WERDEN,
SEIN UND VERGEHEN
DER SEUCHEN
REKTORATSREDE VON
ROBERT DOERR
BASEL 1932
VERLAG HELBING & LICHTENHAHN
Im Wechsel der Zeiten und der Zustandsformen
menschlicher Kultur hat das Problem der Infektionskrankheiten
seine Bedeutung gewahrt und wird sie in
aller Zukunft behaupten. Die gewaltigen Fortschritte
der Seuchenbekämpfung, die mit den Namen von
Jenner, Semmelweiß, Pasteur, Lister, R. Koch
und E. v. Behring unzertrennlich verknüpft sind, vermochten
zwar die Verhältnisse räumlich, zeitlich und
qualitativ zu verschieben, an der Gesamtlage haben sie
nichts geändert, nichts an der Erkenntnis, daß die Menschheit
zu einer kontinuierlichen Verteidigung verurteilt ist,
die nie erlahmen darf, ohne die mühsam errungenen
Teilerfolge wieder preiszugeben. Gerade die Epoche
der Entdeckung und Erforschung der pathogenen Mikroben
zeitigte als erstes Ergebnis das Gesetz der ätiologischen
Spezifität, welches besagt, daß jeder Infektionskrankheit
ein besonderer Erreger zugeordnet ist und
daß daher auch unsere Maßnahmen mit der Mannigfaltigkeit
der Erscheinungen, gegen die sie sich kehren, zu
rechnen haben. Ja diese Mannigfaltigkeit hat seit Koch
und Pasteur noch erheblich zugenommen; mit der
Vervollkommnung der Untersuchungsmethoden traten
neuartige, als nosologische Entitäten bisher unbekannte
Infektionsprozesse auf den Plan, in ständig wachsender
Zahl und sicher noch nicht abgeschlossener Folge, und
zwangen zu weiterer Zersplitterung des Arbeitsaufwandes,
in der Wissenschaft nicht minder wie in der praktischen
Bewirtschaftung der Volksgesundheit.
Wie hat sich diese vielgestaltige Verseuchung des
Menschengeschlechtes entwickelt? Auf welche Weise
fristet sie ihren Bestand? Dürfen wir hoffen, daß uns
die Natur zu Hilfe kommt, daß sie das, was sie gezeugt,
auch wieder vernichtet, daß herrschende Infektionskrankheiten
ohne unser Zutun erlöschen werden? Über diese
Fragen, die sich in den Titel "Werden, Sein und
Vergehen der Seuchen"zusammenfassen lassen, will
ich hier sprechen. Sie fanden in den ersten Dezennien
der ätiologischen Aera wenig Beachtung. Nicht daß man
zu irgendeiner Zeit ihre Tragweite verkannt hätte; aber
ihre mehr als rein spekulative Beantwortung setzte die
Erreichung eines anderen, näherliegenden und wichtigeren
Zieles voraus: die Ergründung des Wesens der
vorhandenen Infektionen. Zudem winkte hier positiver
Gewinn. Am realen Objekt angreifend, mußten
solche Forschungen zu tatsächlichen Resultaten von
bleibendem theoretischem und praktischem Wert führen,
eine Erwartung, die sich in reichstem Maße erfüllte. So
ist diese ganze Richtung wohl zu verstehen; daß sie zunächst
die Form eines extremen und einseitigen Ätiologismus,
einer bloßen "Ursachenforschung" annahm,
war durch den ungeheuren Umfang der zu bewältigenden
Aufgaben bedingt. Erst als der Ausbau des plötzlich
erschlossenen Gebietes genügend weit gediehen war,
konnten andere, zeitweilig verdrängte Ideen wieder zur
Herrschaft gelangen: den Dispositionsbegriff, den
man über dem Erreger vernachlässigt hatte und auf
dessen Bedeutung zuerst C. Rosenbach 1), ein Schüler
Koch's, 1891 hinwies, und die Erfassung der Seuchen
als natürliche Massenereignisse, die ganz
in den Hintergrund getreten war, weil man sich ausschließlich
mit dem Zustandekommen der einzelnen
Infektion, mit der Untersuchung des Übertragungsmodus
befaßte. Dieser Umschwung hat auch das Problem des
"Kommens und Gehens der Epidemien", oder wie es
Ch. Nicolle 2) nennt "der Geburt, des Lebens und des
Todes der Infektionskrankheiten" an die Oberfläche gebracht
und bessere Voraussetzungen für seine rationale
Lösung geschaffen.
Die Naturwissenschaft sieht in dem Vorgang, den
wir als Infektion bezeichnen, nicht mehr und nichts
anderes als das im Tier- und Pflanzenreich weit verbreitete
biologische Phänomen des Parasitismus, der
Erscheinung, daß gewisse Organismen, die Parasiten,
im Körper anderer, ihrer Wirte, zu leben, zu wachsen
und sich zu vermehren vermögen. Die Schädigung des
Wirtes, seine Erkrankung, ist also sekundär, akzidentell,
im Wesen der Infektion nicht begründet, und diese
Aussage stützt sich nicht allein auf eine Begriffsbestimmung,
die ja unzulänglich sein könnte, sie wird durch
eine Tatsache bewiesen, durch die Existenz von latenten
Infektionen, von Infektionen ohne Infektionskrankheit.
Heute sind diese latenten Infektionen
banale, selbst dem Laien als "Bazillenträger"
bekannte Prozesse; es ist aber bezeichnend, mit welcher
Befremdung ihre erste Feststellung beim Menschen anläßlich
der Choleraepidemie in Hamburg i. J. 1891 aufgenommen
wurde 3), bezeichnend, weil uns hier die
spezifisch medizinische Auffassung vom "Krankheitserreger"
entgegentritt, eine Auffassung, die das Gesichtsfeld
auf einen einzigen, für den Menschen wichtigen
Fall derartiger Wechselbeziehungen einengt.
