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ETHIK GLAUBEN WISSEN

FESTREDE DES REKTORS

PROF. DR. EUGEN BLEULER
gehalten an der
92. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 29. April 1925
ZÜRICH UND LEIPZIG
VERLAG ORELL FUSSLI

DRUCK: ART. INSTITUT ORELL FÜSSLI / ZÜRICH

Wir versuchten vor einem Jahr die Elemente der menschlichen Seele als Eigenschaften der lebenden Substanz überhaupt darzustellen. Es sträubte sich aber etwas in uns — sollte es nicht die menschliche Eitelkeit sein? —anzuerkennen, dass die Krone der Schöpfung: unsere Seele mit all ihrem Fühlen und Streben und ihrem überlegenden Verstand, in der nämlichen Wiege lag wie die allgemeinen Funktionen der niedrigen Lebewesen. An die alten Anschauungen von ausserirdischen Wurzeln der menschlichen Seele knüpfen sich aber viele unserer höchsten ethischen, religiösen und überhaupt affektiven Werte, die man nicht aufgeben will und nicht aufgeben soll. Und dies ist auch gar nicht notwendig, wie ich nun zeigen möchte.

Um einen wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier zu konstruieren, hat man z. B. an unsere Kulturfähigkeit erinnert, die kein Tier besitze. Nun ist aber unser Wissenstrieb, der die Kultur hervorbringt, die spezifische Waffe des Kulturmenschen im Kampf ums Dasein, nicht anders als wie die Flügel dem Vogel; er ist deshalb so stark ausgebildet worden; seine Anfänge aber finden wir schon bei Tieren, so dass von einem Wesensunterschied keine Rede sein kann.

Vor allem aber sei es die Moral, die —als ein Göttliches und Absolutes — den Menschen zu etwas besonderem erhebe. Aber auch sie ist biisch, d.h. vom Standpunkt der Lebensfunktionen aus, nicht anders zu bemessen als irgendein beliebiger Trieb, wie etwa der, die zuträglichste Wärme aufzusuchen. Wollen wir die biischen Funktionen naturwissenschaftlich werten, so können wir nur einen Massstab anlegen, die Bedeutung der Funktion für die Erhaltung des Lebens, ein "Zweck", auf den alles biblische

Geschehen hinzielt. Und zwar müssen wir den Begriff des Lebens hier möglichst allgemein fassen; um das Leben des einzelnen scheint sich die Natur ja nur insofern zu kümmern, als sich das Leben im allgemeinen bloss in den einzelnen Individuen erhalten kann. Wir sehen ein Maximum von Leben dadurch bestehen, dass Ketten von Organismen vielfach ineinander greifen, von denen immer der eine auf Kosten des andern sich erhält. Nur die eigene Art wird auch von den tierischen Fleischfressern verschont; für diese kommt nur der Konkurrenzkampf in Betracht, ein Messen der Kräfte unter den Artgenossen.

Zwar wird das, was der eine an Nahrung und Raum braucht, den andern weggenommen. Ein Kampf aller gegen alle würde aber zur Aufreibung der Art führen, während umgekehrt gegenseitige Unterstützung die Lebensfähigkeit der Gemeinschaft und damit auch der Einzelwesen zu heben vermag. So musste der Konkurrenzkampf innerhalb zusammengehöriger Gemeinschaften eingeschränkt und ein Unterstützungsdienst eingerichtet werden. Daraus ergeben sich ganz von selbst, aus biischen Gründen, —Moralgesetze.

Schon die Gleichheit der Interessen bedingt ein gemeinsames Handeln zusammenarbeitender Individuen; zugleich ist dieses Zusammenarbeiten, z.B. beim Angriff auf Beute, bei der Abwehr der Feinde oft für alle ein Vorteil; die Handlung des einzelnen, die den andern nützt, ist also schon hier in gewissem Sinne eine moralische. Zu vollen Moralhandlungen führen aber diese Triebe erst, wenn das Individuum einem andern oder der Gemeinschaft als Ganzem seine Kraft und seine Interessen widmet. Das ist in besonders weitgehendem Masse im Bienen- und Ameisenstaate der Fall, wo die einzelnen für die Gesamtheit auch leicht ihr Leben opfern.

Erst bei den höchsten Tieren sehen wir dann, dass das Mitfühlen zu einer eigentlichen Hilfsbereitschaft führt, die auf einem Verständnis für das Wohl und Wehe der Genossen beruht. Affen können sich selbst einsetzen, wenn es sich darum handelt, ein Schwächeres aus Gefahr zu retten, während noch Hunde, die sich im Ernst raufen, gemeinsam über denjenigen von ihnen herfallen, der sich irgendwie als der Schwächere erwiesen hat.

Das moralische Mitfühlen ist gar nicht eine wesentlich neue Funktion, sondern die Spezialisierung einer allgemeinen Fähigkeit; der Ausdruck eines Affektes, also z.B. Schreien bei Schmerz, erweckt ganz allgemein bei den Geschöpfen mit gleichen Interessen den gleichen Affekt. Beim Menschen ist Lachen und Weinen ansteckend. (Handelt es sich aber um Feinde, so erweckt leicht der Mut des einen die Angst des andern und umgekehrt.)

Es gibt nun Gemeinschaft nicht nur im Nebeneinander, sondern auch im Nacheinander der Generationen. Deswegen der enge Zusammenhang des Geschlechtstriebes einschliesslich Brutpflege und Familienleben mit der übrigen Moral. Die Sorge für die Nachkommenschaft und die Erhaltung derselben ist unter vielen Umständen stärker als der Individualerhaltungstrieb; die Stärke der Mutterliebe bei Menschen und Tieren ist berühmt.

