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Probleme des Neuhumanismus

BERICHT
über das akademische Jahr
1937/38
DRUCK: ART. INSTITUT ORELL FÜSSLI, ZÜRICH

INHALTSVERZEICHNIS Seite I. Rektoratsrede 3 II. Ständige Ehrengäste der Universität 20 III. Jahresbericht 21 a) Dozentenschaft 21 b) Organisation und Unterricht 24 c) Feierlichkeiten, Kongresse und Konferenzen . . . 27 d) Studierende 28 e) Prüfungen 30 f) Preisaufgaben 31 g) Stiftungen, Fonds und Stipendien 32 h) Kranken- und Unfallkasse der Universität . . . . 34 i) Witwen-, Waisen- und Pensionskasse der Professoren der Universität . 35 k) Zürcher Hochschulverein 36 l) Stiftung für wissenschaftliche Forschung 39 m) Jubiläumsspende für die Universität 44 n) Julius Klaus-Stiftung 47 IV. Schenkungen 52 V. Nekrologe 54

I. FESTREDE DES REKTORS PROF. DR ERNST HOWALD

gehalten an der 105. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 29. April 1938.

Probleme des Neuhumanismus.

Es ist vielleicht zu Beginn ein Wort der Rechtfertigung am Platz dafür, daß ein Vertreter der Altertumswissenschaft die unerschöpflichen Jagdgründe seines eigentlichen Forschungsgebietes verlässt und auf fremdem Boden pirschen geht. Diesem scheinbaren Übergriff liegt ein besonderes Erlebnis, eine persönliche Anschauung der Antike zugrunde, die wir eine dynamische nennen wollen. Ich kann in ihr nicht mehr eine Zeitperiode sehen, die mit diesem oder jenem Jahre der christlichen Ära abgeschlossen ist, sondern einen europäischen Kulturfaktor, der immer wieder von neuem lebendig wird, ja geradezu jenen Kulturfaktor, der aus dem geographischen Begriff Europa einen kulturellen macht. Die Folge solcher Betrachtungsart ist, daß die Erkenntnis der griechischen Welt nicht von ihrer europäischen Fortsetzung getrennt werden kann; eine Trennung würde ein Auseinanderreißen von organisch Zusammengehörigem bedeuten. Weder läßt sich die antike Kulturentwicklung ohne ihre Nachwirkung betrachten, weil nur sie über die geschichtliche Wertigkeit der verschiedenen Kulturbestandteile Klarheit verleihen kann; aber ebensowenig ist die Bewegung des europäischen Geistes ohne die Antike verständlich. Der Humanismus, wie man eine Zeit bewusster Rückkehr und Anlehnung an das Altertum nennt, oder vielmehr die wiederholten Humanismen, die in eigenartigem Rhythmus Europas geistige Gestalt bestimmten, verlangen vertiefte Untersuchung. Sie sind sowohl isoliert zu betrachten als auch in den vielen Kreuzungen und Mischungen, die sie mit den andern Kulturfaktoren Europas eingeben, von

denen wir nur das Christentum nennen wollen. Am interessantesten und hinreißendsten ist natürlich unter den Humanismen jene Zeit, die den Namen Humanismus im eigentlichen Sinne trägt, die der Renaissance, der Wiedergeburt des Altertums, am interessantesten, aber auch am kompliziertesten. Wir wollen uns mit einer bescheideneren Aufgabe zufrieden geben, mit einer Untersuchung des Neuhumanismus Deutschlands, wo wir den Vorteil haben, mit der geistigen und künstlerischen Erscheinung in besonderem Maße vertraut zu sein. Dass die Schwierigkeiten auch hier noch gewaltige sein werden, geht schon aus der Fülle der Klassifikationen und Periodisierungen hervor, die, teilweise sich deckend, teilweise sich ablösend, bald nur auf bestimmte Künste beschränkt und doch stetsfort in weiterem Sinne gebraucht, von den Schilderern dieser Zeit als gebräuchliche Termini benutzt werden. Ich zitiere wahllos nacheinander: Barock, Aufklärung, Sturm und Drang, Rokoko, Idealismus, Klassizismus, Zopfzeit. Wenn in dieses Chaos von Begriffen eine gewisse Ordnung gebracht, wenn die Zusammengehörigkeit einzelner von ihnen und —nicht minder wichtig —die absolute Unzusammengehörigkeit anderer erkannt werden könnte, so wäre schon dies ein großer Gewinn.

Nehmen wir den Ausgangspunkt vom Büchlein, das als die erste Kundgebung des Neuhumanismus bezeichnet werden muss, von Winckelmann's "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst", die ihren Verfasser augenblicklich zu einem angesehenen Schriftsteller machten, erschienen 1755, kurz vor seiner Übersiedelung nach Italien. Herder sagt von ihnen in seiner nicht preisgekrönten Preisschrift auf Winckelmann: "Es sind nur hingeworfene Gedanken, leicht und wie im Fluge gestreut, aber sie leben und sind voll Lieblichkeit und tiefer, umfassender Wahrheit ... Er umfasst mehr als er hat, ahndet mehr als er weiss, schwebt aber noch in seligem Traume und gibt sich selbst hin"1). Was war es, das die Zeitgenossen in dieser stammelnden Schrift faszinierte? Das Altertum als vorbildlich, klassisch, überlegen zu betrachten, dies war