Aus der biologischen Definition des Infektionsbegriffes
folgt unmittelbar, daß sich die Frage nach dem
ersten Ursprung der Infektionen mit der Entstehungsgeschichte
des Parasitismus deckt. Die Annahme, daß
jeder Parasit letzten Endes von unabhängigen Lebewesen
abstammen muß, daß die Anpassung an die Existenzbedingungen
in einem fremden Organismus erst
später erfolgt sein kann, läßt sich nicht abweisen. Nicht
nur weil sie uns a priori als notwendig erscheint. Die
Anpassung oder richtiger das Angepaßtsein, der Endeffekt
des Anpassungsprozesses, ist bei den Parasiten in
hohem Grade ausgeprägt, und zwar gerade im Sinne
einer Rückbildung der für eine unabhängige Existenz
erforderlichen morphologischen und funktionellen Einrichtungen.
Zahlreiche Parasiten besitzen ferner gewissermaßen
als phylogenetisches Relikt noch die ursprüngliche
Autonomie, die Lebensfähigkeit außerhalb eines
Wirtes, zum Teil als ganze Arten, zum Teil als bestimmte
Entwicklungsphasen einer Art. Und schließlich gibt es
noch ein drittes, entscheidendes Argument: die experimentelle
Verwandlung freilebender Organismen
in obligate oder wenigstens in fakultative
Schmarotzer. Die medizinisch orientierte Mikrobiologie
hat allerdings auf diesem Gebiete keine eindeutig
positiven Resultate zu verzeichnen, sofern man
an der Forderung festhält, daß der als Ausgangspunkt
gewählte Organismus nicht schon in früheren Generationen
ein Parasit war und daß somit ein bloßer atavistischer
Rückschlag mit Sicherheit ausgeschlossen werden
durfte. Dagegen ist die künstliche Synthese
der Algensymbiose geglückt, in einzelnen, wenn
auch seltenen Fällen unter Voraussetzungen, welche das
eben formulierte Postulat zu befriedigen scheinen; es
gelang Öhler, die freilebende Chlorella vulgaris zum
Symbionten gewisser Infusorien, der Paramaecien, umzuzüchten.
Dem Ausbau dieser Versuche, die ich nur bis
1930, bis zum Erscheinen des großen Werkes von Paul
Buchner 4) verfolgen konnte, darf man mit Spannung
entgegensehen; ihre Bedeutung für das Infektionsproblem
wird man kaum überschätzen. Daß das Gast-Wirt-Verhältnis
hier die Tendenz zeigt, der Symbiose, einem
terminalen Gleichgewicht, zuzustreben, ist kein prinzipieller
Einwand. Denn es fehlt nicht an Beispielen,
daß die gastlich beherbergte grüne Alge schrankenlos
zu wuchern beginnt und den Untergang ihres Wirtes
herbeiführt; und auf der andern Seite können ja auch
gefürchtete Krankheitskeime des Menschen als harmlose,
in gewisser Hinsicht sogar nützliche Kommensalen
auftreten. Wesentlich ist nur die willkürliche Herstellung
der engeren Beziehung zwischen zwei heterologen
Organismen; sie lehrt, wo der Hebel anzusetzen ist, um
die Geheimnisse der Parasitogenese zu entschleiern und
entkräftet die Hypothese von P. Portier 5) aufs neue,
wonach das Leben schon in der einfachsten Form der
Zelle ein symbiotischer Verband ist, eine Vorstellung,
die das Suchen nach einem "ersten Anfang" zum zwecklosen
Bemühen stempeln würde.
Im Modell der Algensymbiose stehen die Wirte auf
den niedrigsten Stufen tierischer Organisation. Von den
Amöben und anderen Protisten an bis hinauf zum Menschen
zeigen aber alle die Erde gegenwärtig bevölkernden
Arten die Disposition, die Bereitschaft zur Aufnahme von
Schmarotzern; nur die Parasiten wechseln im allgemeinen
je nach der Spezieszugehörigkeit der Wirte. Mit zunehmender
Organisation der Wirte wächst die Zahl und Verschiedenheit
der Parasiten, von denen sie befallen werden
können; exakte Vergleiche wurden meines Wissens noch
nicht angestellt, doch unterliegt es keinem Zweifel, daß
der Mensch in dieser Beziehung ein Maximum darstellt.
Endlich kennen wir eine ganze Reihe von Fällen, in
welchen ein und derselbe Schmarotzer Tiere und Pflanzen
bewohnt, die zueinander in enger Verwandtschaft stehen.
Die ungeschlechtlichen Stadien der Malariaplasmodien
besiedeln nur das Blut von Menschen und anthropoiden
Affen, die geschlechtlichen den Magen von Anophelen,
das Virus der Mosaikkrankheit das Tabaks läßt sich auf
andere Solanaceen übertragen usf. In groben Umrissen
und vielfach verschwommener oder fragmentarischer
Form tritt uns somit auf dem letzten Blatt der Geschichte
des Parasitismus ein Werdegang entgegen, den ich als
die Phylogenese der Disposition bezeichnen
möchte. Die Infektionsphänomene müssen schon in den
ersten Phasen der Entwicklung organischen Lebens eingesetzt
und Spuren hinterlassen haben, phylogenetische
Engramme, welche die aufsteigende Integration der Wirte
zu höher stehenden Arten zu überdauern vermochten,
sei es als allgemeine oder gar als spezifische, das
heißt auf einen bestimmten Parasiten eingestellte Empfangsbereitschaft.