So deckt sich das auf biologischem Wege gewonnene Resultat mit dem, zu welchem der menschliche Instinkt von jeher gekommen ist: Die Ethik ist die höchste Funktion aller in Gemeinschaft lebenden animalischen Wesen bis hinauf zum Menschen, und ganz besonders bei ihm. Bei den nicht in Gemeinschaft lebenden Tieren und wohl bei allen Pflanzen besteht nur der Teil der Ethik, der sich auf die Erhaltung der Art in der Zukunft bezieht. Aber überall sind die vorhandenen moralischen Funktionen für den Bestand der Gemeinschaft ebenso notwendig wie die Ernährung, und ihr Vorhandensein ist biisch nicht schwieriger zu verstehen als Nahrungsaufnahme und Verdauung.

Warum also sollen wir für diese Funktionen eine andere als die biologische Grundlage suchen? Zumal ja auch die moralischen Anlagen in gleicher Weise erblich sind wie andere, z.B. die Talente oder die Haarfarben. Wäre übrigens die ethische Anlage etwas Absolutes, warum wechseln dann schon beim Menschen die Moralgesetze von Rasse zu Rasse, von Jahrtausend zu Jahrtausend? Und zwar nicht zufällig, sondern aus erkennbar notwendigen Gründen: Die dem einen Volke heilige Blutrache wird mit der Änderung der Rechtsverhältnisse dem andern eine Sünde. Man sage nicht, die allgemeine Vorschrift: gut zu sein, das Gewissen machen die Ethik aus: Wenn die einzelnen ethischen

Spezialantriebe fehlen, besteht auch keine Ethik im allgemeinen, so wenig wie ein Buch bestehen bleibt, wenn man alle einzelnen Blätter wegnimmt. Was ist nun aber das Absolute? Ich habe noch keinen gesehen, der es weiss. Und wenn es ein Absolutes gibt, so wird man darüber nur das aussagen können, dass wir endliche Menschen es weder mit den Sinnen noch mit dem Verstand zu erfassen vermögen. Aber solche, in Wirklichkeit weder vorstellbaren noch intelligiblen Arsenale sind immer beliebt, weil man aus ihnen herausholen kann, was das Herz begehrt, im speziellen Falle für Gut und Böse erklären darf, was in das Denken und Fühlen eines jeden passt, ohne dass Erfahrung und Verstand in den Fall kommen, die notwendige Zensur auszuüben. So halte ich eine Behandlung der Ethik unter der Annahme eines ausserbiischen Ursprunges nicht nur für falsch, sondern für gefährlich: Jeder kann dann seine Meinung ohne weiteren Beweis als die einzig richtige erklären und den anders Denkenden als schlecht und gottlos betrachten, den man ausrotten, foltern und verbrennen muss. Weil es affektive Werte sind, streitet man sich darüber mit der Wucht der ganzen Seele, sei es in kleinlichen Quälereien des Einzelnen, sei es in grossen Glaubenskriegen, und weil man subjektiv überzeugt ist, und objektiv nichts zu beweisen vermag, kann der Streit nie ein Ende finden.

Ganz anders, wenn man den festen Boden dieser Welt nicht verlässt. Da versteht es sich, dass unter verschiedenen Umständen nicht gleiche Normen gelten können, und zweitens, dass in Glaubenssachen der persönliche Faktor nicht ausgeschaltet werden kann, ja das Ausschlaggebende ist. Was bestehen soll, lässt sich messen an seiner biischen Bedeutung; dieser Massstab ist diskutierbar, und in den meisten Fällen wird er klar und — vom gleichen Standpunkt aus —unangreifbar sein. Was Kant mit dem Namen des kategorischen Imperativs bezeichnete, ist für uns ein biischer Imperativ, der genau so notwendig ist, wie der Imperativ zu essen. Kant hat sich übrigens selber genötigt gefühlt, den Inhalt seines etwas mystischen Begriffs durch die ganz gewöhnlich utilitaristische Formel verständlich zu machen: "Handle nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde." Eine aus dem Absoluten

geholte Ethik ist in Wirklichkeit ein zufälliges Gesetz, gebildet nach den Wünschen derjenigen, die sie geholt haben. Die naturwissenschaftliche Ethik dagegen ist zwar relativ, indem sie nur für bestimmte Umstände und Menschengruppen Geltung verlangt; dagegen ist sie innerhalb der Grenzen der menschlichen Möglichkeiten für diese Umstände richtig und vor allem vor Willkür gesichert, weil logisch ableitbar und in ihrer Notwendigkeit beweisbar. Massstab sind die biischen Früchte.

Dennoch hat man gerade jetzt besondere Gründe, sich intensiv mit der Ethik zu beschäftigen. Die "Umwertung aller Werte", die Ende des letzten Jahrhunderts einsetzte, und dann durch den grossen Krieg eine Beschleunigung und wohl auch eine neue Richtungsbestimmung erfuhr, hat namentlich auch die ethischen Begriffe ins Wanken gebracht. Die Ungunst der Verhältnisse zwingt viele zu einem rücksichtsloseren Kampf ums Dasein; die Religionen, die für eine bewusste Auffassung und Ausübung der Ethik gesorgt hatten, haben in der Allgemeinheit stark an Einfluss verloren; an vielen Orten ist die Mehrheit ihnen abgewandt oder feindlich; alte Begründungen haben ihre Überzeugungskraft eingebüsst. Am deutlichsten und frühesten hat die sexuelle Ethik gelitten; und doch war man nicht fähig, andere brauchbare Normen an ihre Stelle zu setzen.

