DAS
LALLWORT IN DER
SPRACHSCHOPFUNG
REDE
GEHALTEN AM 15. NOVEMBER 1932 ZUR
FEIERLICHEN ERÖFFNUNG DES STUDIENJAHRES VON
WILHELM OEHL
REKTOR DER UNIVERSITÄT
ST. PAULUSDRUCKEREI / FREIBURG, SCHWEIZ 1933
Die Frage nach dem Ursprung der Sprache ist uralt. Schon
der biblische Schöpfungsbericht und die Erklärung der Sprachenverwirrung
durch den Turmbau von Babel befassen sich mit
diesem Problem, und Plato hat es wissenschaftlich zu lösen
versucht. In den letzten Jahrhunderten haben viele Philosophen,
Sprachforscher und Kulturhistoriker vergebliche Mühe auf das
alte Rätsel verwendet, wie, wann und wo die menschliche
Sprache entstanden sei. Keine der aufgestellten Theorien fand
allgemeinen Beifall, und der höchstentwickelte Zweig der Sprachwissenschaft,
die Indogermanistik, hat in den letzten Jahrzehnten
des XIX. Jahrhunderts und im Beginn dieses Jahrhunderts
das sogenannte «glottogonische Problem», eben die
Frage nach dem Ursprung der Sprache, bewußt und absichtlich
ganz beiseite geschoben als fruchtlose Spekulation.
Seit etwa zwanzig Jahren ist allerdings auch hier eine
Änderung eingetreten. Das glottogonische Problem ist sozusagen
wieder modern geworden. Und so ist es nichts Abseitsliegendes
und Unzeitgemäßes, wenn ich ein besonderes Kapitel
des glottogonischen Problems behandle, nämlich das Lallwort in
der Sprachschöpfung.
Die Frage nach der Sprachschöpfung ist zugleich die Frage
nach der Wortschöpfung: wie entstanden die Wörter, die lautlichen
Träger der Gefühle und Begriffe? — Ihrem Ursprunge
nach sind alle Wörter aller Sprachen entweder Schallwörter
oder Lallwörter oder Bildwörter. Das Schallwort, auch als
Lautmalerei oder Onomatopöie bezeichnet, ist eine Nachahmung
menschlicher, tierischer oder mechanischer Schälle durch die
menschlichen Sprechwerkzeuge. Eine unermeßliche Zahl von
Wörtern sind so entstanden, insbesondere zahllose Tiernamen
von Säugetieren, Vögeln und Lurchen. Wörter wie Kuckuck
und Uhu sind gleichsam nur das Echo des Tierlautes, soweit
ihn der Mensch nachzubilden vermochte. Das Wesen des Schallwortes
ist längst bekannt. Dagegen ist die Bezeichnung «Bildwort»
eine Neuerung, die ich seit 1922 in einigen Arbeiten
einzubürgern versuchte für eine bisher nur unklar erkannte Art
Wortschöpfung. Das Schallwort ist die lautliche Nachahmung
von Akustischem, dagegen das Bildwort ist die lautliche
Nachahmung von Optischem, das zwar sichtbar, aber nicht
hörbar ist. In meinem eben erscheinenden Buche «Fangen-Fingerfünf»
habe ich ein großes Gebiet von Bildwortschöpfungen in
allen Sprachen untersucht.
Dem Schallwort nahe verwandt ist die dritte Gattung,
das Lallwort. Unter Lallwörtern versteht die Sprachwissenschaft
solche Wörter, die entstanden sind in Nachahmung des
Lallens der Kinder in den ersten Lebensjahren. Diese Art Wortschöpfung
ist schon von den antiken Grammatikern erkannt
worden, und seit einigen Jahrzehnten besitzen wir eine ganze
Literatur über die verschiedenen Stufen der geistigen und sprachlichen
Entwicklung des Kindes. In der Hauptsache handelt es
sich beim Lallwort um zwei Fälle. Erstens bringt das kleine
Kind aus eigenem Antrieb unbewußt oder bewußt Laute, Silben
und Silbengruppen hervor, die an und für sich durchaus keinen
bestimmten Sinn haben, in die aber von den Erwachsenen, also
zunächst von Mutter und Vater, ein passend scheinender Sinn
hineingelegt wird. Hieher gehören vor allem die Lallsilben
mama und papa, denen die Eltern ganz willkürlich die Bedeutung
'Mutter, Vater', bzw. umgekehrt, beilegen. (In vielen Sprachen
heißt mama 'Vater' und papa 'Mutter'.) Diese Gruppe Lallwörter
ist den Schallwörtern nahe verwandt, nur mit dem
wichtigen Unterschied, daß die Nachahmung eines Tierlautes
nur eine einzige Bedeutung hat, eben den Namen dieses Tieres,
z. B. Kuckuck, daß aber die Nachahmung der kindlichen Lallsilbe
mehrere verschiedene Bedeutungen erhalten kann, wie wir
noch sehen werden.
