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FESTREDE DES REKTORS DER UNIVERSITÄT ZÜRICH

PROF. DR.

FRITZ FLEINER

I. FESTAKT Samstag, den 29. April 1933, im Lichthofe der Universität.

Als vor hundert Jahren an diesem Tage und zu dieser Stunde der Amtsbürgermeister des Standes Zürich im Grossmünster dem ersten Rektor unserer Universität, Lorenz Oken, die Stiftungsurkunde überreichte, die auch heute, wie an jedem Dies Academicus, vor uns liegt, da empfing die neue Hochschule ihre ersten Glückwünsche aus dem Munde der Gesandten der in Zürich versammelten Eidgenössischen Tagsatzung und der kantonalen und städtischen Behörden. Lauter Zuruf scholl herüber von den Universitäten und gelehrten Gesellschaften des In- und Auslandes, und am Schluss meldete sich die kleine Schar der ersten immatrikulierten Studierenden, 159 an Zahl. Wir freuen uns der akademischen Tradition, die es uns gestattet, die Vertreter derselben staatlichen und wissenschaftlichen Körperschaften, die der Gründung unserer Universität beiwohnten, zu unserer Jahrhundertfeier in unserm festlichen Hause empfangen zu dürfen. Im Namen des Senats unserer Universität heisse ich alle willkommen: die Vertreter des Schweizerischen Bundesrates und der Bundesbehörden, die zürcherischen Behörden und die Delegierten der kantonalen Regierungen und Mittelschulen, die Freunde und Gönner unserer Universität. Nicht zuletzt aber gilt unser Willkomm den verehrten Kollegen, die von den Universitäten und gelehrten Gesellschaften des In- und Auslandes zu uns geeilt und mit uns durch eine wahrhafte cognatio spiritualis verbunden sind.

Einen herzlichen Gruss richte ich endlich an unsere Kommilitonen, die anwesenden und die, die am heutigen Tag im Geiste das Fest der Alma Mater Turicensis mit uns feiern und unsrer in Treuen gedenken.

Unsere Universität ist eine Schöpfung des zürcherischen Staates und sie hat den Charakter einer reinen Staatsanstalt bis zum heutigen Tag beibehalten. Der erste Rektor, wie seine unmittelbaren Amtsnachfolger, wurden von der staatlichen Erziehungsbehörde gewählt. Erst im Jahre 1859 ist die Wahl des Rektors dem Senat übertragen worden. Aber schon das Gesetz, das die Universität ins Leben rief, beeilte sich, die unbeschränkte Lehr- und Lernfreiheit zu gewährleisten und die Fakultäten mit dem Vorschlagsrecht bei Berufungen auszustatten.

Zwei Momente halfen bei der Universitätsgründung wesentlich mit: das glänzende Vorbild der alten Humanisten-Universität Basel (gegründet 1460), die auf einer Verbindung der städtischen wirtschaftlichen Kultur mit der Pflege der Wissenschaft beruhte. Sodann aber gewährte der Augenblick (1833) seine volle Gunst: dieselbe liberale europäische Bewegung, die in Zürich die Universität schuf, ermöglichte die Berufung einer grossen Zahl deutscher Gelehrter, die mit der Politik ihres Vaterlandes zerfallen waren und nun aus ihrer deutschen Heimat die festen Universitätstraditionen nach Zurich brachten.

Die Verbindung von Staatsanstalt und freier Stätte der Wissenschaft hat unserer Universität bis zum heutigen Tag das Gepräge gegeben. Die Wissenschaft folgt ihren eigenen Gesetzen, das verbürgt ihr die akademische Lehrfreiheit. Aber ganz vermag sie sich den Einflüssen von Ort und Zeit nicht zu entziehen. Wie die auf unserm Boden entstandenen Staatslehren (Rousseau, Karl Ludwig von Haller, Vinet) aus der unmittelbaren Anschauung unserer schweizerischen Verhältnisse herausgewachsen sind, so haben umgekehrt nicht wenige der allgemeinen wissenschaftlichen Lehren, die zu uns herüberwanderten, unmerklich von unserm politischen Denken eine Richtung auf das Staatliche empfangen. Es soll in dieser Stunde von dem Einfluss allgemeiner wissenschaftlicher Ideen auf die Errichtung und Entwicklung

unserer Universität und auf das öffentliche Recht unseres Landes die Rede sein.

