum
Regenwurm lassen sich in Stücke schneiden und bilden aus
jedem ein neues ganzes Tier. Zellen der Schnittfläche wissen
also, was fehlt, und können es ersetzen, was keine Kleinigkeit
ist; man denke nur an die Bildung des Gehirns mit seinen
Sinneszentren und seinen Instinkten. Schneidet man einem
jungen Molch den grösseren Teil eines Beines ab, so ersetzt er
das Fehlende, aber zunächst so, dass auch der übrig gebliebene
Stumpf umgewandelt wird, bis er die richtigen Grössenverhältnisse
zu dem zunächst zu kleinen neuen Beinteil besitzt. Der
Stumpf weiss also nicht nur, was er ergänzen soll; er weiss
auch in jedem Stadium der Regeneration, wie gross der nachwachsende
Teil ist, und wie er sich mit diesem ins Gleichgewicht
setzen kann. Jede Zelle kann allen andern Einflüsse zusenden,
die bei den Empfängern vollständig die Wirkung von Nachrichten
haben, die dort verstanden, und, was besonders bemerkenswert
ist, zu einem Gesamtbilde verarbeitet werden,
genau wie unsere Psyche sich aus verschiedenen Einzelnachrichten
über einen Vorgang oder über Teile eines Gegenstandes
ein Gesamtbild des Vorganges oder des Gegenstandes schafft;
und auf dieses Gesamtbild wird reagiert, nicht auf die Einzelreize.
Alles das, der allgemeine Bauplan, nach dem sich die
aufbauende Tätigkeit jeder einzelnen Zelle richtet, die Benachrichtigung
jedes Teils durch den andern, das Verständnis (d. h.
die entsprechende Reaktion jeder Zelle auf die Nachrichten),
und die Verarbeitung der Einzelbotschaften zu einem Gesamtbild,
nach dem in jedem Moment die Handlung sich richtet —
all das sind Funktionen, die man für gewöhnlich nur bei einer
Psyche beachtet.
Der Nachrichtendienst, die allgemeine Assoziation aller
dieser den psychischen gleichen Funktionen des Körpers integrieren
diese zu einer Einheit genau im gleichen Sinne wie die
aus unendlich vielen Bausteinen zusammengesetzte Psyche
eine Einheit darstellt. Wir nennen sie die Psychoide, wobei
noch einmal betont sei, dass mit diesem Ausdruck und mit dem
ganzen Vergleich mit der Psyche nichts in den Begriff hineingelegt
werden darf, als was sich aus den Beobachtungen und den
daraus mit Notwendigkeit folgenden Schlüssen ergibt; dadurch
unterscheidet sie sich von dem "Psychoid" Drieschs.
Viel früher und genauer als beim Aufbau des Körpers hat
man die Psychoide arbeiten sehen in den körperlichen Funktionen;
da sammelt sie bekanntlich Erfahrungen, nach denen
sie die innere Tätigkeit reguliert; der Körper "gewöhnt sich"
an Wärme und Kälte und tausend andere äussere Einwirkungen;
seine Psychoide erweitert die Blutgefässe, die zu den Stellen
gehen, wo mehr Blut gebraucht wird, verstärkt die besonders
angestrengten Muskeln — nicht direkt durch vermehrte Blutzufuhr;
der Organismus weiss damit nichts anzufangen in einem
Teile, der nicht seine Kraftausgabe oder seine Masse gerade vergrössern
möchte; aber er schafft jedem Organ die Blutzufuhr, die
es gerade nötig hat, und das mit einer Präzision, die unsere
bewusste Psyche niemals erreichen könnte. So passt die Psychoide
den funktionierenden Organismus an die Umstände an;
sie verändert ihn innert bestimmter Grenzen. Auf physiologischem
Gebiet sind das ja bekannte Dinge.
Nun aber die Vererbung solcher Anpassungen des Individuums.