Die zweite Gruppe Lallwörter steht eine Stufe höher: Das
langsam zur Vernunft erwachende Kind schöpft selbst absichtsvoll
Laut und Sinn neuer Wörter, die dann in die allgemeine
Sprache der Erwachsenen übergehen können.
Die Lautgestalt der Lallwörter, auch schon der ersten
Gruppe, ist sehr mannigfaltig. Die einfachsten Formen, sehr
gerne mit Doppelung der Silbe, sind folgende: mama, papa;
nana, tata; nana, kaka, yaya, lala; sasa. Daneben finden
sich viele vokalische und konsonantische Varianten wie fafa,
wawa, mimi, pepe, nunu, usw. (Von den komplizierten
Mischtypen in Distanzstellung und Kontaktstellung wird später
die Rede sein.) Dieses phonetische Rohmaterial dient in allen
Sprachen der ganzen Menschheit dazu, die nächste Umgebung
und die primitivsten Lebenstätigkeiten des Kindes zu bezeichnen:
Mutter, Vater, Großmutter, Großvater, Tante, Onkel, usw.;
Mutterbrust, säugen, Milch, usw.; trinken, essen, Mund, usw.
Näheres über diese Bedeutungsschöpfung werden wir gleich
kennen lernen.
All dies Gesagte ist im Großen und Ganzen längst bekannt,
zum Teil schon seit den antiken Grammatikern Festus und
Varro. Seit fast zweihundert Jahren haben viele Sprachforscher,
Kulturhistoriker und Philosophen sich mit den so offenkundigen
Tatsachen der Lallwortschöpfung beschäftigt — aber über die
elementarsten Anfänge ist merkwürdigerweise niemand hinausgekommen.
Und doch sind von hier aus ganz schwerwiegende
sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, wie wir im
Folgenden sehen werden. La Condamine (1745), der «Mithridates»
von Adelung-Vater, Buschmann, Wackernagel, Diez,
Lubbock, Curr, von der Gabelentz, Tappolet, Körting, Kretschmer,
Gatschet, Curti, Gießwein, W. Schulze, Wundt, Trombetti,
Meyer-Lübke, Jespersen, Schrader-Nehring, Walde-Pokorny und
viele andere, die sich mehr oder weniger eingehend und verdienstlich
mit dem Lallwort befaßt haben, erkannten die Bedeutungsverzweigung
dieser Wortschöpfung nur teilweise, ihren feineren
Typusbau so gut wie gar nicht.
Wir wollen nun sehen, welche neuen und aufschlußreichen
Ergebnisse sowohl für die allgemeine Linguistik wie für die
Indogermanistik im besonderen das tiefere Eindringen in die
Lallwortschöpfung zu Tage fördert.
Das Lallwort ist in allen Sprachen seiner Natur nach weniger
fest als die anderen Wortgattungen. Es zeigt vielfach merkwürdige
Schwankungen und Verschiebungen sowohl in seinem
Lautkörper wie in seinem Bedeutungsinhalt. Da gibt es zunächst
Vokalschwankungen bei gleicher Bedeutung: gr. und
Oheim, und Tante, lit. mama, momà und
meme Mutter, rumän. mama und murna Mutter, ital. bambino
und bimbo Kindchen, mhd. bäbe und böbe alte Frau. Häufig
ist Wechsel des Vokals mit gleichzeitigem Wechsel von zwei
oder drei korrelativen Bedeutungen: Sudan, Mbugu 'ka'ka Großvater,
'koko Großmutter, Ibo nam Vater, nem Mutter, Maba
mun Vater, min Mutter; finn. ukko Großvater, Greis, akka
Greisin; Mandschu ama Vater, eme Mutter, amu Tante, khakha
Mann, khekhe Frau; japan.-dial. (Liu-Kiu) pupu Großvater,
papa Großmutter; siames. pö Vater, pu Großvater; melanes.,
Lifu kaka Vater, kuku Kind; Papua, Kai gwa jüngerer Bruder,
gwo jüngere Schwester; neuindisch-dial. didi Mutter, dädä Vater
und anderwärts didi Schwester, dädä Bruder, usw. Die Beweglichkeit
des Lallwort-Vokalismus zeigt sich schön in Fällen wie
der spanischen Reihe: nana Wiegenlied, nana Hausfrau, nene
Kindchen, niño Kind, nunnia Ammenliedchen, ñañaros Puppenspiel.
