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Grenzen der Individualisierung im Strafrecht

REKTORATSREDE

gehalten am 15. November 1927
FEIERLICHEN ERÖFFNUNG DES AKADEMISCHEN STUDIENJAHRES
DR. ALFRED VON OVERBECK.
PROFESSOR DER RECHTE
FREIBURG (SCHWEIZ)
ST. PAULUS-DRUCKEREI 1928

Grenzen der Individualisierung im Strafrecht.

Hochansehnliche Versammlung!

Wohl keiner von uns kann an dem heikeln Verhältnis von Regel und Ausnahme vorbeigehen, dessen grammatische Tragik manchen schon auf der Schulbank erschütterte, und in allen Gebieten scheint jede Verallgemeinerung auf die —— bald mehr, bald minder begreifliche —Fragestellung zu stoßen, ob der Mannigfaltigkeit der Einzelerscheinungen nicht Gewalt angetan, ob der Individualisierung nicht vorgegriffen werde. Und wenn etwa — von jeher und heute mehr denn je —- ältere und jüngere Generationen über gegenseitiges Unverstandensein klagen, so ließe sich auch dies zu einem Vorwurf mangelnder Individualisierung verdichten. Am eindringlichsten aber wird, wo Ordnung menschlichen Verhaltens in Frage steht, Individualisierung gefordert. Hier setzt im gleichen Augenblick und ebenso eindringlich die Aufgabe ein, die Grenzen zu erhellen, bis zu denen eine Individualisierung sich vorwagen darf, ohne jene Ordnung selbst zu zersetzen. Gerade auf meinem engeren Fachgebiet, auf das für eine kurze Stunde mir zu folgen ich die heutige Versammlung, akademischer Tradition getreu, einladen darf, drängt sich angesichts der Zeitströmungen eine Betrachtung auf über die Grenzen der Individualisierung.

Wenn im Bereich des Kriminalistischen von Individualisierung gesprochen, wenn sie der Generalisierung entgegengesetzt und mit einer gewissen Emphase als das Fortschrittlichere vorgezogen wird, so könnte man dabei an Verschiedenes denken. Lassen wir die Individualisierung im

prozessualen Sinne einer verwechslungsfreien Fixierung des rechtserheblichen historischen Einzelvorgangs, seines Urhebers und seiner Modalitäten durch Anklage und Urteil beiseite, so könnte — für den Juristen sicher das Nächstliegende —gemeint sein die Rücksicht auf den individuellen Einzelfall, genauer auf die Tat und die in ihr verkörperte Schuld, auf den schuldhaften Rechtsbruch, dem eine möglichst gerechte Sühne zu folgen hat. Eine Individualisierung in diesem strafrechtlichen Sinn ist schon der hergebrachten Gesetzgebung und Rechtspflege immanent, wenn auch im einzelnen nicht immer ideal durchgeführt. Wohl kommt der Gesetzgeber, der sich und sein Werk nicht völlig preisgeben will, ohne Generalisierung insofern nicht aus, als er ein für allemal die Voraussetzungen, unter denen Strafe eintreten soll, und die Strafrahmen aufstellen muß. Allein von diesen abstrakten Gestaltungen, insbesondere von den im voraus aufgezeichneten Tatbestandsbildern wird eben auch der Einzelfall mit seinen «Individualisierungsmerkmalen» 1 umfaßt. Dazu kommt, daß die gesetzlichen Merkmale mehr oder weniger elastisch sein können und daß im neueren Strafensystem Freiheitsstrafe und Geldstrafe durchaus im Vordergrunde stehen, Strafmittel also, die sich durch ihre Teilbarkeit und Dehnbarkeit auszeichnen und damit weitgehende Rücksicht auf die Individualität des Einzelfalls ermöglichen. Dieser suchen zudem die Gesetze dadurch beizukommen, daß sie gewissen Verhältnissen und Begehungsweisen, gewissen subjektiven und objektiven Besonderheiten schärfende oder mildernde Bedeutung verleihen. Man denke etwa an den Diebstahl mittels Einbruchs oder zur Nachtzeit, an die Tötung des Aszendenten oder umgekehrt, im Sinne der Privilegierung, an den Diebstahl aus Not oder an die Tötung auf Provokation. Indem man so den Sondergestaltungen des Falles vorausschauend gerecht zu werden strebte, verfiel man freilich in die vielbeklagte Gefahr der

Kasuistik, die leicht zu Lücken und zu gesetzgeberischer Willkür führt, weil nicht jede Möglichkeit im voraus erwogen werden, und weil bei der Mannigfaltigkeit des Lebens die gesetzlich bewertete Sondergestaltung durch unvorhergesehene Momente aufgewogen sein kann. Ein Diebstahl z. B., der die gesetzlichen Merkmale eines «qualifizierten» genau erfüllt, kann in concreto ebenso mild oder noch milder gelagert sein als ein «einfacher», dessen Täter verwerflichen Motiven folgt. Ja, ein und derselbe Auszeichnungsgrund kann, in Verbindung mit andern Momenten, bald zu strengerer, bald zu milderer Beurteilung Anlaß geben, woraus sich auch manche nationalen und regionalen Verschiedenheiten in Gesetzgebung und Rechtspflege erklären dürften. Ein häuslicher Diebstahl kann besonders mild zu bewerten sein, weil die Versuchung zu nahe lag und die Eigentumsverhältnisse zu undurchsichtig erschienen; er kann umgekehrt größere Strenge herausfordern, weil Vertrauen getäuscht wurde. Die Schwierigkeiten, in die sich der Gesetzgeber mit einer übertriebenen Kasuistik verstrickt, können sich allerdings dadurch mindern, daß in mehr unbestimmter Weise erschwerenden und mildernden Umständen ein Einfluß auf das Strafmaß eingeräumt und dem Richter etwa nur durch exemplifikative Hinweise eine Anleitung erteilt wird. Die Unbestimmtheit der gesetzgeberischen Weisung läßt dann freilich dem richterlichen Ermessen einen vielfach als zu weit empfundenen Spielraum, der sich schließlich zu einer Individualisierung nach Maßgabe der Richterpersönlichkeit auswachsen kann. Zwischen gesetzlicher Bindung und richterlicher Freiheit angemessen zu vermitteln, gehört eben auch im Strafrecht zu den wichtigsten legislativen Aufgaben. Mag aber die individualisierende Tätigkeit so oder anders zwischen Gesetzgeber und Richter geteilt sein — immer handelt es sich für die strafrechtliche Betrachtungsweise um eine Individualisierung im Hinblick auf den schuldhaften Rechtsbruch und mit dem Ziel einer ihm entsprechenden Sühne.