sicherlich nichts Neues und auf deutschem Boden selbstverständlich; auch die Herleitung dieser Überlegenheit vom Klima Griechenlands, von Sitten, Kleidung, Lebensweise, wovon in Winckelmanns Schrift so viel die Rede ist, gehört zum eisernen Bestand damaliger Schulmeisterästhetik: dies alles hat Winckelmann übernommen und dies ailes wirkt höchst unwirklich und unerlebt. Während aber bei den andern die Meinungen höchstens darüber auseinandergehen konnten, wie nahe oder wenig nahe heutige Leistungen den selbstverständlichen Vorbildern aus dem Altertum kämen, tritt in diesem kleinen Werklein ein leidenschaftlicher Hass gegen das Moderne an den Tag; dieses Moderne bezeichnet er bald mit bestimmten Namen, wie Bernini, den er in einem Brief aus ungefähr der gleichen Zeit den größten Esel unter den Neuem nennt 2), Rubens, bald mit allgemeineren Ausdrücken, wie das Französische, holländische Formen u.ä.m. Gemeint sind also Barock und Rokoko. In Dresden, der Stadt des Zwingers und der Frauenkirche, schreibt er: "Der Künstler befindet sich hier wie in einer Einöde"3). Er hat einen wahren Ekel vor der "körperlichen Übertreibung" der grössten neueren Meister, welche von der "klaren Linie, welche das Völlige der Natur von dem Überflüssigen derselben scheidet, auf beiden Seiten zu sehr abgewichen sind". Er ist ein erbitterter Feind der "krummen Linie" des Barocks, ein Feind des "Malerischen" im Rokoko. Jeder ablehnende Satz zeugt von einem leidenschaftlichen Erlebnis. Anders steht es, nun aber mit dem, was er an die Stelle des Abgewiesenen setzen will, mit dem, worauf er seine Zuneigung richtet. Man merkt sogleich, dass keine Anschauung zugrunde liegt. Er konstruiert das Gegenteil von dem, worunter er leidet; er weiss theoretisch, dass die Antike, d.h. das, was die Renaissance unter Antike verstand, dem, was er sucht, entspricht. Seine Griechen sind eine Wunschidee, auf alle Fälle eine Idee, nichts Erlebtes und Gesehenes. In der Tat wissen wir auch, dass er sich in Dresden, das damals mehr antike Kunstwerke besass als irgend eine andere Stadt Deutschlands, um diese kaum kümmerte. Darum sind , seine Cbarakteristiken der antiken

Kunst entweder quietistische Heilsverkündigungen wie der berühmte Satz von der edlen Einfalt und stillen Grösse, oder aber, falls er ernsthaft den Versuch der Beschreibung macht, gelingt ihm dies nur negativ oder zum mindesten aus stetem Vergleich mit dem Modernen, z.B. "Mehr Einheit des ganzen Baues, eine edlere Verbindung der Teile, ein reicheres Mass Fülle, ohne magere Spannungen und ohne viele eingefallene Höhlungen unserer Körper." Er selber wusste später, dass erst in Rom "Originalgedanken", wie er das nennt, was wir lieber als eigene Anschauung bezeichnen möchten, in ihm erwuchsen. Er ist dorthin gereist als ein Gelehrter, der ins Zentrum antiquarischer Gelehrsamkeit gelangen will: der Fisch sollte in sein rechtes Wasser kommen, sagt sein ihn protegierender Kurfürst. Aber etwas von ihm nicht Erwartetes tritt ein: In Rom lernt er sehen; in Rom geht ihm die Welt der antiken Kunst auf, die er vorher nur konstruiert hat. Als ein Gelehrter ist er hingereist, in Rom ist er zum Propheten eines neuen Stils geworden. In Rom ist neben die leidenschaftliche Ablehnung des Barocks das nicht minder leidenschaftliche Erlebnis der antiken Kunst getreten, die ihm vorher nur Postulat gewesen war. Wirklich der antiken Kunst? Einer antiken Kunst, einer Epoche derselben, einer Epoche, die die gesuchten Gegensätze zum Barock enthielt. Wir wollen nicht weiter fragen, was für eine Zeit der antiken Kunstentwicklung das war; dies würde uns von unserm Thema zu weit wegführen. Es sei nur in Kürze gesagt, dass die Antike Winckelmanns überhaupt keine griechische war, sondern augusteisch-römisch. Dort fand er, was er als Opposition zur barocken Mass- und Grenzenlosigkeit, zur modernen Leidenschaft und Vermessenheit suchte: Mass und Einheit, Ruhe und Stille, Güte und Ernst. Für uns ist wichtig einzig die Feststellung, dass der Humanismus Winckelmanns aus einer Stil- und Formsehnsucht entstanden war oder, wie wir es noch richtiger erkannt haben, aus einem Stil- und Formüberdruss. Das Primäre ist die Ablehnung des Zeitstils. Aus der Bildungstradition seit der Renaissance, die in ähnlicher Weise die Antike der Gotik gegenübergestellt hat, weiss er, dass er eine Erfüllung seiner Stilsehnsucht

