Die hebräische Rechtsgemeinde

II
BERICHT
über das akademische Jahr
1930/31
DRUCK: ART. INSTITUT ORELL FÜSSLI, ZÜRICH

INHALTSVERZEICHNIS Seite I. Rektoratsrede 3 II. Behörden der Universität 24 III. Jahresbericht 26 a) Dozentenschaft 26 b) Allgemeines 30 c) Feierlichkeiten, Kongresse, Konferenzen und Abordnungen d) Studierende 38 e) Promotionen und Prüfungen 40 f) Preisaufgaben 42 g) Hochschulfonds und Stiftungen 43 h) Stipendien und Preise 44 i) Kranken- und Unfallkasse der Universität . . . . 45 k) Witwen-, Waisen- und Pensionskasse der Professoren der Universität 46 l) Zürcher Hochschulverein 47 m) Stiftung für wissenschaftliche Forschung 49 n) Julius Klaus-Stiftung 55 IV. Schenkungen und Vermächtnisse 61 V. Nekrologe 63

I. FESTREDE DES REKTORS PROF. DR. LUDWIG KÖHLER,

gehalten an der 98. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 29. April 1931.

Die hebräische Rechtsgemeinde.

Es wird oft übersehen, dass der Schauplatz der biblischen Begebenheiten ein Bergland ist. Aber Hebron liegt 927 Meter, Jerusalem durchschnittlich 750 Meter, Samaria 443 und noch Nazareth 349 Meter überm Meer. Dabei ist die Mittelmeerküste von diesen Orten nur 70 bis 75 Kilometer und der Jordangraben, der einige hundert Meter unter den Meeresspiegel gesenkt ist, nur 30 bis 35 Kilometer in der Luftlinie entfernt, so dass die zahlreichen nach Osten und Westen fallenden Täler von der Wasserscheide aus die Oberfläche des Landes in starker Neigung durchfurchen. Kein Wunder daher, dass eine Untersuchung über die natürlichen Landschaftsbezirke Palästinas zu dem Ergebnis führt, es gebe deren "mehr als vierzig"1); und sie sind dabei so stark voneinander abgesetzt, dass noch ein heutiges Staatswesen mit seinen vereinheitlichenden Kräften des Wegebaus, der Verwaltung, der Schule und der wirtschaftlichen Zusammenfassung Mühe hätte, die natürliche Besonderung der Landesteile zu überwinden.

Einen solchen Staat mit solchen Kräften und Absichten hat es im Altertum nicht gegeben. Nach der Einwanderung der Hebräer ist Palästina zunächst, wie neuestens schön gezeigt wurde2), eine Art Eidgenossenschaft, deren Boten ein, zwei Male im Jahr an einem der grossen Heiligtümer zur Tagsatzung zusammenkommen. Das Königtum dann, von Saul und David geschaffen, ist mehr Notgemeinschaft als Lebenseinheit, im Kriege wesenhafter

als im Frieden, schon mit Salomos Tod in zwei Staaten zerfallend, und auch in dieser Zweiheit die Teile nicht stärker einend als zuvor, bis zuletzt nur Rahmen, nicht alle Glieder zu einem Ganzen erraffende Gestaltung.

So bleibt denn vom Anfang an bis gegen das Ende hin der Träger des palästinischen Gemeinschaftslebens die einzelne, natürliche Landschaft. Sie lebt aus sich selber. Sie lebt für sich selber. Sie gestaltet ihr Leben in den Erfordernissen und Gesetzen ihrer Besonderung. Dass es doch zu einer Einheit kommt, liegt viel mehr daran, dass in den Einzellandschaften die nämlichen Bedingungen und Anliegen zu den gleichen Bildungen führen, als daran, dass ein Einheitswille politischer Art vorhanden und am Werke gewesen wäre.

Fragen wir aber, welches die stärkste gemeinschaftbildende Kraft der Landschaften gewesen, so ist die Antwort nicht zweifelhaft. Es ist das Recht. Alle Gemeinschaft lebt nur vom Frieden, das heisst von einem Zustand, in dem die Glieder der Gemeinschaft ihre Ansprüche und Bedürfnisse zu einander in billigen Ausgleich gebracht sehen. Diejenige Macht aber, welche diesen Frieden schafft und wahrt, ist das Recht. Das Recht ist heilig, weil es der Bürge der Gemeinschaft ist. Die Gemeinschaft hat kein höheres Gut und kein lebendigeres Anliegen als das Recht. In seiner Pflege und Übung bleibt sie lebendig, erfährt sie sich als wirklich. Wie stark dies der Fall, zeigt in schönster Form für die hebräische Landschaft die hebräische Rechtsgemeinde, ihre Gestaltung, ihre Geschichte und ihre Wirkung.

Das Büchlein Ruth erzählt (4, 1-2) die Einberufung einer solchen Rechtsgemeinde. Ein Bürger von Bethlehem, der die familien- und erbrechtliche Sache zweier Witwen zu der seinen macht, begibt sich in der Frühe des Morgens, ehe noch einer der Bürger des Ortes zur Feldarbeit hinausgegangen ist, ans Tor, durch das alle kommen müssen, setzt sich dorthin, ruft den N. N., welchen die Rechtssache zunächst betrifft, und dazu noch zehn andere Bürger ins Recht und legt seine Sache vor, die dann in aller Form Rechtens behandelt wird. Als ich diese Stelle vor Jahren aus archäologischem Interesse in Erinnerung rief 3),

lenkten sofort Georg Cohn, hier in Zürich, und Josef Kohler, in Berlin, die zwei, denen die Rechtsgeschichte mannigfach verpflichtet ist, meine Aufmerksamkeit auf das "Gassengericht", wie es Eduard Osenbrüggen, auch er einst in Zürich, aus Schwyz, Nidwalden und Appenzell nachgewiesen hat4). Und dem Rechtshistoriker wie dem Rechtsethnologen werden in der Tat eine Fülle verwandter Erscheinungen und Einrichtungen beifallen. Der Rechtshistoriker wird auch sogleich daran denken, dass die zehn Rechtssassen in Ruth nichts anderes sind als ein Kommissariat der Gesamtheit der rechtsfähigen Bürger. Und so liesse sich noch dies und das Einzelne bemerken.