Historisch knüpfte die Universitätsgründung in Zürich an den grossen Gedanken Zwinglis an, der durch die Stiftung der Gelehrten- und Theologenschule am Grossmünster, dem Carolinum, die reformatorische und politische Vorortsstellung Zürichs durch die Herrschaft der Wissenschaft und höhern Bildung zu befestigen unternahm. Auch nach dieser Richtung hat Zwinglis Geist dem zürcherischen Staatswesen bis zum heutigen Tag sein Gepräge aufgedrückt. Wir haben heute vor der Wasserkirche in Zürich an dem Denkmal Zwinglis, des Gründers der ersten Hohen Schule Zürichs, einen Kranz niedergelegt. Das Carolinum blieb das Zentrum des geistigen Lebens in Zürich bis 1833. Als sich zu Beginn der dreissiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts der Kampf um eine Neugestaltung der Eidgenossenschaft erhob, da vermochte Zürich den alten Anspruch auf die Vorortsstellung und den neuen auf den Sitz einer eidgenössischen Universität —ein Plan, der nicht zur Reife gedieh —nicht besser zu begründen, als durch ein Zurückgreifen auf die Traditionen seines Reformators.

Das neue Element lag im Liberalismus. Er brachte dem Individuum neben der Rechtsgleichheit auf den wichtigsten Lebensgebieten die Freiheit von staatlichem Zwang. Aber sogleich trat die Frage nach den Bindungen, den Schranken dieser individuellen Freiheit, in den Vordergrund. Der Ahnherr der liberalen Theorie und des repräsentativen Systems, Montesquieu, hatte sie schon in seinem Esprit des Lois 1748 bezeichnet: die Rechtsgesetze und die Gesetze der Natur und des Geistes. Alle liberalen schweizerischen Führer waren direkt oder indirekt von Montesquieu abhängig. In erster Linie sollte die Wissenschaft an die Stelle der alten Ordnungen treten. Kein Wort hat der grosse Jurist Friedrich Ludwig von Keller, das Haupt der Jungliberalen in Zürich, häufiger gebraucht, als "Herrschaft der Wissenschaft", und der klassische Philologe Johann Caspar von Orelli, der wagemutigste unter den Universitätsgründern, verband damit sein klassisches Bildungsideal. Von dem Gedanken geleitet, dass

Wissen Macht sei und befreie, hatte das zürcherische Unterrichtsgesetz von 1832 Volksschule und Mittelschule organisiert und über sie als Krönung eine Universität aufgerichtet. "Der Staat sorgt dafür, dass alle seine Bürger nach freier Wahl sich für Wissenschaft und Kunst naturgemäss ausbilden können", heisst es in § 86 des erwähnten Unterrichtsgesetzes. Das Erziehungsideal Pestalozzis, des grössten Lehrers des Volkes, das tief in der Kenntnis der menschlichen Natur verankert ist, sollte zur Wahrheit werden. Daher beriefen Zürichs Staatslenker die führenden geistigen Kräfte der Zeit an ihre Hochschule. An welche wandten sie sich?

In erster Linie an die Historische Rechtsschule und die mit ihr verschwisterte Klassische Philologie, die damals an Deutschlands Universitäten im Zenithe ihres Ruhmes standen. Gegenüber der Vorstellung, es gebe ein unwandelbares, allgemein gültiges Naturrecht, lehrten Savigny und seine Anhänger das Recht als geschichtliches Erzeugnis jedes Volkes, als eine Schöpfung des Volksgeistes kennen, wie Sitte und Sprache, wandelbar wie alle menschliche Kultur. Während aber in Deutschland die Historische Rechtsschule den neu erwachten konservativen Richtungen in Staat und Gesellschaft Vorschub leistete, schmiedete daraus der geniale Zürcher Jurist Keller für Zürich, schon als Lehrer des Politischen Instituts, ein Element des vorwärtsdrängenden Liberalismus. Der Meister der Historischen Rechtsschule, Savigny, hatte seine blendende Lehre an der Entwicklung des Römischen Rechts nachgewiesen und dadurch die praktische Geltung dieses fremden Rechtes in Deutschland gestützt. Friedrich Ludwig von Keller dagegen erklärte kühn, das Zentrum des Rechtsstudiums in Zürich müsse darum im Römischen Recht liegen, weil dieses ein unvergleichliches und durch nichts zu ersetzendes Mittel darstelle für die juristische Begriffsbildung. Auf diese Weise werde sich der zürcherische Staat Richter und Verwaltungsbeamte heranziehen, die die Herrschaft des Rechts, den Rechtsstaat, verwirklichen und in Justiz und Verwaltung das Gesetz unabhängig und gerecht anwenden würden. Die Ideen Kellers schufen daneben freie Bahn für die Erforschung des

