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VOM RINGEN UM DIE CHRISTLICHE GRUNDLAGE DER SCHWEIZERISCHEN EIDGENOSSENSCHAFT SEIT DER GELTUNG DER BUNDESVERFASSUNG VON 1874

REKTORATSREDE

GEHALTEN AM 17. NOVEMBER 1939
VON
ERNST STAEHELIN
BASEL 1939
VERLAG HELBING & LICHTENHAHN

Buchdruckerei Friedrich Reinhardt AG., Basel

Hochansehnliche Versammlung!

1.

Der gegenwärtige Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Dr. Philipp Etter, schreibt in einem Aufsatz über "Die kulturelle Sendung der Schweiz": "Jeder Staat lebt ... aus der Kraft der geistigen Grundlagen, die ihn geboren und im Laufe seiner Geschichte organisch weiter gestaltet haben; der Staat wird getragen von der Gemeinschaft des Willens und des Geistes, von einer einigenden, alles Trennende und Differenzierende überschattenden Idee, die in der Staatsform ihren wesensgleichen, organischen Ausdruck und ihre natürliche Erfüllung findet."1 Aus diesem Bewußtsein heraus hat im Zusammenhang mit der gewaltigen Erschütterung der europäischen Völkerwelt, die wir gegenwärtig erleben, allenthalben in unserm Lande eine Neubesinnung auf die Grundlagen der Schweizerischen Eidgenossenschaft eingesetzt. Dieser Neubesinnung will auch der Bundesbeschluß vom 5. April 1939 über "Schweizerische Kulturwahrung und Kulturwerbung" dienen. 2 Ebenso war ein wichtiger Beitrag zu ihr die Schweizerische Landesausstellung in Zürich und das "Eidgenössische Wettspiel" von Edwin Arnet.

In seiner Botschaft, in der er den genannten Bundesbeschluß über "Schweizerische Kulturwahrung und Kulturwerbung"

vorbereitete, hatte der Bundesrat als "die Konstanten, die bleibenden Linien, die das geistige Antlitz unseres Landes und die Eigenart unseres staatlichen Wesens bestimmen," die drei folgenden genannt: erstens: "die Zugehörigkeit unseres Landes zu den drei großen geistigen Lebensräumen des Abendlandes und die Zusammenfassung des Geistigen dieser drei Lebensräume in einen gemeinsamen Lebensraum"; zweitens: "die bündische Gemeinschaft, die Eigenart und den Eigenwert der eidgenössischen Demokratie"; drittens: "die Ehrfurcht vor der Würde und Freiheit des Menschen."3 Als Nationalrat Theodor Gut die Vorlage des Bundesrates im Schoße unserer Volkskammer begründete, bejahte er die drei genannten Größen als die wesentlichen Merkmale unseres staatlichen Seins, fügte aber hinzu: "Ich glaube, als weiteres Merkmal der Schweiz müßte das christliche Bekenntnis genannt werden." Nationalrat Gut wollte damit nicht sagen, daß der christliche Glaube als viertes Merkmal auf gleicher Ebene neben den drei andern stehe; vielmehr war seine Meinung die, daß es zum Wesen der Schweizerischen Eidgenossenschaft gehöre, daß das eidgenössische, das bündische und das freiheitliche Sein und Leben ihren tragenden Hintergrund gehabt hätten, hätten und immerdar haben sollten in der ewigen Welt und Wirklichkeit, um die es im christlichen Glauben geht. "Die Humanität", so führt Nationalrat Gut wörtlich aus, "müssen und wollen wir bewahren: die eidgenössische, die freiheitliche, die bündische Idee, die aus dem Größten kommt und sich dem Größten einordnet, so wie es, aus religiösen Anschauungen heraus, in einer einmaligen Weise das Appenzeller Landsgemeindelied sagt: ,Alles Leben strömt aus Dir und durchwallt in tausend Bächen alle Welten, alle sprechen: Deiner Hände Werk sind wir'; unsere Kulturwahrung wird auf solchen Glauben

gebaut sein müssen, und zwar auf einen Glauben, der Berge versetzt und feige Verzweiflung ablehnt."4 Mit diesen Ausführungen hat Nationalrat Theodor Gut auf etwas hingewiesen, das in der gegenwärtigen Neubesinnung auf die Grundlagen der Schweizerischen Eidgenossenschaft entscheidende Beachtung verdient. Darum dürfte es mehr als gerechtfertigt sein, in der diesjährigen Rektoratsrede dem im Schoße der Bundesversammlung angeschlagenen Thema weiter nachzugehen, und ich beehre mich daher, zu ihnen zu sprechen "Vom Ringen um die christliche Grundlage der Schweizerischen Eidgenossenschaft seit der Geltung der Bundesverfassung von 1874."