Die komplizierten menschlichen Verhältnisse, besonders die der Kulturvölker, stellen nun an unsere Ethik neue Anforderungen, denen sie nicht gleich gewachsen sein kann; vor allem aber lenken sie die ethischen, wie alle andern Triebe — nicht mehr und nicht weniger — in vielen Beziehungen von ihren klaren und naheliegenden Zielen ab. So ist die indirekte Erhaltung des Lebens durch die moderne Arbeit vielfach mit Unlust verbunden statt mit Lust, wie früher Jagd und Kampf. Wie man sich hier biischen Nutzen ohne direkte Lust verschafft, so, wird die Lust, das "Glück", die Verminderung der Leiden, losgetrennt von dem Nutzen, zum Selbstzweck. Hier ist nicht mehr, wie in den natürlichen Verhältnissen, die möglichste Sicherung. der Existenz identisch mit subjektivem Glück. Wir lindern Leiden, ohne den biischen Schaden zu heben, und wir erhalten krankhaftes Leben, und schaffen damit aus einem kurzen Leiden

oft ein langes, sich über Generationen erstreckendes. Das abstrakte Streben nach Lust ist zu einer besondern Macht geworden, die uns beherrscht; unter ursprünglichen Verhältnissen wäre das ganz richtig; da ist das subjektive Wohlergehen zugleich Zeichen der Gesundheit und des Lebens in busch günstigen Verhältnissen. Es ist aber weder vor der Biologie noch vor dem Verstande Glückseligkeit, wenn man in Luxus verfault, oder wenn man, um ein momentanes kleines Übel zu vermeiden, ein zukünftiges grosses herbeiführt, oder wenn man auf dem Umwege über die Alkohol- oder Kokainvergiftung sich Beruhigung und Genüsse verschafft, die erstens busch wertlos sind, und zweitens zu grösseren Leiden führen.

Die ethischen Funktionen sind also im Lichte der Biologie Instinkte, Triebe, ihrer Art nach nicht unterschieden von den andern Trieben. Aber die Natur stellt sie höher als die andern; da wo die Interessen des Einzelnen in Widerspruch geraten mit denen der Gesamtheit, der er angehört, schützt sie die letztem; die Eiterzelle hat sich für den Organismus, die Biene für den Stock zu opfern, die Mutter sich für das Kind, der Mann für den Stamm oder das Vaterland einzusetzen.

Der ethische Instinkt ist natürlich ursprünglich ebensogut wie jeder Instinkt in seinen Zielen unbewusst; das Geschöpf hat Freude an der ethischen, wie an jeder anderen triebmässigen Handlung. Bewusst sind den Menschen die ethischen Gesetze wohl zuerst in der Form religiöser Vorschriften geworden, die man nicht weiter ableitet, sondern die man glaubt, zusammen mit dem übrigen Inhalt der Religion. Erst die wissenschaftliche Betrachtung des Kulturmenschen hat den Glauben an ethische Gesetze in ein klares Wissen umgewandelt, und die Biologie endlich deckt ihre Daseinsnotwendigkeit auf. Bedeutsam ist es nun, dass die Moralgesetze, die der Naturforscher ableitet, sich in allem wesentlichen decken mit denen, die der Instinkt geschaffen und später in Glaubensform gebracht hat. Auch die Wertung des Naturforschers ist die gleiche wie die des Religionslehrers. So kann man auch mit realistischen Methoden die Unrichtigkeit der Vernachlässigung der Ethik und ihrer bewussten Missachtung, die aus der modernen einseitig und kurzsichtig realistischen

Auffassung hervorgewachsen ist, beweisen und ihr endlich auch von dieser Seite einen Damm entgegenstellen.

Und wenn wir dem ethischen Glauben einen realen Hintergrund nachweisen, so gilt das für den Glauben überhaupt, den wir dadurch, zugleich mit der Ethik, in selbstverständlichen Zusammenhang mit der ganzen Psychologie bringen. Und auch das hat wohl nicht nur theoretischen Wert.

Auf primitivem Standpunkt sind Wissen und Glauben eins, und noch wir Kulturmenschen bedürfen eines gründlichen Studiums des einzelnen Falles, um die beiden Dinge einigermassen auseinander zu halten; ja auch dann noch entdecken wir, dass wir es nur mit relativen Unterschieden zu tun haben, dass es ein Glauben ohne Wissen nicht gibt, und dass wir das Glauben nicht aufgeben könnten, ohne zugleich ein lebensnotwendiges Stück von Wissen zu verlieren.

Schon bei der Wahrnehmung des Weltbildes spielen subjektive Faktoren in einem Masse mit, wie es sich die Wenigsten vorstellen. Unser Gesichtssinn zeigt uns z. B: nicht eine Glaskugel, sondern einen Fleck mit bestimmter Gestalt und bestimmten Schattierungen und Reflexen. Erst durch Hinzukommen einer Menge von Erinnerungen aus früheren Erfahrungen wird für uns das Bild einer Glaskugel daraus. Das Telephon gibt uns einzelne Laute entstellt oder gar nicht —wir bemerken es nicht, sondern ergänzen unbewusst aus dem Zusammenhang das richtige Wort — wenn es sich nicht um etwas Unerratbares, wie einen Namen, handelt. Ein Psychologe hat diese Zutaten, vielleicht etwas übertrieben, auf vier Fünftel des ganzen Wahrnehmungsbildes geschätzt. Dass damit die Gefahr falscher Ergänzungen gegeben ist, versteht sich von selbst. Ein ängstlicher Doktorkandidat las eine, allerdings mit allzu gelehrter Hand seines Professors gekritzelte Einladung zum Nachtessen als die Mitteilung, seine Dissertation sei nicht angenommen worden. Suggestion und Autosuggestion lassen uns Dinge sehen, die überhaupt nicht da sind.

Noch viel mehr hängt das Denken von dem Subjekt ab. Auch bei den Schlüssen, wie sie in ernsten Wissenschaften üblich sind, haben wir zu entscheiden, ob wir die Voraussetzungen als genügend, die Schlussweise als richtig betrachten wollen. Das

Denken, das uns weiter bringt, ist, wie hier nicht ausgeführt werden kann, fast immer Denken nach Analogie oder nach statistischen Verhältnissen (scheinbar mit Ausnahme des mathematischen. Schliessens). Wo gelten nun die Analogien? Wie sicher und wie gross muss das statistische Material sein zu einem überzeugenden Schlusse? Das bestimmt das Subjekt. Nicht einmal die sogenannten Denknotwendigkeiten sind sicher, bestreiten doch die Relativisten, dass zwei mal zwei immer vier sein müsse. Da wird die logische Funktion viel öfter die Magd unserer Triebe, als man sich vorstellt. Was man wünscht, glaubt man; in einzelnen Wissenschaften hält nur ein kleiner Teil von dem, was jeweilen neuentdeckt und auch allgemein angenommen wird, der Zeit stand. Die Wahrheit ist nur der zweckmässigste Irrtum, konnte Vaihinger sagen.