Es sollte selbstverständlich sein, muss aber auch
jetzt noch gesagt werden, dass eine Vererbung in einer oder in
wenigen Generationen erworbener Eigenschaften sich niemals
allgemein herausbilden oder auf die Dauer halten könnte. Wenn
man friert, so kann die Psyche dem Körper einen Pelz anziehen,
aber die Psychoide darf ihm nicht einen wachsen lassen, sonst
käme man am nächsten warmen Tage in Verlegenheit; kurz,
vererben können sich im grossen und ganzen nur solche Eigenschaften,
die durch viele Generationen hindurch notwendig
oder sehr nützlich waren, und zwar nützlich nicht nur einem
einzelnen, sondern einer ganzen Lebensgemeinschaft. Wenn
Weismann neunzehn Generationen von Mäusen die Schwänze
abschnitt, und doch wieder gleichlange entstehen sah, so hat
das für seine Lehre so wenig Beweiskraft wie der Umstand,
dass die seit Noahs Tagen beschnittenen Reben noch lange
Schosse tragen. Abschneiden eines Organes kann niemals Verlust
desselben in den folgenden Geschlechtern zur direkten Folge
haben; wenn überhaupt eine Wirkung in Betracht käme, müsste
sich umgekehrt eine (bessere) Regenerationsfähigkeit des Organes
entwickeln.
Dem gegenüber ist zunächst die Vererbung erworbener
Eigenschaften einfach ein logisches Postulat von dem Moment
an, da weder der Zufall noch eine Intelligenz ausserhalb der
Organismen als das Schaffende gelten kann.
Es wäre aber auch ohne alle Analogie, wenn die Entwicklung
der Arten nicht ebenso gut zweckmässig verlaufen würde
wie ausnahmslos alle physiologischen Funktionen des einzelnen;
setzt doch die Natur aus selbstverständlichen Gründen die
Existenz der Art immer über die des Individuums. Und ebenso
wäre es eine Sonderbarkeit ersten Ranges, wenn alle Körperzellen
von dem Geschehen in den übrigen Teilen des Körpers
benachrichtigt würden, nur die Keimzellen nicht, die die Botschaften
für die allerwichtigste Funktion, die Erhaltung und
Entwicklung der Arten notwendig brauchen.
So ist die Annahme wohl unabweislich, dass die Keimzellen
so gut wie die Körperzellen vernehmen, was der Körper für
neue Bedürfnisse habe, dass sie das im Gedächtnis behalten,
und dass sie, wenn sie durch Generationen die nämlichen Nachrichten
bekommen, nach Art jedes nervösen oder psychischen
Gedächtnisses die Variationsreize summieren und mit der Zeit
auf deren Anregung eine neue Eigenschaft entwickeln.
Ein bestimmter Muskel wird dicker durch starken Gebrauch;
die andern Zellen vernehmen die Veränderung. Die Gefässe
reagieren physiologisch und anatomisch im Sinne der nötigen
stärkeren Blutversorgung des Muskels. Andere Organe verlieren
ein wenig an Dignität, natürlich relativ. Jede Zelle weiss, dass das
Ganze einen dickeren Muskel haben muss; jede tut ihre Pflicht
dazu unter Abfindung mit ihren übrigen Obliegenheiten, wozu
gehören: positive und negative Änderungen in Blutverteilung,
Ausscheidung oder Regeneration verbrauchter Stoffe, Lieferung
neuen Materials zu Arbeit und Aufbau, Anpassung von Knochen
und Haut an neue räumliche und dynamische Verhältnisse usw.
Die Keimzelle nun hat die Aufgabe, einen neuen Körper aufzubauen,
der den veränderten Bedürfnissen angepasst ist. In
jeder Muskelzelle ist ein Mechanismus, der die Fasern auf
Arbeitsreiz wachsen lässt. Zu den andern Zellen kommt aber
nicht der Arbeitsreiz als solcher, sondern nur ein Symbol, eine
Nachricht von demselben; sie verstehen die Sprache, die die
Muskelzelle spricht; so auch die Keimzelle; sie weiss die Nachricht
zu deuten, und sie bewahrt sie als Engramm auf, bis
dieselbe in der Entwicklung des neuen Individuums aktuell
werden kann. Es handelt sich also nicht um eine Parallelinduktion",
um einen identischen Vorgang im Muskel und im
Keim.
Eine Wärmereaktion schafft in der Haut eine Farbe, im
Keim aber eine Disposition, in der später zu bildenden Haut
des Jungen die nämliche Farbe zu erzeugen. Das sind zwei verschiedene
Dinge. Dass aber dennoch der Keim die Eigenschaft
hat, mit einer Disposition zu reagieren, die später einen analogen
Erfolg hat wie jetzt die Wirkung auf die Haut, wäre auch bei
Annahme von Parallelinduktion wieder nur teleologisch aufzufassen
und würde einfach die Vererbung erworbener Eigenschaften
in der Kausalkette um ein Glied zurückschieben, aber
bestehen lassen. Es ist ja gleich, ob die Veränderung (Anpassung)
vom Organ oder vom Keime aus geschieht.