Das Zustandekommen eines solchen
Gedächtnisses an durchgemachte Infektionen läßt sich
übrigens experimentell demonstrieren, natürlich nur
während der individuellen Existenz eines Wirtes oder
in der Generationsfolge einer bereits vorhandenen Wirtsart.
Die künstliche Synthese der Algensymbiose kennt
mehrere Beispiele 6). Auch in der menschlichen Infektionspathologie
findet man analoge Erscheinungen wie
die Dispositionssteigerungen für die croupöse Pneumonie
und das Erisypel; sie wurden stets nur registriert,
aber nie zu erklären versucht, sondern durch die
negative Aussage abgefertigt, daß das Überstehen dieser
Infekte keine spezifische Immunität erzeugt.
Die phylogenetische Betrachtung ist der Lehre von
der Disposition keineswegs fremd geblieben. Elias
Metschnikoff 7), ursprünglich Zoologe und erst in
späteren Schaffensperioden medizinischen Problemen
zugewandt, stellte sein Genie und seine Arbeitskraft in
den Dienst der Aufgabe, die Differenzierung und Integration
der Abwehrfunktionen durch die aufsteigende
Reihe der tierischen Wirte zu verfolgen. Soll "Integration"
erhöhte Leistungsfähigkeit, größere Vollkommenheit
bedeuten, so läßt sich die polyspezifische Empfangsbereitschaft
des Menschen und höherstehender Tiere
aus diesem Prinzip heraus nicht begreifen, auch nicht
unter Zuhilfenahme der Anpassungsfähigkeit der Schmarotzer.
Es muß ein dritter Faktor mitgewirkt haben, der
in der hier vorgetragenen Auffassung zur Geltung kommt:
der Übergang der Dispositionen von den Vorfahren auf
die Deszendenz; von Dispositionen, die nicht schlechthin
durch die somatische Verfassung der Wirte gegeben
waren, sondern die sich unter dem Einfluß des Parasitismus
zu dem entwickelt haben, was sie heute sind.
Nur diese Annahme eröffnet uns ein Verständnis
für die höchst eigenartigen Erfahrungen über gelegentliche
natürliche und rein künstliche (experimentelle)
Wirte. Es gibt Seuchen, welche unter bestimmten
Tieren herrschen und sich in diesen in ununterbrochener
Kette erhalten (Rotz, Milzbrand, Lyssa, Papageienpest,
Abortus enzooticus, Maul- und Klauenseuche usw.); ab
und zu werden Menschen infiziert, aber diese Abzweigungen
enden so gut wie immer blind, der Mensch gibt
den Parasiten nicht an seine Artgenossen weiter. Eine
Anpassung der Erreger an den Menschen kann somit
nicht erfolgt sein; sie stoßen vielmehr auf eine bereits
präformierte Empfänglichkeit, die dem Menschen als
immanentes Speziesmerkmal anhaftet. Was sich hier im
Naturgeschehen offenbart, wurde im Tierexperiment
durch willkürliche Übertragungen der verschiedensten
Infektionsprozesse von natürlichen auf heterologe, im
System oft weit abstehende, künstliche Wirte erweitert.
Namentlich in den letzten Jahren konnten durch Untersuchungen,
an denen auch das Basler Hygienische Institut
tätigen Anteil nahm, die überraschendsten Kombinationen,
die man früher für unmöglich gehalten hätte,
zustandegebracht werden 8) und zwar wieder auf den
ersten Schlag d. h. unter Ausschluß einer vorgängigen
Anpassung der Mikroben an die ihnen aufgezwungenen
neuen Lebensräume. Noch ist das angesammelte Material
nicht in dem erörterten Sinne gesichtet; aber aus
der Fülle verwirrender und widerspruchsvoller Tatsachen
heben sich doch schon einzelne Gesetzmäßigkeiten ab,
wie z. B. das außerordentlich breite Dispositionsspektrum
der Nager, das auf eine gemeinsame historische Wurzel
hindeutet. Die Aussage, daß ein und derselbe Parasit
rein zufällig in verschiedenen Wirten gleichartige Existenzbedingungen
finden kann, läßt sich angesichts der
ungeheuren Zahl der willkürlichen Paarungen und des
beträchtlichen Abstandes der möglichen Wirte voneinander
nicht aufrechterhalten; sie würde nur den Verzicht
auf eine wissenschaftliche Erklärung bedeuten.