Seltener ist Wechsel des Konsonanten: Sudan,
A-Bangba yima Vater, yimma Mutter; tibeto-birm., Lisu aba
Vater, apa Großvater; gr. und Vater.
Drittens findet sich Akzentwechsel verbunden mit Bedeutungswechsel:
hamit., Afar und Saho Großvater,
Großmutter, Somali inán Tochter, Mädchen, inan Sohn, Knabe,
Afar bálla Schwiegervater, Schwiegersohn, ballá Schwiegermutter,
Schwiegertocher; Mexiko, Kora timunà Schwiegersohn, timûni
Schwiegertochter, timúni Schwiegervater; russ. babá Großvater,
bába Großmutter, span. máma Mutterbrust, mamá Mutter, Mama.
In diesen mannigfachen Form- und Bedeutungsentfaltungen
— die wir später noch genauer betrachten wollen — findet sich
das Lallwort in allen lebenden Sprachen und ebenso in allen
toten Sprachen seit etwa 5000 Jahren. Oft kann man deutlich
mehrere Schichten älterer und jüngerer Lallwörter unterscheiden.
So sind chines. mu3 'Mutter' und fu4 'Vater' alte tibeto-chinesische
Erbwörter (= siames. mö M., pö V.), und daneben stehen
als jüngere Neuschöpfungen ma1-ma1 'Mutter' und pa4-pa4
'Vater'. Neben dem indogermanischen Erbwort sanskr. pitár-Vater'
trat schon im Altindischen die Neuschöpfung bappa
dafür auf, und in den meisten neuindischen Dialekten gelten
jetzt junge Formen wie äppä äbä, äbbä, baba, bäbbä, bhäbä,
bhäbhä, bäwä, babu, bau, bä, bhä, buba, buä für 'Vater, Papa'.
Ähnlich erhielt sanskr. matár- 'Mutter' jüngere Konkurrenten
in mä M. und nana M. Das Slavische verlor das indogermanische
Erbwort 'Vater' gänzlich und ersetzte es durch das neue Lallwort
altslav. otici, russ. otec, etc. ; aber neben dieser gemeinslavischen
Neuschöpfung sind schon wieder jüngere Neuerungen
aufgetreten wie kroat.-serb. japa, russ. bat'a. Im Griechischen
erscheinen neben dem Erbwort 'Mutter' die Neubildungen
und ähnlich im Neugriechischen
neben altem M. das neue Lallwort M. In den
romanischen Sprachen sind die Erbwörter pater und mater teilweise
verdrängt durch Neubildungen wie franz. papa maman,
ital. babbo V., sizil. nunnu V., nunna M. Im Keltischen sind die
beiden indogerm. Erbwörter zwar im altirischen athir, mäthir
'pater, mater' lebendig geblieben, bis ins Neuirische, aber im
Britannischen ausgestorben und durch ganz neue Formen ersetzt
worden: kymr. tad V., mam M. Ähnlich sind die beiden alten
Erbwörter im Germanischen im allgemeinen bis heute fest geblieben,
aber im Gotischen durch atta V. (nur noch ein einziges
Mal ist fadar belegt) und aithei M. verdrängt. Im Altnordischen
erscheint neben módher M. das neue móna M., im Mittelhochdeutschen
neben muoter die neuen Formen amme und eide. Das
deutsche Vater steht trotz seines mehr als viertausendjährigen
Gebrauches in voller Kraft und Geltung, ungeschwächt durch
die Konkurrenz von Pappa, Papá, Tate, Ätti u. dgl., die allerdings
mundartlich stellenweise überwuchern. Und so können
wir in wohl allen Sprachen den Kampf ums Dasein zwischen
älteren und jüngeren und jüngsten Lallwortschöpfungen tausendfältig
beobachten, nicht nur bei den Bedeutungen 'Vater,
Mutter', sondern bei allen im folgenden behandelten Bedeutungen.