in der Antike suchen muss; zuerst ist dies nur Theorie; nachher erlebt er es tatsächlich in seinen römischen Tagen. Der Apollo vom Belvedere, der Heraklestorso, der Laokoon sind die Erfüllungen seiner Stilsehnsucht. Es ist also ein Formbedürfnis, das den Winckelmannschen Neuhumanismus ins Leben gerufen hat. Selbstverständlich ist mit dieser Feststellung der Neuhumanismus selber nicht erschöpfend charakterisiert; das Formbedürfnis ist nur als das auslösende, vielleicht als das dominante Element bezeichnet. Selbstverständlich brachte der antike Formbegriff sofort die ganze ungeheure Vorstellungs-, Gefühls- und Gedankenwelt mit, die mit der Idee der Antike verbunden ist, nicht der Antike, welche die Altertumswissenschaftler erforschen, sondern jener vereinfachten, die Rom für Europas Humanismus zurechtgemacht hat.

Wäre Winckelmanns Erlebnis allein geblieben, so liesse es uns uninteressiert: Es gibt zu allen Zeiten kulturelle Einzelgänger, speziell solche, die ein von der Zeit abweichendes Stilempfinden haben, darum sehr viel leiden, in ihrem Widerspruch unverstanden bleiben und zuletzt verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Der Fall Winckelmann ist ein anderer: Er genoss einer allgemeinen, unangetasteten. Verehrung. Mochte diese auch in erster Linie dem Gelehrten gelten, so ging doch sein Einfluss bei einer jungen Generation weiter, wie wir aus einer berühmten Stelle von "Dichtung und Wahrheit"wissen. Wir wollen im Moment nicht untersuchen, was das für eine Generation war, wie rasch diese Wirkung eintrat. Wichtig ist für uns einstweilen nur die Tatsache, dass eine immer grössere Zahl von Menschen sich auf Winckelmann berief, indem sie vom Stil der zeitgenössischen Kunst abrückte und die Antike als einzige Stilnorm anerkannte. Winckelmann leitet somit einen eigentlichen Stilbruch im deutschen Kulturraum ein. Zuerst ist er auf die bildende Kunst beschränkt; was Winckelmann über Literatur empfindet und sagt, unterscheidet sich in nichts von den allgemeinen Anschauungen jener Zeit. Bescheidenere Geister übertragen dann seine Stilforderungen auf die Literatur. Die grösste Bedeutung kommt in dieser Hinsicht Christian Gottlob Heyne zu, der von 1763 an

den Göttinger Lehrstuhl der Altertumswissenschaft innehatte. Sein Name ist aus bestimmten Gründen in unverdientem Masse aus dem Gedächtnis der Nachwelt verdrängt worden; aber vielleicht genügt es zu seiner Charakterisierung, wenn wir feststellen, dass Wilhelm und Alexander von Humboldt, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Voss, F. A. Wolf ihren Humanismus Heyne verdanken. Am besten erfasst man die schöpferische Wirkung des Mannes aus der Biographie Wilhelm von Humboldts.

Doch kehren wir zu der wichtigen Erkenntnis zurück, die wir gewonnen zu haben glauben, nämlich, dass der Neuhumanismus seine Entstehung nicht einem sachlichen oder gedanklichen Bedürfnis, sondern einer Formablehnung und Formsehnsucht verdankt, die zu einem Formbruch führen. Solche Umbrüche sind etwas relativ Seltenes; es gibt zwar eine ständige Formwandlung, Formentwicklung, die im allgemeinen dem Wechselbedürfnis Genüge tun. Aber von Zeit zu Zeit gerät der menschliche Ausdruckswille in eine Situation, aus der er sich mit der normalen Stilumwandlung nicht mehr helfen kann, wo auch die Kunst einen Weg. eingeschlagen hat, der einfach nicht mehr weiter führt, wo sie zu extremen Lösungen gekommen ist, die ein Ende bedeuten. In solcher Lage gibt es nur einen Ausweg, den eines revolutionären Aktes, eines Stilbruchs. In einem solchen historischen Moment stehen wir mit Winckelmann. Nicht die Beschäftigung mit dem Altertum hat zur Nachahmung desselben durch die Künstler geführt, sondern eine Notlage der künstlerischen Situation hat dem Humanismus um seines immanenten Formgutes willen gerufen. Versuchen wir einmal, uns dies in der kunstgeschichtlichen Situation der Zeit verständlich zu machen. Dabei wollen wir dies nicht mehr in der unzulänglichen Terminologie Winckelmanns tun, der die Begriffe, mit denen er arbeitet, die Maßstäbe, die er anlegt, bereits ganz aus der Welt des von ihm erträumten und geahnten Stils bezieht, in dem die Darstellung des menschlichen Körpers Hauptaufgabe ist, mit welcher Problemstellung man der Kunst von Barock und Rokoko natürlich nicht beikommen kann. Aber auch der, welcher. dem Phänomen der damaligen

Kunst gerecht wird, kann es verstehen, dass die Auflockerung des Raumes, die Beseitigung aller Grenzen und grenzenschaffenden Akzente, die Dynamisierung von Architektur, Plastik und Malerei um die Jahrhundertmitte ein Maximum erreicht hat, das kein Weitergehen mehr erlaubte, und zwar in ununterbrochener stetiger Entwicklung seit der Renaissance; die Kunst, d. h. der Stil war an den Grenzen des menschlichen Aufnahmevermögens angelangt. In einem solchen Moment gibt es nur eine Rettung, den Stilbruch. Dieser wird durch den Neuhumanismus vollzogen.

