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Allgemeinheit und Individualität in den Lebenserscheinungen

Rektoratsrede gehalten bei der 96. Stiftungsfeier der Universität Bern

am 22. November 1930
von
Dr. med. Leon Asher
o. Professor der Physiologie
PAUL HAUPT
Akademische Buchhandlung vorm. Max Drechsel
Bern 1931

Zahlreicher, als gemeinhin angenommen wird, sind auch in unseren Tagen der Spezialisierung die Probleme, an denen die Glieder einer Hochschule ein gemeinsames Interesse haben und in denen sich unbeschadet der besonderen Ausgestaltung in den einzelnen Fakultäten eine tiefe geistige Zusammengehörigkeit innerhalb unserer Alma mater kund tut.

Ein solches Problem ist dasjenige der Allgemeinheit und Individualität in den Lebenserscheinungen und wohl würdig, an dem Festtag der Hochschule behandelt zu werden.

Für den Mediziner und Biologen hat dasselbe von jeher Interesse gehabt, weil grundsätzliche Fragen entscheidungsvoller Art aufgeworfen werden, es gewinnt zudem gegenwärtig ein aktuelles Interesse für die Medizin, wo Stimmen sich vernehmen lassen, das die Medizin Irrwege einschlüge, wenn sie Allgemeinheiten nachginge, wenn sie eine Wissenschaft der Krankheiten, sowohl was das Erkennen wie das Heilen anlange, sein wolle, das es vielmehr nur Individuelles in der Medizin gäbe, in Sonderheit nur kranke Menschen und nicht Krankheiten. Der Beifall, der diesen Stimmen gezollt wird, entspringt zum Teil Motiven, die nichts mit dem Bestreben, das Wahre zu suchen und demgemäß zu handeln, zu tun haben. Zum Teil aber rührt er von der suggestiven Kraft des unzweifelhaft richtigen Gedankens her, daß Leben, gesundes wie krankes, jedenfalls Ausdruck höchster Individualität ist, möge es auch noch so sehr unter allgemeine Prinzipien und Begriffe sich subsummieren lassen.

Als Mediziner ging ich von einem, ich möchte fast sagen medizinischen Tagesereignis aus, wo der Widerstreit, ob das Allgemeine oder das Individuelle an den Dingen eher an des Wesens Kern zu bringen vermöge, sich offenbart. Ehe ich darauf eintrete zu untersuchen, welchen Standpunkt die wissenschaftliche Erfahrung der Biologie und Medizin, vornehmlich der Physiologie, hierzu zu gewinnen gestattet, sei in aller Kürze und nur in ganz wenigen flüchtigen Beispielen dargetan, das ein Blick über die Geistes- und Kulturgeschichte, sowie über die Entwicklungsgeschichte der exakten

Naturwissenschaften lehrt, dass periodisch bald ein Streben zur Allgemeinheit, bald zum Individuellen in den Vordergrund tritt und die Entwicklung maßgebend beeinflußt.

Zunächst zwei Beispiele aus der Geistesgeschichte. In der Renaissance erblickte eine so hohe Autorität wie Jakob Burckhardt die Freimachung des Individuums im Gegensatz zu der allgemeinen Bindung aller im Mittelalter. In einer uns näher gelegenen Zeit gewann Friedrich Nietzsche nicht zum geringsten dadurch einen so tiefgreifenden Einfluss auf die Gemüter, das er, wie es einer seiner Anhänger so schön ausgedrückt hat, die entzückende Losung von der Einzigkeit des Individuums mit allen seinen Konsequenzen glutvoll zu geben verstand.

In der Behandlung der Geschichte, die unter den Geisteswissenschaften in vielen Beziehungen der Biologie recht nahe steht, ist wiederum, ähnlich wie in der Biologie, das Widerspiel allgemein und individuell ein sehr ausgeprägtes. Von der einen Richtung der Vertreter des Faches wird das Einzige jedes historischen Ereignisses betont und es allein des Studiums für würdig erachtet. Die Konsequenzen dieser Auffassung sind über das Gebiet der Historie hinaus in Philosophie und Psychologie von weittragender Bedeutung geworden. Dem Geschichtsschreiber, der sich den einmaligen Individualereignissen und Persönlichkeiten widmet, steht gegenüber der Geschichtsdenker, für dessen Typus Jakob Burckhardt als vorbildlich gilt. Ihn interessiert das einzelne für sich Gewonnene weniger, sondern der grosse Wurf des allgemeinen in den geschichtlichen Vorgängen, das gewaltige Al fresco, in welchem historisches Schicksal dem Überschauer langer Zeitperioden vor Auge tritt. Dem, der sich Burckhardts tiefschürfender Führung verehrungsvoll anvertraut hat, wandelt wohl die Frage an, ob nicht in der Wertung des Einzigartigen, Einmaligen in der Geschichte ein Stück menschlicher Überhebung steckt, ein Aufbegehren gegen das Gesetzmässige, dem wir in ewiger Wiederkehr unterworfen zu sein scheinen. Freilich wollen wir nicht an dem Gegenvorwurf achtlos vorübergehen, dass dies, was wir als Gesetzmässigkeit ansprechen, möglicherweise gleichfalls nichts anderes sei als ein Hinausprojezieren rein menschlicher Denkweise in die ganz anders geartete Gegebenheit des Wirklichen. Nicht ohne Absicht wurde auf diese prinzipiellen Fragen eingegangen, weil der Physiolog und Mediziner genau so gut

sich mit ihnen auseinanderzusetzen haben wie der Historiker und jeder andere Wissenschaftler. Wir werden später sehen, welche Fingerzeige die Erforschung des Lebendigen uns gibt, um eine, wenn nicht unbedingt richtige, so doch fruchtbare Einstellung zu diesen Fragen einzunehmen.