Wir können diesen Vorgang teilweise seit 5000 Jahren beobachten.
Schon die ältesten, uns durch schriftliche Überlieferung
bekannten Sprachen, das Sumerische und Altbabylonische, seit
etwa 3000 vor Christus, kennen das Lallwort in typischer Form
und Bedeutung: sumer. adda, ab, abba, bab, pap 'Vater', abu
'Vater, Großvater', ama 'Mutter'; altbabylon. und gemeinsemitisch
abu V., ummu M. Auch in anderen Keilschrift-Sprachen
findet sich das Lallwort: süd-elamisch atta V., amma M.; charrisch
atta V. Es kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, daß
das Lallwort in allen Sprachen der Menschheit ebenso alt ist
wie in jenen beiden keilschriftlichen Literaturen. Ja, wir dürfen
noch viel weiter zurückgehen und den zweifellosen Schluß ziehen,
daß das Lallwort, die naivste, natürlichste und ursprünglichste
Wortschöpfung des Menschen, der Sprache seit ihrem ersten Anfange
wesentlich zu eigen ist. Dieser Schluß wird bekräftigt durch
die Tatsache, daß auch die Sprachen der Zwergvölker, der altertümlichsten
unter allen Menschenrassen und Kulturstufen, das
Lallwort besitzen, und zwar notabene jene Pygmäensprachen,
die nicht von benachbarten Fremdvölkern entlehnt sind, wie bei
den Negrillen und Negritos, sondern die autochthones Erbgut
sind, nämlich das Buschmännische und Andamanesische. Natürlich
darf man z. B. andamanes. in 'Mutter' nicht als vieltausendjähriges
Erbwort aus dem Uranfange betrachten, sondern dieses
Lallwort ist wie alle seinesgleichen eine relativ junge, vielleicht
sehr junge Neuschöpfung, — aber es zeigt, daß diese Art Wortschöpfung
auch dem Andamanesischen, einer völlig isolierten
und sehr eigenartigen Pygmäensprache, völlig geläufig ist. Auch
im Tasmanischen, einer höchst altertümlichen, isolierten Sprache,
findet sich diese Lallwortschöpfung : noonalmeena Vater, mumlamäna
ds., tattana Mutter, neenambee Großmutter.
Das Lallwort ist also, wie man längst erkannt hat, ein Idealfall
der Elementarparallele, d. h. jenes ethnologischen
Grundgesetzes, daß die gleiche körperliche und geistige Beschaffenheit
der Menschennatur immer und überall gleiche oder ähnliche
sprachliche und sonstige ethnologische Erscheinungen wieder neu
hervorbringen kann. Die Wörter «Vater, Mutter» sind fast stets
Lallwörter. Ausnahmen sind äußerst selten. So ist neugriech.-dial.
(Unteritalien) curi 'Vater' aus gr. 'Herr' entstanden,
und derselbe Bedeutungswandel liegt vor in engl. sire 'Herr,
(poetisch:) Vater', das über altfranz. sire auf lat. senior(em)
zurückgeht. — Aus dem elementarparallelen Charakter der Lallwörter
'Vater, Mutter' ergibt sich, daß sie nur mit kritischester
Vorsicht als Beweis für die historische Verwandtschaft von
Sprachen herangezogen werden dürfen, — wogegen allerdings in
alter wie in neuer Zeit sehr oft gesündigt wurde, von Dilettanten
und von namhaften Gelehrten. Wie oft hat man da z. B. chinesische
und amerikanische oder afrikanische und australische
Wörter für 'Vater, Mutter' miteinander als historisch verwandt
verglichen!
Noch mehr als die vorerwähnten Schwankungen im Vokalismus,
Konsonantismus und Akzent sind für das Lallwort sehr
merkwürdige Bedeutungsschwankungen charakteristisch.
Die Mehrdeutigkeit, ja Vieldeutigkeit des Lallwortes hält
sich zunächst naturgemäß in der einfachen Begriffswelt der
Kinderstube. Sekundär aber greifen die hier geschaffenen und
fest gewordenen Bedeutungen sehr oft über dieses Gebiet hinaus
in andere Regionen der Menschheit, der Natur und sogar der
Ãœbernatur. Betrachten wir einmal folgende Beispiele, an denen
der Lallwort-Charakter meistens ohne weiteres offenbar ist.