heimatlichen zürcherischen, germanischen Rechts. Es braucht nur an Bluntschli, den Verfasser der Zürcherischen Rechtsgeschichte, erinnert zu werden oder an Friedrich von Wyss, Männer, die den Ruhm der Zürcher germanistischen Rechtsschule begründeten. Aber noch nach einer andern Richtung führte Keller die zürcherische Entwicklung über die Anschauungen der deutschen Historischen Rechtsschule hinaus. Während Savigny seiner Zeit den Beruf zur Gesetzgebung absprach, empfing in Zürich schon Keller selbst den Auftrag zur Kodifikation des einheimischen kantonalen Privatrechtes, ein Werk, das erst Bluntschli vollendete (1853) und welches in der Folge dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch seine stärksten Antriebe gab. Wenn wir an unsern schweizerischen Juristenfakultäten bis zum heutigen Tag als die Grundlage des Rechtsstudiums und der Erziehung zum Verständnis des geltenden Rechts die Beschäftigung mit dem Römischen Recht betrachten, so geht dies, neben den Anschauungen, welche von jeher in Basel galten, auf Keller und die Gründung der zürcherischen Universität zurück.

Die zweite geistige Grossmacht, welche der Stand Zürich an seine Hochschule zog, war die Philosophie. Auch hier wirkte eine politische Erwägung mit. Soweit die Staatsgesetzgebung keine Schranken aufrichtete, sollte sie der Einzelne empfangen von den Gesetzen des Geistes. Diese Gesetze und objektiven Ordnungen aufzuweisen, war nach der Auffassung der damaligen Zeit die Aufgabe der idealistischen Philosophie. Wie es der menschlichen Vernunft gelungen war, die Gesetze des Weltalls mit Hilfe der Mathematik zu entdecken, so musste ihr auch die Auffindung der andern Gesetzmässigkeiten des Lebens möglich sein. Die Idee wurde zum leitenden Prinzip erhoben, das die Einheit, das Absolute, begründete. Die Erscheinungen der Geschichte und der Natur waren nur Ausstrahlungen einer hinter ihnen stehenden höhern Idee. Hegel war es gelungen, eine Synthese aller seine Zeit bewegenden Ideen aufzustellen und auf diese Weise auf alle Gebiete des geistigen Lebens einen Einfluss auszuüben. Neben ihm aber beherrschte Schellings Lehre die Naturforschung und die Medizin. Mit der Berufung von Lorenz

Oken erlangte die Scheffingsche Naturphilosophie in Zürich eine feste Stätte. Der wissenschaftliche Ruhm Okens beruhte auf seinen Schriften über Naturphilosophie und seiner Auffassung, dass die Gesetze des Geistes nicht verschieden seien von denen der Natur und dass die Unvollkommenheit der Empirie durch die absoluten Ideen verbessert und ergänzt werden müsste. Erst aus der absoluten Idee heraus könne das Einzelne richtig erkannt werden. Nur dass Oken Schritt für Schritt, zum Teil angeregt durch das grosse Beobachtungsmaterial, das ihm in Zürich Natur und Sammlungen darboten, die empirische Grundlage in ungewöhnlichem Mass verbreiterte und so in seiner vielbändigen Naturgeschichte am Ausklang der Naturphilosophie, aber gleichzeitig am Anfang der reinen naturhistorischen Betrachtung steht.