In der Rechtspflege scheint ähnlich wie in Medizin und Geschichte die grössere Berücksichtigung des Individuellen gegenüber dem Allgemeinen eine Forderung des Tages geworden zu sein. Das analoge liegt beispielsweise im Strafrecht vor, wo im gewissen Gegensatz zu dem kodifizierten, allgemein gültig sein wollenden Strafgesetzbuch für den Strafvollzug eine weit individuellere Handhabung verlangt wird, ein Verlangen, das nicht boß ein Zurückdrängen allgemeiner Satzungen bedeutet, sondern daneben eben wegen der Berücksichtigung des Individuellen vom biologischen und vom humanen Standpunkte aus das weit gerechtfertigtere ist.

Wenn wir jetzt zu den exakten Naturwissenschaften übergehen und abwägen, wie sich dort im Werdegang der Erkenntnisse das Prinzip der Allgemeinheit und der Individualität auswirkt, so kommen wir dem Problem mit seinen Konsequenzen, wie es sich in den biologischen Wissenschaften stellt, näher, schon deshalb, weil beide Wissenschaften es mit den Objekten der Natur, soweit sie sich mit naturwissenschaftlichen Methoden im weitesten Sinne des Wortes erforschen lassen, zu tun haben. Hier tritt uns als erste und wohl bedeutungsvollste Erkenntnis die Tatsache entgegen, dass der Charakter als exakte Wissenschaft um so ausgeprägter und reiner wird, je mehr es gelingt, über das Individuelle hinaus Allgemeinheit in der Erscheinungen noch so bunter Reihe zu erkennen. Ein typisches Beispiel liefert uns die Entwicklung der Chemie, namentlich diejenige der anorganischen Chemie. Die Zeiten sind noch nicht so fern, wo das Lehrgebäude aus einer Unzahl von Einzeltatsachen bestand, die nur durch ein loses Band geeint waren. Mit einem Schlage änderte sich die Sachlage als durch vant'Hoff, Arrhenius, Ostwald, Nernst und andere die moderne allgemeine oder physikalische Chemie entstand. In das Gewirr der Einzeltatsachen kam Ordnung durch die Aufstellung allgemeiner Sätze. Unbeschadet der Existenz der individuellen chemischen Körper liess sich das chemische Geschehen aus Prinzipien verstehen, die weitgehend Züge der Allgemeinheit an sich tragen. Aus der allgemeinen oder physikalischen

Chemie der letzten Jahrzehnte ist in unseren Tagen die chemische Physik geworden, somit der Anschluss an diejenige Wissenschaft vollzogen worden, die in reinster Form das allgemeine und exakte Erkennen darstellt. Es herrscht wohl Einverständnis darüber, das die Physik ihre exakteste Form und ihre beherrschende Stellung ihrer hohen, möglichst vom Individuellen absehenden Allgemeinheit und den reichen durch diese Betrachtungsweise gewonnenen Erfolgen verdankt.

Der Erforscher der gesunden und krankhaften Lebensvorgänge, der unzweifelhaft den Lockungen des schier unerschöpflich Individuellen alles Lebendigen fortwährend ausgesetzt ist, hat allen Anlass darüber nachzudenken, dass in der Erforschung der unbelebten Natur, die nicht minder reich an Individuellem ist, gerade die Vernachlässigung desselben die hohe Exaktheit und großartigen praktischen Erfolge gezeitigt hat. Unzweifelhaft ist der Wissenschaftscharakter von Chemie und Physik wesentlich durch die wachsende hohe Allgemeinheit ihrer Vorstellungen bedingt. Sollte dies nicht für die Erkenntnis des gesunden und krankhaften Lebens auch gültig sein?

Wenn es Erkenntnisse über die Eigenschaften und das Wesen der Lebensvorgänge gibt, die von hoher Allgemeinheit sein sollten, so wäre ihr Platz in einer allgemeinen Physiologie, der Lehre von allem dem, was entweder jeglichem Lebendigen oder doch einem weitgefaßten Gebiete desselben gemeinsam ist. Die Möglichkeit einer solchen liegt äusserlich insofern vor, dass es tatsächlich eine Literatur der allgemeinen Physiologie gibt, wenngleich die Lehrbücher, die den Titel allgemeine Physiologie tragen, teilweise nicht gerade dasjenige enthalten, was etwa der Chemiker auf seinem Gebiete allgemeine Chemie nennen würde, teilweise ihrer Natur nach eher eine vergleichende Physiologie sind. Auch spricht zugunsten dieser Möglichkeit, daß namhafte Erforscher der speziellen Physiologie, darunter einer der genialsten Entdecker grundlegender Einzeltatsachen, Claude Bernard, immer und immer wieder den Anschluss an die allgemeine Physiologie durchführen und die von ihnen gefundenen und sonst vorliegenden Einzeltatsachen als Bausteine zu einer allgemeinen Physiologie verwerten wollten.

Freilich ist all dieses noch kein Beweis, weshalb wir danach trachten müssen, Erkenntnisse namhaft zu machen, die unzweifelhaft

hinsichtlich des Lebendigen von allgemeinster Gültigkeit seien. Von einem mehr naiven Standpunkte aus könnte man die zeitliche Begrenztheit alles Lebendigen, die Spanne, die zwischen der Geburt und dem unentrinnbaren Tode liegt, hierzu rechnen. Aber seitdem die potentielle Unsterblichkeit einzelliger Lebewesen und der geradezu geschichtliche Werdegang des Atoms ernsthaft diskutablen Probleme der Wissenschaft geworden sind, scheidet eine der populärsten allgemeinen Charakterisierung des Lebens für uns zur Zeit aus.