Wir wollen jedoch dabei nicht verweilen, sondern sogleich an den Versuch herantreten, die Institution der hebräischen Rechtsgemeinde nach ihren Grundzügen darzustellen. Jede palästinische Landschaft ist mit einer Anzahl von Ortschaften, die alle geschlossene Siedelungen sind, belegt. Zum Teil ist das Verhältnis dieser Ortschaften zu einander dies, dass es sich um ein Mutterdorf und seine Filialen handelt5). Denn da die Insassen der hebräischen Ortschaft insgesamt Bauern sind, kann keine Siedelung über eine bestimmte Grösse hinauswachsen. Ein Bauerndorf darf immer nur so gross werden, dass es für alle Bauern noch möglich ist, innerhalb nützlicher Frist zur Tagesarbeit auf das Feld hinauszugelangen. Sobald diese Grenze überschritten wird, muss ein Teil der Bewohnerschaft absiedeln und auf Neuland eine Filiale oder Kolonie gründen. Zum Teil auch stehen die Ortschaften derselben Landschaft unabhängig neben einander, in selbstgenüger Beziehungsgemeinschaft. Das Wesen der Rechtsgemeinde erfordert es, dass in der Regel jede Ortschaft ihre eigene Rechtsgemeinde bildet.

Die Bewohnerschaft jedes Ortes zerfällt, wenigstens für unsere Betrachtung, in zwei Gruppen: die eine wird von den Vollbürgern gebildet, die andere vom Rest der Bewohner, den Frauen, den Kindern, Sklaven, dem "Fremdling, der in deinen Toren ist", das heisst Zugewanderten, die wegen Blutrache,

Achtung oder aus sonst einem Grunde nicht an dem Ort wohnen, an dem sie Vollbürger sind. Vollbürger sind diejenigen Männer, welche auf eigener Scholle sitzen, keiner Vormundschaft mehr unterstehen und die vier grossen Rechte zur Ehe, zum Kult, zum Krieg und zur Rechtspflege besitzen. Dabei ist das Recht zur Ehe für den Hebräer fast etwas Naturhaftes, das zum Krieg eine Ausnahme, das zum Kult ein gelegentliches, dessen Verantwortung wohl grösser als sein Genuss erscheinen mochte. Das Recht der Rechte, in dem Stolz und Würde des gesunden, mündigen, hablichen, von Seinesgleichen anerkannten Mannes beruhen, ist das Recht auf Teilnahme und Mitsprache in der Rechtsgemeinde. Sie ist die Vereinigung derer, welche gelten.

Die Rechtsgemeinde tagt am Tor. Dass in den Toren Gerechtigkeit wohnen solle, ist die ständige Mahnung der Propheten. Gemeint ist das Ortstor6), der umwehrten Siedelung einziger Zu- und Ausgang. Weil alle Bauern sind, sind alle hier am frühen Morgen zu treffen. "Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang", heisst ein Segenswunsch (Psalm 121, 8). Wir würden sagen: "deinen Eingang und Ausgang", weil wir an Kommen und Gehen etwa eines Gastes oder Wohnung Nehmenden denken. Aber der Hebräer stellt den "Ausgang" vor den "Eingang"; denn ihm stehen der Gang des Bauern am Morgen auf sein Feld und die abendliche Rückkehr von dort vor der Seele7). Deshalb tagt die Rechtsgemeinde am Morgen, "am Vormittag nüchter", wie es in der Ordnung des Appenzeller Gassengerichtes von 1585 heisst. Die Begründung, die man vielleicht, aber ich zweifle, ob mit Recht, im letzten Worte dieser Bestimmung finden kann, mag für Appenzeller stimmen, für die Hebräer ist sie nicht der Grund. Wir haben ihn vielmehr soeben schon genannt. Und von hier aus versteht man Wendungen wie den schönen Lobpreis Gottes: "Morgen um Morgen spendet Jahwe sein Recht" (Zephanja 3, 5). In der Frische des Morgens, in der Lichte des Tages wird das helle, klare Recht gefunden.

Die Rechtsgemeinde tritt zusammen, wenn dafür Bedarf ist. Einmal sehen wir vor Augen, wie es dabei zugeht. Der Prophet Jeremia ist im Tempelhof aufgetreten und hat die Ungeheuerlichkeit begangen, dem Tempel Jerusalems ein Ende in Trümmern anzusagen und Jerusalem die Verwendung als Fluchbeispiel. Priester, Propheten und allerlei Volk haben es mitangehört, und kaum ist er fertig, stürzen sie auf ihn mit dem Rufe: "Du bist des Todes schuldig!" los. Die Notabeln der Landschaft, welche den Tumult hören, eilen herbei, und alsbald wird die Scene zum Tribunal. Die Notabeln setzen sich am Tor nieder, Priester und Propheten erheben Klage, Jeremia führt seine Verteidigung, minder wortreich, aber nicht minder würdevoll denn Sokrates in der Apologie des Plato, dann fällen die Notabeln und das versammelte Volk das Urteil: "Dieser Mann ist nicht des Todes schuldig"(Jeremia 26). Eine Gerichtsverhandlung in aller Form hat hier stattgehabt. Sofort einberufen, kommt sie sofort zum Schlusse. So wird es namentlich in den kleinen Verhältnissen bescheidener Ortschaften immer gewesen sein, und jedenfalls haben wir weder von feststehenden Rechtstagen noch von Zeiten des Rechtsstillstandes irgendeine Kenntnis. Zwei Bürger oder Familien oder sonstige Gruppen haben einen Rechtsstreit, oder es ist ein Verbrechen oder eine Untat begangen worden, dann ruft, wer es begehrt, ins Recht, und alle folgen willig dem Ruf, denn die Verwaltung des Rechtes ist aller Anliegen, ist auch, noch der heutige Bauer und verblassend selbst der heutige Städter verspürt etwas davon, aller Lust.