Die wahre Geschichte der parasitären Erkrankungen
des Menschen repräsentiert somit einen Ausschnitt aus
einem größeren Geschehen. Manche Formen mögen den
Menschen durch alle Zeitalter begleitet haben, sie können
sogar älter sein als das Menschengeschlecht, Erbschaften
seiner Aszendenz. Andere entwickelten sich
wahrscheinlich erst während des Bestehens der Menschenrassen,
sei es durch Anpassung frei lebender Wesen
an den menschlichen Organismus, sei es durch Übernahme
vorhandener Parasiten von anderen, tierischen
Wirten, also durch einen Wirtswechsel. Welcher dieser
drei Vorgänge bei den einzelnen Infektionen anzunehmen
ist, läßt sich nur vermuten, und selbst der Spekulation
bieten sich nur in wenigen Fällen genügende
Anhaltspunkte. An eine primäre Entstehung beim Menschen
würde man am ehesten denken, wenn die betreffende
Infektion auf keine der lebenden Tierspezies
übertragen werden kann; aber schließlich gleichen die
lebenden nicht den ausgestorbenen Arten, und die monospezifische
Einstellung auf den Menschen kann ja auch
sekundär erfolgt sein durch Rückbildung ursprünglicher
Eigenschaften des Erregers 9). Mit der Integration der
Wirtsdispositionen erscheint eben ein zweites genetisches
Moment unentwirrbar verwoben: die biologische
Plastizität der Parasiten. Sie ist bei den niedrig
organisierten Schmarotzern, den Bakterien, Spirochaeten,
den submikroskopischen Infektionsstoffen in solchem
Grade vorhanden, daß sie sogar im kurzfristigen Laboratoriumsexperiment
nachweisbar wird. Die Umwandlung
des gefährlichen Blatternerregers in den relativ
harmlosen Vaccinekeim (die theoretische Basis der Jennerschen
Schutzpockenimpfung), die Steigerungen und
Abschwächungen der Infektiosität pathogener Bakterien,
die Degradation infektiöser Mikroben zu nichtinfektiösen
Saprophyten, die (durch wenige, aber einwandfreie
Versuche belegte) Möglichkeit, diesen Degradationsprozeß,
wenn er einmal abgelaufen ist, auch wieder
rückgängig zu machen, zeigen, in welch weiten Grenzen
sich diese Variabilität auswirkt. Für wichtig halte ich
ferner eine andere Beobachtung der jüngsten Variabilitätsforschung,
die sich auf folgendes Schema reduzieren
läßt: Ein bestimmtes Agens ist für eine Wirtsspezies
A nicht infektiös; wird es aber durch den Organismus
eines anderen künstlichen Wirtes B geschickt, so vermag
es nunmehr auch A zu besiedeln. Und das alles
sind nur Laboratoriumsversuche, die keine neuen Arten
erzeugen, sondern nur gewisse Eigenschaften existierender
Arten modifizieren. Sie gewähren jedoch einen Einblick
in die unermeßliche Mannigfaltigkeit des natürlichen
Geschehens, dem sich der mächtige Faktor der
Zeit zugesellt.
Die geschriebene Geschichte der parasitären Erkrankungen
des Menschen umspannt eine verschwindend
kleine Epoche. Je weiter man zurückgreift, desto
lückenhafter und unzuverlässiger werden die überlieferten
Daten, und schließlich verschwimmt alles zum
Einheitsbegriff der Seuche. Immer wieder wurde und
wird versucht, aus den Dokumenten die Entstehung
neuer Infektionskrankheiten in historischer Zeit
herauszulesen; manche Autoren 10) glauben, einen so
rezenten Ursprung für die asiatische Cholera, die Genickstarre,
das Mittelmeerfieber, den viel zitierten Sudor
anglicus, die Encephalitis epidemica annehmen zu dürfen.
Mit bloßer Wahrscheinlichkeit wird sich indes niemand
zufrieden geben, wenn die Gewißheit, darüber zu entscheiden
hat, wie häufig derartige Ereignisse eintreten
und welche Zeiträume notwendig sind, um sie zu realisieren,
Entscheidungen, deren Tragweite keines Kommentars
bedarf. Eine Tatsache ist aber durch die Litera
scripta sicher beglaubigt: die Einschleppung von Seuchen
in Gegenden, in denen sie bis zu diesem Zeitpunkt
völlig unbekannt waren. Und hier werden die Nachrichten
so zahlreich, sie erstrecken sich auf so viele
Infektionsformen, auf die Lues, die Tuberkulose, die
Pocken, die Masern, den Aussatz, die Diphtherie u. a. m.,
daß es nichts zu besagen hat, wenn ein oder das andere
Beispiel einer strengen Kritik nicht standhält. In
der Epidemiologie werden solche Verschleppungen meist
als selbstverständliche Phänomene hingenommen und nur
auf ihre katastrophalen Folgen untersucht; sie besitzen
jedoch noch eine andere theoretische Bedeutung. Wir
wissen, daß sich einige der in Betracht kommenden
Krankheiten dort, wo sie herrschen, hartnäckig behaupten,
daß sie weder spontan noch unter dem Einfluß
unserer Gegenmaßnahmen verschwinden. Wenn es
also kleinere und größere, oft sogar sehr ausgedehnte
Gebiete gab und noch gibt, in welchen die betreffenden
Infektionen nicht existieren, kann es sich nicht um
alte, in der Vorzeit erloschene Herde handeln. Diese
Aussparungen — die zweifellos einmal weit umfangreicher
waren und erst durch den steigenden Verkehr
auf ihr gegenwärtiges Ausmaß eingeengt wurden — nötigen
vielmehr zu der Annahme, daß viele, wenn auch
nicht alle übertragbaren Krankheiten des Menschen
monozentrisch entstanden sind, d. h. in bestimmten
Bevölkerungsgruppen, und daß ihre Ausbreitung sekundär
erfolgte. Das "Wann" und das "Wie" bleiben freilich
in Schwebe. Die Erkenntnis der monozentrischen
Genese ist aber schon an sich wertvoll; daß sie nur auf
dem Umweg über die Ergebnisse der historisch-geographischen
Pathologie gewonnen werden kann, beweist
die Wichtigkeit dieser lange vernachlässigten und erst
in der letzten Zeit wieder aufgenommenen Forschungsrichtung.