So besteht unser Weltbild von jeher aus einem von aussen durch die Sinne gegebenen, "objektiven"Anteil und einem sehr grossen von uns hinzugetanen, der von dem Individuum, der Kulturstufe, den Suggestionen der Umgebung und noch von vielem anderem abhängt, und deshalb von Mensch zu Mensch wechselt, den objektiv festzustellenden Tatsachen nur zufällig entspricht, ihnen aber auch widersprechen kann. Im letzteren Falle lässt sieh die gewonnene Vorstellung unter Umständen nachträglich als "unrichtig", als "Täuschung" erweisen. Die Erfahrung, dass man etwas fälschlich für wirklich halten kann, hat den Menschen gezwungen, einen für sicher gehaltenen Teil des Vorstellens, das Wahrnehmen und Wissen, zu unterscheiden von einem unsicheren oder, was hier besonders wichtig ist, einem nicht auf die gleiche Art beweisbaren Teil, dem Vermuten, Meinen, Glauben. Diese drei Ausdrücke grenzen den hinzugetanen Teil auch von einem bloss als "möglich"gedachten ab, indem sie die Stellungnahme des Subjekts im Sinne einer Annahme in sich schliessen, "Vermuten" am wenigsten, "Glauben" am stärksten; wer an eine bessere Zukunft glaubt, denkt sie nicht bloss als möglich, sondern als wirklich kommend. Immerhin wird "Glauben"auch noch bald in der mehr ursprünglichen Bedeutung als unsicheres Wissen gebraucht, bald in der der festen Überzeugung, deren Sicherheit aber einem andern nicht zu beweisen ist. Mein Glaube,

dass es morgen ein Gewitter geben werde, ist etwas ganz anderes, viel unsichereres, als der Glaube des Christen an die Existenz seines Gottes. Wenn wir im Folgenden von "Glauben" reden, meinen wir nur den letzteren Begriff, das wirklich für Realhalten eines durch Sinne und Logik nicht beweisbaren Gedankeninhaltes.

Die Unterscheidung von Wissen und Glauben kann auch für uns nur eine relative sein. Wir können uns im gewöhnlichen Leben gar nicht damit abgeben, unsere Kenntnisse in dieser Richtung zu prüfen, und müssen das Risiko übernehmen, uns unter Milliarden von Wahrnehmungen einmal zu täuschen; wir dürfen ruhig eine Lampenglocke oder den Mond, ohne diese Dinge auch noch von der Hinterseite anzusehen, als Kugelgestalten betrachten.

Wo Wir aber nicht verstehen können, da kommt uns das Glauben zu Hilfe. Die Hygiene, die bei den Tieren vom Instinkt besorgt wird, ist in den älteren Religionen eine Glaubenssache geworden —mit Recht, denn sie ist ein Teil der Ethik. Alles was lebt, hat — selbstverständlich — den Trieb zu leben, oder, von der andern Seite ausgedrückt: Scheu vor dem Tode. Der beobachtende Mensch sieht aber, dass jedes lebende Wesen einmal stirbt. Es ist aber auch Erfahrung, dass man die Abgeschiedenen in den Träumen oder als Gespenster wieder zu sehen bekommt. Sie leben also in einer andern Form weiter —bis neue Erfahrungen die Unzuverlässigkeit des Abstellens auf Träume und Geistererscheinungen darlegen. Nun stellt der Lebenstrieb nach bekannten Gesetzen die Denkrichtung so, dass der Wunsch nach Fortleben, den die Erfahrung nicht erfüllt, sich in der Vorstellung realisiert, indem er mit oder ohne Scheinbeweise die Unsterblichkeit als vorhanden annimmt, an sie "glaubt" und sie einer unsichtbaren Seele zuschreibt, die sich von dem vermodernden Körper trennt. —Der Mensch hat aus einem gewissen Vergeltungstrieb heraus das Bedürfnis nach Gerechtigkeit; in der Erfahrungswelt findet er diese nicht; das ist ihm unerträglich. Er denkt und glaubt sie sich deshalb in einer andern Welt, die noch kein Intellekt erfahren oder verstanden hat. Er besitzt ein über das Erfassen der nächsten Dinge hinausgehendes Bedürfnis

nach weiterer Erkenntnis und nach Verstehen der Zusammenhänge, und beantwortet deshalb instinktiv eine Menge Fragen, die mit seinem Material eigentlich nicht lösbar sind, unter Benutzung vager Analogien, die er in andern Zusammenhängen als ungenügend betrachten würde. So sind Vorstellungen entstanden von den Gestirnen, die täglich um die Erde herumwandeln oder in einem Wagen herumfahren, oder von dem Monde, den bei Verfinsterungen ein böses Tier fressen möchte.

Auf gleiche Weise kommen wir auch andern Bedürfnissen entgegen, denen nach Seligkeit, nach einem väterlichen Gott, darnach, eine Bestimmung im Weltganzen zu haben. Die Lösungen sind nicht beweisbar, man kann sie "nur" glauben. Die Form, in der sie gegeben werden, kann veralten, unmöglich gemacht werden durch das fortschreitende Wissen; aber deswegen, und weil wir sie nicht aus der direkten Erfahrung, sondern aus unseren inneren Bedürfnissen ableiten, ist über die Richtigkeit der Glaubenssachen überhaupt noch kein Urteil gesprochen.