Es mag dieser Gedanke im ersten Augenblick befremdlich erscheinen, daß eine, freilich radikale, Änderung des Stilempfindens solche grossen Folgen haben, nicht nur einen Stilwechsel herbeiführen, sondern eine ganze Kulturumstellung bewirken soll. Es ist freilich keine Zeit so wenig berufen, von Formbindung und Formherrschaft etwas zu wissen wie die unsrige, da wir seit Generationen einer Kultur angehören, die jeden gemeinsamen Formausdruck verloren hat. So reich unsere Zeit an kollektiven Ideen ist, ebenso sehr entbehrt sie jeglicher Fähigkeit, ihrem Kulturgefühl einen allgemein verpflichtenden, gemeinsamen Ausdruck zu verleihen. Der Kulturhistoriker späterer Zeiten, der sich mit dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu befassen hat, wird mit Grauen auf die formale Armut unserer Zeit zurückblicken. Der Gebildete unserer Tage macht insofern aus dieser Not eine Tugend, als er seinen Ehrgeiz darein setzt, die entgegengesetztesten Ausdrucksformen aller Zeiten und Völker nachzuerleben und geniessend in sich aufzunehmen, in einem Masse, wie es früher niemals möglich war, ohne Vorurteil sich bereichernd, keiner Erscheinung sich verschliessend. Dies mag wohl dem Forscher und Historiker zugutekommen, niemals ist aber dieser Gewinn imstande, uns zu entschädigen für den Verlust eines lebendigen Stilempfindens, aus dem heraus allein wiederum schöpferische Leistungen entstehen können.

Das sei kein Schmähen unserer Zeit, sondern nur eine Erklärung dafür, warum uns anfänglich die Feststellung unwahrscheinlich vorkommen mag, dass aus einer Wandlung des Formgefühles

tiefgreifende kulturelle Änderungen hervorgehen könnten. Es soll deshalb meine Aufgabe sein, Ihnen am Beispiel des Neuhumanismus als einer in erster Linie formal bestimmten Kulturerscheinung zu zeigen, wie groß die Folgen eines solchen Stilbruchs in der Tat sein können, ja daß ein solcher geradezu eine Katastrophe, eine Revolution bedeutet, die sich in gewissem Grade Revolutionen an die Seite stellen kann, die aus Änderungen sozialer und politischer Anschauungen hervorgehen. Der Unterschied ist freilich der, dass formale Revolutionen nicht tief in die Massen hineingreifen im Gegensatz zu den andern; aber um so einschneidender sind ihre Wirkungen auf jene Individuen, die künstlerisch sensibel sind, ganz zu schweigen von den Leiden derer, die durch ihr Genie zur schöpferischen Produktion getrieben sind. Denn es ist leicht einzusehen, dass es für einen Künstler eine Schicksalsfrage bedeutet, wenn er mitten in der Erfüllung seiner Aufgabe an seinem Werkzeug, an der ihm vertrauten Form irre wird. Der Schwache wird verzweifelnd daran, zum mindesten innerlich, zugrunde gehen; der Starke wird nach langen Kämpfen, tastenden Versuchen, missglückten Neuanfängen sich allmählich zum Herrn der neuen Form machen, wie er die alte gemeistert hatte; aber auch bei ihm werden leise Zeichen der Übertreibung Zeugnis ablegen von dem, was sich abgespielt hat. Dieser Umbruch wird sich voraussichtlich unbewusst vollziehen; weder der Künstler selber noch der ihn beobachtende Zeitgenosse wird sich über den wahren Sinn der Vorgänge klar sein. Beide werden dafür andere Erklärungen und Motivierungen suchen, Reifeprozesse darin sehen, den Unterschied der Lebensalter zur Deutung bemühen, persönlichen Lebensumständen die Schuld geben. Von zeitlicher Distanz aus werden wir aber dann anders urteilen, wenn wir beobachten können, wie eine größere Anzahl schöpferischer Menschen gleichzeitig in eine solche Periode des Missbehagens hineingeraten ist, aus dem sie dann alle nachher heraustreten mit demselben neuen Stilgefühl.

Ein solches Epochenjahr ist das Jahr 1790, natürlich die Zahl ganz ungefähr gemeint im Sinne des Dezenniums 1785-1795. Das will heissen, dass jener grösste Bruch abendländischer

