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DAS WAHLRECHT IN NEUER UND ALTER ZEIT

REDE

GEHALTEN AM 16. NOVEMBER 1931 ZUR
FEIERLICHEN ERÖFFNUNG DES STUDIENJAHRES VON
FELIX HAUPTMANN
REKTOR DER UNIVERSITÄT
FREIBURG, SCHWEIZ
ST. PAULUS-DRUCKEREI 1931

Das Wahlrecht in neuer und alter Zeit

Wenn ich mir erlauben möchte, vor Ihnen heute von den Wahlen zu sprechen, dann wird man zugeben, daß das ein sehr aktuelles Thema ist. Aber fürchten Sie nicht, daß ich Ihrem Leibblatt Konkurrenz machen und über die letzten Nationalratswahlen oder über die englischen Wahlen, die das Labourregiment stürzten, mehr oder weniger tiefsinnige Betrachtungen anstellen werde. Nein; ich möchte nur einige Gedanken über das Wahlrecht im allgemeinen Ihnen vortragen, um schließlich mit einem Salto mortale in die graue Vergangenheit zu tauchen — eine Kombination, die meinen Eigenschaften als alter Politiker, sowie als Rechtshistoriker entsprechen dürfte.

Ich sage Ihnen nur etwas Bekanntes, wenn ich zunächst feststelle, daß als Eckpfeiler des Wahlrechts heute in den breitesten Kreisen das allgemeine gleiche Stimmrecht gilt. Daß in der Landsgemeinde jeder Bürger seine Meinung, und wenn sie noch so töricht wäre, sagen, und durch seine Abstimmung die vorliegenden Fragen mitentscheiden darf — oder daß er in den größern Staaten, wo es unmöglich ist, die Hunderttausende und Millionen von Bürgern zu versammeln und gemeinsam beraten zu lassen —, daß er da doch wenigstens einen Mann seines Vertrauens zu seinem Stellvertreter als Großrat oder Deputierter erwählen kann, damit er an seiner Stelle diese Entscheidung treffe; das ist für uns so selbstverständlich, daß es uns unfaßbar erscheint, daß in einem zivilisierten Staate das nicht der Fall sein sollte. Ein anderer Zustand würde uns als unmöglich oder jedenfalls als unerträglich erscheinen.

Unerträglich? — Wenn man sieht, daß bei gar manchen Wahlen nicht einmal die Hälfte der Stimmberechtigten an der Wahlurne erscheint, dann sollte man sagen, daß das Bedürfnis, sich politisch zu betätigen, bei vielen gar nicht so dringend empfunden wird, — daß sie am liebsten damit verschont blieben.

Wir finden allerdings auch das Gegenteil, daß nämlich zuweilen die Wahlbeteiligung fast 100 Prozent erreicht, ja, daß an einzelnen Orten wirklich alle Wähler vollzählig ihre Stimme abgeben. Das ist aber selten und kommt nur bei Fragen vor, die die Bevölkerung heftig aufregen. Und selbst da bedarf es meist noch einer langen, vielseitigen und intensiven Agitation, sowie einer eingehenden Aufklärung. Deshalb hat man schon mehrfach verlangt, daß das Wahlrecht zu einer Wahlpflicht umgestaltet werden müsse, damit nicht durch Gleichgültigkeit und Trägheit Schaden angerichtet werde; oder weil man da, wo eine Gegenpartei bei sich den Wahlzwang mehr oder weniger durchgeführt hat, hierdurch überflügelt wird. Jedenfalls ergibt sich daraus, daß das Bedürfnis der Teilnahme an der Staatsleitung nicht so allgemein ist als man vielfach behauptet. Ist man mit den Zuständen zufrieden, kann es ruhig so weiter gehen wie bisheran, dann spart man gern die Mühe und die Zeit des Ganges nach dem Wahllokal. Deshalb sagt man oft, eine schwache Wahlbeteiligung sei ein gutes Zeugnis für die Regierung. Sie zeige, daß die Bevölkerung mit ihr einverstanden sei, keine Änderung wünsche und ihr vertraue.