Im Gegenteil, wir müssen voraussetzen, dass Glaubensinhalte, die die ganze Menschheit durch alle Zeitalter immer wieder schafft und erhält, einen auch in biischem Sinne realen Inhalt haben, so gut wie die ethischen Vorschriften. Und wenn wir uns auch nicht vermessen dürfen, heute schon z.B. den Gottesglauben biisch vollständig zu verstehen, so kennen wir doch u. a. eine Wurzel desselben, deren "Realität"auch vom biischen Standpunkt aus nicht zu leugnen ist, den Zusammenhang allen Geschehens mit dem Weltganzen. Jede kleinste Schwankung z.B. des elektrischen Feldes oder einer andern physikalischen Kräfteverteilung an einer umschriebenen Stelle bedeutet eine Veränderung wenigstens des uns mit Sinnen und Verstand erschliessbaren Teils des Universums, die wir vom Standpunkt einer menschlichen Persönlichkeit aus sowohl aktiv auffassen müssen als eine Wirkung des lokalen Vorgangs in die Weite, wie als Auswirkung des allgemeinen Weltgeschehens an einem bestimmten Ort. Von einem etwas höheren Standpunkt aus gibt es hier übrigens kein Aktiv und Passiv, kein Allgemein und Speziell (lokal), sondern es gibt nur ein Weltgeschehen, von dem wir Menschen zwei Seiten unterscheiden, indem wir einerseits durch künstliche

Grenzen Einzelheiten schaffen, anderseits in uns selbst etwas Tätiges spüren, das wir einem Passiven gegenüberstellen müssen. Gerade aus der "materialistischen"Vorstellung der Identität der Psyche mit Gehirnvorgängen folgt diese Anschauung, dass wir eigentlich vom Weltganzen nicht abzugrenzen sind, mit zwingender Notwendigkeit.

Übrigens könnten sich die Realitätsurteile des Glaubens direkt bewahrheiten. Wir kennen allerdings beim Menschen keine angeborenen Ideen, aber wahrscheinlich gibt es wenigstens Ideenrichtungen, die aus der Erfahrung vergangener Geschlechter stammen, so die Neigung des Kindes, sich in den ersten Jahren den Kreislauf des Lebens vorzustellen und ihn konkret zu gestalten: dahinter könnte die wirkliche Erfahrung der schwindenden und sich erneuernden Generationen stecken.

Eine andere Art Richtigkeit von Glaubensinhalten kennen wir sicher. Wir haben gesehen, dass die Moralgesetze ebenso richtig sind, ob man sie auf steinerne Tafeln oder gedruckte Gesetze oder auf Lebensbedürfnisse zurückführt. Auch hinter Symbolen, die von uns geschaffen erscheinen, steht regelmässig eine Wirklichkeit: Die Gattin liebt ihren Mann nicht mehr oder sie hat ihn nie geliebt. Wir fassen das in die Worte: für sie ist er tot. Sie selbst sieht ihn in ihren Träumen tot, sie glaubt ihn im Wahn der Geisteskrankheit tot im gewöhnlichen Sinne. Mit dem Worte "tot"sind da zwei Bedeutungen verbunden, die uns verschieden scheinen, und zwar gerade in den uns als wesentlich vorkommenden Eigenschaften. Für die Träumerin aber ist das Wesentliche, dass sie den Gatten verloren bat, für sie ist es zunächst Nebensache, ob durch leiblichen Tod oder durch Erkaltung ihrer Liebe; ihr ist die eine Ausdrucksweise und Vorstellung so wahr wie die andere, ja wenn man bei einem Begriff wie dem Tot-sein einen Komparativ anwenden dürfte, möchte ich sagen, der Nicht-geliebte sei ihr mehr tot als der Begrabene, von dem sie in verständlicher Weise den Ausdruck brauchen kann, für sie lebe er noch. — Oder vor einem halben Jahrhundert glaubte einer die Tellgeschichte als Sage erwiesen zu haben; darüber Enttäuschung und Herzeleid vieler Patrioten. Und doch bleibt die Tellgeschichte wahr, in gewisser Beziehung mehr wahr, als

wenn das Leben Teils mit Zivilstands- und Strafakten beglaubigt wäre. Was will es für ein ganzes Volk bedeuten, wenn mal ein Einzelner sich gegen einen Bedränger erzürnte und ihn umbrachte? Ist aber der Nationalheld vom Volke geschaffen worden und in der Tradition der Generationen erhalten geblieben, so ist er Fleisch von seinem Fleisch und Geist von seinem Geiste, und wird der Repräsentant eines ganzen Volkes, dem seine Freiheit über alles geht.

Dürfen wir aber erwarten, im Jenseits für das, was wir hier Gutes getan und Schlimmes erduldet und Böses verübt, entschädigt oder gestraft zu werden? Darauf möchte man heutzutage einen ebenso sicheren Bescheid haben, wie über die Frage, wann morgen die Sonne aufgehe. Mit einer symbolischen Antwort, die mit dem gleichen Wort zwei verschiedene Begriffe verbindet, kann man sieh nicht befriedigen. Aber man sollte sieh klar werden, dass diese Art Gewissheit vom Glauben nicht gefordert werden kann — so wenig wie die Glaubensgewissheit vom Wissen, d.h. der Welt der direkten Erfahrung. Es handelt sich in dieser Beziehung um zwei Dinge, die sich ausschliessen. Was man weiss, kann man nicht mehr glauben, und was man glaubt, kann nie ein Wissen sein.

Nun nimmt das Wissen in neuester Zeit rasend zu und schränkt deshalb das Glauben ein. Wir können die Erde nicht mehr in den Mittelpunkt des Weltalls setzen, schon weil es für uns keinen solchen geben kann. Seit Galileis Fernrohr den Himmel in Raum aufgelöst hat, kann kein vierbeiniger, mit Rückenlehne versehener Thron Gottes mehr dort oben stehen; das weisse, kaukasisch geformte und bebartete Gesicht des lieben Gottes selbst kann nicht mehr vor der einfachen Erkenntnis bestehen, dass die Neger unter gleichen Umständen einen schwarzen Gott haben müssen, und seine menschliche Gestalt mit Armen und Beinen und einem Mund zum Essen und Sprechen passt nicht mehr zu seiner Allgegenwart und noch vielem anderen. Aber das, was im Gottesbegriff Wesentliches liegt, der Weltenschöpfer und Vater, der Richter, der Helfer und Erlöser, an den man sich wenden kann, das wird dadurch ebensowenig angegriffen wie der christliche Glaube durch ein astronomisches Fernrohr,