Von besondern, dabei geübten Bräuchen wissen wir nichts als das Eine, dass die Rechtssassen sitzend des Rechtes walten. "Setzt euch hierhin! und sie setzten sich", heisst es in Ruth (4, 2). Wer redet, steht dann auf. Aus der Wendung: "Die Gottlosen dürfen in der Rechtsgemeinde nicht aufstehen"(Psalm 1, 5), "sie bestehen nicht im Gericht", wie Luther übersetzt hat, habe ich einmal vermuten wollen, dass der Angeklagte während der Verhandlung über seine Schuld kniend oder liegend am Boden verharrt. Doch ist das nicht sicher8).

Was will die Rechtsgemeinde, wenn sie zusammentritt? Sie ist aus einem Vorgang entstanden, der sich überall da vollzieht, wo Gruppen zu dauerndem Zusammensein sich bilden. Auf diesen Vorgang muss man zurückgreifen, wenn man die innerste Absicht der Rechtsgemeinde und die Gedanken, welche ihren Entscheidungen stetsfort zugrunde liegen, erfassen will. Wenn innerhalb einer Gruppe, die einigermassen Dauer hat, zwei Einzelne in Widerstreit ihrer Neigungen, Wünsche, Anliegen und Tätigkeiten geraten, dann mag ein solcher Widerstreit lange Zeit ihre Sache bleiben, welche sie mit ihren einzelnen Kräften des Wortes oder der Faust austragen können. Es gibt aber einen Punkt, wo ein solcher Widerstreit zweier Glieder einer Gruppe das Gedeihen der Gruppe selber berührt. Sie wird durch den Widerstreit belästigt, behelligt, unter Umständen gar in ihrem Dasein gefährdet. Dann greift sie ein, macht den Streit zu ihrer Sache und legt ihn bei, um ihrer Gefährdung ledig zu werden, legt ihn so bei, dass nach Möglichkeit die Anliegen aller ausgeglichen werden. Dieses Eingreifen aus diesen Gründen und zu diesen Zwecken ist die Aufgabe der Rechtsgemeinde. Sie ist das Institut der Friedlichlegung. Sie erwächst aus einem praktischen Anliegen. Sie geht weder in ihrem Handeln noch in ihren Gesichtspunkten darüber hinaus. Sie greift ein, wenn sie muss. Sie greift nicht weiter ein, als sie muss. Sie hat kein juristisch-systematisches Begehren. Sie handelt auch nicht nach juristisch-systematischen Gesichtspunkten, sondern ihr einziges Bestreben ist, Streitigkeiten zu schlichten und das Wohl der Gemeinschaft zu wahren. Richten heisst für sie Schlichten. Der Satz "Fiat justitia, pereat mundus" (über den Wert, der ihm überhaupt zukommen soll, brauchen wir nicht zu reden) ist der hebräischen Rechtsgemeinde nicht nur unbekannt, er ist ihr auch unverständlich, ja er wäre ihr wohl gar verwerflich, wenn sie von ihm erführe. Es ist von Bedeutung, sich diese Stellung der hebräischen Rechtsgemeinde genau zu vergegenwärtigen. Denn nur von hier aus versteht man es, warum die Grundsätze und Einrichtungen ihres Verfahrens allezeit ursprüngliche geblieben sind.

Alle Rechtssassen sind Richter, und diese richterliche Tätigkeit ist als die eines Rechtshelfers begriffen. Richten heisst nicht

deliktische Tatbestände feststellen und auf Grund dieser Feststellung urteilen und verurteilen, sondern im Hebräischen sind "Richten" und "Helfen" Parallelbegriffe. "Richtet den Vaterlosen", sagt der Prophet (Jesaja 1, 17); das bedeutet nicht "verurteilt ihn", sondern "helft ihm zu seinem Recht" "Richte mich, Gott", lautet viermal die Bitte des Psalmisten (7, 9 26, 1 35, 24 43, 1); es ist nicht die Bitte des Geständigen um seine Strafe, sondern der Anruf des Verfolgten um Rechtsbeistand. Dieser sprachliche Sachverhalt9) ist die Erklärung dafür, weshalb jene Gestalten, welche in der Vorkönigszeit israelitische Stämme und Stammgruppen aus der Fremdherrschaft befreien, "Richter" heissen. Sie sind nicht Rechtsprecher, sondern "Helfer", wobei hier der Krieg als Mittel, Recht zu schaffen, betrachtet ist.

Richter und Zeugen sind daher auch nicht voneinander geschieden. Derselbe Mann kann in derselben Sache und an derselben Gerichtstagung als Zeuge und als Richter angerufen werden. Eigentliche Rechtsnormen, wohl gar formelgebundener Art, fehlen. Höchstens, dass die Rechtsgemeinde einzelne frühere Entscheidungen als Präzedenzfälle im Sinne behält, wie es gerade im Prozess gegen Jeremia der Fall war (Jeremia 26, 17-19). Ja, die Rechtsaufzeichnung, auf deren Fragestellung einzugehen uns die Zeit verbietet, kleidet geradezu gewisse Gesetze in die Form von Präzedenzfällen10).