Es ist deshalb die richtige Auffassung wohl die, daß der Bürger durchaus nicht überall mitsprechen will; wohl aber will er, wenn die Regierung versagt, oder wenn Gegensätze innerhalb des Volkes entstanden sind, die Möglichkeit haben, Notwendiges durchführen zu können oder Schädliches zu verhindern.

Wenn nun heute überall vom allgemeinen gleichen Wahlrecht gesprochen wird, dann werden Sie vielleicht überrascht sein, zu hören, daß es doch nicht so allgemein ist, daß es allen Staatsbürgern zukäme. Ich will nicht vom Frauenstimmrecht reden, da es ja Staaten gibt, wo es existiert. Aber überall gibt es Bürger, die nicht wählen dürfen. Da sind — die Wahnsinnigen, die Geisteskranken. Aber natürlich! werden Sie sagen. Wer unter Kuratel steht, wem man die Verwaltung seines Vermögens genommen hat, damit er durch seinen Unverstand sich nicht selber schädige, dem darf man doch nicht gestatten, ihn an unserm Staate auszulassen!

Sehr richtig! Man muß zugeben, daß ein geistiger Defekt, ein Mangel an Verstand oder ein durch Krankheit zerrüttetes

Gehirn sie vielfach hindert, die Sachlage richtig zu beurteilen, sodaß man eine Beeinflussung der staatlichen Verhältnisse ihnen nicht gestatten darf. Das wird überall zugegeben.

Neben diesen gibt es noch weitere Personen, die ebenso behandelt werden. Es sind das unsere verehrten Mitbürger von Bellechasse. 1 Sie und alle, denen die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind, dürfen ebenfalls ihre Stimmen nicht in die Wagschale werfen.

Auch das wird man selbstverständlich finden. Von Leuten, die in ungerechter Weise ihren Vorteil auf Kosten anderer gesucht haben, oft so brutal, daß alle Welt empört war, sodaß sie als gemeingefährlich erschienen, kann man doch nicht erwarten, daß sie sich bemühen werden, das allgemeine Wohl zu fördern. Ein Einfluß auf die Leitung des Staates, der doch in gerechtem Ausgleich das Wohl Aller gleichmäßig herbeiführen soll, kann ihnen nicht gewährt werden. Sie würden ihn nur mißbrauchen.

Damit ist die Zahl der Ausgeschlossenen noch nicht erschöpft. Es gibt noch weitere Staatsbürger, brave, unbestrafte Menschen in großer Zahl, denen ebenfalls jede Einwirkung auf das Staatsleben versagt ist. Weder aktives noch passives Wahlrecht steht ihnen zu. Das sind die Kinder, Knaben und Jugendliche bis zu einem gewissen Alter.

Auch damit ist jeder einverstanden. Man kann doch nicht vom neugebornen Wickelkind an von der ganzen hoffnungsvollen Jugend, in und nach den Flegeljahren, verlangen, daß sie zu Gesetzen, Beamtenernennungen und andern Staatsangelegenheiten sachgemäße Stellung nehmen und ihren wertvollen Ansichten Ausdruck verleihen sollen. Hierfür geht ihnen die Kenntnis, sowie das notwendige Verständnis vollständig oder doch mehr oder weniger ab. Diese Gruppe ist zahlreich; man wird sie auf ein gutes Drittel der Wahlberechtigten schätzen können.