Nichts veranschaulicht diesen Übergang von der Naturphilosophie zur Naturgeschichte deutlicher als das Beispiel eines anderen grossen Gelehrten, den die Zürcher Regierung aus Deutschland an die neue Hochschule berief, des berühmten Mediziners Schönlein. Auch Schönlein stand in Abhängigkeit von der Naturphilosophie. Aber es zeugt für seine Genialität, dass er Schritt für Schritt diesen Bann zu durchbrechen vermochte. Er machte sich schon in Zürich daran, durch die genaue Beobachtung jedes einzelnen Krankheitsfalles und durch die Heranziehung aller Hilfsmittel, welche Physik, Chemie usf. darboten, die Symptome objektiv festzustellen und den ursächlichen Zusammenhang der einzelnen Elemente des Krankheitsprozesses darzulegen. "Die Natur soll uns Führer sein." Das wurde das Lieblingswort des begeisternden Lehrers.

Schon vor Ablauf des ersten Jahrzehntes seit der Universitätsgründung kam es im Rahmen unserer Universität zu einer Auseinandersetzung zwischen dem historischen Recht und den Ergebnissen der rationalistisch-spekulativen Betrachtung. Zu den stärksten historischen Kräften des schweizerischen Volkslebens gehört die Ursprünglichkeit des religiösen Glaubens. Nicht umsonst liegen von den drei Zentren der Reformation, Wittenberg, Zürich und Genf, zwei in der Schweiz. Die enge Verbindung der

reformierten Landeskirche Zürichs mit dem Staat, die bis heute bestehen geblieben ist, beruht auf religiösen und historischen Momenten, die einen Bestandteil der öffentlichen Ordnung des Landes darstellen. Von der Hegelschen Philosophie geleitet gelangte David Friedrich Strauss in seinem Leben Jesu 1835 bis 1836 zu einer rein intellektualistischen Auffassung der Religion. Auch in der christlichen Religion seien nur die Ideen wahr, so lehrte er, nicht die Hüllen, d. h. die überlieferten Erzählungen. Die Berichte über die Wunder Jesu enthielten keine Geschichte, sondern religiöse Mythen. Die von der Regierung durchgesetzte Berufung von David Friedrich Strauss führte 1839 zum Aufstand des bibeltreuen Landvolkes und zum Sturz der radikalen Regierung. Die junge Universität wurde bis in ihre Grundfesten erschüttert, aber sie überwand den Sturm. Der Zürcher Putsch von 1839 bezeichnet einen Wendepunkt im geistigen Leben der Universität und ihrer Wissenschaften.

Vom Beginn der vierziger Jahre an begannen Hegelsche und Schellingsche Spekulation und Romantik im wissenschaftlichen Leben zu verblassen. Die Herrschaft der absoluten Idee war vorbei. Die Philosophie verlor ihre zentrale Stellung an den Universitäten, und das öffentliche Interesse wandte sich in Zürich von ihr ab. Die geistige Führung war unmerklich auf die Einzelwissenschaften übergegangen. Es hob die Epoche der Empirie an — das Zeitalter der Beobachtung und Prüfung der Erscheinungen durch den forschenden Menschengeist. Die Bindung an eine von vornherein feststehende philosophische Idee war durchbrochen. Der Satz aus Kants Kritik der reinen Vernunft wurde in einem neuen Sinne wahr: "Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel", oder wie es an einer andern Stelle (im Anhang zu den Prolegomena) heisst: "Alle Erkenntnis von Dingen aus blossem reinen Verstand oder reiner Vernunft ist nichts als lauter Schein und nur in der Erfahrung ist Wahrheit". Quellensammlung und Quellenkritik wurden in der Geschichte, mikroskopische Beobachtung in der Naturwissenschaft das oberste Mittel der Forschung. Aber bei der Beobachtung und Feststellung der Tatsachen blieb man

nicht stehen. Der Drang nach einer neuen Gesamtschau meldete sich — der menschliche Grundtrieb, der nach Einheit verlangt. In dem einen Wissensgebiet früher, in dem andern später, trat das Bestreben nach der Erkenntnis der innern Zusammenhänge der Tatsachen und Erscheinungen hervor, und die Überzeugung ging durch alle Forschung hindurch, dass das Einzelne in seinem vollen Licht erst in seinem allgemeinen Verhältnis erscheine. Die Synthese, das Suchen nach festen Begriffen und Gesetzmässigkeiten, die Zusammengehöriges zu einer Einheit zusammenfasst, wurde ein Hauptanliegen der Wissenschaft. Die Führung zogen Naturwissenschaft und Geschichte an sich.