Der Individualisierung in dem bisher zugrundegelegten

strafrechtlichen Sinn in die auch gewisse Eigenschaften des Täters oder seines Opfers, gewisse Beziehungen zwischen beiden mit eingehen können steht eine fundamental andere schroff gegenüber. Und wenn im Kampf um die Reform der Strafrechtspflege der ungestüme Ruf nach Individualisierung ertönt, so meint man gerade nicht die Rücksicht auf die Einzeltat und die mit ihr gegebene Schuld. Man denkt im Gegenteil nicht an die Figur des Verbrechens, sondern an die Persönlichkeit des Rechtsbrechers, nicht an die in concreto vorliegende Schuld, sondern an die Besserungsbedürftigkeit, Gefährlichkeit oder auch Abschreckbarkeit des Beschuldigten, nicht an die Tat, sondern an den Täter. So rückte vor nahezu sechzig Jahren Wahlberg in seinem «Prinzip der Individualisierung in der Strafrechtspflege» (Wien 1869) die verbrecherische Persönlichkeit in den Vordergrund, und drei Jahrzehnte später erhob Saleilles in seiner «Individualisation de la peine» (Paris 1898) die Berücksichtigung des Täters statt der Tat zum Programm, in wesentlicher Übereinstimmung mit der von der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (gegründet 1889 durch v. Liszt, Prins und van Hamel) vertretenen Bewegung. Während die beiden genannten Werke der deutschen und der französischen Wissenschaft ex professo der Individualisierung nach Maßgabe des Täters gewidmet sind und darum aus der Fülle des Schrifttums hier herauszuheben waren, wiederholt sich sachlich die gleiche Forderung immer wieder in den verschiedensten Zusammenhängen, besonders im Rahmen moderner kriminalpolitischer Darstellung und Betrachtung von Juristen und Medizinern. 1 Nach v. Liszts berühmtem Lehrbuch ist Kriminalpolitik in erster Linie Bekämpfung des Verbrechens durch individualisierende Einwirkung auf den Verbrecher. 2 Im gleichen Sinn begegnet

uns die Individualisierung innerhalb des kriminalpolitischen Abschnitts der umfassenden Darstellung des schweizerischen Strafrechts, die wir Hafter 1 verdanken.

Die Individualisierung im Hinblick auf die Täterpersönlichkeit darf also wohl ohne zu große Ungenauigkeit die (im engeren Sinn) kriminalpolitische heißen, während die Individualisierung im Hinblick auf den schuldhaften Rechtsbruch als strafrechtliche bezeichnet sei. Individualisierung in jenem kriminalpolitischen und in diesem strafrechtlichen Sinn bedeutet nun aber Grundverschiedenes. Die Unvereinbarkeit der extremen Forderungen individualisierender Kriminalpolitik mit einer noch als strafrechtlich zu bezeichnenden Einstellung ist oft kritisch dargelegt worden, und dem Anschwellen der modernen Richtung seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts 2 antwortete bald — so in der Wissenschaft deutscher, französischer, italienischer Zunge --— eine heute noch ungeschwächt andauernde Blüte der «klassischen» Schule 3 ; im Jahre 1925 trat unter der Führung Oetkers und im Geiste einer großen Tradition die

Deutsche Strafrechtliche Gesellschaft 1 ins Leben, die in kritischer Würdigung der Entwürfe eines neuen deutschen Strafgesetzbuchs die Reform zu fördern und zugleich vor einer Preisgabe der strafrechtlichen Grundlagen zu bewahren trachtet. Gleichwohl ist das für viele bestechende, wissenschaftlicher Kritik 2 aber längst erlegene Zauberwort, «der Täter und nicht die Tat» sei zu bestrafen, allen Einwänden zum Trotz, diesseits wie jenseits der Meere noch nicht verstummt. 3 Der —inzwischen allerdings gründlich überholte — italienische Vorentwurf von 1921 stellte in einseitigster Weise auf die Gefährlichkeit (temibilità) des Täters ab, räumte folgerichtig mit dem Strafbegriff gänzlich auf und glaubte, wie die Begründung bezeugt, auf die klassische Schule als auf eine durch die moderne Wissenschaft überwundene Epoche zurückblicken zu dürfen, der höchstens noch eine höfliche Verbeugung gebühre. Die Verquickung von Strafrecht und einseitig tendenziöser Kriminalpolitik macht sich in neueren gesetzgeberischen Vorarbeiten immer wieder geltend, wie wir namentlich auch auf den wichtigen Gebieten der Jugendlichenkriminalität, der verminderten Zurechnungsfähigkeit, des gewohnheitsmäßigen Verbrechertums beobachten können, wo kriminalpolitische Individualisierungsversuche, unter Entfesselung schrankenlosen richterlichen Ermessens, die strafrechtlichen Rücksichten zu ersticken drohen.