Die rapide Ausbreitung eingeschleppter Seuchen in
neuem Milieu mag als eine natürliche Folge der Gleichartigkeit
des Wirtes, des Menschen, imponieren. Ganz
abgesehen davon, daß der Austausch nachweislich oft,
wie bei der Lues, der Lepra, den Pocken, zwischen
verschiedenen, farbigen und weißen Rassen stattfand,
erheischt jedoch eben diese identische, von der Bekanntschaft
mit einem speziellen Parasiten unabhängige
Empfänglichkeit eine Erklärung, die wohl nur in phyletischen,
die Rassendifferenzierung und die Folge der
Generationen überbrückenden Ursachen zu suchen ist.
Seit der Begründung der Pathologia animata, der
Lehre von den belebten Krankheitserregern, hat die
Vorstellung, daß die Infektion ein Kampf zwischen
Wirt und Parasit ist, das medizinische Denken beherrscht.
Sie schöpfte ihre Berechtigung aus der Beobachtung,
daß der Wirt dem Parasiten erliegen und daß
umgekehrt der Parasit im Organismus des Wirtes vernichtet
werden kann; erkenntnistheoretisch erwies sie
sich als fruchtbar, da sie den Impuls gab, den Mechanismus
der Verteidigung des infizierten Körpers gegen
die Eindringlinge zu untersuchen. Diese Auffassung
führt jedoch zu der unvermeidlichen Konsequenz, die
Parasiten als Antagonisten zu betrachten, ein Schluß,
den man tatsächlich gezogen und in abwegigen Hypothesen
verwertet hat. Daß darin ein prinzipieller Fehler
steckt, ein Mangel an primitivster Logik, erkannte schon
van Beneden im Jahre 1876. In seinem für weitere
Kreise bestimmten, geistvollen Werk "Animal parasites
and his messmates" setzt er klar auseinander, daß der
Parasit nur einen Kampf kämpft, den Kampf um
seine Existenz, um die dauernde Erhaltung seiner Art.
Der Kampf wird ihm durch seine Lebensweise erschwert.
Er muß in ununterbrochener Folge neue Wirte finden,
er fristet sein Bestehen in Wirtsketten oder, wie das
die moderne Epidemiologie nicht ganz zutreffend nennt,
in Infektketten. Die rasche und regelmäßige Vernichtung
der Wirte kann kein taugliches Mittel sein,
die Ketten zu verlängern, sie würde seinen eigenen
Untergang besiegeln. Man darf sich nicht dadurch beirren
lassen, daß die Sterblichkeit in manchen Epidemien
80-90 %und mehr erreicht; das sind seltene Ausnahmen,
und in jedem Falle kennen wir Einrichtungen, welche
das definitive Abreißen der Ketten in sämtlichen Verzweigungen
verhindern.
Die Mechanismen, welche die Kontinuität sichern,
sind bei verschiedenen Infektionen verschieden. Manche
erscheinen uns zweckmäßig, wie die Verteilung der Aufgabe
auf zwei oder mehrere Wirte, die Ansiedelung der
Parasiten in Organen, welche ihnen den Weg in die
Außenwelt und damit die Auffindung einer neuen Zufluchtsstätte
ermöglichen, die vielfach erkennbare Tendenz,
den Wirt zu schonen, bis er seine Bestimmung
erfüllt hat. Wenn man sich jedoch Rechenschaft ablegt,
in welch eigenartiger Weise die physiologischen Funktionen
des Wirtes, Atmung, Ernährung und Zeugung,
ausgenutzt werden, wenn man konstatiert, daß die Hauptrolle
bei der Erhaltung des Parasiten oft einem reinen
Zufallsfaktor, einer bloßen Berührung, ja einer willkürlichen
Handlung des Wirtes zugeschoben wird, muß
man mit Ch. Nicolle zugeben, daß die teleologische
Interpretation völlig versagt. Vom Standpunkt der
menschlichen Intelligenz beurteilt, sind die Mittel, deren
sich hier die Natur bedient, zweifellos unvollkommen,
unvernünftig, zum Teil sogar absurd. Die Grenzen, welche
dem biologischen Denken, der Erfassung des Lebensproblems
gezogen sind, treten — vielleicht schärfer als
auf anderen Gebieten —zutage. Der angestrebte Erfolg
aber, die Erhaltung der Parasiten und damit der parasitären
Krankheiten, wird von der Natur trotz der scheinbaren
Unzulänglichkeit der Mittel erreicht. Kennen wir
doch Infektionen, welche seit mehr als drei Jahrtausenden
bestehen, und das Verschwinden auch nur einer
einzigen Infektionskrankheit konnte in historischer Zeit
nicht beobachtet werden, weder beim Menschen noch
bei den Tieren, speziell bei den Haustieren, von denen
wir in dieser Hinsicht genauere und zuverlässigere Kunde
haben. Allerdings sind die in Betracht kommenden
Zeiträume kurz. Wenn man aber bedenkt, daß das Aussterben
frei lebender Tiere und Pflanzen tatsächlich
historisch, also nicht nur durch paläontologische Dokumente,
sichergestellt ist, wird man sich sagen müssen,
daß das Aussterben der Parasitenarten nicht so leicht
erfolgt, daß alle Zufälligkeiten der Übertragung, alle
die ungeheuren Vernichtungsprozesse, denen die Schmarotzer
ausgesetzt sind, überkompensiert werden, solange
natürliche Wirte in genügender Zahl vorhanden sind
und solange die Intimität ihrer gegenseitigen Beziehungen
die unausgesetzte Verlängerung der Ketten ermöglicht.
In manchen Fällen erscheint diese hartnäckige Einnistung
der Seuchen auf den ersten Blick völlig rätselhaft.