Die Verhandlungen der Rechtsgemeinde sind fast ausschliesslich, wenn nicht immer, mündlich, und über die Formen dieser Verhandlungen sind wir in den Grundzügen wie in einzelnen Wendungen durch eine Schrift unterrichtet, deren Bedeutung als Quelle in dieser Hinsicht man bis heute nicht erkannt hat. Es ist das Buch Hiob. In ihm findet sich in den Kapiteln 3-31 eine ganze Reihe von einzelnen Reden, gehalten von vier Sprechern, die zwei Parteien bilden. Hiob stellt einen Satz auf oder vielmehr er erhebt eine Klage:

"Warum schenkt Gott den Geplagten Licht
Und den Tiefbetrübten Leben? ...
Die sich freuen würden bis zum Jubel,
Jauchzen würden, wenn sie das Grab fänden?"(3, 20. 22).

Ein Freund antwortet ihm verweisend und widerlegend, Hiob spricht wieder, ohne sich belehrt zu zeigen, ein zweiter und dann ein dritter Freund nehmen im Wechsel mit ihm das Wort, dieser Gesprächsgang wiederholt sich ein zweites Mal mit sämtlichen Rednern, wobei deutlich Hiob die eine Partei, die drei Freunde die Gegenpartei darstellen, und er wiederholt sich selbst ein drittes Mal, nur dass hier der dritte Freund nichts mehr sagt; dann endlich holt hob zu einer letzten Rede aus, die (besonders in Kapitel 31) an Grösse und Leidenschaft alles Frühere überbietet.

Es sei ausdrücklich und mit Nachdruck festgestellt, dass mit dem Wenigen, das wir über dieses Hiobstück jetzt sagen können, gerade das Wichtigste, die inhaltliche und theologische Bedeutung dieser Kapitel, nicht berührt werden kann. Es ist jetzt nur die formale Seite, auf die unser Absehen geht. Wenn man sich nämlich bei den Erklärern des Hiob umsieht, wie diese Folge von Reden aufzufassen sei, trifft man verwundert auf ein verlegenes Schweigen, etwas gerade bei Theologen Unerwartetes. Man spricht etwa von einem Dialog, den diese Kapitel enthalten sollen, und es fehlt auch nicht das Buch, welches von diesem angeblichen biblischen Dialog zu denen Platos die Brücke schlagen will11). Aber schon Renan12) hat eingewendet, dass bei

Hiob nicht wie bei Plato ein Gedankenfortschritt zu beobachten sei. Ganz wie in Replik und Duplik zwischen Staatsanwalt und Verteidigung wird hier von Hiob auf der einen und den Dreien auf der andern Seite im Grunde immer wieder dasselbe gesagt. Gunkel, sonst berühmt und verdient durch seine Feststellungen über die Gattung der alttestamentlichen Literaturstücke, spricht, fast kleinlaut, von "Streitreden der Weisen"13). Peters, einer der neuesten und besten Ausleger des Hiob, sagt, es sei "ein didaktischer Dialog paränetischen Zweckes"14). Auch das tönt mehr nach Worten als nach Begriffen. Allein ein Zweifel kann nicht obwalten. Diese Reden sind Reden, wie sie vor der Rechtsgemeinde von den Parteien geführt werden, Parteivorträge würden wir sagen. Dafür ist schon der Aufbau bezeichnend. Vor der Rechtsgemeinde geht Rede und Gegenrede so lange hin und her, bis die eine Partei nichts mehr zu sagen weiss. Aus diesem Grunde nimmt zuletzt der dritte Freund nicht mehr das Wort.

Sobald man dies erkannt hat, erklärt sich vieles. So der Mangel eines eigentlichen Gedankenfortschrittes. Es soll ja nicht in Rede und Gegenrede, wie in einem platonischen Dialog, ein Stück Wahrheit gefunden, sondern es soll mit die Zuhörer überzeugender, man darf wohl auch sagen überredender Kraft ein von vornherein festgelegter Standpunkt vertreten werden. So versteht man auch die Form der letzten Äusserung Hiobs. Mit einer formalen und inhaltlichen Wucht, der man nur Weniges etwa in King Lear oder Faust zur Seite stellen kann, vertritt Hiob den Satz, dass er unschuldig leidet.

"Wenn ich gegen einen Vaterlosen meine Faust geschwungen,
Weil ich im Tor mir Helfer sah,
So soll mein Arm aus seiner Röhre gebrochen werden!
"Wenn mein Schritt vom Weg abirrte
Und an meinen Händen Makel klebt,
Dann will ich säen, und ein andrer soll ernten,
Und was mir wächst, soll ausgerissen werden!"

Das ist die bedingte Selbstverfluchung des Angeschuldigten, der damit vor der Rechtsgemeinde seine Schuldlosigkeit erweisen will.

"O, wäre doch einer, der mich anhören wollte!
Hier mein Hauszeichen15)! Der Allmächtige antworte mir!"

Das ist der wirkungsvolle Abschluss der Verteidigung, die zur Herausforderung wird. Und so geht es durch alle Kapitel hindurch, soweit nicht der Inhalt diese Formen der Rechtsgemeinde zurückdrängt. Sie sind eine Fundgrube für rechtliche Formeln und advokatorische Wendungen der Hebräer.

Dem Gegner wird der Spiegel des Wesens vorgehalten, das man eigentlich von ihm erwarten dürfte:

"Dem Verzagten gebührt das Erbarmen seines Nächsten,
Auch wenn er von der Gottesfurcht ablässt.
Aber meine Freunde erweisen sich treulos wie ein Bach (6, 14)."

Der Gegner wird aufgefordert, Tauglicheres zu reden:

"Belehrt mich, so will ich schweigen,
Und tut mir kund, worin ich irre!
Wie eindringlich sind Worte der Wahrheit!
Aber was beweist denn eure Rüge (6, 24)?"

Der Gegner wird ernstlich getadelt, dass er so lange und so inhaltlos redet:

"Wie lange willst du Solches reden
Und fahren deines Mundes Worte wie ein Sturm daher (8,2)?"