mit dem sich auch die Kirche ganz von selbst abgefunden hat. Mit andern Worten: was vom Glauben durch das Wissen eingeschränkt oder korrigiert wird, das betrifft alles nur Nebensachen oder zufällige Formen, in die der allgemeine Glaubensinhalt durch den Zeitgeist gebracht wird, oder Vorstellungen, an die das Glauben zufällig assoziativ geknüpft worden ist, ohne dass die beiden Dinge notwendig zueinander gehören. Für den wesentlichen Inhalt des Glaubens bleibt immer Platz genug, soweit es sich um allgemeine Bedürfnisse unserer Seele handelt. Mit diesen Dingen ist unser Wissen so wenig im Widerspruch, als es im Widerspruch ist mit den Erscheinungen, die man jetzt unter dem Namen des Okkultismus zusammenfasst. Im Widerspruch sind diese Dinge nur mit der hochmütigen Vorstellung, dass man jetzt schon alles wisse, —nicht mit dem, was man weiss. Wenn die Berichte, auf die sich der Okkultismus stützen will, auf Tatsachen beruhen, so würden sie unser Wissen nicht umstossen, sondern ergänzen; in gleicher Weise ist das Glauben für den Glaubenden eine Ergänzung seines Wissens, und für die objektive Betrachtung sind Wissen und Glauben zwei Gebiete, von denen jedes seine volle Berechtigung hat. Es ist aber auch selbstverständlich, dass der Glaube das Material des Wissens benutzen muss, um sich überhaupt in Begriffen äussern zu können; denn Begriffe stammen nur aus der Erfahrung. Man kann nicht glauben, dass Venus aus dem Meere geboren sei, wenn man nichts vom Meer weiss. Unsere jetzige Weltkenntnis erschwert jeden anthropozentrischen Standpunkt, ja stempelt ihn in den Augen Vieler zum Ausfluss eines blinden Hochmutes. Die physikalischen Kenntnisse haben jeden Anlass beseitigt, hinter dem Blitze eine Persönlichkeit zu suchen, die ihn auf ein bestimmtes Ziel schleudert; diese Vorstellung scheint heute auch dem ungereimt, der an. die Lenkung alles Geschehens durch einen persönlichen Gott glaubt. Ist die alte Vorstellung eines körperlich und geistig menschlichen Gottes unmöglich geworden, so wird es zwar nicht unmöglich, aber doch schwerer, einen persönlichen Gott überhaupt zu suchen. Ähnlich mit andern Glaubensvorstellungen der alten Religionen, die eben äusserlich ihrer Zeit entsprechen mussten, auch wenn sie sich auf Eigenschaften unserer Seele

gründen, die alle Wechsel der Zeiten überdauern. Deswegen braucht der Kern, in unserem Falle irgendeine andere Gottesvorstellung, nicht angegriffen zu werden, und ein Gebiet, wo er glaubt, hat jetzt und gewiss in alle Zukunft jeder Mensch, und er muss es haben. Da ist z. B. der Sozialismus eine Religion geworden, die, so sehr sie sich bemüht, bloss auf der Wirklichkeit dieser Welt zu fussen, und so viel Berechtigung sie vom realistischen Standpunkt aus hat, Glaubensbestandteile enthält, die ihr ganz wesentlich sind; wie sich schon daraus ergibt, dass Lenin sie durch blosse Konsequenz ins Absurde führen konnte. Aber auch viele andere, die meinen, nicht an einen Gott zu glauben, können nicht umhin, sich etwas vorzustellen, dem sie die Verpflichtung überbinden, ihnen einen Extraplatz an der Sonne zu sichern.

Nun redet man aber davon, dass es unmöglich zwei Wahrheiten geben könne, eine des Glaubens, eine des Wissens. Ich sehe nicht ein, warum nicht; es gibt auch eine physische und eine psychische Realität, die jede in ganz anderem Sinne ihren Wahrheitswert hat. Schwierig scheint die Lage erst zu werden, wenn Wissen und Glauben in Konflikt kommen, wenn das Wissen sagt, die Erde dreht sich täglich um ihre Achse, und der Glaube vorschreibt dass die Sonne sich um die Erde drehe. Da kann man wählen; mit der Zeit siegt dann allerdings das Wissen. Aber ich wiederhole es, in den grossen Weltanschauungen kann nichts bewiesen werden, nur äussere Formen eines solchen Glaubens werden durch unser Wissen unmöglich oder unwahrscheinlich.

Im übrigen ist ja auch unser Wissen ein relatives, es kann nur für unsere menschlichen Verhältnisse gelten und unterliegt auch von diesen aus noch der steten Korrektur und Umwandlung. Und es gab eine Zeit, da unsere Vorväter nur die Glaubenswahrheiten anerkannten, noch einseitiger, als viele jetzt nur das Wissen gelten lassen möchten.

Von "Wahrheiten" nun sollte man in diesem Zusammenhange lieber nicht sprechen. Im Begriffe der Wahrheit liegt die Übereinstimmung eines Urteils mit der Realität. In dieser Weise ist der Begriff im gewöhnlichen Leben und in den naiven Zusammenhängen leicht anzuwenden. Hier aber fragt man gerade: ist das

Geglaubte oder das Gewusste Realität? Und darauf gibt es gar keine objektive Antwort, wenn wir uns nicht damit begnügen, zu sagen, dass einzig sicher das sei, was wir in uns wahrnehmen: wenn ich Schmerz empfinde, so habe ich die Empfindung Schmerz, und zwar gerade so, wie ich sie empfinde, wobei es ganz gleichgültig ist, ob ich mir den Schmerz einbilde, oder ob er eine Ursache in meinem Körper habe. Mit dieser Realität kann man aber in unserem Zusammenhange nichts anfangen; man möchte wissen, ob bestimmte Dinge oder Zusammenhänge, die Welt, die wir wahrnehmen, ein Gott, existieren. Für beides gibt es keine Sicherheit im strengen Sinne. Ich könnte ja die Welt auch halluzinieren (ich rede dabei von "ich", nicht von "wir", weil in diesem Falle nur das eigene Ich existieren würde). Wir setzen aber aus guten praktischen Gründen voraus, dass die Welt unserer Wahrnehmung existiere, und nehmen als Realität das, was uns die Sinne zeigen, sofern sich ein Einzelnes mit der Allgemeinheit der Erfahrungen nicht in Widerspruch setzt.