Hingegen gibt es zwei andere Erkenntnisse, welche in einer sehr allgemeinen Weise für alles Lebendige gültig, und daher zur qualitativen Unterscheidung des Lebendigen vom Leblosen dienlich sind. Die erste ist der Satz von William Harvey, dass alles Lebendige von einem Lebendigen abstammt. Obwohl vor drei Jahrhunderten aufgestellt, ist seine Richtigkeit heute experimentell mehr gesichert wie je und er hat auch seinen Platz in den kühnen, modernen Kosmogenien, welche das Leben auf unserem Erdball von einem auf anderen Welten herrühren lassen.

Die zweite ist in dem enthalten, was man die Autonomie des Lebendigen nennt. Unter Autonomie wird die Eigenschaft jeder Lebenseinheit verstanden, in sich selbst alle Bedingungen zu enthalten, welche für den Vollzug der Funktionen, zu welchen die betreffende Lebenseinheit bestimmt ist, erforderlich ist. Der Muskel kontrahiert sich, die Drüsenzelle sondert ab, der Nerv leitet, das Herz schlägt, die Eingeweide bewegen sich, weil in ihnen selbst die Bedingungen hierzu gelegen sind und es ist nebensächlich, ob es hierzu eines Antriebes von aussen bedarf oder nicht. Letzten Endes stammt das Prinzip der Autonomie als Idee der allgemeinen Physiologie von Albrecht von Haller, der es zunächst in eingeschränkter Weise für den Muskel gültig dadurch formulierte, daß er demselben eine "vis insita" zur Kontraktion zuschrieb.

Zum Prinzip der Autonomie des Lebendigen gehört die zwangsläufige Verknüpfung der äußerlich sichtbaren Funktion mit einer mehr oder weniger großen Zahl von Prozessen, wie Stoffwechselvorgängen, Wärmebildung und elektrischen Vorgängen. Sie alle stehen, was hervorzuheben ist, in einem planmäßigen Zusammenhang mit der betreffenden Funktion. Es ist dieser Umstand, der die Grundlage für die oft hervorgezogene Ähnlichkeit zwischen dem

Mechanismus des Lebendigen und demjenigen der Maschinen abgegeben hat. Deshalb hat man auch den Maschinen Autonomie zugeschrieben und letztere als Kriterium des Lebendigen verworfen.

Aber die Unterschiede zwischen der Maschine und dem autonomen Lebendigen sind doch sinnfällige, worauf überzeugend besonders Jakob von Uexküll hingewiesen hat. Der Plan der Maschine stammt von uns, der Plan des Lebendigen ist natürliche Entwicklung aus unbekannter letzter Ursache, der Antrieb der Maschine ist ein genau umgrenzt bestimmter, zum Antrieb des Lebendigen dienen heterogene Reize teils sehr einfacher, teils verwickelter Art, schließlich sind die Reaktionen der Maschine und des Lebendigen auf Störungen tiefgehend verschieden, mag auch die Kunst des Menschen, technische Regulationen zu ersinnen, die günstigenfalls eine durch Abgründe getrennte Ähnlichkeit mit den Regulationen der Natur besitzen, noch so gross sein.

Der Besitz der Autonomie erscheint mir auch das brauchbarste Kriterium zur Abgrenzung dessen zu sein, was als eine letzte Lebenseinheit bezeichnet werden darf. Erst wenn wir mit der Teilung des Lebendigen so weit vorgeschritten sind, dass ausnahmslos und zwangsläufig ein autonomes Funktionieren aufgehoben ist, haben wir keine Lebenseinheit mehr vor uns. In diesem Sinne deckt sich die funktionelle und morphologische Lebenseinheit nicht. Für den Morphologen ist dies die Zelle, aber der Erforscher der Funktion findet die zellulare Grenze bald zu groß, bald zu klein für eine. Lebenseinheit. Zu groß ist sie beispielsweise für biologische Oxydationen, die an Granula innerhalb der Zelle geknüpft sind, bald zu klein, wie am Beispiele eines einfachen Reflexes erkannt wird, für dessen Zustandekommen mindestens drei funktionell verknüpfte Ganglienzellen notwendig sind.

Ein weiteres sehr allgemeines Kennzeichen jeglichen Lebendigen ist die Erscheinung der Regulation, eine Regulation, die wie das Leben selbst, vielgestaltig sein kann. Die beiden Hauptmittel, über welche der Organismus zu regulativen Zwecken verfügt, sind nervöse und chemische. Letztere sind die verbreiteteren und gehören den allerverschiedensten Stoffarten an. Unter denselben spielen die sogenannten Hormone und die Enzyme eine besondere Rolle. In so grossem Umfange wird das chemische Geschehen in allen Organismen durch das Mittel der enzymatischen oder fermentativen Prozesse

bewerkstelligt, das man namentlich angesichts des Unaufgeklärten, ja Geheimnisvollen, das den Enzymen oder Fermenten anhaftet, früher geneigt war, in den Enzymen gewissermaßen ein Abbild wesenhafter Züge des Lebendigen zu erblicken.

Noch heute ist trotz der glänzenden Arbeiten von Willstätter und seiner Schule, von Euler u. a., die Natur der Enzyms durchaus nicht abschließend aufgeklärt, aber immerhin so weit, daß ihre Eigenschaften sie in hervorragender Weise zur Regulation chemischer Lebensvorgänge geeignet erscheinen lassen. Ihre Tätigkeit ist in enge Grenzen durch ihre Empfindlichkeit gegenüber Temperaturen und Änderungen der Reaktion ihres Milieus gebannt, die eigenen Produkte ihrer Tätigkeit vermögen diese zu hemmen, sie sind sehr spezifisch auf chemische Stoffe eingestellt und vor allem, je nach den Bedingungen, kann ihre Wirkung in der einen oder der anderen Richtung gehen, sei es Aufbau oder Abbau, sei es Oxydation oder Reduktion. Lebewesen ohne enzymatische Tätigkeit sind undenkbar und es ist dieselbe daher von hoher Allgemeinheit.