Er stösst auf moralische Entrüstung:

"Soll dem Wortreichen keine Antwort werden?
Soll der Maulheld Recht behalten?
Dein Geschwätz sollte Männer zum Schweigen bringen?
Und du solltest spotten dürfen, ohne dass dich jemand beschämt (11, 2)?"

Er wird verhöhnt:

"Ja, fürwahr, ihr seid die Menschheit,
Und mit euch wird die Weisheit aussterben!
Ich habe auch Verstand, wie ihr (12, 2 f.)!"

Oder:

"Wird wohl ein Weiser windiges Wissen als Antwort vortragen
Und seinen Bauch mit Ostwind füllen?
Mit Rede rechten, die nichts taugt?
Mit Worten, durch die er nichts fördert (15, 23)?"

Der Gegner wird der Trivialität bezichtigt:

"Dergleichen hab' ich viel gehört;
Leidige Tröster seid ihr alle!
Sind die windigen Reden nun zu Ende?
Oder was reizt dich noch zur Erwiderung?
Auch ich könnte wohl reden, wie ihr,
Wenn ich an eurer Stelle wäre,
Könnte Worte wider euch zusammendrechseln
Und den Kopf über euch schütteln (16, 2-4)."

Genug der Beispiele! Den vollen Stoff können wir doch nicht erschöpfen, und der Praktiker des Gerichtssaales wird sich längst gesagt haben, dass man offenbar vor mehr als 2000 Jahren schon dieselben Register zog wie heute noch. Was wir zeigen wollten, ist hoffentlich erreicht: es ist möglich, den ungefähren Hergang der Rechtsgemeinde zu rekonstruieren, und sein Einfluss auf die Formensprache der Literatur, worüber freilich noch manches zu sagen wäre16), ist augenscheinlich.

Vielleicht sollten, ehe wir uns andern Betrachtungen zuwenden, noch zwei Fragen rasch beantwortet werden. Einmal die nach dem Einfluss der Priester auf die Rechtspflege. Er ist wohl viel geringer, als man nach dem ersten Eindruck, den das Alte Testament macht, annehmen möchte. Weil das Priestertum

erblich ist, sitzt natürlich in den Priesterfamilien die Überlieferung über frühere Entscheidungen besonders fest, und als Glied der Rechtsgemeinde, als Bürger, nicht als Priester, nehmen sie deshalb an der Rechtsgemeinde lebhaften und bedeutungsvollen Anteil. Das Bild aber, welches man sich gewöhnlich von den kulturellen Zuständen der Hebräer macht, ist kultisch überlagert, weil das Alte Testament seine letzte Fassung nicht im hebräischen Staat, sondern in der jüdischen Kultgemeinde gewonnen hat. Freilich, es wird Fälle gegeben haben, wo die Rechtsgemeinde mit den Mitteln des Parteistreites, des Zeugenbeweises, der Schuldfeststellung und der Rechtsfindung nach den Regeln der Überlieferung oder des freien Ermessens nicht weiterkam. Dann blieb der letzte Ausweg, das Orakel entscheiden zu lassen, und seine Verwaltung ist das ursprüngliche Hauptgeschäft des Priesters. Dann kommt er zu Wort und Einfluss. Aber darüber haben wir wenig Wissen, und die Vermutung geht dahin, dass dies als Ausnahme und selten geschah.

Eine zweite Frage geht nach der Möglichkeit, von der Rechtsgemeinde an eine höhere Stelle Berufung einzulegen. Darüber sind wir gut unterrichtet. Zu David kommt eine Witwe, deren einzige zwei Söhne so heftig in Streit geraten, dass der Eine am andern zum Brudermörder geworden. Darauf greift die Familie des verstorbenen Vaters ein17) und will an dem Mörder die Blutrache vollziehen. Aber das hätte zur Folge, dass die direkte Nachkommenschaft des verstorbenen Gatten der Frau ausstürbe, und um dies abzuwenden, zieht sie die Rechtssache an den König. So wird uns auch erzählt, dass Absalom sich morgens früh ins Tor stellt, um die Judäer abzufangen, die ihre Rechtshändel vor den König tragen wollen. So kommt der Prophet Nathan vor David und legt ihm einen Rechtsfall vor18). Man kann also gegen

die Rechtsgemeinde und wohl auch über sie hinweg eine Sache vor den König tragen. Und umgekehrt wird der König die Freiheit besitzen, jeden beliebigen Rechtsfall in seine Entscheidung zu ziehen, wenn er das begehrt. Hier bahnt sich eine höhere Art von Gericht an. Die Rechtspflege wird Königssache. Sie könnte bei folgerichtiger Entwicklung Staatssache werden. Aber diese folgerichtige Entwicklung hat sich nie vollzogen. Von dem höhern Gerichtsrecht des Königs ist nichts zu spüren, vielmehr wird ein anderer Weg beschritten. Doch war diese Möglichkeit den Hebräern bewusst, denn als das Volk gegen den Willen Samuels einen König begehrt (der Bericht ist jung und den Tatsachen fern), da sagt es: "Auch wir wollen sein wie die andern Völker: unser König soll unsere Rechtsfälle entscheiden und vor uns ausziehen und unsere Kriege führen" (1. Samuel 8, 20); der König ist Gerichtsherr und Herzog. Er hat darin Vorgänger, wenn es geschichtlich ist, dass Samuel und seine Söhne, wohl als Bevollmächtigte der Eidgenossenschaft, die man neuestens als Vorstufe des Königtums bei den Hebräern annimmt19), im Lande umherziehen und Recht sprechen. Indessen ist von diesem höhern Gericht nicht viel zu verspüren.

II.