Es hat sich also ergeben, daß auch da, wo das allgemeine gleiche Wahlrecht gilt, doch einem großen Teil der Bevölkerung man kann ihn auf 2/5 schätzen — die aktive Wahlfähigkeit, das Stimmrecht versagt ist. Den einen, weil ihnen das nötige

Verständnis abgeht — sie eine richtige Stellungnahme nicht finden können — Kinder und Wahnsinnige; die andern, weil sie eine gerechte Regelung nicht anstreben wollen, die Verbrecher. Durch die Vorschriften des Wahlrechts sind diese unverkennbar wertlosen und schädlichen Elemente ausgeschlossen. In ihren Händen würde das Stimmrecht direkt zerstörend wirken. Allein man würde sich täuschen, wenn man annehmen wollte, daß der verbleibende Rest der Wahlfähigen rein von ihnen wäre. Im Gegenteil gibt es da noch reichlich viele, denen ebenfalls das nötige Verständnis, als auch solche, denen der gute Wille fehlt. Darüber ist man sich immer klar gewesen.

Daß vielen das Verständnis fehlt, um die oft komplizierten Fragen des Staatswesens zu erfassen, erkennt man sofort, wenn man mit den breiten Massen der Bevölkerung in Verbindung tritt. Das weiß doch auch jeder Lehrer, daß unter seinen Schülern ein paar hervorragende sind; weiter eine Anzahl gute Mittelsorte. Aber mit dem größten Teil hat er seine Plage. Und schon im Alten Testament stellt der Ecclesiastes mit einer gewissen Wehmut fest : Stultorum numerus est infinitus. Damit soll nicht gesagt sein, daß das alles unbrauchbare Leute seien. An den richtigen Platz gestellt, leistet vielmehr der größte Teil von ihnen wertvolle Dienste und erfüllt vollauf seine Aufgabe — ist sogar ein unentbehrlicher Teil des Ganzen. Nur mangelt ihnen die höhere Einsicht, um das verwickelte Getriebe des Volksorganismus mit seinen vielfachen Wechselbeziehungen zu erfassen, — die weitreichenden, oft verhängnisvollen Folgen ungeschickter Eingriffe zu begreifen und zu bewerten — seinen Zusammenhang mit der Wirtschaft fremder Völker — und die eigene Abhängigkeit von dieser, — sowie den gegenseitigen Einfluß, der bald befruchtender, bald schädigender Art ist — und eine Menge ähnlicher wichtiger Fragen zu übersehen, zu begreifen oder auch nur zu ahnen.

Daß andererseits in der Wählerschaft auch solche reichlich vertreten sind, die das Wahlrecht nicht zum allgemeinen Besten, sondern nur zu eigennützigen Zwecken zu benutzen bereit sind, läßt die stets steigende Kriminalität deutlich erkennen; weiter auch die vielen unbekannt gebliebenen Täter von Verbrechen und

all' die Angeklagten, die nur Mangels eines strikten Beweises freigesprochen werden müssen.

Eine allgemeine befriedigende Formel, welche diese Wähler aus den Listen verschwinden ließe, hat sich trotz heißen Bemühens nicht finden lassen. Man ist deshalb auf den Gedanken gekommen, statt den minderwertigen Personen das Wahlrecht zu nehmen, das der höherwertigen zu verstärken. Es ist das die Idee des Pluralwahlrechts.

Hierbei soll bestimmten Gruppen in der Bevölkerung, die in ihrem Beruf sich mit Fragen und Zuständen beschäftigen, die ein hervorragendes Verständnis und eine besondere Eignung zur Beurteilung von Staats- und Volksangelegenheiten verlangen, ein stärkeres Stimrnrecht dadurch verliehen, daß ihre Stimmzettel für 2, 3 oder mehr Stimmen gezählt werden. Auch Zustände können hier von Bedeutung sein. So, ob jemand verheiratet ist. Wer für Weib und Kind zu sorgen hat, ist gewagten Experimenten abgeneigt, da dadurch der ruhige Gang der Geschäfte und damit die Verdienstmöglichkeit gefährdet ist. Zumal die Frauen haben dafür Verständnis und halten oft die Männer von unüberlegtem Vorgehen ab. Inhaber und Direktoren großer Betriebe haben aus ähnlichen Gründen die nämliche Einstellung. Weiter ist es ein Beweis von Intelligenz, wenn jemand in seinem Beruf ein Examen bestanden hat. Es braucht kein wissenschaftliches zu sein — auch wer eins bezüglich seiner Fachausbildung gemacht und dadurch bewiesen hat, daß er darin ein besonderes Maß von Kenntnissen besitzt, verfügt offenbar über eine gewisse Intelligenz. Auch Besitz von Vermögen drängt zu vorsichtiger Behandlung von Staatsgeschäften. Wer nichts zu verlieren hat, neigt zu leichtsinnigem Vorgehen; wer Geld einbüßen kann, überlegt sich die Sache gründlich.