Von den Masern z. B. wird der Mensch nur einmal
während seiner Lebensdauer befallen, sie hinterlassen
eine bis zum Tode anhaltende Immunität, was
in der Sprache der Parasitologie nichts anderes bedeutet,
als daß jede Erkrankung einen tauglichen in einen untauglichen
Wirt verwandelt. Und doch gehören die
Masern zu den ältesten Infektionskrankheiten des Menschengeschlechtes;
die ausgedehnte Durchseuchung, die
kontinuierliche Reduktion der möglichen Wirte hat bisher
nur den Effekt gezeitigt, daß sie in unseren Gegenden
zu einer Krankheit des Kindesalters geworden sind.
Die Lösung des Widerspruches gibt die Vererbungslehre.
Der individuell erworbene Dispositionsverlust
ist eben nicht vererbbar, auch dann nicht, wenn er in
Hunderten von Generationen stetig erneuert wird; vererbt
wird nur die intakte Empfänglichkeit, welche jede
Generation der folgenden als verhängnisvolles Speziesmerkmal
überliefert.
Seit dem Aufblühen der Konstitutionsforschung in
der Medizin hat man sich um den Nachweis bemüht,
daß sich gewisse Dispositionen nicht als Artmerkmale,
sondern als idiotypische oder Sippencharaktere, d. h. nur
in bestimmten Familien fortpflanzen. Es war zuerst der
Schweizer Nägeli, der 1900 zeigen konnte, daß zwar die
meisten Menschen tuberkulös infiziert werden, daß aber
nur ein relativ geringer Prozentsatz an Tuberkulose
erkrankt. Die Anlage zur Erkrankung, zur pathologischen
Auswirkung der Infektion ist somit individuell
variabel, und es liegt gewiß nahe, hier wie in analogen
Fällen hereditäre, und zwar idiotypische Einflüsse anzunehmen.
Trifft dies zu, so handelt es sich jedoch nicht
um einfache Erbfaktoren, sondern um Genekomplexe,
um Genekomplexe, die sich nicht in reinen Linien erhalten
können; Mixovariation und Peristase müssen vielmehr
beständig Spuren und Folgen eines solchen Erbganges
verwischen. Die Hoffnung, daß die Stammbäume der anfälligen
Menschen innerhalb langer Zeiträume allmählich
aussterben, daß infolge dieser Selektion die widerstandsfähigeren
Individuen übrig bleiben und ihre Resistenz
auf die Nachkommen übertragen, ruht also nicht auf
sicherer vererbungstheoretischer Grundlage. Wohl wissen
wir, daß einige der in diese Kategorie gehörenden Krankheiten
unmittelbar nach ihrer Einschleppung in bisher
verschonte Länder besonders bösartig auftreten und daß
sie nach jahrhundertelangem Bestehen ein gutartigeres
Gepräge angenommen haben. Solche Erscheinungen
lassen sich aber auch auf andere Weise interpretieren,
sie können nicht als Beweis für die selektive Ausmerzung
idiotypischer Erbanlagen gelten. Vor allem darf
man eines nicht vergessen, worauf ich wiederholt aufmerksam
gemacht habe 11): die Disposition für die
Erkrankung und die Disposition für die Infektion
sind zwei total verschiedene Dinge. Ist die selektive
Verminderung der Krankheitsdisposition mehr als eine
bloße Hypothese, so läßt sie doch die Disposition für
die Infektion ganz unberührt. Wenn auch nicht so
viele Menschen erkranken, wird doch der gleiche Prozentsatz
latent infiziert, der Erreger fristet, oft in ungeheurem
Ausmaß, die Erhaltung seiner Art als Kommensale,
bereit, bei jedem in die Kette eingeschalteten
empfänglichen Individuum seine verderbliche Wirkung
zu entfalten, so bei der Diphtherie, der Genickstarre,
der spinalen Kinderlähmung, beim Scharlach, beim
Bauchtyphus und anderen Infektionen mit individuell
variabler Empfänglichkeit.
So ist die ganze Tragik des Geschehens im Erbgang
des Menschen und im Erbgang der Parasiten beschlossen,
in ihrem Zusammenwirken zu jener Relativität, die wir
eine Infektion nennen. In zunehmendem Maße bricht
sich diese Erkenntnis Bahn; es werden an beiden
Bezugskomponenten vererbungswissenschaftliche Untersuchungen
angestellt. Die Resultate sind vorläufig bescheiden,
kaum über erste, vereinzelte Ansätze hinaus
gediehen. Es fehlen wichtige Voraussetzungen. Über
den Mechanismus der Disposition für die Infektionen
wissen wir so gut wie nichts, über das Wesen der Erkrankungsbereitschaft
wenig, und die Trennung der beiden
Begriffe konnte sich bisher nicht restlos durchsetzen.
Trotz Rosenbach, Hüppe, Martius, Nägeli und
ihren Nachfolgern taucht immer wieder die Tendenz
auf, die Seuchenprobleme vom Erreger aus einseitig zu
lösen und ihm zu diesem Zwecke die mystischen Eigenschaften
der Aggressivität, der Virulenz usw. beizulegen,
Eigenschaften, die im Vorstellungskreis des Parasitologen
keinen Platz finden. Nur eine medizinische Disziplin
hat seit jeher eine — zunächst allerdings nicht
beabsichtigte — Ausnahme gemacht: die Epidemiologie.
Denn sie erfaßt die Relativität als Ganzes, und
zwar in ihren Endeffekten, in der Erkrankung und im
Tod, in der jüngsten Zeit auch in den latenten, symptomlosen
Infektionen der Wirte, speziell des Menschen.