So tagt denn Jahrhunderte hindurch in den Ortschaften und Landschaften Palästinas die Rechtsgemeinde der Freien und waltet des Rechts. Um grosse Dinge ging es dabei selten. Ein Wegrecht, ein Brunnenrecht, Eingriffe in die Habe des andern an Vieh, eine Tätlichkeit mit schlimmem Ausgang, ein Totschlag, ein Erbanspruch, das werden die Fragen gewesen sein, um welche die Rechtssassen sich mühten, und ihre Mühe war längst dadurch gemindert, dass das Herkommen sichere Geleise geschaffen, in denen man bei der Entscheidung fuhr. Aber schliesslich: es gibt im Recht nichts Kleines, sondern es geht immer um das Höchste, um die Sicherung der Gemeinschaft und um die Gerechtigkeit; und die Würde des Richters ist, unabhängig vom äussern Werte des Streitgegenstandes, immer eine höchste und letzte. Man

wird fragen, ob sich ein Urteil über den letzten Wert der hebräischen Rechtsgemeinde wagen lässt. Wir brauchen es nicht zu wagen. Es liegt vor. Die Propheten geben es laut und deutlich. Es lautet ungünstig.

"So sagt Jahwe:

Wegen der drei Freveltaten von Israel
Und wegen der vier nehm' ich's nicht zurück.
Deswegen, weil sie den Rechtlichen um Geld verhandeln
Und den Armen um ein paar Sohlen.
Sie gieren nach dem Staub auf dem Haupte der Geringen
Und beugen das Recht der Armen (3, 6-7)."

So tönt es bei Amos, und dieser Klang der Klage und des Einspruches geht von Prophet zu Prophet. Die Rechtsgemeinde ist vollkommen, solange sie die Versammlung freier, unabhängiger und an Besitz ungefähr gleichstehender Bauern ist, deren Anliegen sie in billigen, gemeinschafterhaltenden Ausgleich zu bringen hat. Aber das achte Jahrhundert, eben die Zeit des Amos, zeigt uns eine starke Verschiebung der Besitzverhältnisse 20) und den Beginn einer spürbaren Schichtung der hebräischen Gesellschaft. Neben den Besitzenden tritt der Besitzlose, neben den Unabhängigen der Abhängige; und jetzt versagt die Rechtsgemeinde. Die Mündlichkeit und Öffentlichkeit ihres Verfahrens setzt voraus, dass jeder Rechtssasse unabhängig vom andern Recht spreche; aber die Furcht vor den wirtschaftlich Mächtigen, die im engen dörflichen Zusammenleben empfindlich schaden können, macht hörig und unfrei. Jeder, der ländliche Verhältnisse kennt, weiss, welchen Segen es bedeutet, dass die Stimmabgabe schriftlich und geheim ist. Die Leidtragenden dieser sozialen Schichtung der hebräischen Gesellschaft sind gerade die, deren Schutz und Rechtswahrung die höchste Ehre der Rechtsgemeinde, das Zeichen wahrer Stärke und Freiheit wäre: die Schwachen, die Witwen, der unmündige Vaterlose, der nicht im Bürgerrecht stehende "Fremdling in den Toren".

"Trachtet nach dem Recht,
Steuert den Gewalttätigen,
Schafft den Vaterlosen ihr Recht,
Führt die Sache der Witwen!"

heisst es bei Jesaja (1, 17). Alle jene Stellen der prophetischen Offenbarung, welche das neunzehnte Jahrhundert "die soziale Predigt der Propheten"genannt hat und welche auf die sozialen Bewegungen und Gesetzgebungen der Neuzeit stark anregend gewirkt haben, wurzeln in diesen Verhältnissen. Unsere Aufgabe ist es, der Frage nachzugehen, wie sich dadurch eine Umgestaltung der Rechtsgemeinde vollzogen hat. Sie wird nicht ausdrücklich erzählt, sie lässt sich aber aus den Quellen mit Sicherheit erheben.

Etwa mit dem Jahre 700, das heisst als Folge des Wirkens der Propheten Amos, Hosea, Micha, Jesaja, erhebt in der Literatur des Alten Testamentes eine neue Weise zu reden ihren Klang. "Nun höre, Israel, auf die Satzungen und die Rechte, die ich euch lehre, darnach ihr tun sollt, damit ihr am Leben bleibt und in den Besitz des Landes gelangt, das Jahwe, der Gott eurer Väter, euch verleihen will... Beobachtet und befolgt sie! Denn das wird auch in den Augen der andern Völker eure Weisheit und Klugheit ausmachen; wenn sie von allen diesen Satzungen hören, werden sie sagen: Wahrlich, ein weises und kluges Volk ist dieses grosse Volk! Denn wo wäre irgendein grosses Volk, das einen Gott hätte, der ihm so nahe wäre, wie Jahwe, unser Gott, uns, so oft wir ihn anrufen? Und wo wäre irgendein grosses Volk, das so vollkommene Satzungen und Rechte besässe, wie dieses ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege (5. Mose 4, 1. 6-8)?" Wer spricht so? Wer Ohren hat, Stil zu hören, der höre. Wer spricht so, so andringlich, so breit, so herzlich, mahnend, verheissend, guten Willen voraussetzend, Bekanntes wiederum sagend, sittlich und geistlich zugleich? So redet nicht der Prophet. Sein Wort ist knapper, bestimmter, entscheidender, neuer und grösser in Form und Gehalt. So spricht auch nicht der Volksredner; er tut es ungeistlicher, kecker, laienhafter, weltlicher, minder getragen. So redet der Prediger. Mit dem 7. Jahrhundert tut der Prediger seinen Mund auf. Die Predigt, die grösste und beste

Form der Menschenbelehrung, sie setzt damals ein. Sie ist die Nachläuferin der Propheten, die Wegbereiterin der Lebensumgestaltung nach den Gedanken, welche die Propheten zu sagen gesendet sind. Sie bringt, in kleiner Münze, und nicht immer ohne Währungsverschlechterung, das Gold der Offenbarung unter die Leute.