So hat man noch manche Eigenschaft gefunden, bei deren Vorhandensein jemanden noch eine oder mehrere Stimmen zu seiner Grundstimme zugefügt werden.

Das belgische Wahlrecht von 1893 gibt zunächst jedem, der 25 Jahre alt ist, Stimmrecht. Ist er 35 Jahre alt geworden und verheiratet oder Witwer mit Kindern, dann erhält er eine zweite Stimme hinzu, vorausgesetzt, daß seine Personalsteuer 5 Franken

beträgt. Es sind also drei Momente, deren Zusammentreffen ihm eine zweite Stimme gibt:

1. er ist 10 Jahre älter geworden. In dieser Zeit hat er viel erfahren und gelernt, hat ein richtigeres Urteil, ist ruhiger und besonnener geworden und läßt sich nicht mehr so leicht fortreißen wie früher;

2. er hat Kinder. Damit ist er an deren Zukunft interessiert, sodaß er die Zustände, unter denen sie werden leben müssen, nicht leicht durch politische Experimente gefährden wird.

3. er muß ein gewisses, wenn auch kleines Einkommen haben, was in einer Steuer zum Ausdruck kommt. Hierfür gilt das, was vorher vorn Vermögen gesagt wurde.

Ebenfalls eine zweite Stimme erhalten die Grundbesitzer, deren Zins 48 Fr. erreicht oder die eine Staatsrente von 100 Fr. beziehen.

Eine dritte Stimme ist zugestanden den Wählern mit akademischer Bildung, sowie den Inhabern oder Altinhabern höherer öffentlicher Ämter und ähnlicher Stellungen, also Leute, die infolge ihrer Bildung und Stellung die Staatsverhältnisse kennen.

Ein Pluralstimmrecht bestand auch in Österreich; ebenfalls für Gemeindewahlen in England und Schweden.

Das Pluralstimmrecht hat nur geringe Wirkung. Um ein Gegengewicht gegen die viel zahlreicheren unprivilegierten Wähler zu bilden, hätte man den begünstigten Wählern eine viel größere Stimmenzahl geben müssen. Dazu hat man sich nicht entschließen können.

Aber auch abgesehen davon ist das Pluralstimmrecht nicht allseitig befriedigend. Die Menschen zerfallen nicht einfach in gute und schlechte oder in solche mit und ohne politische Talente, sondern in jedem einzelnen sind gute und schlechte Anlagen oft seltsam gemischt. Da kann es sein, daß jemand einen ausgezeichneten Verstand besitzt, sodaß er das Staatswohl hervorragend fördern könnte — dabei aber moralisch so minderwertig ist, daß jeder einsieht, daß er ihn nur zu seinem eigenen Vorteil und zur Schädigung anderer benutzt. Gibt es doch auch hochintelligente Verbrecher. Es kommt deshalb nicht so sehr auf einzelne Eigenschaften an, sondern man muß den Menschen im

Ganzen bewerten. Das kann man aber nicht durch die Einrichtung schematischer Klassen, sondern nur durch individuelles Erfassen des einzelnen.

Hat man in unserer Zeit diesen Gedanken noch niemals ausgesprochen, geschweige denn überhaupt einen Versuch oder auch nur einen Vorschlag gemacht, ihn durchzuführen, dann muß es überraschen, daß schon vor fast 600 Jahren man hier in Freiburg ihn wirklich durchgeführt hat.