Das ist ihr prinzipieller Vorzug; ihr Nachteil liegt in
ihrer Methode. Neuere Autoren definieren die Epidemiologie
als die Lehre von den Wirts- oder Infektketten;
das ist sie aber ebensowenig wie sich etwa die
Bevölkerungsstatistik mit der Genealogie identifizieren
läßt. Von praktischer Detailarbeit abgesehen, werden
die Infektketten gar nicht festgestellt; die ausschließliche
Basis auch der modernen Epidemiologie bildet vielmehr
die Registrierung der Zahl der Fälle innerhalb konventioneller
Zeitabschnitte, die Ermittlung des Verseuchungszustandes
bestimmter Bevölkerungsgruppen, d. h.
also eine reine Querschnittsuntersuchung. Erst die
lückenlose chronologische Aneinanderreihung der Querschnittsziffern
ergibt einen Längsschnitt, sie charakterisiert
nicht mehr einen Zustand, sondern einen in der
Zeit ablaufenden Vorgang, die Fluktuation der Wirtszahlen
für jede einzelne Infektion. Auch in dieser
Form verraten indes die epidemiologischen Daten ihren
Aufbau aus summarischen Querschnitten; sie zeichnen
immer nur den äußeren Kontur, den Umfang der Wirtsfolgen,
bieten aber keinen Aufschluß über ihre innere
Struktur und ihre realen Ursachen. Es handelt sich also,
mathematisch ausgedrückt, um die Betrachtung einer
Querschnittsänderung als Funktion der Zeit, und erst
wenn man sich dies klar gemacht hat, gewinnt man ein
Verständnis für die der induktiven oder analytischen
Epidemiologie zugänglichen Fragestellungen. Nur dort,
wo ein bestimmtes Zeitgesetz in Erscheinung tritt, wo
die Fluktuationen der Wirtszahlen einen regelmäßigen
Rhythmus, eine deutliche Periodizität erkennen lassen,
besteht die Aussicht, in den Mechanismus der Massenphänomene
tiefer einzudringen und auf diesem Wege
einmal zum wichtigen Endziel, zur epidemiologischen
Prognose, zur Voraussage der Ereignisse zu gelangen. Das
sind jedoch Ausnahmen, und selbst in solchen exzeptionellen
Fällen wird die Wirtsfolge in solchem Maße von
zufälligen Faktoren beherrscht, daß die Macht der großen
Zahlen zum Teile versagt. Die Aufgaben, welche die
rechnende Epidemiologie zu bewältigen hat, sind weit
komplizierter und schwieriger als jene der Bevölkerungsstatistik,
die ich zum Vergleiche heranzog, und
diese Schwierigkeiten lassen sich nicht beseitigen, wenn
man deduktiv vorgeht, d. h. wenn man aus den Bedingungen
der Einzelinfektion das Massengeschehen zu
erschließen trachtet. Induktive und deduktive Betrachtung
gestatten zwar gegenseitige Annäherungen; im
Brennpunkt sicherer, die Tatsachen befriedigender Erklärungen
des Kommens und Gehens der Epidemien
können sie einstweilen nicht zur Vereinigung gebracht
werden.
Es erscheint daher rational, sich an die Tatsachen
als solche, an die epidemiologischen Phänomene zu halten.
Sie lehren, daß der Mensch mit Erfolg hemmend
in das Getriebe der Wirtsfolgen eingreifen kann, gewollt
und ungewollt, palliativ und radikal. An erster
Stelle steht hier meines Erachtens die ungewollte und
radikale Auswirkung des fortschreitenden Kulturzustandes,
das vollständige Erlöschen bestimmter parasitärer
Erkrankungen in ausgedehnten, von Hunderten von Millionen
bevölkerten Gebieten ohne jede unmittelbare,
aktive Bekämpfung, lediglich durch eine soziologisch
bedingte Umformung der Lebensweise, welche den besonderen
Übertragungsmodus erschwert oder unmöglich
macht. So sind Fleck- und Rückfallfieber, Pest und
Cholera aus West- und Zentraleuropa verschwunden;
die wirksamen Umformungen der Lebensführung betreffen
hier oft scheinbar nebensächliche Umstände,
stets waren sie aber automatische Konsequenzen der
wirtschaftlichen Prosperität breiter Bevölkerungsschichten
und des wachsenden Übergewichtes städtischer über ländliche
Kultur. Es offenbart sich hier ein Gegensatz zu
der Auffassung, welche zwar nicht die Entstehung, wohl
aber die Ausbreitung der Seuchen als Folge der Zivilisation,
der gesellschaftlichen Verfassung hinstellt und
in der Häufung der Menschen in großen Siedelungszentren
einen eminent ungünstigen Faktor sieht. Das
mag in einzelnen Fällen, z. B. bei der Grippe, zutreffen;
im allgemeinen bedeutet Massenhäufung nur dort einen
Nachteil, wo sie mit Massenelend einhergeht. Wird
diese Phase überwunden, so konstatieren wir den gegenteiligen
Effekt, einen Effekt, der nicht bloß in der vollständigen
regionären Ausrottung bestimmter Seuchen
zum Ausdruck kommt, sondern in der allgemeinen Abnahme
der Morbidität und Mortalität aus infektiösen
Ursachen. Dieser Prozeß vollzieht sich in allen hochkultivierten
Ländern seit vielen Jahrzehnten unter unseren
Augen und wurde vom Weltkrieg nur zeitweilig
unterbrochen; der Anteil, den die Abwehrmaßnahmen
daran nahmen, ist sicher groß und schwer auszuscheiden,
es bleibt aber zweifellos noch eine ansehnliche Quote
übrig, die sich nur auf den Wegfall wirtschaftlicher und
soziologischer Mißstände zurückführen läßt; für das
kontinuierliche Sinken der Tuberkulosesterblichkeit 12)
wird diese Erklärung von niemand bestritten.