2.

Über die geistige Herkunft der Schweizerischen Eidgenossenschaft kann kein Zweifel bestehen: sie hat sich gebildet im Schoße der christlichen Einheitskultur des Mittelalters, und der geistig-geistliche Hintergrund der zwei ersten Jahrhunderte ihrer Geschichte ist die christliche Glaubenswelt römisch-katholischer Prägung. Im 16. Jahrhundert wurde zwar die Einheitlichkeit dieser Glaubenswelt zerschlagen, aber das bedeutete keineswegs eine Säkularisierung des Hintergrundes der Schweizerischen Eidgenossenschaft; im Gegenteil, die Christlichkeit dieses Hintergrundes wurde durch die Reformation auf der einen und die Restauration des römischen Katholizismus auf der andern Seite neu gestärkt; nur daß sich dieser Hintergrund nun in zwei konfessionellen Prägungen darstellte. Noch die Bundesverfassung von 1848 spiegelt deutlich diese geistige Herkunft unserer Geschichte: an ihrem Eingang steht die Beteuerung: "Im Namen Gottes des Allmächtigen!"; in Artikel 41 wird allen Schweizern, "welche

einer der christlichen Konfessionen angehören, das Recht der freien Niederlassung im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft" garantiert; und Artikel 44 lautet: "Die freie Ausübung des Gottesdienstes ist den anerkannten christlichen Konfessionen im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft gewährleistet."

Wesentlich andern Charakter trägt dagegen die Bundesverfassung von 1874. Von einem positiven Verhältnis der Eidgenossenschaft zu den christlichen Konfessionen ist in ihren Artikeln nicht mehr die Rede, sondern es wird nur noch von der Sicherung des Bürgers gegenüber den Ansprüchen der Konfessionen und von gewissen Beschränkungen des kirchlichen Lebens gesprochen. Allerdings einen radikalen Bruch mit der christlichen Vergangenheit unserer Geschichte bedeutet die Bundesverfassung von 1874 nicht. Noch steht über ihr der alte Ingreß: "Im Namen Gottes des Allmächtigen!"; noch trägt das eidgenössische Feldzeichen das alte christliche Symbol des Kreuzes; noch werden im eidgenössischen Heere christliche Gottesdienste veranstaltet; noch empfiehlt die Bundeskanzlei in ihren Schreiben die "getreuen, lieben Eidgenossen"in den Machtschutz Gottes, und noch tragen eidgenössische Münzen die Umschrift: "Dominus providebit." Aber trotzdem ist der letzte geistige Hintergrund der Schweizerischen Eidgenossenschaft' seit 1874 offiziell nicht mehr die Welt des christlichen Glaubens, sondern irgend ein unbestimmtes Etwas, und dieser Sachverhalt wirkte sich in nachhaltigster Weise auf das ganze Sein und Leben unseres Volkes aus, auch wenn in den Kantonen das Verhältnis zum christlichen Glauben weithin viel positiver gestaltet blieb. 5 5

Allerdings wurde auch nach der Annahme der Bundesverfassung von 1874 die Säkularisierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft nicht einfach als eine unabänderliche Tatsache hingenommen, sondern von beiden Konfessionen aus wurde in mannigfaltigster Weise darum gerungen, der schweizerischen Volksgemeinschaft die christliche Grundlage zu erhalten oder zurückzugewinnen. An diesem Ringen ist letztlich jedes Glied der Kirche beteiligt, sofern es wahrhaft überwältigt ist von der Majestät der Christuswelt; einen Teil dieses Ringens stellt nicht minder auch die ganze vielverzweigte Wirksamkeit der Konfessionen als ganzer dar. Doch müssen wir uns darauf beschränken, ein paar besonders bedeutsame Äußerungen dieses Ringens herauszugreifen.

3.

Eine erste Gruppe solcher Äußerungen stehen noch im unmittelbaren Zeichen des Vorstürmens des Liberalismus und des Sieges, den er in der Bundesverfassung von 1874 erstritten hatte.