Daß beide Arten von Individualisierung nicht etwa zusammenfallen, leuchtet ohne weiteres ein. Legen wir nämlich der Individualisierung das Verbrechen zugrunde, so kann

sie nur bedeuten, daß diejenige strafrechtliche Reaktion eintreten soll, die uns der Gerechtigkeit am meisten zu entsprechen scheint und damit zugleich durch maßvolle Vergeltung einem Überwuchern ungezügelter Racheinstinkte zuvorkommt. Gehen wir umgekehrt von der Persönlichkeit des Rechtsbrechers aus, so entscheidet nicht die Rückschau auf den einzelnen schuldhaften, Sühne heischenden Rechtsbruch, sondern die Vorausschau dessen, was vom Täter zu gewärtigen sein mag. Die Tat bildet dann nur den willkürlich herausgegriffenen Anlaß dafür, daß man sich mit einem Menschen von Staats wegen beschäftigt. Es wird sich dabei vorwiegend um soziale Anpassung oder um Eliminierung handeln. Die unendliche Mannigfaltigkeit der menschlichen Individualitäten und ihrer Art und Weise, auf staatliche Eingriffe zu reagieren, würde an sich eine ebenso unabsehbare Mannigfaltigkeit der Einwirkungen hervorrufen müssen. 1 Es wäre am einzelnen Menschen immer das vorzukehren, was sein Interesse, im Einklang mit den Interessen der Gesellschaft und im Hinblick auf seine etwaige soziale Leistungsfähigkeit, fordert; fehlt es völlig an einer solchen Leistungsfähigkeit, und droht von dem Betreffenden nur soziale Gefahr, so kommt lediglich Eliminierung in Betracht, sei es durch Tötung oder durch langandauernde Einschließung. Da nun aber die Einschätzung der Persönlichkeiten ebenso wechseln muß wie die Abwägung der individuellen gegen die sozialen Interessen, so scheint sich für die kriminalpolitische Individualisierung kein anderer Ausweg zu öffnen als alles dem Ermessen des Richters anheimzugeben. Die ganze Verbrechensbekämpfung ließe sich so auf eine sehr einfache und elastische Formel bringen; nur wäre damit, von andern Bedenken abgesehen, wiederum eine Individualisierung nach Maßgabe nicht des Täters allein, sondern v. a. des Richters, erzielt. Denn der Gefahr,

in diesen Fehler zu verfallen, wäre einseitige Kriminalpolitik in noch höherem Maße ausgesetzt als das hergebrachte Strafrecht, das mit bestimmt gezeichneten Typen der Rechtsanwendung immerhin eine festere Grundlage bietet. Wie es nicht zwei Täter gäbe, bei denen ein und derselbe Eingriff den höchsten Nutzeffekt der Interessenausgleichung zeitigen könnte, so wären auch wohl kaum zwei Richter oder Richterkollegien zu finden, die bei einem und demselben Menschen den gleichen Eingriff für indiziert halten würden. Wohl um diese Konsequenz abzuschwächen, haben die Kriminalpolitiker der modernen Schule zu dem Hilfsmittel der Klassifizierung der Verbrecherpersönlichkeiten gegriffen. Die Zugehörigkeit des Täters zu der einen oder andern Klasse oder Gruppe soll dann für den mit der Strafe zu erreichenden Nützlichkeitszweck entscheidend sein. Bekannt ist der Reichtum der zahlreichen Gruppierungen Ferri's 1, bekannt die Unterscheidung Liszts in die beiden Hauptgruppen der Augenblicks- oder Gelegenheitsverbrecher, deren Tat nicht ihrer Eigenart entstammen, sondern nur episodischen Charakter an sich tragen soll, und in die Zustandsverbrecher. Bei den ersteren soll die bloße Abschreckung — ein sogenannter Denkzettel — genügen, während die letzteren wiederum in besserungsfähige und unverbesserliche eingeteilt werden; bei den besserungsfähigen soll der Strafzweck in der Besserung, bei den unverbesserlichen in der Unschädlichmachung bestehen. 2 Neben diesen Einteilungsmaßstäben kommen noch weitere zur Anwendung, und es werden v. a. die Gruppen der jugendlichen, der politischen, der geistig minderwertigen, der trunksüchtigen, der arbeitsscheuen, der gewohnheitsmäßigen Rechtsbrecher ausgeschieden. Für jede Gruppe werden besondere Strafen oder sonstige Vorkehrungen empfohlen oder bereitgestellt, die sich nach der Klassenzugehörigkeit des Rechtsbrechers richten, während die Bedeutung seines Rechtsbruchs zurücktritt.

Wenn es nur auf die Täterpersönlichkeit ankommen soll, so müßte es ja auch grundsätzlich gleichgültig sein, ob ein vorsätzliches oder ein fahrlässiges Delikt, ob eine Landstreicherei oder eine Brandstiftung, ob eine Unterschlagung oder eine Urkundenfälschung den Anlaß gab, sich mit dem Individuum von Staats wegen zu befassen. An die Stelle der Klassifizierung der Taten tritt so eine Klassifizierung der Täter; damit ist ein wichtiger Sprung in der Richtung auf kriminalpolitische Individualisierung geschehen, nicht jedoch ihre volle Verwirklichung. 1 Machen wir uns für einen Augenblick die kühne Hypothese zu eigen, wonach die Diagnose eines Menschen in bezug auf seine Klassenzugehörigkeit — z. B. zu den Besserungsfähigen —überhaupt möglich wäre, so ist damit noch keineswegs klargestellt, daß eine bestimmte Behandlungsart, z. B. Einsperrung in einer Anstalt, gerade bei diesem Menschen zum erwünschten kriminalpolitischen Ziele führt. Wohl wird manchen Rechtsbrecher der harte Zwang zu geregelter Arbeit, unter Befreiung von eigener und eigentlicher Verantwortung, bessern können. Bei andern aber wird die Besserung von ganz andern Einwirkungen zu erwarten oder am leichtesten dadurch zu erzielen sein, daß man den Täter der eigenen Einkehr überläßt und mit Freiheitsentziehung völlig verschont; so mancher wird dadurch zu bessern, vielleicht auch unschädlich zu machen sein, daß man ihn aus seiner bisherigen in eine andere Umgebung oder Berufssphäre versetzt. Eine schöne und anregende Reise, die Ermöglichung eines der persönlichen Neigung oder Veranlagung entsprechenden Studiums, die Ausfolgung einer den Lebensunterhalt sichernden Rente, die Weckung des Ehrgefühls durch Übertragung eines verantwortungsvollen Postens — solche und ähnliche Wege, deren Zahl sich vertausendfachen ließe, entsprechend der Mannigfaltigkeit der Individualitäten, wären oft bessere Besserungsmittel als strafweiser Geld- oder Freiheitsentzug. Ja, man kann wohl ohne große Übertreibung sagen, daß mit der Geburt und