Um 700 setzt in Juda eine gewaltige Predigttätigkeit ein, deren Spuren wir in allen Schriften der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts wahrnehmen. Wo er uns begegnet, ist der Predigtstil schon reif und in voller Form; also entstand er früher. Predigt ist nie ohne Absicht. Die Absicht dieser Predigt, ob wir sie im "Rahmen" des Richterbuches oder in den Erweiterungen des Jeremiabuches oder in den Einleitungen des Deuteronomiums mustern, ist immer die Erziehung des Volkes Juda zur Willigkeit gegenüber den Ordnungen Gottes. Ihr Inhalt ist getragen von den Grundgedanken der Verkündigung der Propheten: dass Gott heilig ist, dass er die Geschichte lenkt, dass er Gehorsam fordert, dass die Summe des Gehorsams ihm gegenüber Gerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit ist. Weil zu diesen Gedanken aller Propheten noch Gedanken treten, die sich nur bei Jesaja finden oder nur aus seiner Verkündigung abzuleiten sind, nämlich, dass Jerusalem Gottes heilige Stadt und das Volk, das ihn in Jerusalem anbetet, sein heiliges Volk ist, darum setzen wir den Beginn der Predigt (es gab vordem überhaupt keine Predigt, und die Umbildung des Gottesdienstes aus Opfer und Kult in Predigt und Gehorsam, die hier einsetzt, ist eine gewaltige Vergeistigung der Frömmigkeit), wir setzen diesen Beginn der Predigt in die Zeit, die auf Jesaja folgt, und aus dem gleichen Grunde vermuten wir in der Priesterschaft Jerusalems und seines Tempels, der jahrhundertelang um die Anerkennung zu ringen hatte, die ihm noch Jeremia versagt, die Väter dieser Predigttätigkeit 21)

Aus denselben Priesterkreisen geht, als die Predigt lange genug das Volk zubereitet hat und die übrigen Zeitumstände reif

sind 22), das Buch hervor, welches eine bedeutsame Umbildung der hebräischen Rechtsgemeinde enthält. Es ist das fünfte Buch Mose, das sogenannte Deuteronomium, um 625 an die Öffentlichkeit gegeben und kaum viel früher verfasst, eine Schrift, deren Einfluss auf die Gesetzgebung der Nachwelt bis auf die Jetztzeit darzustellen, eine schöne Unternehmung sein würde. Man hat dieses Deuteronomium Gesetzbuch genannt. Der Name ist falsch. Es ist eine Rechtssammlung, in welcher handgreiflich alte mit ganz neuen Rechtssätzen wechseln23).

Uns kümmert hier nur eine einzige Bestimmung. "Wenn etwas in Blutsachen, in Forderungen, bei Misshandllungen, in irgendwelchen Rechtssachen dir in deinen Toren für die Rechtsentscheidung zu schwer ist, so gehe an den Ort hinauf, den Jahwe, dein Gott, erwählen wird (gemeint ist Jerusalem), und komm zu den levitischen Priestern und den Richtern, die in jenen Tagen

sein werden24), und suche (das Recht), und sie werden dir die Rechtsentscheidung kundtun" (17, 8-9). Hier sehen wir noch einmal deutlich, dass Rechtsgemeinden in allen Ortschaften vorausgesetzt sind. Es wird weiter vorausgesetzt, dass gewisse Rechtsfälle diesen örtlichen Gerichten zu schwierig sind. Sie sollen dann, einen heutigen Ausdruck zu brauchen, an ein einheitliches Obergericht gelangen.

Man darf, ohne Falsches hineinzulesen, dieser Bestimmung folgende Deutung geben. Der Hauptmangel der Rechtsgemeinde ist nach den Propheten die soziale Ungerechtigkeit. Eine leidenschaftslose Betrachtung wird das so erklären, dass die persönliche Verflochtenheit der Rechtssassen in die schwebenden Fragen vielfach richtiges Recht verhindert. Zu dieser Ungerechtigkeit mag noch ein zweiter Mangel hinzukommen. Die starke Zergliederung Palästinas, deren Einfluss auf den Wechselkurs der eigenen Landeswährung ich noch 1908 beobachtet habe25), wirkt sich so aus, dass, wie Mass und Gewicht, so auch die Beurteilung der einzelnen Tatbestände durch die Rechtsgemeinden der verschiedenen Ortschaften und Landschaften weit auseinanderging. Wir denken an die strafrechtlichen Divergenzen unseres Föderalismus. Aber Recht ist nur Recht, wo es mit gleicher Elle misst. Örtliche Befangenheit und Verschiedenheit der Rechtssprechung von Ort zu Ort hemmen die Rechtsgleichheit. Darum hebt das Deuteronomium die hebräische Rechtsgemeinde auf, indem es den Ort der Rechtsfindung und die Schöffen des Rechtes der Gebundenheit an zufällige enge Verhältnisse enthebt und dahin versetzt, wo die Stadt, der Tempel, grössere Weite und tiefere Verpflichtung gegenüber dem Gott der Propheten walten, nach Jerusalem.