Auf römisch-katholischer Seite tritt uns zunächst der alte Kämpe Graf Theodor Scherer-Boccard entgegen. 6

Seine öffentliche Wirksamkeit reicht in die ersten Jahre der Regenerationszeit zurück. 1816 als Sohn eines Solothurnischen Oberamtmanns in Dornach geboren, begründete Theodor Scherer bereits mit zwanzig Jahren die katholisch-konservative "Schildwache am Jura"; sie trug das Motto: "Nous ne voulons pas la contrerévolution, mais le contraire de la revolution" und wollte für die "Harmonie zwischen Kirche und Staat" kämpfen. Früh trat Scherer auch in nahe Beziehungen zur Nuntiatur und zur Kurie,

und 1852 erhob ihn Pius IX. in den Grafenstand. 1857 rief Scherer mit Joseph Ignaz von Ah, dem später berühmten "Weltüberblicker" von Kerns, zusammen den "Schweizerischen Piusverein" ins Leben und wurde sein erster Präsident; der Zweck des Vereins war, die Katholiken des Schweizerlandes "zur Bewahrung und Erhaltung ihres heiligen Glaubens sowie zur eifrigen Betätigung desselben durch die Liebe und christliche Liebeswerke und zur Pflege katholischer Wissenschaft und Kunst"zusammenzufassen. Als 1870 der Bundesrat die Revision der Bundesverfassung von 1848 einleitete, war es der Piusverein, der sofort die Forderung stellte, "daß die Schweizerische Eidgenossenschaft in der Bundesakte als ein christlicher Staat erklärt und den anerkannten christlichen Konfessionen die hieraus fließende Rechtsstellung gewährt werde"; für den Fall, daß "dieser althergebrachte Standpunkt" nicht belieben und an Stelle des von den Vätern ererbten christlichen Staates "die freie Kirche im freien Staat" gesetzt werden sollte, so müsse dieser neue Standpunkt für alle Konfessionen gleich maßgebend und zumal auch für die katholische Kirche eine volle Wahrheit sein. 7

Die Bundesverfassung von 1874 entsprach, wie wir wissen, diesem Begehren nicht. Umso mehr fühlte sich Theodor Scherer aufgerufen, die unheilvolle Entwicklung, in der er die Schweiz und die gesamte Völkerwelt Europas begriffen sah, aufzudecken und für die Rettung und Zurückgewinnung der christlichen Grundlage des staatlichen Wesens einzutreten. So erschien 1875 seine umfangreiche Schrift: "Der christliche Staatsmann." Das was Scherer im Tiefsten bewegt, zeigen gleich die ersten Sätze des Vorwortes: "Durch Europa geht gegenwärtig das Streben, Christus aus dem öffentlichen Leben zu verbannen und den sogenannten ,modernen Staat', d. h. einen ,Staat ohne

Religion und Konfession' einzuführen; dieses Unterfangen hüllt sich in das Gewand der Humanität und Kultur, es weiß unter der Maske des Fortschritts die öffentliche Meinung so zu blenden, daß manche bereits einen Verstoß gegen unsere Zeit darin erblicken, wenn man noch von einem ,christlichen Staat' und einem ,christlichen Staatsmann' spricht."Die Schrift bietet den Grundriß einer vollständigen politischen Ethik christlich-katholischer Prägung: es wird geredet von Staat und Kirche, von Kultur und Schule, von Justizverwaltung, Polizeiwesen, Auswärtigen Angelegenheiten und Ökonomie. Ihrem Gehalt nach trägt sie stark kompilatorischen Charakter; ihre Hauptgewährsmänner und Hauptquellen sind, abgesehen von der Heiligen Schrift, Thomas von Aquino, Karl Ludwig von Haller, Félicité de Lamennais,, Gioacchino Ventura, Friedrich Julius Stahl, die verschiedenen Kundgebungen Papst Pius' IX., vor allem der Syllabus von 1864. Eines der Hauptmotive, das durch die ganze Schrift hindurchgeht, ist der Satz: "Gerechtigkeit und Liebe bilden den Grundcharakter des christlichen Staates, und hierin liegt sein Unterschied und Vorzug vor dem heidnischen."