dem Heranwachsen jedes einzelnen Individuums der Kreis der für Besserung wie für Unschädlichmachung indizierten Mittel sich ins Ungemessene erweitert. Der Kriminalpolitik dürfte hier eine unendlich viel schwierigere Aufgabe erwachsen als in analoger Situation der so oft und gern zum Vergleich herangezogenen Medizin. Was eine staatlich organisierte und behördlich geleitete Kriminalpolitik leisten kann, ist überaus dürftig im Vergleich zu dem, was die schillernde Mannigfaltigkeit des Lebens von ihr fordern müßte. Eine kriminalpolitische Individualisierung zumal, die sich der Strafe bedienen will, kämpft mit all den Schwierigkeiten, die sich einerseits in bezug auf die Diagnose der Klassenzugehörigkeit, andererseits durch die Armut an Mitteln 1 staatlicher Einwirkung immer wieder unweigerlich ergeben. Man suchte freilich der Schwierigkeiten dadurch Herr zu werden, daß man vorschlug, den Richterspruch bedingt oder unbestimmt zu gestalten, derart, daß er das Schicksal des Schuldigen noch nicht endgültig besiegelt. Der nur bedingt Verurteilte soll Gelegenheit erhalten, sich zunächst in der Freiheit zu bewähren, um womöglich sich und dem Staate den Strafvollzug zu ersparen; der unbestimmt Verurteilte soll die Freiheitsstrafe zwar antreten, aber die Dauer soll von seinem Verhalten, den Zeichen seiner Besserung abhängig sein. Allein bei der bedingten wie bei der unbestimmten Verurteilung ist es doch immer wieder in erster Linie Freiheitsentziehung, deren Zufügung oder Verlängerung über dem Haupte des Täters schwebt; die Einseitigkeit dieser staatlichen Einwirkung, deren die Vielheit der persönlichen Einzelbilder spottet, wird also nicht überwunden. Dazu kommt bei der unbestimmten Verurteilung 2 noch eine

ganze Reihe von oft beleuchteten praktischen Schwierigkeiten, wovon hier nur die Unmöglichkeit hervorgehoben sei, aus der Führung eines Menschen in einer Anstalt auf die künftige Führung in der Freiheit einen sicheren Schluß zu ziehen. Fänden wir uns aber auch mit den praktischen Schwierigkeiten einer extremen Individualisierung im kriminalpolitischen Sinne ab, so bliebe doch ihre Unvereinbarkeit mit der von ihr ganz verschiedenen strafrechtlichen auf weiten Gebieten bestehen. Das Gegenteil wäre nur richtig, wenn das in der Tat liegende «Symptom» einen zuverlässigen Schluß auf die Gesamtpersönlichkeit und ihre Beeinflußbarkeit gestattete. Das Unzutreffende dieser Voraussetzung ist oft dargelegt worden, und es leuchtet ein, daß die dem gesetzlichen Tatbestand zu subsumierende Tat allzu häufig höchstens einen bescheidenen Ausschnitt aus der Persönlichkeit erschließt. Wäre es anders, so wäre kaum zu verstehen, warum gerade die Symptomatik sich nicht an dem angeblich in der Tat liegenden Spiegelbilde genügen läßt, sondern ein gründliches Zurückgehen auf den Täter, eine Erforschung seines Charakters und Vorlebens, seiner gesamten persönlichen und sozialen Verhältnisse fordert.

Suchen wir nun das Verhältnis beider Arten von Individualisierung an einigen der wichtigsten strafrechtlichen Lehren herauszustellen, so wird sich aufs neue bestätigen, daß die kriminalpolitische Individualisierung in vielen allerdings nicht in allen — Beziehungen zu einer Preisgabe der strafrechtlichen führt, daß ihr, anders und positiv ausgedrückt, insoweit eine strafrechtliche Generalisierung entsprechen müßte. 1 Schon in der grundlegenden Frage der Zurechnungsfähigkeit

1 macht sich mit der Verschiedenheit auch die Unvereinbarkeit aufs schärfste geltend. Vom strafrechtlichen Standpunkt aus kommt es, um uns an die neueste und bisher beste, in den modernen Gesetzen und Entwürfen häufig wiederkehrende Formel zu halten, darauf an, ob der Täter zur Zeit der Tat die Fähigkeiten hatte, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln 2; war eine dieser Fähigkeiten, etwa durch sittliche Unreife oder geistige Erkrankung, ausgeschlossen, so ist das Strafübel nicht verdient, weil das wichtigste Verbrechenselement, die Schuld, nicht gegeben sein, ja selbst die Frage der Vorwerfbarkeit angesichts der Unfreiheit des Täters nicht gestellt werden kann. Die volle strafrechtliche Individualisierung würde nun freilich, wie bei den geistig defekten, so auch bei den jugendlichen Rechtsbrechern dazu drängen, den Richter in jedem einzelnen Falle prüfen zu lassen, ob die erforderlichen Fähigkeiten gegeben waren oder nicht; die meisten Gesetze gehen aber, um nicht den Richter mit der vollen Verantwortung zu belasten, um nicht eine Individualisierung nach Maßgabe der Richterpersönlichkeit heraufzubeschwören, einen anderen Weg, indem sie bei Kindern unter einer gewissen Alterstufe die Unzurechnungsfähigkeit ein für allemal voraussetzen und nur bei «Jugendlichen», deren Altersgrenzen wiederum bindend bestimmt sind, die richterliche Prüfung im Einzelfall freigeben. Mag ein «Kind» im strafrechtlichen Sinne noch so frühreif und verdorben sein («malitia supplet aetatem»), das Gesetz verbietet gleichwohl seine strafrechtliche Verfolgung; mag ein «Erwachsener» 1