Die Naturwissenschaft suchte die letzten Elemente der Naturwirklichkeit auf und gewann durch ihre Verknüpfung Sätze von allgemeiner Geltung. Kaum brauche ich an die berühmte Heidelberger Festrede von Helmholtz zu erinnern (1862), die die Unterschiede der Gesetzmässigkeiten in den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften aufwies. Wir stehen mitten in dieser grossen wissenschaftlichen Bewegung. Es kommt mir nicht zu, den Anteil unserer Universität an diesen neuen Forschungen zu würdigen. Die von unsern Kollegen Gagliardi, Nabholz und Strobl vorbereitete und vor dem Abschluss stehende Darstellung des Lebens unserer Universität von 1833 bis 1933 wird neue Aufschlüsse erteilen. Nur eines Namens sei gedacht, unseres allzu früh verstorbenen Kollegen Alfred Werner, dessen Arbeiten ihn an die Seite der grossen Systematiker der neuem Chemie stellen; die Verleihung des Nobelpreises 1913 war das äussere Zeugnis des Ruhmes.

Die Begriffe der Entwicklung und der Kausalität eroberten sich Natur- und Geisteswissenschaften. Seit Herder war den historischen Disziplinen die Vorstellung vertraut, dass jedes Ereignis kausal bedingt sei durch ein früheres. Die Historische Rechtsschule in ihrer Anschauung vom allmählichen Werden und der stillen Veränderung des Rechts ist von Herder abhängig. Aber erst die Übernahme des Entwicklungsgedankens durch die Naturwissenschaften und ihre Ausbildung in der Deszendenztheorie Darwins hat den Begriff zu allgemeiner Geltung erhoben.

Die grossen Erfolge des naturwissenschaftlichen Denkens leiteten eine neue Periode des Rationalismus ein, insbesondere bei uns in der Schweiz.

Von dieser rationalistischen Richtung des öffentlichen Geistes ist auch unsere Geschichtsschreibung nicht unberührt geblieben. Dies ist um so bedeutungsvoller, als der Geschichtsschreibung in der Schweiz für die Politik des Landes eine überragende Bedeutung zukommt. Der Historiker Johannes von Müller war der erste, der durch seine Beschreibung der Taten der Vorfahren das Schweizervolk mit nationalem Stolz erfüllte und die Geschichte als seine Lehrmeisterin hinstellte. Seine Ideen haben uns vor einem politischen Weltbürgertum verschont, das unsere Grundlagen hätte auflösen können. In den Kämpfen des 19. Jahrhunderts, die bei uns um Zentralismus und Föderalismus gingen, begann die führende Geschichtsschreibung sich auf ein bestimmtes politisches Ideal, nämlich das einer starken Zentralgewalt, einzustellen. In diesem Rahmen ist die Aufrichtung des Bundesstaates im Jahre 1848 als ein Ereignis naturnotwendiger Entwicklung, des Fortschritts, erschienen.

Die Bundesverfassung von 1848 machte sich das Entwicklungsprinzip zu eigen. Bis zu ihrem Inkrafttreten galt eine Staatsverfassung entweder als unabänderlich oder sie war nur unter ausserordentlichen Verhältnissen revidierbar. Die Bundesverfassung von 1848 schuf die Formen, die jederzeit eine Revision der Bundesverfassung selbst ermöglichen und schrieb den Kantonen die Vorschriften vor, die den Behörden wie dem Volke zu jeder Frist die totale oder partielle Abänderung der Kantonsverfassung gestatten. Der Entwicklungsbegriff hat sich im Rahmen des Verfassungsrechts voll durchgesetzt. Mit Hilfe einer Revision der Kantonsverfassung hat der Kanton Zürich im Jahre 1867/69 die repräsentative Demokratie durch die reine Demokratie ersetzt, die das Schwergewicht in die unmittelbare Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung legt. Von Zürich aus setzten sich die demokratischen Tendenzen in den übrigen Kantonen und dem Bunde durch. Die Zürcher Verfassungsrevision von 1869 wurde von der Mehrheit der Bürger

beschlossen, deren Grundanschauungen auf Rationalismus und Entwicklungsprinzip beruhten. Die neue Generation stand der Geistesrichtung Rousseaus näher, als dem Liberalismus der dreissiger Jahre. Ist das Gesetz der Ausdruck der volonté générale, so muss es auch von der Mehrheit der Bürger selbst und nicht von seinen Repräsentanten beschlossen werden.