Die Hormone oder inneren Sekrete besitzen nicht den gleichen Grad von Allgemeinheit, weil sie zwar bei allen Wirbeltieren vorkommen, bei den Wirbellosen aber, soweit unsere augenblicklichen Kenntnisse reichen, weniger verbreitet sind.

Regulation ist schon deshalb ein untrügliches allgemeines Kennzeichen des Lebendigen, weil ohne diese alle Prozesse nur einsinnig in einer Richtung verlaufen würden, wie dies klar aus dem Ablauf der chemischen Vorgänge hervorgeht, die eintreten, sobald die lebendige Organisation dem Tode verfallen ist. Das ab und auf der Lebensvorgänge, das sich in der geregelten Aufeinanderfolge dissimilatorischer und assimilatorische chemischer Prozesse, in dem Wechsel zwischen Tätigkeits- und Ruheperioden rhythmisch arbeitender Organe, zwischen Arbeit, Ermüdung und Erholung, zwischen Wach- und Schlafzustand, in der Erhaltung eines konstanten inneren Milieus der chemischen Zusammensetzung, einer fast neutralen Reaktion, eines konstanten osmotischen Druckes, einer ziemlich gleichbleibenden Innentemperatur kund tut, trotzdem die äußere Umwelt und das Geschehen im eigenen Körper durch ihre ständigen Veränderungen der Konstanz entgegenwirken, ist Produkt biologischer Regulation. Wie sehr Regulation ein wesentlicher Zug des Lebendigen ist, geht daraus hervor, daß so bedeutsame Lebensfunktionen

wie diejenigen der Atmung und der Harnabsonderung sich in fruchtbarster Weise unter dem Gesichtspunkt der Regulationsfunktionen haben erforschen lassen.

Wiederum sind es die Maschinen, in denen wir wie in den belebten Wesen, Regulation wiederfinden. Diese Ähnlichkeit gibt zu keiner Entwertung der Regulation als eines biologischen Prinzipes Veranlassung, sobald wir dessen eingedenk sind, das die Maschine in den Besitz der Regulation durch den Hauch des planvollen menschlichen Geistes gelangt ist.

Überblicken wir, was bisher als Allgemeinheit in den Lebensvorgängen uns entgegentrat, so läßt sich nicht verhehlen, dass all dem, ungeachtet seiner reizvollen Zweckmäßigkeit, etwas Unbefriedigendes innewohnt. Denn es ist alles nur ein grosses Rahmenwerk, welches von dem eigentlichen Leben auszufüllen wäre, bestenfalls sind es Regeln, nach denen sich der Ablauf des Lebens ordnet. Die wissenschaftliche Betrachtung der Lebensvorgänge hat sich der Aufgabe unterzogen, das Lebendige in seinen Eigenschaften und Geschehnissen selbst auf breiter allgemeiner Grundlage zu definieren und beschreiben. Wenn wir aber die Lösungen dieser Aufgabe kritisch mustern, sehen wir bald hier, bald dort, wie wir es in der Einleitung angedeutet haben, die Erkenntnis durchdringen, das wir den Lebensvorgängen Zwang antun, wenn wir nicht dem wesentlich Individuellen derselben Rechnung tragen. Aus der Fülle der einschlägigen Probleme sollen zur Veranschaulichung eine geringe Zahl behandelt werden.

Eine grundsätzliche und doch sehr elementare Frage ist die, ob es einen bestimmten Stoff oder eine Stoffpuppe gibt, aus deren Eigenschaften sich wesentliche Erscheinungen des Lebens ableiten lassen. Eine gewisse Zeit lang wurde das Eiweiß als der Träger dieser Eigenschaften angesehen und die älteren unter uns mögen sich noch der Hoffnung eines angesehenen Gelehrten an einer repräsentativen Naturforscherversammlung erinnern, die dahin ging, daß mit der Aufklärung der Konstitution des Eiweißes das Geheimnis des Lebens selbst enthüllt sei. Seitdem ist durch den raschen Fortschritt der Chemie unsere Kenntnis des Aufbaues des Eiweiss sehr vertieft worden und schon sind Synthesen einfacherer Eiweißkörper geglückt: es wird immer klarer, die Konstitution des Eiweisses ist ein rein chemisches Problem und das Eiweiß als solches ist ebensowenig

belebt wie Fett und Zucker. Die biologische Untersuchung hat allerdings ermittelt, daß jedes Lebewesen sein spezifisches Eiweiß besitzt, beruht ja doch die sogenannte biologische Reaktion der Eiweißkörper darauf, dan jedes Lebewesen, wenn man ihm auf anderem Wege als durch den Verdauungskanal Eiweiß zuführt, mit charakteristischen Abwehrreaktionen gerade auf dieses ihm artfremde Eiweiss reagiert. Hieraus geht jedenfalls hervor, dass nicht eine allgemeine, sondern eine individuelle Eiweißnatur jedem einzelnen Lebewesen eignet. Wenn auch das Spezifische jedes einzelnen Eiweißkörpers mit den gewöhnlichen Mitteln der Chemie nicht erkannt werden kann, sondern bis jetzt nur durch biologische Reaktionen, so ist letzten Endes das Biologisch-spezifische jedes Eiweißkörpers doch in rein chemischen Eigenschaften desselben begründet, Eigenschaften, auf welche der Organismus viel feiner abgestimmt ist als die Arbeitsweise des Chemikers.

Angesichts der Unmöglichkeit, Identität zwischen dem Substrat des Lebens und Eiweiss herzustellen, hat man seine Zuflucht zu Begriffsbildungen wie lebendiges Eiweiss, Biogen oder lebendige Substanz — letztere Terminologie stammt aus weiter zurückgelegenen Zeiten — genommen. Mit Winterstein, der alle diese Begriffe scharfsinnig zergliedert hat, bin ich der Meinung, daß sie alle das zu Erklärende schon in der Definition enthalten. Sie sind daher als unbefriedigend abzulehnen und auch deshalb, weil überhaupt keine Substanz als solche lebt, da Leben ein in Vorgängen sich abspielendes Geschehen ist.