im strafrechtlichen Sinne die Intelligenz- und Willensreife eines Sechszehn- oder Siebenzehnjährigen überhaupt nicht, die Obergrenze des jugendlichen Alters aber erst seit wenigen Tagen überschritten haben —das Gesetz verbietet gleichwohl, ihn gerade unter dem Gesichtspunkt seiner Jugend freizusprechen. Die strafrechtliche Individualisierung muß hier einer Generalisierung weichen, deren Nachteile man geringer veranschlagt als die Gefahr willkürlicher und ungleicher Behandlung der Einzelfälle.

Eine Individualisierung im kriminalpolitischen, einseitig auf Vorbeugung gerichteten Sinne führt zu ganz anderen Folgerungen. Für sie kommt es nicht auf psychische Fähigkeiten an, die der Täter zur Zeit der Tat besessen oder nicht besessen hat, sondern einzig auf die Wirkungen, die sich vom staatlichen Eingriff erwarten lassen. Zeitlich müßte der Augenblick der Aburteilung entscheidend sein, und die Zurechnungsfähigkeit wird zur Determinierbarkeit; die Freiheit und Unberechenbarkeit menschlicher Entschlüsse aber — für die streng strafrechtliche Individualisierung eine Voraussetzung — würde für eine extrem kriminalpolitische zum Hemmnis und zum Verhängnis. Läßt sich von der Strafe ein bessernder Einfluß erwarten, so hätte sie, ohne Rücksicht auf geistige Gesundheit oder Reife, den ihr Zugänglichen zu treffen. Sind die Besserungsaussichten trostlos und droht von dem Individuum soziale Gefahr, so wäre Unschädlichmachung das kriminalpolitische Ziel, das wiederum ohne Rücksicht auf Geisteszustand und Alter durch die Strafe erstrebt werden müßte, sofern diese es am sichersten verbürgt. Beim Kinde und beim Jugendlichen insbesondere liegt es nah, den wichtigsten, wenn auch nicht einzigen kriminalpolitischen Zweck in der Erziehung zu suchen. Und während bei Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit und Bewußtlosigkeit die kriminalpolitische Betrachtungsweise auch in den neueren gesetzgeberischen Arbeiten und Vorarbeiten der strafrechtlichen noch Raum läßt, neigt man dazu, beim jugendlichen Alter die Strafe der Erziehung zu opfern. Nach diesem System wäre bei Personen unter einer

gewissen Altersstufe nicht nach der Schuldfähigkeit, sondern primär nach der Beeinflußbarkeit durch erziehliche Einwirkung zu fragen, und jede Schuldstrafe zu verwerfen, die dem Erziehungsbedürfnis nicht restlos dienstbar gemacht werden kann. Nicht auf Verstandes- oder Willenskraft käme es an, sondern auf die Zugehörigkeit des Täters zur Unterklasse der Pathologischen (einschließlich der Geisteskranken), der sittlich Verwahrlosten, Gefährdeten oder Verdorbenen, der mangelhaft Entwickelten oder der Normalen, und die anzuwendende Behandlung — Heilung, Erziehung, Gewöhnung zur Arbeit, Abschreckung — wäre streng kriminalpolitisch zu individualisieren, mag nun die Tat eines Schuldfähigen oder eines Schuldunfähigen den Anlaß dafür bieten, daß man sich von Staats wegen mit der Person des Täters beschäftigt. 1

Wie in der Lehre von der Zurechnungsfähigkeit 2 als Grundlage jeder Schuld, so klaffen auch in der eigentlichen Schuldlehre die beiden Arten der Individualisierung weit auseinander. Während vom strafrechtlichen Standpunkt der Ausschluß jeden Vorwurfs durch wesentlichen und unvermeidlichen Irrtum das Verhalten des Täters unerheblich macht, läßt sich vom kriminalpolitischen das gleiche nicht ohne weiteres sagen. Durch den Irrtum wird wohl die Vergeltungsstrafe zu einer Unmöglichkeit, nicht aber ein kriminalpolitisches Eingreifen, das gerade den Irrtum in seiner Wurzel träfe. Noch deutlicher zeigt sich der Unterschied, wenn wir uns vorstellen, daß der Irrtum Fahrlässigkeit bestehen läßt, und wenn wir diese Schuldform mit dem

Vorsatz vergleichen. Strafrechtlich wiegt der Vorsatz ungleich schwerer als die Fahrlässigkeit, während kriminalpolitisch das Einschreiten gegen den Fahrlässigen unter Umständen viel dringlicher sein kann als gegen den Dolosen. Besserung und Unschädlichmachung insbesondere können bei jenem viel notwendiger und erfolgversprechender sein als bei diesem. Entscheidend ist die Persönlichkeit des Täters, für die wir aus der Schuldform nur schwache Anhaltspunkte gewinnen. Ja, gerade für die culpa hat man schon früher die Theorie einer Charakterstrafe entwickeln wollen. So müßten auch die Differenzierungen der Schuldlehre der Kriminalpolitik zum Opfer fallen, und die kriminalpolitische Individualisierung würde auch auf diesem Gebiet nur durch strafrechtliche Generalisierung erkauft. Das Schuldprinzip würde durch eine «den Täter und nicht die Tat» erfassende Strafrechtsreform keine Förderung erfahren. 1

Die Diskrepanzen zwischen kriminalpolitischer und strafrechtlicher Individualisierung lassen sich für die verschiedensten Gebiete des Strafrechts aufzeigen, so namentlich auch für Versuch und Teilnahme. 2 Die Individualisierung im strafrechtlichen Sinn fordert, daß die Reaktion grundsätzlich mit davon abhängt, ob der Rechtsbruch vorbereitet. begonnen oder vollendet wurde, und dem entspricht sowohl die Straflosigkeit der Vorbereitung als auch die Strafmilderung im Falle bloßen Versuchs. Sie fordert ferner, daß die Unselbständigkeit der Begehung — bloße Beihilfe — minder streng geahndet werde als die selbständige Täterschaft.