Neben Scherer steht in vorderster Kampflinie der Luzerner Staatsmann Anton Philipp von Segesser. 8

Auch er hatte seine Hauptschlachten bereits vor 1874 geschlagen und sich in ihnen nicht zuletzt ebenfalls gegen die Entchristlichung der Bundesverfassung gewehrt. Berühmt ist das Votum, das er am 7. Dezember 1871 im Nationalrat abgegeben hatte: die Glaubens- und Gewissensfreiheit wolle auch er durchaus anerkannt wissen; aber zugleich solle die Christlichkeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft in der Verfassung ausgesprochen werden; man habe von einem allgemeinen Schweizerbürgerrecht

gesprochen; "wir sollen nicht mehr Zürcher, Luzerner, Urner sein, sondern nebulose Gestalten von Schweizerbürgern, die über das gesamte Territorium der Eidgenossenschaft schweben, bis sie einen Punkt finden, wo sie sich niederlassen wollen; und nun sollen wir ebenso auch nicht mehr Katholiken oder Protestanten sein, sondern nebelhafte, konfessionslos-eidgenössische Religionsgestalten, die in der Leere der Negation herumschwimmen; noch stehe das Kreuz, das gemeinsame Symbol aller christlichen Konfessionen, auf unsern Fahnen und auf dem Siegel der Eidgenossenschaft; schäme man sich des Christentums, so solle man auch sein Zeichen von Fahne und Siegel entfernen und es durch eine Wurst ersetzen, das Sinnbild unterschiedloser Zentralisation in ein rein äußerliches mechanisches Bindemittel." 9

Aber auch nachdem die Bestimmungen der Bundesverfassung von 1874 gegen Segesser ausgefallen waren, hörte er nicht auf, seine mahnende Stimme zu erheben. Am wuchtigsten geschah das in einer Schrift, die wie diejenige Scherers aus dem Jahre 1875 stammt, in der Schrift über den "Culturkampf." Wie "Der Christliche Staatsmann" Scherers beschäftigt sich auch "Der Culturkampf" Segessers nicht nur mit der Schweiz, sondern mit der Gesamtsituation der europäischen Völkerwelt. Seine Hauptthese ist: im Kulturkampf geht es um die Entscheidung zwischen der christlichen Kultur auf der einen und dem totalitären Machtstaat säkular-antichristlicher Prägung andrerseits. Es ist nicht so, daß Segesser die römisch-katholische Politik in jeder Beziehung billigte; er hält insbesondere dafür, daß die Dogmatisierung der Infallibilität inopportun gewesen sei, so daß seine Schrift sogar Gefahr

lief, auf den Index gesetzt zu werden. 10 Aber im Grunde gehe es im Kulturkampf gar nicht um die Bekämpfung des Vatikanums, sondern um jenen viel tiefern Gegensatz. "Der sogenannte Culturkampf", sagt Segesser wörtlich, "ist im letzten Grunde nichts anderes als der Kampf der im Staate verkörperten modernen Cultur gegen das Christentum selbst, gegen die christliche Cultur." Es sei durchaus richtig, wenn Eduard von Hartmann in seiner Schrift über "Die Selbstauflösung des Christentums" schreibe: der letzte und tiefste Sinn des Kulturkampfes sei die Entscheidung der Frage, ob für das Bewußtsein der heutigen Menschheit das Jenseitige oder das Diesseitige, das Himmlische oder das Weltliche, das Ewige oder das Irdische den Vorrang habe, ob das christliche oder das Kulturinteresse überwiege. Gewiß sei der Kampf und Gegensatz christlicher und unchristlicher Weltanschauung keine neue Tatsache; aber das Neue sei, daß das widerchristliche Element sich nun der Staatsgewalt des modernen totalitären Staates bemächtigt habe. Den eigentlichen Exponenten dieses widerchristlichen totalitären Macht-Staates sieht Segesser in Bismarck; "in dem Majordomus des neuen Weltreiches"habe das widerchristliche Element "seinen umgekehrten Constantin" gefunden; allerdings sei Bismarck in dieser Beziehung nicht der schiebende, sondern der geschobene, und es gehe ihm die tiefere Einsicht in die notwendigen Ergebnisse seiner Politik vollständig ab. Aber auch im schweizerischen Kulturkampf handle es sich um die gleiche weltumstürzende Tendenz: "die schweizerischen Republikaner vergessen fast die Grundsätze der demokratischen Freiheit über dem Entzücken, das sie empfinden, wenn sie die Identität ihrer innern Politik, die Gleichförmigkeit ihrer Organisationen

mit denen des großen Nachbarlandes constatiren können." Das Werkchen schließt mit dem Satz: die Weltherrschaft der Römer habe Jahrhunderte gedauert, weil diese, auf republikanischer Grundlage erwachsen, neben dem Cäsar und seinem Gesetz der individuellen und municipalen Freiheit weiten Spielraum gelassen hätten; die Herrschaft der Deutschen werde von kürzerer Dauer sein, weil sie, auf der Idee des absoluten Staates fußend, die menschliche Freiheit in ihren unveräußerlichsten Gebieten bedrohten.