Im Ugro-Finnischen ist syriän. batj 'Vater' gleich ostjak.
padja 'älterer Bruder der Frau' und magyar. bátya 'älterer
Bruder'. In der türkischen Sprachengruppe bedeutet aba auf
koibalisch und sojotisch 'Vater', auf karagassisch 'Mutter',
auf katschinzisch 'Bruder, Oheim'. Im Mandschuischen bedeutet
dzui 'Kind, Sohn, Tochter, Jüngling, Mädchen, Neffe' und im
Chinesischen nà i 'Mutter, Milch, Zitze, Gattin, Dame'. Australisch
(Curr, Nr. 62) ngummie ist 'Mutter, Mutterbrust, Milch'.
Choktaw-Indianisch ibis bedeutet 'nipple, teat, hill, swell'. Im
Slavischen ist kleinruss. bát'o 'Vater', kroat.-serb. báto 'Kosewort
für Vater und Bruder', alttschech. bát'a 'Bruder, Verwandter,
Genosse'. Das Urslavische *lel'a bezeichnet auf russisch
'Kinderspielzeug, Kinderhemd, Pate', auf kleinrussisch
'Väterchen', bulgar. 'Tante' und sloven. 'Puppe'. Das ähnliche
urslav. * laloka bedeutet russ.-kirchenslav. 'weicher Gaumen',
russ. 'Zahnfleisch, Kinnbacken', sloven. 'Halswamme,
(Plur.) Mund, Maul', tschech. 'Schlund, Hals, Wamme'. Russ.
koka ist 'Spielzeug, Naschwerk, Hühnerei, Paradehemd, Patin'.
Das gemeinindogermanische Wort Mutter, lat. mater usw., hat
im litauischen mote die Bedeutung 'Weib, Ehefrau' und im
albanesischen motr auffallenderweise die Bedeutung 'Schwester'.
Griech. ist 'kleines Kind, Puppe, Zwerg, Käsekuchen',
latein. mamma 'Mutter, Mutterbrust' und pappa 'Vater,
Speise'. Das Lallwort nonno bedeutet in den verschiedenen
romanischen Sprachen 'Vater, Großvater, Schwiegervater, Alter,
Ehrentitel, Mönch, Geistlicher, Pate', nebst den zugehörigen
Femininen. Engl. pap ist 'Brust, Brustwarze, runder Hügel,
Kindsbrei, mit Brei füttern, Mehlkleister'. Diese Reihe von
Beispielen ließe sich ins Endlose verlängern.
Wenn wir diese seltsame Vieldeutigkeit des Lallwortes näher
in allen Sprachen untersuchen, so finden wir gewisse Bedeutungsgruppen,
die in großer Häufigkeit überall wiederkehren. Da ist
zunächst die Doppelseitigkeit des Lallwortes zu beobachten.
Für das Altindische stellte W. Schulze 1 fest: «Im Verkehr der
Eltern mit ihren Kindern, der Großeltern mit den Enkeln sind
täta! und amma! doppelseitiger Verwendung fähig. So reden
Vater und Sohn einander mit täta an, Großmutter und Enkelin
mit amma.» Ebenso bezeichnet in neuindischen Dialekten baba,
babu, bä sowohl den Vater als den Sohn. Derselbe Sachverhalt
findet sich im Neuarabischen. Nach E. Littmann 2 «redet heutzutage
die arabische Mutter das Kind beiderlei Geschlechts geradeso
an, wie dieses sie anredet: jama, jamma usw., der Vater entsprechend
jaba, jabo». Abermals dieselbe Doppelseitigkeit der
Verwandtschaftsnamen führt Tappolet 3 aus dem italienischen
Dialekt der Abruzzen an. «Dort sagt der Vater zum Sohn oder
zur Tochter tatasé, die Mutter entsprechend mammase'; dieser
Gebrauch wird sodann weiter ausgedehnt; so sagt die Schwester
zum Bruder oder zur Schwester sorasé, die Großmutter zum
Enkel nonnasé, die Tante zum Neffen tsiyasé.» Daran schließt
Tappolet folgende, etwas umständliche Erklärung Meyer-Lübkes:
«Das Kind redet seine Mutter mit mammasé an; diese antwortet,
das Wort des Kindes wiederholend, mammase', ohne damit besagen
zu wollen, was in figliuol mio liegt: das zweite mammasé ist
nur ein Echo des ersten. Es muß dann aber eine Zeit gekommen
sein, wo sich das Bewußtsein von dem Wesen dieses zweiten
mammasé völlig verloren hat, das Wort als Antwort auf einen
Ruf des Kindes gilt und nun allerdings die Bedeutung von
figliuol mio annimmt.» Wieder Ähnliches findet sich im südamerikanischen
Spanischen. Endlich führt Schoof aus dem
Siebenbürger Deutschen an: «Pápa, Pápachen 'kleines Kind'.