Nicht viel besser ist dem Erklärungsbedürfnis durch Einsetzung von Protoplasma oder Zelle gedient. Erstens ist die Zelle selbst ein Produkt des Lebens. Zweitens ist das Protoplasma, wenn gleich viel eher Träger der Lebenserscheinungen als alles bisher genannte, soweit es mit exakten Methoden analysiert werden kann, ein Gemisch heterogener Stoffe, im übrigen wiederum nur durch das erst zu Erklärende definiert. Für unsere Betrachtungen ist im Augenblick wesentlich, dass mit dem allgemeinen Begriff des Protoplasmas sehr wenig erreicht ist. Fruchtbar für das wissenschaftliche Eindringen in die Lebensvorgänge wird erst das Einschlagen des mühesamen Weges des liebevollen Eingehens auf den nicht bloss von Tierart zu Tierart, sondern auch innerhalb des gleichen Lebewesens von Ort zu Ort wechselnden Individuellen des lebendigen Protoplasmas.

In neuerer Zeit hat in der allgemeinen Physiologie die so glänzend entwickelte Lehre von den kolloidalen Zuständen oder den kolloidalen Eigenschaften der Materie grosse Bedeutung erlangt und anscheinend, gestützt auf sehr viele Erfahrungen, die Hoffnung erweckt, recht allgemein die Funktionsweise der Gewebe aus den tatsächlichen kolloidalen Eigenschaften ihres Aufbaumaterials ableiten zu können. Ich will nicht bei den zahlreichen und unleugbar beachtenswerten Zusammenhängen verweilen, die sich zwischen physiologischen Funktionen und kolloidalen Eigenschaften der Materie haben ermitteln lassen, vielmehr mich Erfahrungen zuwenden, aus denen deutlich hervorgeht, daß, wie in anderen Gebieten, der allgemeine kolloidale Begriff aufgespalten werden muss in eine von Ort zu Ort wechselnde, je nach den funktionellen Bedürfnissen individuelle kolloidale Beschaffenheit der physiologischen Gebilde.

Wenige Entdeckungen auf diesem Gebiete haben so nachhaltigen Einfluß ausgeübt, wie die, dass einerseits ganz gesetzmässige Beziehungen zwischen den Eigenschaften der Kolloide und den elektrisch geladenen Kationen und Anionen einfacher anorganischer Salze bestehen und daß andererseits hinsichtlich der Beeinflussung einer erheblichen Anzahl von physiologischen Erscheinungen die Kationen und Anionen nach genau den gleichen Reihen sich anordnen lassen. Nebenbei haben diese Jonenbeeinflussungen in hohem Maße dazu beigetragen, die Überschätzung der Bedeutung hochkomplizierte organischer Stoffe herabzusetzen.

Trotz der zahlreichen Entdeckungen — ich nenne vor allem diejenigen von Jacques Loeb, Hofmeister und Spiro — die auf dem Boden der Anerkennung der allgemein physiologischen Bedeutung der Jonenwirkung erwuchsen, lehrt das genauere Eingehen auf einzelne Lebensvorgänge das Versagen dieser Betrachtungsweise. Ich will zum Beweise hierfür Tatsachen heranziehen, welche in neueren Untersuchungen aus dem Berner Physiologischen Institut gefunden wurden. Läßt man auf die Kammer des Froschherzens eine Salzlösung einwirken, welche die Kationen Natrium, Kalium und Calcium in gleichen Mengenverhältnissen wie im Blut des Frosches enthält, so beobachtet man einen langandauernden, kräftig normalen Herzschlag. Aber schon sehr geringfügige Änderungen des Gehaltes an Kalium oder Calcium ändern und schädigen, wenn auch reversibel, fast momentan die Tätigkeit der Kammer. Ganz anders verhalten

sich die oberen Teile des Froschherzens, die Vorhöfe und der Sinus. Derselbe Entzug von Kalium und Calcium geht störungslos an ihnen vorüber, wie die Untersuchungen Burgers gezeigt haben. Am Sinus, dem Ursprungsorte der normalen Herztätigkeit, vermochte Bigler sogar nach vollständiger Weglassung von Natrium, wie Kalium und Calcium und Speisung nur mit reiner Zuckerlösung das Entstehen der normalen Erregung, kenntlich an der Entwicklung der elektrischen Ströme dieses Gebildes, nachzuweisen. Hier war also die weitgehende Unabhängigkeit des fundamentalsten physiologischen Vorganges, desjenigen der Erregung, von den gleichen Jonen, welche für die Kammertätigkeit unentbehrlich sind, festgestellt worden. Das allgemeine Prinzip der Jonenabhängigkeit des Lebendigen auf Grund seiner kolloidalen Beschaffenheit hat hier Schiffbruch erlitten.