Für eine kriminalpolitische Individualisierung hingegen sind alle diese Differenzierungen ohne Belang, und es erscheint begreiflich, daß die einseitig kriminalpolitisch orientierten Strömungen in diesen Beziehungen (von der Vorbereitung inkonsequenter Weise abgesehen) eine Nivellierung befürworten; Besserungsfähigkeit und Unverbesserlichkeit des Täters stehen in keinem Zusammenhang mit der Vollständigkeit oder Selbständigkeit der Tat; die Aussichten der Besserung und Unschädlichmachung können gerade dann besonders günstig sein, wenn das Versuchsstadium, ja selbst das Vorbereitungsstadium noch nicht überschritten, oder wenn eine bloße Gehilfenhandlung gegeben ist. Daher wären Gleichbehandlung von Vollendung, Versuch (nebst dem sogenannten untauglichen Versuch) und Vorbereitung, von Täterschaft und Beihilfe dem einseitig kriminalpolitischen Standpunkt einzig angemessen. Auch hier also ist kriminalpolitische Individualisierung mit strafrechtlicher Generalisierung notwendig verknüpft.

Das Strafrecht macht in gewissen Fällen die Ahndung von einem Antrag des Verletzten abhängig und individualisiert auch insofern im Hinblick auf die konkrete Situation und unabhängig von der Täterpersönlichkeit; so soll, um das wichtigste Beispiel zu nennen, die Beleidigung nur strafbar sein, wenn der Wille des Verletzten erkennbar auf Bestrafung gerichtet ist. Daß sich dies mit kriminalpolitischer Individualisierung nicht verträgt, liegt auf der Hand. Denn das Bedürfnis, den Täter zu bessern oder unschädlich zu machen oder auch nur mit einem Denkzettel zu versehen, kann unmöglich davon abhängig sein, ob der Verletzte — vielleicht nur durch den Grad eigener Empfindlichkeit bestimmt — die Bestrafung wünscht oder nicht.

Daß die kriminalpolitische Individualisierung zu einem ganz andern System staatlicher Eingriffe führen müßte als die strafrechtliche, wurde schon betont; im Gebiet der Freilieifsstrafen insbesondere führt sie zu einer strafrechtlichen Generalisierung auch insofern, als an die Stelle der nach der Vergeltungsidee differenzierten Formen der Zuchthaus-,

Gefängnis- und selbst Haftstrafe die «Einheitsstrafe» 1 zu treten hätte, bei deren Vollzug dann die Täterpersönlichkeit ausschlaggebend wäre. Es wurde auch schon bemerkt, daß dem sogenannten besonderen Teil des Strafrechts, also der Katalogisierung der Tatbestände, die Grundlage entzogen wird, wenn die kriminalpolitische Individualisierung durchgreift. Der Katalog der Verbrechenstatbestände hat mit der Klassifizierung der Verbrecherpersönlichkeiten nichts oder sehr wenig zu tun. Aber auch die Strafaufhebungsgründe wären verschieden zu behandeln, je nachdem man der einen oder der andern Art der Individualisierung folgt. Erklärt z. B. die strafrechtliche Betrachtung die Verjährung aus dem Erlöschen des Vergeltungsbedürfnisses und aus der Beweisvergänglichkeit, so muß für den kriminalpolitischen Standpunkt entscheidend sein, ob der Täter der Besserung noch bedürftig oder ihr zugänglich ist, oder ob er weiterhin zu den Gefährlichen gehört und der Unschädlichmachung bedarf.

Das Absehen von Strafe und der bedingte Straferlaß nehmen ebenfalls, je nach Art und Objekt der angestrebten Individualisierung, verschiedene Züge an. Das ausnahmsweise Absehen von Strafe wird sich strafrechtlich rechtfertigen lassen, sofern der Satz minima non curat praetor eingreift kriminalpolitisch aber sollte es nicht auf die größere oder geringere «Schwere des Falles» ankommen, sondern auf die größeren oder geringeren Aussichten, auf die größere oder geringere Dringlichkeit der Besserung bzw. Unschädlichmachung. Der bedingte Straferlaß, der dem Täter Gelegenheit zur Bewährung gibt mit der Aussicht, daß ihr Bestehen ihn von Strafe befreien soll, ist mit der strafrechtlichen Individualisierung nicht unvereinbar, sofern es sich um keine allzu schweren Fälle handelt. Für die kriminalpolitische aber sollte kein Hindernis bestehen, den bedingten Straferlaß auch beim schwersten Verbrecher anzuwenden, sofern