Auch auf der Seite des schweizerischen Protestantismus setzte man sich mit der Entwicklung der Dinge auseinander.

Und zwar wurde auch da, wenigstens zum Teil, die Forderung erhoben, die christliche Grundlage der Schweiz nicht preiszugeben.

Besonders in den Revisionskämpfen wurde dieser Standpunkt vertreten. So heißt es etwa in einem Artikel des "Volksblattes für die reformierte Kirche der Schweiz" vom 21. Oktober 1871: der religionslose Moralstaat sei ein Unding, die Ausgeburt eines Theoretikers, der sich selbst nicht gekannt habe, geschweige das Leben der Menschheit; man möge lange einwenden, durch das Bekenntnis zum christlichen Glauben tue der Staat denjenigen seiner Bürger, die diesen Standpunkt nicht einnehmen könnten, Unrecht; umgekehrt sei auch gefahren; gottlob stünde unser Staats- und Volksleben noch auf einer durch und durch christlichen Grundlage, und diejenigen, die sich zu solcher Höhe noch nicht hätten emporschwingen können, mögen sorgen, daß sie auch nachkommen; daß aber der Staat sie dazu ermuntere, sei kein Unrecht.

Auf dem gleichen Standpunkt steht die zu Basel im Jahre 1875, also nach der Annahme der Bundesverfassung erschienene, gleichsam das Gegenstück zu Scherers

"Christlichem Staatsmann" bildende Schrift "Ueber den christlichen Staat" von Heinrich Thiersch. Auch Thiersch hat das Bewußtsein, an einer Wende der Zeiten zu stehen: "der Boden des alten Rechts... sinkt unter unsern Fußen ein und wird von den Meereswellen weggerissen; wer sich gedrungen fühlt, etwas zu thun zur Vertheidigung der noch vorhandenen Reste eines christlichen Staatswesens, muß eilen", sagt er im Vorwort. Diese Entwicklung sei allerdings nicht unverschuldet: die Unwahrheit des angeblich christlichen Staatswesens in frühern Zeiten habe nicht nur aufhaltend und störend, sondern geradezu zersetzend gewirkt. Aber umsomehr müsse nach dem recht verstandenen christlichen Staat, der alle Bedingungen des öffentlichen Wohles in sich trage, gerungen werden. Die Schrift von Thiersch darf allerdings nicht in vollem Sinne für den schweizerischen Protestantismus in Anspruch genommen werden; denn der Verfasser stammte aus dem bayrischen Luthertum, war dann als Professor in Marburg zum Irvingianismus übergetreten und hatte bei der Abfassung seiner Schrift wesentlich die deutschen Verhältnisse im Auge. Aber sie gehört doch auch in den Zusammenhang, von dem hier die Rede ist, weil sie auch in der Schweiz beachtet und als maßgebendes Wort beurteilt wurde. So. druckt z. B. das "Volksblatt für die reformierte Kirche der Schweiz" ein ganzes Kapitel daraus ab, und zwar das Kapitel, das sich mit der Frage der Trennung von Kirche und Staat befaßt und dabei zu dem Schlusse kommt: "nicht der christliche, wohl aber der religionslose Staat sei utopisch; darum: fester Bestand einer Nationalkirche und Religionsfreiheit daneben, dies ist die Anordnung, die am meisten befriedigt, die wir uns wünschen, der wir nachstreben sollen".

Der wesentlichere Teil des schweizerischen Protestantismus

stand allerdings auf einem andern Boden: er gab den offiziell-christlichen Charakter der Schweizerischen Eidgenossenschaft preis und begnügte sich damit, die Freiheit der Konfessionen gegenüber dem Staate, besonders dem Bunde, zu verfechten.

In diesem Sinne äusserte sich während des Revisionskampfes etwa der Zürcher Antistes Georg Finsler an der Tagung der schweizerischen Predigergesellschaft von 1871 11, der Basler Jurist Andreas Heusler in der "Allgemeinen Schweizer Zeitung" von 1873 12 und der Schaffhauser Antistes Johann Jakob Metzger im "Volksblatt für die reformierte Kirche der Schweiz" von 1874: "für die Kirche fürchten wir ohnehin nichts, da sie auf einer ganz andern Grundlage ruht als auf der einer zeitweiligen Verfassung 13".