Kultur in der Neuzeit, die französische Revolution, auch von einem Formbruch begleitet ist, ohne dass nachweislicher- und wahrscheinlicherweise diese beiden Dinge irgend etwas miteinander zu tun haben. Wir wollen uns bei seiner Untersuchung auf Deutschland beschränken, obgleich die Erscheinung europäisch ist, wie wir überhaupt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zum erstenmal in Westeuropa eine völlige Synchronität der Kulturvorgänge erleben. Was wir nach ihrem Bruche als europäische Form vor uns haben, ist jene Stilform, die wir als Klaßizismus bezeichnen, eine Stilform, die auf antiken Formen und antiker Formanschauung basiert. Mit dem neuen Formgefühl zusammen geht aber eine Antikisierung und Humanisierung der ganzen Weltbetrachtungs- und Weltverhaltungsweise: Die Griechen sind die Vorbilder des Menschlichen; unsere Aufgabe ist es, es ihnen in freier Entwicklung aller menschlichen Kräfte und Fähigkeiten gleichzutun. So ist also ohne allen Zweifel dieser künstlerische Klassizismus nichts anderes als die Erfüllung der von Winckelmann begonnenen Bewegung; die von ihm und andern gepflanzte Saat ist damit aufgegangen. Als erstes fällt uns dabei auf, eine wie lange Zeit es immerhin brauchte, bis das Erlebnis eines Einzelnen oder von ein paar Einzelnen zum allgemeinen Schicksal wurde; trotz der Begeisterung, die Winckelmanns Schriften erweckten, trotz der Erschütterung, die sein gewaltsamer Tod (1768) bei der deutschen Jugend hervorrief, ging es noch zwanzig Jahre, bis sein Formerlebnis auch das ihrige wurde. Auf das Lebensalter der Menschen kam es dann nicht mehr wesentlich an: der vierzigjährige Goethe wurde nicht anders davon gepackt als der dreißigjährige Schiller. Begreiflicherweise waren alte Menschen nicht mehr imstande, diese innere Revolution mitzumachen; z.B. steht der über fünfzigjährige Wieland verständnislos abseits. Das Alter ist freilich eine sehr individuelle Angelegenheit; nur nebenbei, ohne dafür einen Beweis bringen zu wollen, möchte ich die Bemerkung wagen, dass jene grosse Wandlung, die der fast sechzigjährige Kant in seinem Denken erfahren, wohl mit dem Stilbruch, von dem wir sprechen, in Beziehung gesetzt werden kann; doch ist dies ein zu weites

Feld, denn damit werden Dinge mit dem Formproblem in Verbindung gebracht, die ihm recht fern zu stehen scheinen. Selbstverständlich gibt es auch bedeutende jüngere Zeitgenossen, die sich der Ansteckung durch die neue Form entziehen; es hat immer Nachzügler in jedem Kulturwechsel. Beispiele dafür werden wir noch kennen lernen. Ganz eindeutig ist aber die Erscheinung, dass diejenige Generation, die nach 1765 geboren ist, also ihre formbestimmenden Einflüsse erst Ende der achtziger Jahre erfuhr, schon jenseits des Bruches steht und ganz im Neuen aufwächst. Das eindrücklichste Beispiel ist Wilhelm von Humboldt, 1767 geboren, dessen Leben, das reichste und reinste Leben des Neuhumanismus, von einer bezaubernden Gleichartigkeit ist vom zwanzigsten Jahre an bis zu seinen letzten Tagen, durch diese Gnade innerer Widerspruchslosigkeit selbst das Leben Goethes überragend.

Denn Goethe gehört, wie wir sahen, zu jenen, die das Schicksal eines Stilbruchs erfahren mussten. An seinem uns allen vertrauten Leben möchte ich Ihnen nun die Bedeutung dieses Vorganges aufzeigen.

Jedermann weiss, dass die italienische Reise (1786-88) einen tiefen und entscheidenden Einschnitt in Goethes Leben bildet und Ausdruck einer eigentlichen Lebenskrisis ist, in der Rom nicht eine zufällige, sondern eine organische Rolle spielt. Der italienische Aufenthalt bedeutet freilich nur den Kulminationspunkt einer viel länger währenden Katastrophe. Der Krankheitsprozess beginnt lange vorher, und die wirkliche Genesung sollte noch Jahre dauern. Schon seit Anfang der achtziger Jahre .war eine immer tiefer sich eingrabende Mißstimmung in ihm: "Was ich tue, verschwindet mir, und was ich schreibe, scheint mir nichts"4). Die Iphigenie in ihrer ersten Form befriedigt ihn nicht mehr; der Tasso, der Wilhelm Meister liegen unvollendet da. Ebensowenig setzt er mehr Hoffnungen auf seine administrative Tätigkeit. Es ist in der Tat eine Art Krankheit, in der er sich befindet. Viele Diagnosen sind dafür aufgestellt worden; an allen mag etwas Richtiges sein; zum Teil hat Goethe selber sie damals