So ist, was seine Erklärer gewöhnlich übersehen haben, das Deuteronomium wie die Urkunde der Vereinheitlichung der Kultstätte so auch die der Vereinheitlichung des Rechtes. Die alte örtliche Rechtsgemeinde hat ihre Zeit gehabt und ihren

Dienst getan, sie wird nunmehr verabschiedet. Dabei ist noch eines zu beachten. Die Einführung einer neuen Rechtssammlung vereinigt immer zwei Bestrebungen in sich. Einmal stellt sie die gesetzgeberische Erfassung von Anschauungen dar, die sich inzwischen neu gebildet oder verändert haben. Sie geht hinter der Entwicklung der Anschauungen her. Zum andern aber, und gerade hier das Rechte zu finden, bedeutet die höchste Weisheit des Gesetzgebers, wirkt sie bewusst rechtsbildend, zum tiefern, bessern Rechte erziehend. Jeder Schweizer Pfarrer, der sich, um seiner Amtspflicht genügen zu können, in die Bevormundungsfälle unseres Schweizerischen Zivilrechtes einarbeitet, wird auf Absichten des weisen Gesetzgebers stossen, deren Vortrefflichkeit noch keineswegs zur vollen Auswirkung gediehen ist. Das Deuteronomium geht bei seinem Streben nach Vereinheitlichung sehr weise vor. Es erzwingt sie nicht durch jähe Einführung, es bahnt sie nur vorsichtig an. Es schafft lediglich die Möglichkeit, in schwierigen Fällen an eine obere Stelle zu gelangen. Aber es weiss, dass viele Rechtsgemeinden froh sein werden, in schweren Rechtssachen örtlicher Gebundenheit nicht sprechen zu müssen. Gerade die heikelsten Fragen werden zuerst nach Jerusalem getragen werden. Dieser Ausweg der Rechtsgemeinden, einmal beschritten, wird Nachfolge finden. Dann wird Ein Recht, Eine Gerechtigkeit durch das ganze Land gelten, und die alte Anklage der Propheten wird verstummen. Ob dann die Rechtsgemeinde ihr Ende findet, oder ob es, wie heute wohl allgemeine Rechtsordnung ist, zu einer Ausscheidung der Befugnisse kommt, mag die Zukunft lehren.

Wir können nicht sagen, was die Zukunft gelehrt hat, denn bald nach der Einführung des Deuteronomiums bricht im Exil der judäische Staat zusammen. Die Rechtsordnung der Heimgekehrten, der nachexilischen Gemeinde, aber beruht auf ganz andern Voraussetzungen. Sie lagert nicht auf einem freien Staatsleben, sondern ist Gerichtsbarkeit einer Religionsgemeinde, die, selber Beisass eines fremden Staates, Gast im eigenen Lande ist.

III.

Es sei noch eine kurze abschliessende Betrachtung ganz anderer Art erlaubt. Die Bedeutung der hebräischen Rechtsgemeinde ist nicht vollständig dargestellt, wenn diese Betrachtung unterbleibt. Nichts wirkt so erzieherisch wie die Pflege des Rechtes, und wenigstens mir erscheint es als ein tiefes Gebrechen der Gegenwart, dass diese Pflege des Rechtes so stark der Beachtung durch die Öffentlichkeit entzogen ist; nichts erschiene mir eine edlere Aufgabe der Zeitungen als die, der Berichterstattung über die Pflege des Rechtes und die grossen Fragen des Rechtes in einem ernsten und hohen Sinne Raum und Kraft zu schenken. Man kann sich der Gedanken des Rechtes entwöhnen. Dann sinkt das Recht herab zu einem Werkzeug der Nützlichkeit. Wehe dem Volk, wo das geschieht! Man kann sich auch den Gedanken und Fragen des Rechtes mit stets heller Aufmerksamkeit erschlossen halten. Dann wird das Recht zu einem anvertrauten Gut der Gewissen und der öffentlichen Meinung, das aufbauend und volkserhaltend wie kaum ein anderes wirkt. Und hier liegt das Grösste, was die hebräische Rechtsgemeinde für das Volk und den Geist des Alten Testamentes bedeutet hat.

Der Hebräer denkt in den Formen des Rechtes. Sein Ideal ist der Gerechte. Das heisst zunächst der, welcher, einer Schuld bezichtigt, imstande ist, seine Schuldlosigkeit zu erweisen. Dann heisst es der, welcher allen Ansprüchen des Gemeinschaftslebens billig entspricht. Dann heisst es der, welcher den Forderungen Gottes selber Gehorsam leistet. Der Gerechte ist der Fromme. Frömmigkeit ist beim Hebräer keine Sache des Gefühles oder der unanstössigen Formen, sie ist eine Sache der sittlichen Bewährung vor den Augen des höchsten Richters. Denn Gott selber ist der Gott der Gerechtigkeit. Schön, gütig, freundlich und freudespendend mögen die Götter Griechenlands und anderer Länder sein, der Gott des Alten Testamentes ist gerecht. Die hebräische Rechtsgemeinde hat für Israel, sie hat für die Menschheit das geleistet, dass sie Israel begabte, die Offenbarung zu vernehmen, dass Gott ein Gott des Friedens, der Gemeinschaft, der Gerechtigkeit ist, welcher Gehorsam und andauernde Bewährung

in einem Verhalten fordert, das eigenes Wollen und Wünschen mit den Anliegen und Anrechten des andern ausgleicht. Da wir alle für die Gerechtigkeit geboren, da es nichts Stolzeres für den Menschen gibt, als nur sein Recht zu wollen und keines andern Recht zu mindern, da alles Leben kleinster und grösster Gruppen von der Familie an bis zur Völkergemeinschaft hin auf keiner andern Grundlage beruhen kann als auf dieser des Rechtes, hat die hebräische Rechtsgemeinde eine Bedeutung, die über die kulturgeschichtliche hinausgeht, eine Bedeutung, die uns alle anlangt.

Dem Theologen läge es nahe, hier weiterzufahren und darauf hinzuweisen, wie nach der Mitteilung des Neuen Testamentes gerade diese letzte Forderung, dass wir fromm, das heisst gerecht seien vor Gott, jenseits unseres Könnens und Vermögens liegt, so dass wir alle aus Gnaden leben müssen. Sei es darüber mit diesem blossen Hinweis genug. Aber noch ein Wort des Neuen Testamentes sei genannt, ein Wort, dessen Grösse sich keiner entziehen kann. Jesus sagt einmal: "Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden."

reden.arpa-docs.ch
Rektorats Reden © Prof. Schwinges
Vol
Rate