Nachdem die Bundesverfassung in Kraft getreten war, übernahm dieselbe Linie die in dem schon oft genannten Jahre 1875 unter dem Namen des "Eidgenössischen Vereins" gegründete Vereinigung konservativer Protestanten vornehmlich aus den Kantonen Basel, Zürich, Bern und Schaffhausen. In den am 6. Mai 1875 angenommenen Statuten heißt es: "Der Verein wird kräftig eintreten für die Grundsätze der Gewissens,- Cultus-, Glaubens- und Lehrfreiheit ... gegenüber dem Bestreben nach schrankenloser Ausdehnung der Staatsgewalt 14".

Deutlicher noch wird im "Programm des Eidgenössischen Vereins" von 1879 gesagt, der Verein fordre Schutz "nicht nur für die Rechte des Staates und der einzelnen Bürger gegenüber kirchlichen Institutionen, sondern auch für die Rechte der kirchlichen Genossenschaften." Immerhin grenzte man sich nicht nur gegen den Staat ab, sondern bekannte sich auch zu einer positiven Staatsaufgabe: der Verein werde sich die Erhaltung und Stärkung der unentbehrlichen Grundlagen eines gesunden Staatslebens, des religiösen Sinnes, eines starken Rechts- und Freiheitsgefühls, der Einfachheit und Solidität im öffentlichen und im Privatleben überall angelegen sein lassen.

Wieder eine andere Losung gab der Berner Staatsrechtslehrer Carl Hilty aus 15. Zu der politischen Entwicklung der Eidgenossenschaft stellte er sich viel positiver ein als die katholischen und protestantischen Konservativen; aber deswegen geriet er dennoch nicht in Gegensatz zu Christentum und Kirche; vielmehr sah er in dem, was die Kirchen zu verkündigen haben, gerade eine wesentliche Kraftquelle für das, was die liberale Demokratie sich zum Ziel gesetzt hatte; allerdings zeigt er sich dabei nicht unberührt von einer kulturkämpferischen Einstellung. Seinen Standpunkt vertrat er zunächst in einem akademischen Vortrag des Jahres 1875 über "Ideen und Ideale schweizerischer Politik". Als die wesentlichen Aufgaben der Schweizerischen Eidgenossenschaft bezeichnet er darin die drei folgenden: erstens "praktische Herstellung einer wahren Demokratie, vorbildlich und glaubhaft für die ganze Welt", zweitens "Heilung der sozialen Uebel durch Aufnahme des Wahren in den sozialistischen Ideen der Zeit", drittens "Herstellung einer äußern Form der wahren christlichen Religion, die innerlich lebenskräftig

und vollkommen frei, doch keinen Staat im Staate und keine kosmopolitische Herrschaft bildet." Näher ausgeführt sind diese Gedanken in den aus dem nämlichen Jahre 1875 stammenden "Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft". Das Wesen der Schweiz findet Hilty in einem Doppelten: erstens darin, daß sie eine Nationalität sei, die hoch über der bloßen Bluts- und Sprachverwandtschaft stehe, zweitens aber darin, daß sie die uralte germanische Volksfreiheit in Europa durch die Jahrhunderte auf alle kommenden Geschlechter weiterleite. Damit sie aber das leisten' könne, müsse sie von einem hohen sittlichen•Geist erfüllt sein. Diese Füllung sei aber wesentlich Aufgabe des Staates: der Staat müsse heute in mancher Beziehung die Kirche beerben, d.h. sich ihre bisherigen Aufgaben entschieden aneignen; dem heutigen Staatsbewußtsein der Völker genüge der bloße Rechtsstaat nicht, sie wollten vielmehr den sittlichen Staat, der alle edlen und wahren Interessen des Lebens, nicht bloß den nüchternen Rechtsschutz, umfasse und befriedige. Hiezu müßten allerdings die Kirchengenossenschaften, die in ihm bestünden, tatkräftig Hand bieten und dürften sich nicht vom Staatsleben mißtrauisch absondern: "das Christenthum und die Diener desselben, welche nicht an dieser Aufgabe mithelfen und nicht die politische Freiheit und die wahre Demokratie als einen notwendigen Bestandteil und die allein richtige Konsequenz ihres Glaubens anerkennen wollen, sondern statt dessen irgendwelchen exclusiven oder gar absolutistischen Neigungen huldigen, werden nie mehr das Vertrauen der Völker gewinnen und befinden sich auf einem Abwege."