oder später als Erklärungen gegeben: Das Verhältnis zu Frau von Stein, zum Herzog, überhaupt "der Teufel des Unverstandes, des Unbegriffs und der Unanstelligkeit von manchen Menschen" seiner Umgebung. Das Hauptsymptom der Krankheit war freilich ganz seltsam und spricht für keine der gegebenen Deutungen. Es ist eine geradezu pathologische Sehnsucht nach Italien. Er selber nennt es in einem Brief aus Italien an Carl August mit dem von uns gebrauchten Ausdruck "eine Art Krankheit, von der mich nur der Anblick und die Gegenwart (nämlich Italiens) heilen konnte"5). Noch aufschlussreicher ist eine ähnliche Briefstelle an Frau von Stein6): "Schon einige Jahre habe ich keinen lateinischen Schriftsteller ansehen, nichts, was mir ein Bild von Italien erneuerte, berühren dürfen, ohne die entsetzlichsten Schmerzen zu leiden. Herder scherzte immer mit mir, dass ich all mein Latein aus dem Spinoza lernte, denn er bemerkte, dass es das einzige lateinische Buch war, das ich las. Er wusste aber nicht, dass ich mich vor jedem Alten hüten musste. Noch zuletzt hat mich die Wielandsche Übersetzung der Satiren höchst unglücklich gemacht; ich habe nur zwei lesen dürfen und war schon wie toll." Die Art der Abreise, so verletzend für alle seine Freunde, nicht minder die Reise selber bestätigt die Diagnose. In Florenz bleibt er ganze drei Stunden; in der zweitletzten Station, Terni, zieht er sich gar nicht mehr aus, "um früh gleich bei der Hand zu sein". So werden wir uns nicht wundern, wenn er seine Ankunft in der ewigen Stadt als Wiedergeburt bezeichnet7). Mit Italien und Rom meint er freilich fast nur die Antike; berühmt ist sein Verhalten in Assisi, wo er an alle dem vorübergeht, was uns anzieht, "um sich die Imagination nicht zu verderben" und einem Minervatempel seine begeisterte Huldigung darbringt. Nach und nach wird die Scheidung von Italien und dem klassischen Gut, das es birgt; immer klarer vollzogen; schon nach Sizilien erklärt er, mit diesem Volke gar nichts gemein zu haben, und noch kräftigere Worte entfahren ihm, wie

er 1790 die Herzogin-Mutter in Venedig abzuholen hat. Tatsächlich ist es ausschliesslich das Altertum, das er studiert. Unter seinem Einfluss fühlt er, "wie sich mein Geschmack reinigt"8) vor seinen Kunstwerken, die "als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht wurden", "fällt alles Willkürliche, Eingebildete zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist Gott"9). Es ist vor allem der zweite römische Aufenthalt, der diese Konzentration des Italienerlebnisses herbeiführt. "Wenn ich bei meiner Ankunft in Italien wie neugeboren war, so fange ich jetzt an, wie neu erzogen zu sein", schreibt er in jener Zeit. Jetzt rückt er ab von seinen frühem "heftigen, vordringenden Arbeiten, vom Berlichingischen10), jetzt werden ihm, dem Promethiden, seine titanischen Ideen zu Luftgestalten, die einer ernsteren Epoche vorspukten"11). Es erübrigt sich, weitere Stellen zu häufen. Wir können uns an die Deutung und Erklärung des Phänomens machen. Es ist kein Zweifel, dass Goethe nach der italienischen Reise formal völlig verschieden ist von dem Goethe der vorherigen Zeit. Was er nachher ist, ist ohne weiteres klar, ein Klassizist, ein Humanist. Schwieriger wird es sein, den frühern Goethe in seiner stilistischen Zugehörigkeit einzuordnen; da bestehen traditionelle Sperrungen, die uns den Zugang erschweren. Aber bei aller Vorsicht, die wir anwenden wollen, darf gesagt werden, dass der junge Goethe und mit ihm der Sturm und Drang und hinter diesem Klopstock dem Barock nahe stehen. Wir wollen uns wohl hüten, Goethe einen Barockdichter zu nennen. Aber die zurückhaltende ,Ausdrucksweise mag das Richtige treffen. Er teilt auf alle Fälle mit der bildenden Kunst seiner Zeit die Tendenz zum Masslosen, Übermenschlichen, Einmaligen, ob es sich um das Strassburger Münster oder Shakespeare handle, Caesar, Prometheus, Mohammed, den Beaumarchais des Clavigo, den Ferdinand. der Stella, ja auch um Werther, der gerade durch jene Züge, die Napoleon tadelte, zu einem pathologischen Fall asozialer Einmaligkeit

wird — das Formale dieser Gestalten ist immer gleich; es setzt sich fort im Tasso, im Egmont, im Orest der Iphigenie. Schon Ende der siebziger Jahre fängt Goethe an, darunter zu leiden. Er sucht Hilfe in seiner Not zuerst bei der Geliebten; darum trägt die Iphigenie schon scheinbar die Züge klassischer Beruhigung, weil die Frau Beruhigerin, Besänftigerin sein soll. Dieser Weg führt nicht zum Ziele. Langsam fühlt er den Drang, alles, was er geschaffen, neu zu gestalten, das allzu "Aufgeknüpfte und Studentenhafte" 12) seines früheren Stiles zu beseitigen. Erst auf und unmittelbar nach der italienischen Reise scheint es ihm gelingen zu wollen, nachdem vorher die dichterische Produktion überhaupt zu versiegen begann. Es ist aber eine Scheinblüte. Die erstaunliche Art und Weise, wie der Dichter seine eigenen Dichtungen, Wort für Wort, in Verse umzusetzen beginnt, ohne je Wesentliches hinzu- oder wegzutun, dieses fast nicht glaubwürdige Phänomen, das wir an der Iphigenie in jedem Detail verfolgen können, das alles lässt sich nur aus der Notlage des Dichters erklären. Wir müssen uns dabei erinnert fühlen an jenen Stil, den wir Louis XVI. nennen; wo auch auf einer Grundlage, die durchsetzt ist vom Geiste des Rokoko, mit ein paar geraden Leisten der Versuch klassizistischer Begrenzung gemacht wird. So liegt über dem Tasso und der Iphigenie nur ein klassizistischer Firnis, durch den die Masslosigkeit des Früheren durchschimmert; nur oberflächlich gebändigt und eingeschränkt. Goethe wusste, was er tat, wenn er auch die Humanisierung überschätzen musste. "Der frühere Entwurf" des Tasso, so schreibt er, "hatte etwas Weichliches, Nebelhaftes, welches sich bald verlor, als ich die Form vorwalten und den Rhythmus eintreten liess"13). Was während oder unmittelbar nach der italienischen Reise Neues begonnen wird, die römischen Elegien und venezianischen Epigramme, ist eine völlige Kapitulation vor der Antike. Vor allem die ersteren sind oder gebärden sich wenigstens auf weite Strecken wie Übersetzungen von Elegien des Properz. Auch die nie ausgeführten Pläne: Iphigenie in Delphi, Ulysses auf Phäa sind solche Preisgaben des künstlerischen Ichs.