er nur mit Rücksicht auf seine Persönlichkeit Erfolg verspricht. 1

Die Gegensätze beeinflussen, obwohl in geringerem Grade, auch die Strafzumessung, denn das Maß der Strafe wird verschieden ausfallen, je nachdem primär eine angemessene Sühne oder aber Abschreckung, Besserung, Unschädlichmachung erstrebt wird. Zudem ist, wie schon eingangs gesagt werden mußte, eine extrem kriminalpolitische Individualisierung nur im Wege der unbestimmten Verurteilung überhaupt denkbar, wiewohl selbst auf diesem Wege den größten praktischen Schwierigkeiten ausgesetzt. Die Vergeltungsstrafe läßt sich nun freilich nicht mathematisch genau dem Rechtsbruch anpassen, und verschiedene Richter und Richterkollegien gelangen bei Anwendung des gleichen Gesetzes nicht selten zu verschiedenen Bewertungen. Diesen Mangel hat man oft genug gegen die Vergeltungsstrafe ausgespielt, ohne sich genügend zu vergegenwärtigen, daß derselbe jeder menschlichen Wertungstätigkeit anhaftet, nicht zum wenigsten der kriminalpolitisch individualisierenden. 2 Immerhin ist zuzugeben, daß die Gerechtigkeit eine gewisse Spannweite der Strafbemessung — auch im Hinblick auf die konkrete Einzeltat, nicht nur im Hinblick auf den Verbrechenstypus —offen läßt, und daß innerhalb dieser Spannweite auf Zwecke mit Rücksicht genommen werden kann, die außerhalb der Vergeltung liegen. Hier kann der Richter, indem er die Persönlichkeit des Rechtsbrechers mitberücksichtigt, in der Tat die strafrechtliche Individualisierung mit einer kriminalpolitischen verbinden. Dies wird besonders auf die Freiheitsstrafe zutreffen, während die Mitberücksichtigung der Vermögensverhältnisse des Täters bei der

Geldstrafe sich schon aus der strafrechtlichen Individualisierung erklärt; denn schon diese verlangt, daß bei gleichem Verschulden verschiedener Täter ein nur relativ gleiches, ein gleich schwer empfundenes Strafübel angesetzt werde; doch können natürlich auch bei Festsetzung der Geldstrafgröße kriminalpolitische Rücksichten mitsprechen.

Bietet uns so die Strafzumessung endlich ein Feld, wo beide Arten der Individualisierung in gewissen Grenzen verbunden auftreten können, so gilt das gleiche in noch höherem Maße vom Strafvollzug, insbesondere vom Vollzug der Freiheitsstrafe. Wohl muß nicht in der Dauer allein, sondern auch in der Behandlungsweise der Ernst der Strafrechtspflege zum Ausdruck kommen, wenn anders die strafrechtliche Individualisierung gewahrt bleiben soll. Aber die Einzelheiten des Vollzugs können nicht einseitig von der Vergeltungsidee beherrscht sein, und die Notwendigkeit, anläßlich des Vollzugs bessernd auf den Sträfling einzuwirken, ihn, soweit möglich, religiös-sittlich zu beeinflussen und zur Arbeit und geregelten Lebensführung zu erziehen, würde, wenn hier ein Zweifel überhaupt aufkommen könnte, schon aus der einfachen Erwägung folgen, daß man nur die Wahl hat, ihn als einen Besseren oder als einen Schlechteren zu entlassen, und daß das letztere unmöglich zu den Vollzugszielen gehören kann. Die Rücksicht auf den schuldhaften Rechtsbruch kommt in der Einweisung in eine Strafanstalt bestimmter Art auf bestimmte Dauer zum Ausdruck; hingegen kann es unbestrittenermaßen nicht Sache der Vollzugsorgane sein, ihrerseits die Behandlung der Sträflinge im einzelnen nach der Schwere des Verbrechens abzustimmen, also ihrerseits auf eigene Faust weiterhin strafrechtlich zu individualisieren. Die Vollzugsorgane und ihre Hilfskräfte haben vielmehr — freilich in den durch Wesen und Sinn des Strafübels gegebenen Schranken und unter Wahrung der ihnen objektiv vorgezeichneten Strenge —nach Möglichkeit auf Erziehung und Charakterbildung der ihnen Anvertrauten einzuwirken, in der Person des Verurteilten verbrecherischen Regungen entgegenzuarbeiten, also kriminalpolitisch

zu individualisieren. In diesem Verhältnis der Strafvollstreckung zu Gesetz und Richterspruch liegt wohl die — nicht nur technisch, sondern aus dem Wesen der Sache heraus zu begründende — Erklärung dafür, daß die Strafgesetzbücher den Vollzug nicht bis in alle Einzelheiten hinein, sondern nur in soweit zu ordnen pflegen, als dies durch strafrechtliche Erwägungen unmittelbar gefordert wird; das Nähere bleibt besonderen Vollzugsnormen und der Vollzugspraxis überlassen, wofür die strafrechtlichen Erwägungen nicht so sehr Richtschnur als Schranke sind, und das Strafgesetz als solches verstummt, wo die kriminalpolitisch individualisierende Vollzugstätigkeit einsetzt. (Kleinere Grenzüberschreitungen von Seiten der Strafgesetzbücher einerseits, der Vollzugsnormen andererseits können an der Richtigkeit des Prinzips nichts ändern.) Einen ersten großartigen Versuch, den Strafvollzug selbständig und einheitlich zu ordnen, stellt der Entwurf eines deutschen Strafvollzugsgesetzes dar 1, der mit dem Entwurf eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuchs gegenwärtig dem Reichstag vorliegt. Dabei läßt sich beobachten, daß die Vollzugsnormen, wo es das Leben des Sträflings im einzelnen zu regeln gilt, vielfach nicht starren, sondern elastischen Charakter tragen, wenn auch eine gewisse öffentlichrechtliche Stellung, zum Schutz gegen Willkür, dem Gefangenen gewahrt bleiben soll. Der kriminalpolitisch individualisierenden Zwecktätigkeit der Vollzugsorgane steht ein verhältnismäßig weiter Spielraum offen, über dessen richtige Einzelbegrenzung sich selbstverständlich streiten läßt. Je mehr wir in die Einzelheiten des Daseins der Gefangenen, ihre Beschäftigung und Erholung, ihren Verkehr untereinander und mit dem Seelsorger, dem Lehrer, dem Arzte, dem Aufseher, der Außenwelt eindringen, um so weniger läßt sich alles in vorausschauend abschließende Regeln hineinzwängen, um so mehr müssen wir der kriminalpolitischen Individualisierung aller der Personen vertrauen, die unmittelbar oder mittelbar mit dem

Vollzuge befaßt sind und daher für Leib und Seele jedes Einzelnen und damit auch für das soziale Wohl — eine beispiellose Verantwortung tragen.