Der Vater gibt scherzend die Bezeichnung an das Kind zurück.»
Und so finden wir diese Doppelseitigkeit vielfach in Sprachen
aller Weltteile: Sindhi abo father, child, ama mother, daughter.
Japan.-dial. jaja Mutter, kleines Kind. Ainu karuku Onkel,
Neffe. Südsee: Mafoor pu Großvater, Enkel, Motu tupui ds.,
Jabim dibü ds., Bilibili tibun Großeltern, Enkel, ses ds.; austral.
55 kunninie grandmother, grandchild; Mittelamerika, Pokontschi
mam Großvater, Enkel; Tepeguana kumuli Onkel, Neffe; Mixe
tata Großmutter, Enkel(in). Auch Vokalwechsel bei doppelseitiger
Bedeutung findet sich: Mandschu adza Mutter, adzi
Sohn; Amerika, Sipibo kuku Neffe, kuka Onkel.
Sobald das kleine Kind begriffen hat, daß es mit seinen
Lallsilben die Aufmerksamkeit der Erwachsenen erwecken kann
und daß diese sein baba, mama etc. auf sich beziehen, verwendet
es in fortschreitender Erkenntnis und unter Mithilfe der Eltern
das eine Wort für den Vater, aber auch für andere Männer seiner
Umgebung, für Großvater und Oheim und andere, und das
andere Wort für die Mutter, aber auch für andere Frauen seiner
Umgebung, für Großmutter und Tante und andere. Die spielende
Willkür des Kindes und seiner Eltern und großen Geschwister
geht noch weiter und bezeichnet oft mit einem und demselben
Lallwort sowohl Vater und Mutter, oder Großvater und Großmutter,
oder Onkel und Tante, oder Bruder und Schwester,
diese beiden letzten in vielen Sprachen auch mit der Sonderbedeutung
'jüngerer Bruder', 'älterer Bruder', usw. Hiemit ist
schon ein beträchtlicher Spielraum des Wortschatzes vorhanden,
der sich durch sonstige Ãœbertragungen immer mehr erweitert.
Und so können wir in allen Sprachstämmen folgende Bedeutungsgruppen
von zwei, sehr oft auch drei, sogar vier korrelativen
Verwandtschaftsnamen feststellen; ein und dasselbe Wort
bedeutet:
Vater, Mutter Großvater, Großmutter
Vater, Großvater Mutter, Großmutter Großvater, Enkel
Vater, Oheim Mutter, Tante Großmutter, Enkelin
Vater, Sohn Mutter, Tochter
Sohn, Tochter Onkel, Tante Vater, Bruder
Bruder, Schwester Onkel, Neffe Mutter, Schwester
Enkel, Enkelin Tante, Nichte Enkel, Neffe
Neffe, Nichte
Für jedes dieser Bedeutungspaare habe ich vielfache Belege
gesammelt, und man könnte sie zu Hunderten finden. Diese
Tabellen nennen der leichteren Ãœbersicht halber nur je ein Paar
von Bedeutungen. Aber häufig hat ein solches Verwandtschafts-Lallwort
mehrere 4 irgendwie zusammengehörige Bedeutungen.
Nur ein paar Beispiele: Sudan, Wolof dôm fils, fille, neveu, nièce;
koibalisch aba Vater, Oheim, Bruder; Mandschu dzui Kind,
Sohn, Tochter, Jüngling, Mädchen, Neffe; Ainu karuku Onkel,
Neffe, Vetter; Tepeguana kumuli Oheim, Neffe, Nichte; altind.
atta Mutter, Tante, Schwester, pers. dädä Vater, Oheim,
Bruder, mittelhochdtsch. neve Neffe, Mutterbruder, Vetter, Verwandter
überhaupt = angelsächs. nefa Neffe, Enkel.