Noch ist der Humanist Goethe nicht Herr, sondern Sklave der neuen Form. Die Herrschaft im weitesten und tiefsten Sinne tritt erst in der Mitte des letzten Dezenniums ein; äusseres Symbol ist die Freundschaft mit Schiller. Goethe hat immer betont, dass in der Anknüpfung derselben etwas Dämonisches obgewaltet habe: "Wir konnten früher, wir konnten später zusammengeführt werden; aber dass wir es gerade in der Epoche wurden, wo ich die italienische Reise hinter mir hatte, und Schiller der philosophischen Spekulationen müde zu werden anfing, war von Bedeutung und. für beide von grösstem Erfolg"14). Das heisst mit andern Worten, dass beide gleichzeitig dieselbe peinvolle künstlerische Metamorphose durchmachen mussten, denn Schillers philosophische Spekulationen waren sein Überbrückungsnotbehelf in einer der goetheischen ganz ähnlichen Periode künstlerischer Unproduktivität. Das letzte Werk des alten Stiles war der Carlos; auf ihn blickte der sich humanistisch Wandelnde mit wahrem Abscheu zurück, radikaler und unerbittlicher gegen seine eigenen Schöpfungen als Goethe. In der Tat, so seltsam das tönt, konnten sich die beiden Freunde, als sie sich gefunden, helfen bei den noch unsichern und zagen Schritten, die sie aus dem neuen Formgefühl heraus tun mussten. Erst so wird ihre wahre Schicksalsgemeinschaft verständlich. Nicht minder verständlich ist aber auch, dass für Goethe die gleiche Entwicklungsperiode die Beziehungen zu den Menschen liquidieren musste, die in der alten Form verhaftet blieben; ich spreche von Lavater und von Herder. Gewiss ist es ein Vielerlei von Motiven, die zu diesen Entfremdungen führte; aber das Grundmotiv kann nicht tief genug gesucht werden, und was gibt es Tieferes als diese Formverwandlung zum Humanisten? Über Lavater braucht es keine weiteren Worte; seine antihumanistische Wesensart ist sofort einleuchtend. So verstehen wir, dass er ihm schon unmittelbar vor der italienischen Reise ängstlich aus dem Wege geht, "denn aus Verbindungen, die nicht bis ins Innerste der Existenz gehen, kann nichts Kluges werden"15). Bei Herder mag man vielleicht einen Augenblick Bedenken tragen, sich dieser Deutung anzuschliessen

schon deshalb, weil ihm oft irrtümlicherweise Funktionen in der Vorbereitung des Humanismus zugewiesen werden, die andern wie dem früher genannten Göttinger Heyne zukommen. Herder war ein Antipode zum Humanismus; sein ganzes Wesen geht ins Maßlose; sein Element ist die Unordnung. Glänzend charakterisiert ihn sein grosser Biograph Rudolf Haym 16), wenn er sagt, sein Geist entfalte sich am glücklichsten im Übertreten der gezogenen Gleise, im Verlassen der abgesteckten Linie. Gegen das klassische Altertum hat er von jeher einen instinktiven Widerspruch in sich, trotz konventioneller Anerkennung. Der Bruch mit dem fertigen Humanisten Goethe vollzieht sich deshalb mit elementarer Notwendigkeit; die Verbitterung des freilich stets verbitterten Herder in seinen letzten Jahren ist ohne Zweifel auf dieses völlige Isoliertsein nicht als Mensch, sondern als Denker und Künstler, d.h. als formale Potenz, zurückzuführen. Mit leidenschaftlicher Anteilnahme klammert er sich darum an Jean Paul, diesen Spätling des Barocks; nicht minder verständlich ist aber auch seine nicht weniger leidenschaftliche Ablehnung des späten Kant, des Humanisten Kant, in der Goethe in den Annalen sogar die Ursache seiner Trennung von Herder sieht17). Sicher zu Unrecht; Tieferes scheidet sie von nun an als die Stellung zu Kant, an dem der "Menschenverständler" Goethe nur sehr mit Distanz interessiert war. Das Gleiche trennt sie, was jetzt Goethe und Schiller zusammenführt, die humanistische Form. Die beiden aber werden einander Geburtshelfer ihrer aus diesem Geiste geschaffenen Werke; die herrlichste Erstschöpfung desselben ist Hermann und Dorothea. Mit diesem Werke beginnt die zweite Formperiode Goethes, die humanistische, um nicht mehr abzubrechen bis zu seinem Tode. Die Qual jener Übergangszeit, jenes Formbruches ist damit endgültig überwunden; der Dichter ist wieder von seiner Krankheit genesen. Vielleicht darf ich hier noch ein Wort von einem Palliativmittel sagen, das Goethe in den schlimmen Tagen der Verzweiflung angewandt hat, als er, der Gestalter und Schöpfer, infolge der zerbrochenen Form nicht gestalten konnte.