Mit diesen zahlreichen Kundgebungen des Jahres 1875 waren in der Hauptsache die Positionen bezogen, und in den nächsten Jahrzehnten wurde nichts wesentlich Neues zum Problem der Christlichkeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft

beigetragen. Nur gelegentlich kam es zu vorübergehenden Auseinandersetzungen.

Die wichtigste dieser Auseinandersetzungen wurde veranlaßt durch den Beschluß der Bundesversammlung vom Jahre 1882, zur Ueberprüfung und gesetzlichen Regelung des Volksschulwesens der Kantone einen eidgenössischen Erziehungssekretär anzustellen. Der Eidgenössische Verein ergriff sofort das Referendum und erließ eine Proklamation. Darin heißt es, der in der Bundesverfassung enthaltene Grundsatz, daß es den Kantonen unbenommen sei, den christlichen Religionsunterricht beider Konfessionen in ihren öffentlichen Primarschulen als in einem dem Lehrplane eingeordneten Fache durch Lehrer oder Geistliche erteilen zu lassen, müsse unbedingt anerkannt bleiben; die Bekämpfung des Beschlusses der Bundesversammlung habe zum Zweck, die Rechte der Kantone und Gemeinden gegen unberechtigte Eingriffe der Zentralgewalt, die Rechte der Eltern gegen unbefugte Eingriffe des Staates, die Freiheit der religiösen Überzeugung gegen die Intoleranz des Unglaubens sowie die Freiheit des Gewissens zu schützen. An die Seite der konservativen Protestanten traten die konservativen Katholiken. Einer ihrer Wortführer war Anton Philipp von Segesser. Auf einen "Offenen Brief" von hundertundvier National- und Ständeräten erwiderte er mit einer "Unverschlossenen Antwort"16: Die Bestimmung der Bundesverfassung, die öffentlichen Schulen müßten von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können, fordere wohl, als eine selbstverständliche Pflicht des Anstandes, die Toleranz, aber niemals die Konfessionslosigkeit; auf diese aber ziele die Einführung des eidgenössischen Erziehungssekretärs

ab; nun sei aber das Schweizervolk in seiner überwältigenden Mehrheit nicht konfessionslos, und die projektierte Bundesschule setze sich daher in Opposition mit dessen immenser Mehrheit; "indem Sie in der Schule die Konfession bestreiten, bestreiten Sie die Religion aller Konfessionen, und um den Rest Ihrer Bundesreligion wird Ihnen niemand viel geben." Bekanntlich wurde in der Volksabstimmung der eidgenössische "Schulvogt", wie er genannt wurde, mit großer Mehrheit nach Hause geschickt.

4.

Ein neues Ringen um die Grundlagen der Eidgenossenschaft hob mit dem Ausbruch des Weltkrieges im Jahre 1914 an, und es setzte sich fort durch die Dauer des Krieges, die Nachkriegszeit und die Zeit, die dem neuausgebrochenen Krieg voranging. In diesem Ringen hat auch dasjenige um die christliche Grundlage unseres Landes seine bedeutsame Stelle.

Auf römisch-katholischer Seite steht in erster Linie der Freiburger Gelehrte und Publizist Gonzague de Reynold. Eine ganze Fülle von Schriften ist es, in denen er aus seiner Vision der Dinge heraus mit leidenschaftlichem Herzen das Schweizervolk zur Umkehr aufruft. Es seien nur die hauptsächlichsten genannt: von 1929 "La democratie en Suisse", von 1934 "L'Europe tragique" und "Die Schweiz im Kampf um ihre Existenz", von 1938 "Conscience de la Suisse" und von 1939 die deutsche Bearbeitung des letztgenannten Buches: "Selbstbesinnung der Schweiz". Das Anliegen Gonzagues de Reynold ist in allen Schriften im Wesentlichen das nämliche: Die heutige schweizerische Demokratie beruhe auf dem falschen Menschenbegriff des 18.