Ad. Gottstein 13), dessen Weitblick wir unsere
Bewunderung nicht versagen können, hält es für denkbar,
daß die fortschreitende soziologische Entwicklung
der weißen Rassen in Zukunft noch andere Mängel
eliminieren könnte, über deren Bedeutung wir uns gegenwärtig
noch keine Rechenschaft abzulegen vermögen.
Ich teile diesen Optimismus. Die Seuchenkatastrophen,
welche Rußland in den letzten Kriegsjahren und in der
Nachkriegszeit heimsuchten, bekunden jedoch die Möglichkeit
von Rückschlägen; sie sind das imponierendste,
aber nicht das einzige Beispiel dieser Art, und wer schärfer
zusieht, erkennt, daß sich nicht so brutal, mehr unauffällig,
gewisse Änderungen der Lebenshaltung der Massen
vollziehen, deren ungünstiger Einfluß früher oder später
in Erscheinung treten muß.
Ist es unter solchen Umständen utopisch, eine völlige
Ausrottung einzelner Infektionen aus allen bewohnten
Gebieten der Erde zu erhoffen? Ich glaube nicht. Was
regionär geschehen ist, muß auch in größerem Maßstab
realisierbar sein. Die Angleichung der Kulturzustände
anderer Völker an jenen der weißen Rassen könnte
sehr wohl in ferner Zukunft derartige, nicht direkt beabsichtigte
Ergebnisse zeitigen.
Und die aktive, zielbewußte Abwehr der Seuchen,
wie sie heute dank der Fortschritte der Mikrobiologie
geübt wird? Sie steht zur Gänze im Zeichen der Eindämmung,
das heißt der Verhütung der Ausbreitung und
der Verschleppung, und hier sind ihr außerordentlich
große Erfolge beschieden gewesen. Die höhere Zielsetzung,
die Ausrottung bestimmter übertragbarer Krankheiten,
hat sie jedoch nach meiner Meinung aus den
Augen verloren, sie setzt den Kampf fort, trachtet aber
nicht, ihn in möglichen Fällen zu finalisieren. Das Verschwinden
der Lepra aus Europa infolge der Isolierung
der Aussätzigen und die Reduktion der Pocken durch
die Anwendung der Jennerschen Schutzimpfung beweisen,
daß es solche mögliche Fälle tatsächlich gibt, und
die partielle Ausmerzung der Pocken ist besonders lehrreich,
weil sie zeigt, daß hier eine Leistung verwirklicht
werden konnte, welche auf dem Wege der natürlichen
Blatterndurchseuchung nicht zustande kam und nie zustande
gekommen wäre. Es ist an der Zeit, daß internationale
und staatliche Organisationen an die Bewältigung
solcher wahrhaft großzügiger Aufgaben herantreten
und über den Forderungen des Augenblicks und
des nationalen Selbstschutzes nicht die Sorge für die
kommenden Generationen vergessen.
Es ist aber auch an der Zeit, Forschung und Lehre
auf dem Gebiete der parasitären Erkrankungen zu reformieren.
Beide sind heute zwischen Klinikern, Pathologen,
Mikrobiologen, Parasitologen und Hygienikern aufgeteilt,
das ganze große und wichtige einheitliche Gebiet erscheint
in seiner wissenschaftlichen Bearbeitung wie im
Unterricht zerrissen, zu einer Reihe von Nebenfächern
degradiert; jeder, der sich ihm widmen will, wird sofort
durch die bestehenden Einrichtungen in ein enges Spezialistentum
gedrängt, mit allen seinen Konsequenzen für
fundamentale Auffassungen, tatsächliches Wissen und
technisches Können. Hier muß einmal eine Zentralisation
erfolgen, natürlich nur bis zu den zweckmäßigen
und als fruchtbar erkannten Grenzen. Wo diese Grenzen
zu ziehen sind und wie innerhalb des so abgesteckten
Rahmens die angestrebte Wiedervereinigung zu erzielen
wäre, das beinhaltet ein umfangreiches Programm, das
ich an dieser Stelle nicht einmal in seinen Hauptlinien
skizzieren kann.
Drittens muß in breiten Schichten der Bevölkerung
das Verständnis für das schon Erreichte und für die noch
zu bewältigenden Aufgaben wach erhalten und gefördert
werden. Wäre dieses Verständnis allgemeines Bildungsgut,
so könnte man die sich ständig mehrenden Angriffe
auf die medizinische Wissenschaft und auf die unentbehrlichen
Mittel zur Erforschung und Bekämpfung der
Infektionskrankheiten, in erster Linie auf Impfung und
Tierversuche, kaum begreifen.
Um was die Forschung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
gerungen und was sie erobert hat, ist nicht
nur die Befreiung von einer die soziologische und wirtschaftliche
Entwicklung hemmenden Gefahr. Es sind
auch wissenschaftliche und erkenntnistheoretische Einsichten
gewonnen worden, Einsichten von großer Tragweite
und nachhaltiger Auswirkung. Schon die Entdeckung
der sichtbaren pathogenen Mikroben hat fast
keine Spezialdisziplin der Heilkunde unberührt gelassen
und die Untersuchungen der unsichtbaren Erreger sind
berufen, unsere Vorstellungen von den einfachsten Lebensformen
und von dem, was Leben überhaupt ist, von
Grund auf zu ändern. In beiden Richtungen muß Kontinuität
und Fortschritt gesichert bleiben, damit unsere
Epigonen sagen können: Opus factum est, quod non
potest mori.