Die Vorfahrenart unseres Pferdes sei durch die Umstände
veranlasst worden, statt oder neben dem einfachen Gange mehr
das Springen zu benutzen. Ein tüchtiges Springbein bedarf
aber mehr als der zwei damals vorhandenen langen Beinabschnitte.
Die Art streckt also beim Springen einen der kurzen
Beinteile, den Mittelfuss, zunächst funktionell so stark als
möglich, so wie wir der Hand z. B. beim Durchschlüpfen durch
ein enges Loch die geeignetste Form geben. Wie an vielen Orten,
z. B. bei der Erweiterung der Gefässe durch das Blutbedürfnis,
folgt der funktionellen Veränderung die anatomische. Der
Mittelfuss, d. h. sein längstes mediales Stück, verlängert sich
eine Spur, vielleicht noch nicht in den ersten hundert oder auch
tausend Generationen, aber dann immer mehr, je mehr sich
die Engramme über die gleichen Bedürfnisse summieren, wenn
wenigstens die Mehrzahl der Tiere in dem Zuchtkreis die gleiche
Änderung der Fortbewegung mitmacht. Die Auslese wird dann
diejenigen Stämme begünstigen, die die Wandlung am raschesten
vollziehen; so kann sich schon durch die Auslese sogar eine
Art "Tendenz"herausbilden, in den nächsten Generationen den
Mittelfuss stärker zu verlängern. Ist aber das Optimum erreicht,
der Mittelfuss zu einem langen Gliedabschnitt umgestaltet,
so wird der weitergehenden Veränderung auf dem
gleichen Wege Halt geboten. So wird die Labilität der Arten
unter wechselnden und ihre Stabilität unter gleichbleibenden
Verhältnissen verständlich.
Oder, ein bis anhin blinder Organismus bekommt das Bedürfnis
nach optischer Orientierung. Nun sind nach begründeter
Annahme Augen in verschiedenen Tierkreisen oder sogar bei
relativ verwandten Tieren offenbar unabhängig von einander
entstanden. Das wird leicht verständlich, wenn man daran
denkt, dass das Verhalten des Protoplasmas zu Licht ein altes
und allgemeines Erbgut sein muss. Jeder Organismus hat im
Laufe der Entwicklung erfahren, wie die Wechselwirkung
zwischen Licht und ihm selber sich gestaltet. Das Protoplasma
hat ja lange vor der Augenbildung die physikalisch-chemischen
Strukturen kennen gelernt, die das Licht durchlassen oder es
absorbieren, wohl auch im Groben den optischen Unterschied
zwischen konkaven, konvexen und ebenen Oberflächenstücken
bemerkt, ebenso welche molekulären und zellulären Strukturen
für die Lichtempfindung besonders geeignet sind. Es wird also
das Bedürfnis nach orientierender Lichtempfindung die früher
gebildeten Engramme von Schaffung einer durchsichtigen
Stelle und besonders empfindenden Elementen unter dieser
Stelle (bei nicht ganz einfachen Tieren von nervösen Organen)
ekphorieren. Es wird seinen Zweck am besten erreicht fühlen,
seinen Trieb nach Beute oder Flucht vor Feinden am besten
befriedigen können bei einer ganz bestimmten, sagen wir konvexen,
Oberfläche der durchsichtigen Stelle, bei bestimmter
Anordnung von Pigmenten usw., und durch beständiges tastendes
Andern der Gestaltungen wird endlich im Verlaufe der Generationen
ein Organ geschaffen, das für die vorliegenden Verhältnisse
das Optimum bildet.
Sie werden es verstehen, dass im Rahmen eines Vortrages
solche komplizierten Dinge nur umrissen werden können.
Namentlich liesse sich das Gesagte noch sehr vielseitiger begründen.
Jetzt möchte ich nur noch erwähnen, dass solche Anschauungen
nicht etwa den Darwinschen Prinzipien entgegengestellt
werden dürfen, sondern dass sie dieselben ergänzen, und
zwar viel mehr im Sinne Darwins, als die neuere Literatur erwarten
liesse. Die Auslese verliert ihre grosse —negative —
Bedeutung nicht; auch die Möglichkeit, dass gelegentlich zufällige
Variationen nutzbar werden, ist nicht zu leugnen. Es ist
auch gar nicht wahrscheinlich, dass wir schon alle Mechanismen
der Entwicklung der Arten kennen; wir haben also noch die
Entdeckung von bis jetzt unbekannten Prinzipien zu erwarten.