Auch auf das Stief-, Schwieger- und Schwagerverhältnis
wird das Lallwort sehr oft übertragen, während es doch
ursprünglich die Blutsverwandtschaft bezeichnet: Mandschu guze
Tante, Schwägerin; Tamil attei Mutter, Tante, Schwiegermutter;
Südamerika, Sipibo naci Tante, Schwiegermutter; schweizerisch
(Bern) ätti bedeutet außer 'Vater' auch 'Vetter, Schwiegervater'.
Die übertragene Bedeutung allein findet sich oft in
Fällen wie Jenissei-ostjak. oppas 'Stiefvater', ammas 'Stiefmutter',
oder assyr. emu 'Schwiegervater', wo der Lau-Typus
offenbar ist. Die oberwähnte Doppelseitigkeit findet sich auch
hier häufig: Afrika, Masai ol]aputani Schwiegervater, -sohn,
en]gaputani Schwiegermutter, Schwiegertochter; Afar bálla Schwiegervater,
-sohn, ballá Schwiegermutter, -tochter; arab. hatanu
Schwiegervater = assyr. hatanu Schwiegersohn; Papua, Kai
kimong Schwiegervater, -sohn; Amerika, Sipibo rayos Schwiegervater,
-mutter, -sohn (als Anrede); Terraba kak Schwager,
Schwägerin; Bribri dzak Schwiegermutter, -tochter; Ischil
Schwiegervater, -sohn; Maya-Peten mu Schwager, Schwägerin.
Sehr natürlich ist der Bedeutungsübergang' Mutter —Amme,
Pflegemutter, Erzieherin': Sudan, Wolof yäy Mutter, yaya Amme;
indones., altjavan. babu Mutter, Pflegemutter, Malgache ineny
Mutter, Amme; gr. Mutter, Ehrenanrede an alte Frauen,
Amme, Hebamme, span. nanci Mutter, (Mexiko:) Mutter, Amme,
althochdtsch. amma Mutter, insofern sie das Kind nährt, Amme.
Auch die Bedeutung 'Amme' allein findet sich öfters bei Lallwörtern:
Sudan, Bari aban Hebamme; magyar. bába ds., dajka
Amme, osman. ebe Hebamme; gr. Amme, Pflegerin,
albanes. ebe Hebamme (<osman.), ital. mammana ds., venezian.
nena Amme, span. arna ds., aya Kinderfrau, Hofmeisterin, altir.
muimme Pflegemutter, poln. mamka Amme, holl. min Amme.
Hier schließt sich die Bedeutung 'Erzieher, Hofmeister' an wie
im folgenden: osman. (pers.) lala Diener, Majordomus, Hofmeister,
neugr. Großvater, Gouverneur, Erzieher, span. aya Kinderfrau,
ayo Hofmeister, span. u. portug. arna Amme, Wärterin,
Haushälterin, Hausfrau, arno Hofmeister, Oberknecht, Hausherr.
Alle bisher behandelten Bedeutungsgruppen betreffen die
Familie im engeren und weiteren Sinne, also lauter Personen, die
zum Kinde in irgendeinem Verwandtschafts- oder Pflegeverhältnisse
stehen. Die ganze Lallwortschöpfung geht ja von dem
Mittelpunkte 'Kind' aus. Aber die Spannkraft der Bedeutungsverschiebung
geht auch weit über den Familienkreis hinaus, und
die Lallwörter dienen auch zur Bezeichnung von Menschen überhaupt.
Das Wort für 'Vater', für 'Mutter' übernimmt auch
die neue Bedeutung 'Gatte, Ehemann', bzw. 'Gattin,
Ehefrau' und endlich weiterhin, ohne jede Beziehung auf Ehe
und Familie, die Bedeutung 'Mann überhaupt', bzw. 'Frau
überhaupt'. Das gotische aba 'Ehemann' zeigt uns diese
Entwicklung schön: es ist der Lautform nach ein offenbares
Lallwort und ist identisch mit dem altnordischen afe 'Großvater,
Mann', hat aber die ursprünglichste Bedeutung 'Vater, Großvater'
schon verloren. Das Wort zeigt also zwei verschiedene
Entwicklungsstufen der Bedeutung, im Altnordischen die primäre
ältere, im Gotischen die sekundäre jüngere. Dieser Vorgang ist
in allen Sprachen unendlich oft zu beobachten: das Nebeneinander
und Nacheinander von primären, sekundären, tertiären Bedeutungen.