Ein sehr weites Erscheinungsgebiet von großer physiologischer Wichtigkeit, nämlich dasjenige der Permeabilität, wurde eine Zeit lang durch eine Auffassungsweise von ähnlicher Allgemeinheit wie diejenige der kolloidalen Bedingtheit von Lebensvorgängen einheitlich zu erklären versucht. Es sollten die Zellen eine Grenzschicht besitzen, die entweder aus Lipoiden oder aus einem Mosaik von Lipoiden und Eiweiss bestand. Ob ein Stoff gar nicht, schwer oder leicht in die Zelle trete, sollte von der Art seiner Löslichkeit in Lipoiden und derjenigen in Wasser abhängen. Anfänglich erschien es, als ob so weit auseinanderliegende und bedeutsame Gebiete, wie diejenigen der Narkose, der vitalen Färbung, des Eintritts oder Nichteintritts einer sehr grossen Menge von Stoffen pharmakologischer und toxikologischen Natur letzten Endes aus einem und demselben Prinzip erklärt werden könnten. Sehr frühzeitig wurde zwar erkannt, dass gerade die physiologisch am interessantesten Stoffe sich den allgemein gültig sein sollenden Regeln nicht fügten, weshalb eine physiologische von einer rein physikalisch-chemischen Permeabilität unterschieden wurde. Geht man aber auf das tatsächliche Geschehen, wie es sich beim Durchtritt von Stoffen durch die verschiedenen Zellen gestaltet, etwas näher ein, so stößt man immer wieder auf ein individuelles Verhalten. Am eindringlichsten und vielseitigsten tritt uns, worauf ich wiederholt hingewiesen habe, das Permeabilitätsproblem an den Drüsenzellen entgegen, die in der verschiedenen Zusammensetzung ihres Sekretes ihr durchaus individuelle

Scheidevermögen offenbaren. Ein sehr typisches Beispiel mag zur Illustration dienen, welches jüngsten Untersuchungen von Mathys entnommen ist. Es gibt eine Anzahl von wasserlöslichen Farbstoffen, welche rasch und leicht die Nierenzellen passieren und deshalb in der Diagnostik der Nierenerkrankungen eine Rolle spielen. Dieselben Farbstoffe treten aber auch nicht spurenweise im Speichel auf, selbst dann nicht, wenn man durch speicheltreibende Stoffe die Sekretion durch die Speicheldrüse auf das höchste steigert. Eine andere gut bekannte, aber mit Rücksicht auf eine etwaige Theorie der Permeabilität nicht hinreichend gewürdigte Tatsache ist die absolute Nichtaufnahme von reinem Wasser durch die Zellen des Magens und die leichte Resorbierbarkeit desselben durch die Zellen des Dünndarmes. Weder die allgemein physikalisch-chemische, noch die morphologische Betrachtungsweise vermag diese Unterschiede aufzuklären.

Bis vor kurzem galt Blut einer und derselben Lebewesenart als eine in jeder Beziehung gleiche Flüssigkeit. Heute wissen wir, daß nach den Eigenschaften ihres Blutes die Menschen selbst der nämlichen Rasse in mindestens vier wohlunterschiedene Gruppen zerfallen, mindestens sage ich, weil jüngst bei der Untersuchung eines Patienten in hoher Lebensstellung gefunden wurde, dass sein Blut mit keinem der bekannten Blutgruppen übereinstimmte. Wenn jemand für blutverwandt galt, so war es Mutter und Kind. Auch dies hat sich als ein Irrtum erwiesen, da beide zwei verschiedenen Blutgruppen, deren Blut miteinander unverträglich ist, angehören können. Mit den vier Blutgruppen sind aber die individuellen Unterschiede menschlichen Blutes noch lange nicht erschöpft. Denn die Experimente von Landsteiner mit Immunseren von Menschen haben eine neue und sehr große Anzahl von Verschiedenheiten des Blutserums gleicher Lebewesen aufgedeckt.

Durch die neuere Entwicklung der Lehre von den Oxydationen im tierischen Körper hat sich herausgestellt, dass der Sauerstoff wesentlich für die Erholung, nicht aber für die eigentliche Tätigkeit erforderlich sei. Dies führte zur Verallgemeinerung, dass Ermüdung und Sauerstoffmangel wesensgleich sei, wobei unter Sauerstoffmangel nicht bloss das tatsächliche Fehlen von Sauerstoff, sondern auch jegliche Konstellation verstanden wurde, die quantitativ oder zeitlich eine richtige Verwertbarkeit des Sauerstoffes ausschloß.

Für die Muskeltätigkeit im Warm- wie im Kaltblüterorganismus ist es durchaus zutreffend, das ohne Sauerstoff die Erholung nicht zustande kommen kann. Ganz anders liegen die Dinge im Herzen zunächst des Kaltblüters. Selbst bei völligem Ausschluss des Sauerstoffes fanden Scheinfinkel und Bachmann im hiesigen Institut Erholung des Froschherzens, letzterer sogar dann, wenn dem Herzen eine bis an die äussersten Grenzen des normalen gehende Arbeit aufgebürdet wurde. In letzter Zeit habe ich gemeinsam mit Scheinfinkel unter Anwendung geeigneter Bedingungen das überlebende Säugetierherz bei Ausschluß von Sauerstoff automatisch tätig erhalten. Insofern die normale periodische Tätigkeit auf einem Wechsel zwischen Arbeits- und Erholungspause beruht, folgt aus den Beobachtungen, dass auch die Erholung des Säugetierherzens auf anderer Grundlage sich aufbaut, wie diejenige des Muskels, demnach kein allgemeines Prinzip hier gültig sein kann. Es scheint mir aus neuesten Versuchen unseres Instituts hervorzugehen, dass sogar für das Zentralnervensystem des Säugetieres die Beziehungen zwischen seiner Funktion und dem Sauerstoff so abweichend von den bisherigen Vorstellungen sind, dass die landläufigen Formulierungen versagen.