Zusammenfassend müssen wir also sagen: im Wissen wie im Glauben haben wir eine Mischung von Erfahrung und von aus uns Hinzugetanem; das Realitätsurteil ist in jedem Falle ein subjektives und hängt schliesslich in beiden Denkformen von unseren Instinkten ab; aber bei dem sogenannten Wissen glauben wir uns in erster Linie auf Erfahrung der Sinne zu stützen, beim Glauben empfinden wir, was wir im Realitätsurteil hinzutun, direkt —sonst ist dieser Glaube für den Glaubenden ein Wissen, auch wenn es sich z.B. um religiöse Vorstellungen handelt. Das Wissen kann den Glauben in seiner Form und in seinen einzelnen Richtungen beschränken oder in einem gewissen Grade bestimmen; für die grossen Glaubensinhalte aber lässt es immer Platz. Ohne Glauben kommt man überhaupt nie aus; in dem Satze Keyserling's: Der Glaube ist ein Mittel zum schnelleren Erkennen, liegt viel Wahres, noch mehr in Pascal's Ausspruch: "Nous connaissons la vérité non seulement par la raison, mais encore par le coeur." Es ist schon deshalb ganz unmöglich, das "abzuschaffen". Wir müssen aber auch glauben können an Ziele der Menschheit — und auch an uns selber, an unser Können, an den Wert unserer Bestrebungen, an die Treue des Ehegatten, die Gesinnung des

Freundes. Wie könnte es einen guten Arzt geben, der nicht an die Wirksamkeit seiner Behandlung glaubte? Und vollends für die psychische Behandlung ist der Glaube bei Arzt und Kranken geradezu die Hauptsache.

Es scheint mir, dass die genauere Untersuchung der Glaubens- und Wissensvorgänge, die hier natürlich nur sehr unvollständig beschrieben werden konnten, auch praktisch nützen dürfte. Ein Gewinn scheint es mir schon, vom realistischen Standpunkt aus zu zeigen, dass Wissen Glauben nicht ausschliesst, und Glauben neben dem Wissen immer noch Platz hat, nicht zu entbehren und hoch zu werten ist. Wo Wissen mit Glauben in Konflikt zu kommen scheint, handelt es sich um Aberglauben oder nebensächliche Formen.

Auch die reinliche Trennung von Wissen und Glauben in der Theorie, in der Wissenschaft halte ich für eine Notwendigkeit. Wo beides miteinander verquickt ist, soll man, so weit möglich, erkennen, inwiefern das eine oder das andere in Betracht kommt; erst dann kann man, statt um des Kaisers Bart zu zanken, fruchtbare Diskussionen führen. In allem was technisch ist, gibt es fast keinen Glauben mehr, weil die unerbittliche Praxis nur das duldet, was sich an den Tatsachen bewährt hat. In den Naturwissenschaften werden neben den realistischen Erfahrungen eine Menge von Theorien gebildet, deren problematische Natur man eigentlich kennt, nur oft übersieht, so dass es doch manchmal zu einer Art Glauben kommt. In der Medizin zwingt das Bedürfnis, zu helfen, oft zur Anwendung von Vorstellungen, die noch nicht zu beweisen sind, und daraus entwickelt sich mancher Glaube an ein Heilmittel, der noch nicht so begründet ist wie die Voraussetzungen, auf die der Techniker sein Handeln stützt. Vor allem aber ist es die Philosophie, die am meisten Schwierigkeiten haben muss, Wissen und Glauben zu trennen. Sie kann sich im Prinzip gar nicht bloss auf Wissen stützen, denn sie hat z.B. als Grundlage in der Erkenntnistheorie die Grenzgebiete unseres Wissens, so dass in der Auswahl des Stoffes und in der Auffassung desselben dem subjektiven Ermessen ein grosser Spielraum gelassen ist; sie übermittelt ferner Welt- und Lebensanschauungen, etwas das seiner Natur nach nur subjektiv sein

kann. Dazu passt aber recht schlecht, dass gerade sie den schärfsten Anspruch erhebt, das Material und die Schlussweise zu prüfen, nur Feststehendes zu benutzen und nur ganz sichere Folgerungen zu ziehen. Das Resultat dieser Bestrebungen zu kritisieren, dazu fühle ich mich nicht kompetent. Pfarrer Pfister aber hat in seinem Büchlein "Zur Psychologie des philosophischen Denkens" (Bircher, Bern 1923) die Aufgabe in eleganter Weise gelöst.

Wissen und Glauben haben jedes seine Berechtigung, aber wie alles in der Welt nur am richtigen Ort; wenn man das eine für das andere ausgibt, oder das eine anwendet, wo das andere angewendet werden sollte, und besonders wenn man ahnungslos beides vermischt, dann kann nichts Klares und nichts Gutes herauskommen. Aber 'wenn man beides in seiner Existenz und seiner Bedeutung erkennt, wird man bescheidener und man lernt auch den Glauben anderer achten, wie es in englischen Sprachgebieten jetzt schon weitgehend der Fall ist, und man wird auch lernen können, den Glauben, der immer noch so oft zum Quälen und Unterdrücken des Nebenmenschen benutzt wird, segenbringend für sich und andere zu gestalten.

Meine Damen und Herren! Was ich eben darlegte, kann nur ein Programm sein; ich hatte die Hauptpunkte zu begründen versucht. In letzter Stunde strich ich noch alles irgendwie Entbehrliche, um Zeit zu bekommen für ein Beispiel, wie ein künstlich geschaffener Glaube in schärfsten Widerspruch mit der Ethik kommt und sie geradezu fälscht. Erfahrungen der letzten Tage erschütterten mich so, dass ich die Pflicht fühle, gerade an dieser Stelle von jenem Afterglauben zu reden, obschon mir nachher einige sagen werden, gerade an diesem Ort hätte ich nicht davon reden sollen.