Soll nun aber die kriminalpolitische Individualisierung auf das enge Gebiet der Zumessung und des Vollzugs beschränkt sein? Sollte es nur durch solche Beschränkung möglich sein, die Grundlagen des überlieferten Strafrechts zu retten? Müßten wir diese Fragen bejahen, so wären wir ohne weiteres der begreiflichen Gegenfrage ausgesetzt, ob nicht die offene Abschaffung des Strafrechts immer noch willkommener sein müßte als der Verzicht auf eine dem Verbrechen entgegenarbeitende individualisierende Aktion. Glücklicherweise sind wir aber dieser trostlosen Fragestellungen überhoben, sobald wir uns ganz klar vergegenwärtigen, daß strafrechtliche und kriminalpolitische Individualisierung — von verhältnismäßig kleinen Segmenten abgesehen —zwei getrennte Kreise darstellen, daß Verbrechensvergeltung und Verbrechensverhütung zwei ganz verschiedene Funktionen sind. 1 Neben dem Strafrecht steht geschieden von ihm die Verbrechensprophylaxe mit der individualisierenden Kriminalpolitik, und mit Recht wurde — um hier nur wenige Namen zu nennen — vor Jahren schon durch Binding, im Sinne der deutschen klassischen Schule 2, der Verbrechensbekämpfung die Verbrecherbekämpfung in scharfer Pointierung gegenübergestellt, wurden in Frankreich durch Proal, in Italien durch Lucchini, Verbrechen und Verbrecher ebenfalls auf ihr wahres Verhältnis zurückgeführt. 3 Und wenn die Kriminalpolitik bezeichnet worden ist als Bekämpfung

des Verbrechens durch individualisierende Einwirkung auf den Verbrecher, so dürfen wir in der Strafrechtspflege erblicken eine Bekämpfung des Verbrechers durch individualisierende Vergeltung des Verbrechens. Beide Aufgaben stehen unabhängig und gleichberechtigt nebeneinander, und es wäre müßig, über die größere oder geringere Wichtigkeit der einen oder der andern zu streiten.

Der kriminalpolitischen Individualisierung wehren wir nur insoweit, als sie mit der strafrechtlichen in Konflikt gerät. Außerhalb des Strafrechts bleibt ihr ein unermeßlich weites Wirkungsfeld, auf dem sie um so reiner walten kann, je mehr man sie von strafrechtlichen Fesseln befreit. Sehen wir davon ab, daß schließlich jeder, der seinen noch so bescheidenen Pflichtenkreis an seinem Platze reinlich erfüllt, durch sein Beispiel und durch sein Wirken für das allgemeine Wohl in letzter Linie auch Verbrechensquellen abgräbt, sehen wir insbesondere ab von der Fürsorge für entlassene Sträflinge — einer der edelsten Aufgaben christlicher Nächstenliebe —-, sehen wir schließlich auch ab von dem Schutze der sittlich Schwachen und der sozial und wirtschaftlich Gefährdeten durch Kirche, Staat und Gemeinde, durch die Familie, durch einzelne edelgesinnte Männer und Frauen und durch private Organisation, wenden wir uns vielmehr der bewußt und unmittelbar von Gesetzes wegen neben die Strafrechtspflege gestellten Kriminalpolitik zu, so eröffnet sich hier ein weiter Kreis von aussichtsreichen, sei es auch schwierigen Aufgaben. Neben die Strafen, die in erster Linie der Vergeltung des schuldhaften Rechtsbruchs zu dienen haben, treten die sichernden und vorsorglichen Maßnahmen, wie sie, auf Carl Stooß zurückgehend, uns in den Entwürfen eines schweizerischen Strafgesetzbuchs von Anfang an erschienen sind 1, wenn ihnen auch schärfere Trennung von der ihnen wesensfremden

Strafe zu wünschen wäre. Die Erziehungsmaßnahmen für Jugendliche sollten von der Strafe ebenso geschieden sein und sie ebenso unberührt lassen, wie die Heilanstalten für geistig Defekte, die Arbeitsanstalten für Liederliche, die Heilstätten für Trinker. Wird für gemeingefährliche Gewohnheitsverbrecher eine sichernde Verwahrung als nötig befunden, so sollte sie erst nach dem Strafvollzug einsetzen, nicht ihn ersetzen. Wo immer die sichernde Maßnahme nicht, wie z. B. beim strafunmündigen Kinde oder beim gefährlichen Geisteskranken, isoliert erscheinen muß, da soll sie neben die Strafe treten, bezw. der Freiheitsstrafe nachfolgen. Das schließt keineswegs aus, daß schon der Strafvollzug dem kriminalpolitischen Ziel insoweit, aber auch nur insoweit mit dienstbar gemacht wird, als dies der Ernst des Strafübels verträgt. 1

Die verbrechensbekämpfende Kriminalpolitik stelle sich der verbrecherbekämpfenden Strafrechtspflege an die Seite, ohne sie irgendwie zu verdrängen. Indem man die kriminalpolitische Individualisierung folgerichtig von der strafrechtlichen löst (unbeschadet gewisser Rücksichten auf die vor Willkür zu schützende Sicherheit des einzelnen), gewährleistet man ihr in viel höherem Maße die Entfaltung ihrer Kraft und Eigenart, als wenn man eine unvollziehbare Verquickung grundverschiedener Staatsaufgaben unternimmt. Es darf sich eben nicht handeln um Zerstörung einer öffentlichen Aufgabe zu Gunsten einer andern, neuen, sondern um Beibehaltung und Verfeinerung der strafrechtlichen Individualisierung und zugleich um Aufnahme und Ausbau der kriminalpolitischen. Nur so bewahren und bereichern wir, ohne uns dem Neuen blind zu verschließen, auch auf diesem Gebiet die Schätze unserer Gesittung, und lebenskräftiger Fortschritt erwächst einzig aus der Treue zur Tradition.