Das Bestreben, allgemein gültige Gesetze zu formulieren, hat sich auch bei der Erforschung höherer biologischer Funktionen, wie denjenigen der Sinnesempfindungen, geltend gemacht. Ein typisches Beispiel hierfür ist das berühmte Weber'sche Gesetz, welches eine Aussage über die geringsten durch die Sinne wahrnehmbaren Reizunterschiede bei den verschiedensten Reizstärken enthält. Diesem Gesetz zufolge soll zu einem eben wahrnehmbaren Empfindungsunterschied das Verhältnis von Reizzuwachs zu bestehendem Reiz ein konstantes sein, gleichgültig, wie stark der Sinnesreiz ist, oder, wie man es auch formuliert hat, die relative Unterschiedsempfindlichkeit ist stets die gleiche. Eine reiche Arbeit früherer Jahre ließ nur Ausnahmen bei sehr starken und sehr schwachen Reizen zu, Reizgebiete, die praktisch, weil der Organismus sich denselben zu entziehen versucht, keine grosse Rolle spielen. Aber die neuere Forschung unter Anwendung einer sehr exakten Technik, wie sie Hecht benutzt hat, hat zu dem Ergebnis geführt, dass längs des ganzen Intervalle von den schwächsten zu den stärksten Sinnesreizen das Verhältnis Reizzuwachs zu Reiz kein konstantes ist. Unser

Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen folgen keinem allgemeinen Gesetz, sondern je nach der Stärke der Sinnenreiz reagieren sie durch eine variable individuelle Beziehung.

In diesem Zusammenhang möge daran erinnert werden, das gerade das älteste und heute noch grundlegendste Gesetz der Sinnesphysiologie, Johannes Müllers Gesetz der spezifischen Sinnesenergie als eine der schärfsten Proklamierungen einzigartiger Individualität anzusehen ist. Die objektive Erforschung der Reize aus unserer Umwelt, die in uns Sinneswahrnehmungen zu erwecken vermögen, hat im Fortschreiten der Entwicklung des physikalischen Weltbildes mehr und mehr dazu geführt, in wenigen, nur in ihrer räumlichen und zeitlichen Anordnung von einander verschiedenen Elemente das physikalische Wesen der objektiven Reize zu erblicken. Diesem gegenüber kündet Müllers Gesetz die tiefste Verschiedenheit in der Qualität der subjektiven Sinneserlebnisse durch die einzelnen Sinnesorgane. Wenn so die Elemente unserer subjektiven, aber deshalb nicht weniger realen Sinneswelt miteinander unvergleichbare Einheiten darstellen, erscheint die Aussicht gering, eine allgemeine Sinnesphysiologie zu schaffen, die mehr ist, als eine Lehre rein formaler Zusammenfassungen.

Fragen wir uns, woher der stets wirksame und öfters anscheinend erfolgreiche Antrieb stammt, Allgemeinheit der wissenschaftlich fassbaren Erklärungen den Lebenserscheinungen zu Grunde zu legen und das Individuelle in den Hintergrund treten zu lassen, so scheint neben den logischen Forderungen aus den exakten Wissenschaften folgendes eine ausschlaggebende Rolle zu spielen. Man hat früher von einer mechanisch gerichteten und einer vitalistisch gerichteten Auffassung der Lebensvorgänge gesprochen. Sobald ein mechanischer Standpunkt eingenommen wird, ist damit erkenntnistheoretisch der Weg zu allgemeinen Formulierungen gewiesen. Ich möchte die Scheidung in eine mechanistische und vitalistische Auffassung für die Deutungsversuche experimenteller Erfahrungen am Lebendigen als eine veraltete und unfruchtbare beiseite lassen. Das Entscheidende liegt vor allem darin, ob man von einer Modell- oder einer Systemvorstellung ausgeht. Ein Beispiel möge zur Erläuterung dienen. Die Untersuchung der Säugetierniere auf ihren Bau hin zeigt, dass sie grob in zwei Teile zerfällt, dem Glomerulusteil, und dem Teil der gewundenen Kanälchen. Ersterer erweckt durch

die Anordnung seiner Gefässe und des umgebenden Raumes den Eindruck eines Filtrationsapparates, der andere in seinem Verlauf langer, vielfach gewundene, enger Kanälchen den einer Einrichtung für Rückresorption. Dass man tatsächlich eine Reihe von Erscheinungen auf diese Weise erklären kann, zeigen z. B. die schönen Arbeiten von Richards und anderen an der Froschniere, an welcher sich die Abhängigkeit der Harnabsonderung vom Filtrationsdruck und die Rückresorption von Kochsalz und Zucker in den gewundenen Kanälchen wohl einwandfrei hat erweisen lassen. An der überlebenden Säugetierniere hat Starlings Schule eine Menge von Tatsachen erbracht, welche durch Filtration und Rückresorption durchaus befriedigend erklärt werden können. Geht man aber von Bedingungen aus, unter denen die Niere so nahe wie möglich in dem Zustand und den Zusammenhängen untersucht wird, wie sie — ich möchte fast sagen das Alltagsvorkomrnen des Körpers sind, so erkennt man, dass eine Unmenge von Faktoren aus einem verwickelten Systemgetriebe in den Vordergrund treten, während das für das Modell gültige mehr oder weniger zurückgedrängt ist. Anstatt Filiation und Rückresorption spielen variable Permeabilitätsverhältnisse infolge hormonaler und nervöser Einflüsse, geringfügige und fortwährend wechselnde Einflüsse des inneren Milieus und fein abgestimmte Anpassungen der Nierenzelle an die wechselnden funktionellen Bedürfnisse die dominierende Rolle. Weil die Niere ein lebendiges, den zu lösenden Aufgaben sich jeweilig anpassendes System ist, sind in ihr die Beziehungen zwischen Blutgefäßen, den Druck- und Strömungsverhältnissen in denselben und ihren Zellen verschieden von denjenigen in anderen Organen mit anderen biologischen Aufgaben und allgemeine hydrodynamische Prinzipien scheitern gegenüber der Individualität der organisierten Systeme.