Zahllose Male finden wir Lallwörter, Schallwörter und
Bildwörter, die diesen ihren lautlichen Charakter unverkennbar
zeigen, aber die dazugehörige Primärbedeutung verloren haben
und nur mehr eine Sekundärbedeutung besitzen. Ich habe diese
Fälle als «ehemalige Lallwörter, Schallwörter, usw.» bezeichnet.
Es ist ganz selbstverständlich, daß man in solchen
Fällen die verlorene Primärbedeutung rekonstruieren kann. Auch
wenn das altnord. afe 'Großvater' nicht erhalten wäre, hätten
wir für das got. aba 'Ehemann' nach Analogie zahlloser ähnlicher
Fälle die verlorene Lallwort-Urbedeutung 'Vater' zu rekonstruieren,
— und ebenso bei folgenden Elementarparallelen
Afrika, Kunama aba Mann, Mensch, Lele und Kasima ba Mann,
Mensch, Person, Momvu äffu Mann, Bonny apo Mann, Mensch;
Südamerika, Carajas abu Mann, Tupi abd Mann, Mensch. Dieses
Prinzip der «Rekonstruktion ehemaliger Lallwörter,
Schallwörter und Bildwörter», wie ich es nennen möchte,
ist von unabsehbarer heuristischer Tragweite für die Bedeutungslehre.
— Andere Beispiele für den Übergang 'Vater — Gatte,
Ehemann — Mann überhaupt' : Barea aben Vater, abda Gatte,
Mann; syriän. ai Vater, Mann; Mandschu ama Vater, Hausvater,
Hausherr; chines. fú Vater, fû Gatte, Mann; Eskimo anut father,
man; Tupi paî Anrede an den Vater, den Hausherrn; deutschdial.
(Gottschee) ate Vater, Hausvater, (estländ.) pappchen Vater,
Ehemann. Und entsprechend 'Mutter — Gattin, Frau — Frau
überhaupt': Afrika, Kunama eninga Mutter, Frau, Bari yanggo
ds., Tegele inna ds., Agau yuna Mutter, Weib, nubisch en Mutter,
Frau, Barea anen ds., Kulfan ildo Mutter, Gattin, Weib; mordwin.
ava Mutter, Weib; Mandschu eniye Mutter, Hausfrau; japan.-dial.
(Liu-Kiu) ama Mutter, Gattin; Sakei-Semang ma, me Mutter,
Tante, Weib; Amerika, Baniva ina Mutter, Gattin, Yarura aini
Mutter, am Weib; idg. * mater 'Mutter' wurde zu lit, mote
'Ehefrau', moterà 'Frauenzimmer, Weib'; deutsch-dial. (Gottschee)
amà Mutter, Hausfrau.
Von hier aus eröffnen sich allerlei Ausblicke. Ein «ehemaliges
Lallwort» 'Weib' <* 'Mutter' mit Typus pa, ap, papa findet
sich weithin über die ganze Erde: Afrika, Assanti oba, Abron
eba, Kassele ope, Somali afo; tibet., Wassu api alte Frau;
andaman., Bodschigjab äböb; austroasiat., Sakei-Semang bobo;
austrones., Dayak bawi, Malegasy vavi, Negrito Palauan babbi,
Pampango babai, Batta abu, Mahaga und Vunmarama vaivine,
Admiralitätsinseln bibi, Lifu fo, Duauru vio; Papua, Kiwai und
Mowat upi, Saibai und Kauralaig ipi, Rua bia, Austral., Ostsüdwest-Kulin
baibango; Amerika, Kamé fu, Yarura ibi, Taino
bibi, Tepeguana ubi, Tarahumara upi, Pima uif u. uba, Uta
oubea, Dakota wi, Narragansets wiwo, Piankaschau wiwah, Delaware
wiwall Mohikan wiwon; neuindisch-dial. bai; usw. Aus
dieser Elementarparallele ist vermutlich das bisher noch nicht
gedeutete german. *wiba-, dtsch. Weib zu erklären, das ohne
indogermanische Verwandtschaft dasteht.
Ebenso gibt es ein weitverbreitetes «ehemaliges Lallwort»
'Weib' <* 'Mutter' vom Typus ta, tata: Afrika, Banoho
´"