Aber so hoch in den politischen Kämpfen um die neue Demokratie die Wogen auch gingen, in das Innere unserer Universität schlugen sie nicht hinein.

Die Wissenschaft, als eine der grossen Mächte der Zeit, steht auf sich selbst und geht ihre eigenen Wege. Nicht als Folge der rein-demokratischen Bewegung, sondern im Sinne ihrer liberalen Tradition, hat die Universität im Jahre 1864 zum ersten Male einer Frau ihre Tore zum Studium geöffnet. 1868 meldete sich zur Immatrikulation die erste Schweizerin —in denselben Tagen, da in der Kommission des zürcherischen Verfassungsrates der Antrag auf Verleihung des politischen Stimmrechtes an die Frauen abgelehnt wurde. Damit ist anerkannt, dass die Entscheidung über die wissenschaftliche Ausbildung der Frau bei uns nicht mit den Forderungen auf das Frauenstimmrecht vermengt werden darf.

Das Ausland staunt häufig darüber, dass die Schweiz sieben Universitäten und eine Technische Hochschule besitzt. Aber darin liegt eine Stärke unseres öffentlichen Lebens. Denn keine Staatsform bedarf der Erneuerung durch geistige Werte mehr, als die Demokratie. In dem besondern Charakter jeder unserer Hochschulen findet die geistige Eigenart der Kantone ihren Ausdruck. Die föderative Struktur der Eidgenossenschaft ist nicht nur das Ergebnis historischer Kräfte, sondern der Ausdruck des fortwirkenden individuellen Lebens der Kantone. Ein Jahr nach der Gründung der Zürcher Universität hat dieselbe liberale Richtung, die Zürichs Universität begründete, auch in Bern eine Hochschule erstehen lassen. Wir wissen, dass trotz des gemeinsamen Ursprunges unsere Schwester-Universität Bern ihre besondern Züge trägt. In der Vielgestaltigkeit, nicht in der Gleichförmigkeit liegt das Lebenselement der Wissenschaft.

Die reine Demokratie hat die wissenschaftliche Aufgabe unserer Universität nicht um eine Linie verschoben. Aber sie hat die Bedeutung der akademischen Lehrtätigkeit erhöht. Der Unterricht an der Primar- und Mittelschule hat die Pforten zur Universität Tausenden neu geöffnet ohne Rücksicht auf soziale Zugehörigkeit, Beruf und Vermögen. Infolgedessen dringen die an der Universität vertretenen Lehren in viel weitere Kreise des Volkes ein, als vordem, und gerade hier zeigt sich die Überlegen.. heit des gesprochenen Wortes des akademischen Lehrers gegenüber dem gedruckten. Nur auf diese Weise wird es uns in einer vom Rationalismus ernüchterten Zeit gelingen, auch in der reinen Demokratie den Respekt vor der wissenschaftlichen Forschung und dem wissenschaftlichen Streben hochzuhalten und dem Wahn entgegenzutreten, es liege in einem System geschlossener Fachschulen das Ziel der Zukunft — eine Anschauung, die der Feind der Universitas Litterarum ist. Dazu kommt ein Anderes. Wie sehr wir auch jeden Versuch der Nivellierung auf geistigem Gebiet zurückweisen, so haben wir dessen eingedenk zu bleiben, dass durch die Verbreiterung des Zustromes zur Universität auch die Möglichkeit grösser wird zur Auslese derer, auf die in Wissenschaft und Leben die schöpferische Fortbildung übergeht.

Fest verwurzelt ist unsere Universität im Boden Zürichs und der Eidgenossenschaft. Nicht würdiger vermögen wir in dieser Feierstunde eine hundertjährige Entwicklung zu beschliessen, als mit einem Wort herzlichen Dankes an das Zürcher Volk und an seine Behörden. Ihre Einsicht und Opferfreudigkeit haben uns bis heute zur Seite gestanden, und wir sind dessen gewiss, dass ihre Treue uns den Weg auch in das zweite Jahrhundert hinein bereiten wird, zum Segen der Heimat und zu ihrer Ehre im Ausland. In der grossen Republik der Wissenschaften wird unsere Universität allezeit die Stimme des Freistaates Zürich führen.