Einige Schwierigkeiten, wie bei Ameisen und Bienen die
Entwicklung von sterilen Arbeitern, die ihre Erfahrungen nicht
vererben können, oder wie die Entstehung von Schmetterlingen,
deren Keime bereits reif sind, wenn die Geschlechtstiere ihre
Erfahrungen sammeln, scheinen immerhin nicht unüberwindlich.
Ganz selbstverständlich ordnet sich der neuen Auffassung
die Mimikrie ein, die noch oft als Beispiel gegen Darwin angeführt
wird, weil ein kleiner Grad von Angleichung nicht auslesend
wirken könne, und also, wenn einmal entstanden, in der
Panmixie wieder untergehen müsse. Dem gegenüber ist festzuhalten,
dass die ganze lebendige Welt ja von jeher neben der
Exhibition zum Trutz und zur Anlockung des andern Geschlechts
oder der heiratsvermittelnden Insekten auch die Tendenz haben
muss, sich in Farbe und Form der Umgebung anzuschmiegen
und sich dadurch zu schützen. Sie muss deshalb ein sehr feines
Gefühl auch für geringe Angleichungen besitzen, und was wir
als Mimikrie bezeichnen, sind bloss die auffallendsten Vorkommnisse,
wenn z. B. ein Schmetterling im Ruhezustand ein Blatt
mit seinen Rippen nachahmt. Der Flachfisch hat anatomisch
seine Sprenkelung dem Grund angepasst, auf dem er liegt.
Funktionell vervollkommnet er die nämliche Angleichung dadurch,
dass er sich mit Sand bestreut. Gewisse Lurche und
Reptilien ändern ihre Färbung rasch nach wechselnder Umgebung,
machen bei dauernder Einwirkung der Umgebung die
Ähnlichkeit durch Pigmentierung ebenfalls dauernd und vererben
schliesslich die neue Erwerbung event. auf die Nachkommenschaft.
Wenn Pflanzen Insekten anlocken, so kann
man sich nicht vorstellen, dass sie die objektive Farbe ihrer
eigenen Blüten kennen. Aber sie müssen erfahren, dass gewisse
Chemismen, die für den Beschauer die Blütenfarbe erzeugen,
die Befruchtung erleichtern, und begünstigen "deshalb" diese
Prozesse. Das wachsende Blutbedürfnis eines Organes erweitert
die zuleitenden Arterien zunächst funktionell, und wenn es
anhaltend bleibt, auch anatomisch. Ein Muskel verstärkt sich
durch lebhafte Benutzung im Individuum in gleicher Weise
wie in der Entwicklung der Art. Die Lieferung der Reservestoffe
für das werdende Kind — Eiweiss im Ei, Milch bei der
Mutter, Endosperm im Samen, Eisen im Neugeborenen statt in
der Milch —sind ganz verschieden verteilt auf Kind und Mutter,
aber immer bilden sie zusammen gerade das Notwendige an
Quantität und chemischer Qualität. Für die Ausstreuung der
Samen sorgt bald die Mutter, bald der Keim. Die scharfen
Grenzen zwischen Funktion und anatomischem Organ und sogar
zwischen, Eltern und Kind sind künstlich von uns in die Natur
hineingetragen und existieren daselbst nicht. Es handelt sich um
kontinuierliches Walten derselben Psychoide.