Es ist nicht ohne Interesse, diese weit zurückliegenden Einrichtungen unsern modernen Verhältnissen gegenüberzustellen. Dabei muß vorausgeschickt werden, daß es damals in Freiburg, wie überall in der Welt, eine große Anzahl Unfreier gab. Ihre Lage hatte sich gegen früher bedeutend gebessert. Sie konnten aber immer noch von ihrem Herrn verkauft und gekauft werden. Man verwendete sie als Knechte und Handwerker und wo sonst und wozu ihr Herr sie gebrauchen wollte. Sie gehörten nicht zur Bürgerschaft und hatten kein Wahlrecht. Ähnliche Zustände bestanden übrigens in Nordamerika bis 1863, in Cuba bis 1880, in Brasilien bis 1888, liegen also gar nicht so weit hinter uns.

In Freiburg mußten nach einer Ordonanz von 1347 alle höhern Beamten alljährlich auf St. Johann Baptist (24. Juni) neu gewählt werden. Es war das der Schultheiß, der Kleine Rat, welcher 24, der Große Rat, welcher 200 Mitglieder zählte; der Säckelmeister und die drei Venner (Fähnriche oder Bannerträger), zusammen 229 Personen. Der Kleine Rat führte die Staatsverwaltung und übte die Gerichtsbarkeit aus; der Große Rat entspricht dem heutigen Großrat.

Am Sonntag vor dem Wahltag wurden die Kandidaten aufgestellt. Das war Sache der Venner oder Bannerträger, der Vorsteher der drei Stadtbezirke, der Burg, des Spitals und der Au. Eigentlich waren sie die von diesen drei Bezirken gewählten Anführer der bewaffneten Bürger dieser Quartiere, die aber auch andere Aufgaben hatten. Zur Aufstellung der Kandidatenliste sollte jeder Venner aus seinem Quartiere 20 Bürger einladen, die er für tauglich und aufs Gemeinschaftswohl bedacht hielt, um mit ihnen die zu wählen, die ihnen für die beiden Räte und als Säckelmeister geeignet erschienen. Es waren also 63 Personen,

einschließlich der Venner, die gewissermaßen das Wahlkomitee bildeten, die Kandidatenliste besprachen und darüber abstimmten. Dabei war festgesetzt, daß bei der Hauptwahl die Minderzahl für die von der Mehrzahl festgesetzten Kandidaten stimmen müsse. Regelmäßig wurde die Liste des vergangenen Jahres übernommen, also Leute, die man schon im Amte tätig gesehen hatte. Nur die Lücken, die der Tod oder sonstige Umstände gerissen hatten, wurden mit neuen Namen ausgefüllt. Diese Kandidatenliste wurde geheimgehalten bis zur Wahlversammlung. Offenbar, um sie der Kritik zu entziehen.

An der Wahl, am Tage St. Johann, dürften ursprünglich alle Bürger sich beteiligt haben. 1370 werden als wahlberechtigt bezeichnet die Bürger, die Söhne von Bürgern und angesehene Leute, die ein Haus in der Stadt oder ihrem Gebiet besassen. Gleichwohl wurden nicht alle zur Wahl zugelassen. Da die Urkunde zugleich sagt, es sei verboten, bei der Wahl Tumult zu erregen, zu schreien oder sich zusammenzurotten, um zu lärmen, muß es manchmal lebhaft hergegangen sein. Das durfte der Anlaß gewesen sein, weshalb man nun suchte, gewalttätige Elemente aus der Wählerschaft auszuschalten. Man nahm eine Auslese in der Weise vor, daß man die Venner beauftragte, jeder von ihnen solle am Abend vor dem Wahltage, von vier Leuten aus seinem Quartier begleitet, in seinem Bezirk von Haus zu Haus gehen, um diejenigen einzuladen, die am folgenden Morgen in der Liebfrauenkirche die Behörden wählten.