Da war ich in einer Sitzung für die Trinkerfürsorgesteile; der Fürsorger erzählte aus seiner letztjährigen Erfahrung. Ich hatte geglaubt, einen vollen Überblick zu besitzen über den Alkoholsumpf, in dem ich, seit ich Arzt bin, so viele Menschen versinken sah, die, hinabgezogen durch das Genussgift, auch durch das ärztlich verschriebene, der rettenden Hand stets wieder entglitten. Aber diesmal stieg aus aktenmässigen Schilderungen

solch ein Dunst von Schmutz und Schmach, dass mir das Blut stockte und dann wieder heiss zu Kopfe stieg beim Gedanken, dass das alles von heut auf morgen verschwinden könnte, wenn die Ethik der Gebildeten funktionieren wollte. —

Ich war in einer andern Sitzung; man redete davon, wie unser Obstsegen, verwandelt in einen Schnapsfluch, sich über das Land ergiesst, nachdem der Versuch einer Eindämmung durch Verfassungsbestimmungen an der Verständnislosigkeit derer gescheitert ist, die das Volk unterrichten sollten. Die Behörden sind ohnmächtig; der Vortragende wusste auch nur Pflästerchen zu empfehlen. Der einzige Weg zur Besserung, der sich bot, war der, dass bald recht viel deutlich sichtbares Unglück sich häufe, damit der Mehrheit die Augen aufgetan werden, bevor das ganze Volk ruiniert sei. — Und fast zu gleicher Zeit bekam ich eine Broschüre in die Hand, die darstellte, wie ein Heer, das dreieinhalb Jahre lang fast allein dem grössten Teil der übrigen waffenfähigen Welt die Stirne geboten, schliesslich durch den Alkohol, den der Feind ihm überlassen, so geschädigt wurde, dass die endliche Niederlage den Trinkgewohnheiten zugeschrieben werden kann —nicht etwa in den Tag hinein, sondern gestützt auf gesicherte Tatsachen. Es ist nun ganz gleichgültig, ob der Alkohol dabei wirklich die letzte Entscheidung brachte oder nur mitwirkte; nichts ist so erschütternd als die Berichte, wie heldenhafte Angriffe, denen gegenüber die dynamitne Mauer des Granathagels machtlos gewesen war, in den Weinkellern der Städte verschlammten.

Und die Schuld an dem Elend, das bei uns ganze Mietkasernen durchgröhlt und durchweint, — an der Schnapspest, die, von keinem Gesetz gehindert, Glück und Gesundheit zerstört, Schuld oder Mitschuld an der Katastrophe eines Millionenheeres und eines grossen Volkes, diese Schuld tragen unsere Trinksitten. Und wer trägt die Schuld an den Trinksitten? Die Gebildeten mit ihren Universitäten, die den Trunk hätscheln wie ein Kleinod und verklären durch die Ideenverknüpfung mit allem Zauber und idealen Streben der Jugend! Das bleibt dann zeitlebens als Binde um Augen und Ohren, um Herz und Verstand. So allgemein hat sich die Lustbetonung allem, was mit dem Alkohol

in Berührung kam, mitgeteilt, dass jedesmal ein Gelächter antwortet, wenn in der Klinik ausgemalt werden muss, wie der Alkoholiker seine Frau an den Haaren im Zimmer herumschleift, die kleinen Kinder an die Wand schleudert, am Weihnachtsabend das Christbäumchen die Treppe herunterwirft; man hält es für eine passende Unterhaltung für einen akademischen Abend, in Film und lebendigen Darstellungen die Trunkenheit als das Schöne des studentischen Lebens vorzuführen. Auch die chemisch erzeugte Lust dirigiert eben, wie jeder natürliche Affekt, unser Denken, und schuf aus einzelnen Erlebnissen einen Glauben, der die Lebensanschauung ganzer Klassen zu beeinflussen vermag.

Da haben die Universitäten, nicht als abstrakte Gebilde, sondern die Einzelnen, die mit ihrem Geist einen lebendigen Organismus daraus machen, viel zu sühnen —gegenüber dem Schusterjungen, der deswegen verkam, weil er meinte, der studentische Bierzipfel in der Weste, mit dem Was drum und dran hängt, mache ihn zum Manne, erst noch zu einem feudalen — gegenüber dem Vaterlande, dem gerade jetzt wieder eine der schwersten Gefahren droht, und gegenüber der ganzen Menschheit, der sie unabsehbaren Schaden gebracht hat durch die Vergiftung der Tüchtigen und durch das schlechte Beispiel gegenüber den Schwachen. Ist es doch jetzt noch möglich, dass ein mit Recht hochangesehener Akademiker Alkohol und Morphium zusammen als Notwendigkeiten für die Menschheit darstellen kann. Ich hoffe, niemand, der dem bisherigen gefolgt ist, wird gegenüber dem Alkoholgläubigen einen Vorwurf herauslesen können. Die Leute, die die Hexen verbrannten, waren brave und nicht bornierte Männer, jedoch missleitet von ihrem Glauben. Aber jetzt, da einmal die Tatsachen gesammelt sind, die den Alkohol von der Seite der brutalen Realität zeigen, und wir den Umweg genau kennen, auf dem man zu dem falschen Glauben gekommen ist, erscheint es mir doch eine Pflicht jedes Akademikers, namentlich des jungen, noch nicht rettungslos suggerierten, die Alkoholfrage zu studieren, auf die Gefahr hin, dass er dann die liebe Mässigkeit als dasjenige erkennt, was sie ist, im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeit Alkohol unter die Leute zu bringen noch ausgesprochener als früher: eine blöde

Utopie und eine prinzipielle Unmöglichkeit. Unserer rationalistischen Zeit, die so gerne allem Glauben, auch dem berechtigten, ihre Verachtung entgegenschleudert, steht es am schlechtesten an, gerade einen Aberglauben zu schützen, der die ethischen Werte, statt sie zu erhalten, vernichtet — in der gegenwärtigen Generation wie in den Keimen ihrer Zukunft.