Diese Psychoide ist ein Attribut der lebenden Substanz,
die ohne dasselbe nicht lebend wäre. Ihre notwendigen Elemente
sind Gedächtnis und Aktivität bzw. Reaktivität in der
Richtung der Erhaltung des lebendigen Zustandes unter wechselnden
Verhältnissen. Diese beiden Dinge, die vielleicht nur
zwei Seiten des Nämlichen darstellen, lassen sich in so einfacher
Form denken, dass sie auch in der physikalischen Welt vorkommen
könnten; Gedächtnis können wir daselbst wirklich,
z. B. im Verhalten von Gelatinen gegenüber Licht, konstatieren;
auch die zielgerichtete Reaktivität lässt sich als Funktion lebloser
Substanzen wenigstens denken. Jedenfalls gibt es bis jetzt
keinen objektiven Grund, dem Leben und der Psyche Kräfte
zuzuschreiben, die in der toten Welt nicht existieren; das Wahrscheinliche
ist die Kontinuität aller dieser Erscheinungen. Doch
sind beide Komponenten der Psyche, Gedächtnis und Aktivität,
schon bei den niedersten Organismen, die wir kennen, etwas recht
Kompliziertes —nicht im Prinzip, aber in ihrer Ausbildung und
ihren Zusammenhängen, und die Psychoide der einfachsten Lebewesen
besitzt schon alle die Grundeigenschaften, die wir bei den
höchsten Formen konstatieren. So gibt es keine Kluft mehr zwischen
physischer Materie, lebender Substanz und Psyche. Die
Psychoide handelt nicht zweckmässig, "als ob"sie eine Psyche
wäre; sondern die Psyche ist eine Sonderausbildung von Funktionen,
die die Psychoide seit Äonen ausübt. Einzelne Teilfunktionen
der im Prinzip im ganzen aktiven Protoplasma verteilten Psychoide
spezialisieren sich nach und nach in besonderen Organen:
der Bewegung dienen Zilien und Wimpern und Muskeln; Verdauung
und Kreislauf bekommen ihre Spezialapparate; dem Bedürfnis
einer rascheren und isolierteren Reizleitung, wie es mit dem
Grösserwerden der Individuen entstehen muss, entspricht das
Nervensystem, das zugleich die sogenannten Zentren bildet, in
denen die Reize nach bestimmten Bedürfnissen oder Gesetzen, was
hier das Nämliche sagen will, sich assoziieren, d. h. zusammenfliessen
zu einer einheitlichen Wirkung. Aber noch die Nervensysteme
arbeiten auf primitiver Stufe ganz wie die nicht differenzierte
Substanz zum allergrössten Teil mit Engrammen, die
sie von den Vorfahren erhalten haben, und die sich als Reflexe
und Instinkte äussern. Erst in der Hirnrinde der Wirbeltiere
und in rudimentärer Form in den pilzförmigen Körpern der
höheren Insekten bekommt das Gedächtnis für die individuelle
Erfahrung ein Spezialorgan, das erlaubt, in grösserem Massstab
die Erfahrungen des einzelnen Individuums zu benutzen. Hier
erhebt sich die mnemische Anpassung bis zum zielbewussten
Überlegen, natürlich geleitet von der Analogie des früher Erlebten,
und die Bewusstseinsqualität wird zu einer Stufe ausgebildet,
die uns veranlasst, unsere Seele in unserer anthropozentrischen
Denkweise als das Höchste zu werten, das wir kennen,
und als Psyche geradezu der ganzen übrigen Welt gegenüberzustellen.
Im Vergleich aber zur Psychoide ist unsere vielgepriesene
Rindenpsyche auch jetzt noch eine armselige Einseitigkeit.
Wie hilflos und klein kommt sie uns vor, wenn wir
ihr die Aufgabe stellen wollten, z. B. das unendlich komplizierte
chemische Gleichgewicht, das zum Leben nötig ist, aufrecht, zu
erhalten, oder das geordnete Gewirre der Billionen von an der
Grenze der Sichtbarkeit stehenden Fäserchen der grauen
Gehirnsubstanz nur zu übersehen. Aber die menschliche Rindenpsyche
sammelt Erfahrungen über einige Jahrzehnte; die Psychoide
fusst auf den Erlebnissen seit dem Bestehen des Lebens
auf unserer Erde, auf Zeiträumen, die wir nicht einmal ahnend
abschätzen können. Was da alles eingeschrieben steht, es wäre
interessant, es zu lesen — aber wir vermöchten es wohl mit
unserem ephemeren Rindenverstand gar nicht zu verstehen.
Können wir uns doch noch nicht einmal vorstellen, wie eine
solche Vergangenheit eingeschrieben sein und wieder lebendig
werden kann in den winzigen färbbaren Körperchen des Keimes,
die schon der Grössenordnung eines Eiweissmoleküles recht
nahe stehen . Wir erinnern uns aber der Funktion des Mediums,
das die Lichtstrahlen trägt, und von dem jedes kleinste Teilchen
die gleichzeitig von allen Seiten ankommenden Wellen jede in
ihrer Richtung weiter sendet, und da sehen wir, dass die Kompliziertheit
der Funktion, die wir einem Klümpchen Keimsubstanz
zumuten, schon der toten Materie nichts fremdes ist.