Weiter heißt es, am Wahltag selber sollten die Venner sich mit ihren 12 Begleitern vor der Kirchtüre aufstellen, die guten Leute einladen, einzutreten und, bis die Türe geschlossen würde, zusehen, daß niemand eintrete, der nicht abends vorher eingeladen war. Wer ungeladen eintrat, wurde bestraft. Desgleichen wurden aber auch die bestraft, die geladen waren, aber bei der Wahl nicht erschienen. Also war Wahlzwang!

Es gab somit in Freiburg zwei Wahlkörper. Auf beide hatten die Venner einen maßgebenden Einfluß. Der eine bestand aus den sechzig Männern, die sie aussuchten, um mit ihnen die Kandidaten zu wählen; der andere aus den Wählern, die sie am Tage vor der Wahl einluden, um am folgenden Morgen in der

Liebfrauenkirche den von den Sechzig aufgestellten Kandidaten ihre Stimme zu geben.

Auffallend ist dabei die selbständige Stellung der drei Quartiere. Da jeder Venner von seinem Quartier gewählt wurde, und sie andererseits aus ihrem Quartier die Wähler aussuchten, sowohl für die Aufstellung der Kandidaten als auch für die eigentliche Wahl, so waren die Quartiere drei unabhängige Wahlbezirke, die sich aber auf eine gemeinsame Wahlliste einigen mußten. Es war also kein einheitlicher Wille, der die Wahl beherrschte, sondern maßgebend waren drei Personen, nämlich die Vorsteher der drei Quartiere. Diese Wahlordnung erscheint als die Lösung von Schwierigkeiten, die in früherer Zeit durch eine unangenehm empfundene, wohl zu straffe einheitliche Leitung hervorgerufen waren, gegen die dann die Quartiere einen weitgehenden Einfluß auf die Gestaltung der Kandidatenliste und auf die Wahl für sich durchgesetzt hatten.

Die Auswahl der Wähler scheint den Vennern ganz überlassen geblieben zu sein. Bezüglich ihrer Qualitäten war nichts im einzelnen vorgeschrieben. Selbstverständlich mußten sie Bürger sein oder Einwohner mit Grundbesitz. Das wurde in allen Städten verlangt. Sonst aber sollten sie nur im allgemeinen «gute Leute» oder «taugliche» oder «geeignete Personen» sein, «aufs Gemeinwohl bedacht» und «nützlich für die Stadt». Das sollte ihnen von den Leuten bekannt sein. Das war nicht schwer. Im engen Kreise einer Stadt kennt man jedermann. Man war mit ihnen aufgewachsen, hatte gesehen, wie sie sich entwickelt, wie sie sich geführt hatten. Und wenn nicht jeder alle kannte, dann waren unter den Sechzig immer Leute, die diejenigen näher kannten, die andern fern geblieben waren. So konnte eine individuelle Auslese vorgenommen werden.

Ganz geholfen hat indes dieses Mittel auch nicht. Wir hören, daß 1407 Tumultanten bestraft wurden. Man hatte also auch Unkraut mit dem Weizen gesammelt. Deshalb gab man der Verfassungsurkunde einen Zusatz, in welchem den Unruhestiftern Strafe angedroht wurde. Die wurde seitdem bei Beginn der Versammlung zur Warnung vorgelesen — was auch nicht immer half.

Ich komme zum Schluß.

Ziehen wir das Ergebnis aus unserer Betrachtung des Wahlrechts, dann geht es dahin, daß hier, wie überall, es mehr auf den Menschen ankommt als auf die Gesetze. Sind die Menschen gut, dann sind die Zustände im Staate befriedigend, auch wenn die Gesetze zu wünschen übrig lassen. Sind die Menschen schlecht, dann können auch die besten Gesetze nicht verhindern, daß die übelsten Zustände eintreten.

Also Besserung der Menschheit durch Besserung des einzelnen, das ist das anzustrebende Ziel, was allein zu befriedigenden Resultaten führen kann.