Was für das Beispiel der Niere gilt, läßt sich auf alle anderen Organe übertragen. Es kommt viel darauf an, ob man bei der Erforschung der biologischen Gegebenheiten mehr die analytische oder die synthetische Methode. bevorzugt. Die analytische arbeitet mit einer präziseren, weil isolierten Fragestellung, unter ihren Händen wird das untersuchte Objekt mehr zum Modell und die Gelegenheit auf Tatsachen zu stoßen, welche sich allgemeinen Regeln fügen, ist größer. Die synthetische Methode aber muss sich nach Möglichkeit eng an die reiche Ausgestaltung des jeweiligen Systemes bis in

seine letzten feinsten Einzelheiten anzuschmiegen versuchen, kein erkennbarer Faktor darf ohne zwingenden Grund von vornherein aus der Betrachtung ausgeschaltet werden und so liegt schon in den Bedingungen der Untersuchungsart die Vorherrschaft des Individuellen gegeben.

Ein weiterer Punkt von Bedeutung, der oft vernachlässigt wird, ist das Nebeneinander von Lebendigem und Totem in den lebendigen Systemen oder Zellen. Erstens ist nicht alles, was in den Zellen vorkommt und was vom Beobachter bei seinen Experimenten in Anspruch genommen und zur Reaktion gezwungen wird, wirklich lebendig. Wir brauchen nur an aufgestapelte Reservestoffe oder völlig inaktive Stütz- und Gerüstsubstanzen ohne Stoffwechsel in den Zellen zu erinnern. Alles derartig Tote kann sich allgemeinen Regeln fügen. Was noch wichtiger ist, ist, das in einem anderen und zwar biologischen Sinne auch das als an totem Material sich abspielend betrachtet werden kann, was in den Zellen ein völlig unbiologisches Geschehen weckt. Wenn ganz und gar körperfremde Farbstoffe, wie sie so gern bei der Erforschung der Nierenfunktion angewandt werden, injiziert werden, wenn mechanische oder elektrische Energie in Beträgen, die weit über das physiologische Mass hinausgehen, dem Organismus zugemutet werden, so antwortet das mißhandelte Gebilde hierauf mit den Reaktionen eines blossen physikalisch-chemischen Modells und die auf solche Weise gewonnenen Ergebnisse sind oft in allgemein gültigen Regeln gefaßt worden, während sie nur wegen des künstlich ausgeschalteten wirklichen Lebens zu Recht bestehen. Alle unsere Betrachtungen münden in die Anerkennung der individuellen Züge der Lebenserscheinungen. Sollen wir angesichts solcher Einsicht in die Losung mit einstimmen, dass mit allgemeinen Satzungen, Regeln und Gesetzen dem Leben nicht beizukommen sei, sollen wir auf allgemeine Erkenntnisse verzichten? Ist die mühsame, mit den glänzendsten Methoden ausgeführte Arbeit vieler der besten Erforscher des Lebens vergeblich gewesen? Ein radikaler Verzicht wäre ein bedenklicher Irrtum. Denn auf der Gegenseite lassen sich genug Beispiele bringen, wo auch ein ganzes, grosses Erscheinungsgebiet des Lebens eine allgemeine Gesetzmäßigkeit zeigt. Ein ganz besonders schönes Beispiel liefert die Betrachtung der Abhängigkeit der Leistungen des Herzens von den mechanischen Faktoren. Ob wir mit Otto Frank, Rhode, Lüscher

und anderen die Beziehungen am Kaltblüterherzen, oder mit Starling, Straub und Wiggers am Herzen höchststehender Säugetiere die dynamischen Probleme erforschen, überall waltet bis in die Einzelheiten dieselbe wunderbare, streng physikalisch faßbare, allgemeine Gesetzmäßigkeit.

Ein anderes Beispiel liefert uns die Lehre von der tierischen Atmung, seitdem wir erkannt haben, dass die Atmung mit und ohne Sauerstoff eine grône Einheit ist, in welche Einheit der Gärungsvorgang mit eingeschlossen ist. Wie gross und scheinbar der Unterschied in den Atmungsvorgängen der Lebewesen äußerlich auftritt, im Lichte der neueren Erkenntnisse wird alles überdeckt durch die tiefen Züge innerer Allgemeinheit.

Hüten wir uns vor dem Aufgeben des Suchens nach biologischen allgemeinen Gesetzen. Goethe wird so oft als Kronzeuge gegen die angeblich kalte, intuitionslose Wissenschaft angerufen. Aber gerade wir wandeln nach seinen Worten:

Nach ewigen, ehrnen
Großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.

wenn wir bestrebt sind, allgemein gültige Gesetze aufzustellen.

Individualität und Allgemeinheit in den Lebenserscheinungen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sie gehören zusammen gemäss jener seltsamen Eigenschaft des Lebens einer durchgängigen Polarität seiner Phänomene. Erregung und Hemmung, Abbau und Aufbau, Gesundheit und Krankheit, Werden und Vergehen sind einige der zwangläufigen Äußerungen seines Wesens. Wenn Goethe sagt: "Wir mögen die Welt kennen lernen wie wir wollen, sie wird immer eine Tag- und eine Nachtseite behalten" — so fasst er in sinnvoller und weitgespanntester Umgrenzung auch dasjenige Problem ein, welches Gegenstand unseres Festvortrages war.

Welcher von beiden Wegen, derjenige der Individualität oder derjenige der Allgemeinheit in nächster Zukunft der fruchtbarere sein wird, das wird vor allem Sache unseres Nachwuchses, der akademischen Jugend sein. Möge sie mehr erreichen als wir, die heutigen Lehrer. Wenn die Saat noch reicher aufgeht als wir es selbst gehofft

haben, so wollen wir stolz darauf sein. Auf den Gebieten der Erforschung des Lebens hat Berns akademische Jugend ganz besondere Verpflichtung, da der Berner Albrecht von Haller die herrliche Wissenschaft der Physiologie, die Lehre von den Leistungen des lebendigen Organismus durch seine unsterblichen "Elementa Physiologiae" als ein selbständiges Fach geschaffen hat.