Er sucht und findet die neue Form in der Natur. Die eigentliche Vision von der Metamorphose der Pflanzen, schon seit ein paar Jahren geahnt, erfolgt in Sizilien; dort leuchtet ihm plötzlich, wie er in der reizenden Schrift über sein botanisches Studium erzählt, die Identität aller Pflanzenteile vollkommen ein18). Er findet auf dem für ihn jungfräulichen Boden der Naturwissenschaft, was er zu formen selber noch nicht die Kraft in sich trägt. Gewiss leuchtet ihm Spinoza dabei voran, aber ein griechischer Spinoza. Seine Urphänomen, seine Urpflanze ist griechischem Denken entsprungen, nicht spinozistischem; es ist ein Formphänomen, nicht ein religiös-metaphysisches. "Das Notwendige in der Natur", was Schiller als Goethes Ziel in dessen naturwissenschaftlicher Tätigkeit in dem berühmten vierten Brief bezeichnet, ist eine ästhetische Notwendigkeit. Was kann es Eindeutigeres geben als die Stelle aus einem Briefe an Frau von Stein aus Italien19), worin sie den Auftrag bekommt, Herdern zu sagen, dass "ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin und dass es das einfachste ist, was nur gedacht werden kann ... Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, über welches mich die Natur selber beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die ... existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben".

So hat es das Schicksal wollen, dass das Leben des grössten deutschen Menschen in die Zeit eines Formbruches fiel und dadurch wesentlich beeinflusst wurde. Gewiss ist Goethe dank seinem Genius nach schwerem Kampfe Herr über das ihn bedrohende Geschick geworden; aber er musste, nachdem er als Liebling seines Volkes sein Werk begonnen hatte, den Stilbruch mit einer langen Zeit der Unpopularität bezahlen. Schmerzlicher ist aber vielleicht ein anderer bleibender Schaden, den dieses einzigartige Leben dadurch erlitten hat. Es liegt über seinem humanistischen Teil eine zu starke Bewusstseinshelle; im Gegensatz

zu dem natürlich gewachsenen humanistischen Leben Wilhelm von Humboldts ist Goethes zweite Lebensperiode zu einer pädagogischen Angelegenheit geworden. Der Humanismus ist ihm nicht selbstverständlich; er hat ihn mühsam lernen und erkämpfen müssen; so wird er nicht selten allzu bewusst zur Schau getragen. Uns Nachgeborne wird dies manchmal erschüttern, wie ein grosser Mensch sein eigenes Leben zu einer pädagogischen Provinz machen kann. Vielleicht haben wir es aus dem Vorhergehenden verstehen gelernt, wie dies gekommen.

Wir wollten am Beispiel Goethes die Bedeutung eines Formbruches illustrieren. Damit ist uns auch die Rolle des Jahres 1790 deutlich geworden und nicht minder das Wesen des Neuhumanismus als einer in der Hauptsache formalen Bewegung, einer Reaktion auf einen vorher bestehenden Stil, auf die bisherige Form. Er ist damit als eigengesetzlich erklärt und unabhängig von geistigen Bewegungen, die inhaltlich orientiert sind, wie etwa diejenige der Aufklärung. Auf diese Weise haben wir in einer bestimmten Richtung eine gewisse Klärung in jene am Anfang erwähnten Periodisierungsschwierigkeiten gebracht. Wenn geistige Bewegungen ganz verschiedener Herkunft sein können, d.h. wenn es solche formaler Provenienz neben andern inhaltlichen gibt, so ist damit als möglich erwiesen, dass verschiedene Rhythmen in der europäischen Kulturentwicklung nebeneinanderlaufen. Von selber kämen wir dabei auf das, mit dem unsrigen verglichen, wichtigere Problem zurück, ob auch der Humanismus der Renaissance formaler Herkunft sei. Es wäre wohl denkbar, dass die alle Grenzen des Möglichen überschreitende Gotik einen Stilbruch hervorrief; d. h. zuerst ein Stilbedürfnis, das zwangsläufig zur Wiedererweckung des Altertums führte. Es gibt sehr viele Dinge, die diese Lösung empfehlen. Trotzdem würde ich im jetzigen Augenblick eine sichere Antwort nicht wagen und muss mich damit zufrieden geben, das Problem als solches aufgeworfen und eine Lösung auf einem zwar nicht zentralen, aber immerhin für uns Glieder der deutschen Kultur wichtigen Gebiet versucht zu haben.