Jahrhunderts und der Französischen Revolution und sei dadurch zwangsläufig bei einer Massenherrschaft, einem Totalismus und einem Materialismus der Weltanschauung angelangt. Wenn sie nicht umkehre, so gehe sie an diesen Übeln zugrunde. Als Losung dieser Umkehr gibt de Reynold den Ruf aus: Rückkehr zum Föderalismus und der hinter ihm stehenden Weltanschauung des christlichen Glaubens. Die eidgenössische Bundesverfassung hebe an im Namen Gottes des Allmächtigen, unsere Fahne trage als Zeichen das Kreuz; wir gäben uns immer noch als christlicher Staat. In der Tat verdankten wir dem Christentum den Geist der Gemeinschaft; nur der christliche Glaube habe beim Zusammenbruch des römischen Reiches und den Einfällen der Barbaren die Gallo-Romanen, die Burgunder, die Alemannen und die Rätier dazugeführt, sich wiederzufinden und sich neuzuverbinden in einer Einheit, aus der alle andern hervorgingen: der geistigen Einheit. Und die Rückkehr zu dieser großen christlichen Tradition werde nun zur Pflicht, sie werde zur Pflicht gegenüber der Vergangenheit, die fortzusetzen uns aufgegeben sei, gegenüber der Zukunft, die wir vorzubereiten hätten, sie werde zur Pflicht gegenüber uns selbst und gegenüber Europa. Trotz der Glaubensspaltung werde diese Rückkehr den Katholiken und den Protestanten zur gemeinsamen Pflicht, indem sich diese über die christliche Auffassung des Staates einig geblieben seien. "Heute hat für die christlichen Schweizer die Stunde einer nationalen Aktion geschlagen; denn wenn wir eine unabhängige Schweiz wollen, eine Schweiz, die das Beispiel gibt und ein Vorbild werden kann, eine starke Schweiz, die endlich weiß, was sie zu verteidigen hat, müssen wir mit der Grundlage beginnen: einer christlichen Schweiz." "Was der Liberalismus gewollt hat: die persönliche Freiheit, was die Demokratie gesucht hat: die Volksherrschaft, was

der Sozialismus verspricht: die soziale Gerechtigkeit, das gilt es zu verwirklichen, aber mit andern Mitteln."17

Zu den Männern, die sich von der römisch-katholischen Seite her für die Erneuerung der Schweiz aus der christlichen Wahrheit heraus eingesetzt haben und einsetzen, gehört auch der derzeitige Bundespräsident, Dr. Philipp Etter. Schon in der 1925 erschienenen "Kurzen Staats- und Verfassungskunde" sprach er im letzten Abschnitt von der Notwendigkeit und. dem Segen einer harmonischen Zusammenarbeit von Staat und Kirche. Stärker noch wird die Bedeutung des christlichen Moments für das Leben der schweizerischen Eidgenossenschaft in der Jubiläumsschrift von 1931 über die "Schlacht am Gubel und ihre Bedeutung für die katholische Schweiz" herausgearbeitet: zunächst feiert Etter den am 23. Oktober 1531 erfochtenen Sieg der katholischen Innerschweizer über die reformierten Orte als die Rettung des Katholizismus der Innerschweiz vor der Zwinglischen Reformation; dann aber gedenkt er auch des auf ihn folgenden Friedens von Deinikon, der das friedliche Nebeneinanderleben der christlichen Bekenntnisse eingeleitet habe; und gerade die gegenwärtige Zeit rufe mehr denn je dem Zusammenschluß und dem Zusammenwirken aller gottes- und christusgläubigen Kräfte zu gemeinsamer Abwehr eines gewaltigen Sturmes, der die heiligsten Güter unserer christusgläubigen Völker mit roher Gewalt niederzureissen drohe; "der Geist von Deinikon, der Geist des konfessionellen Friedens soll das ganze gottes- und christusgläubige Volk zum gemeinsamen Verteidigungskampf zusammenführen für den Gottes- und Christusglauben, für die christliche Sitte und für die Grundlagen der ganzen abendländischen Kultur."In der 1933 erschienenen Schrift "Die vaterländische Erneuerung und wir"sodann

setzt sich Etter mit den verschiedenen frontistischen Bewegungen auseinander; er stimmt mit ihnen darin überein, daß der Freiheitsbegriff des Liberalismus überspannt worden sei und einer allgemeinen Auflösung entgegenführe; aber der frontistischen Erneuerung stellt er die christliche gegenüber; in seinen Reformvorschlägen für das wirtschaftliche Gebiet schließt er sich an die päpstliche Enzyklika "Quadragesimo anno" vom 15. Mai 1931 an; daneben verlangt er vor allem eine Erneuerung der Schule aus dem christlichen Geist: der liberale Staat habe die religiös "neutrale"Schule geschaffen, eine Schule ohne Gott, ohne Christus und ohne Kreuz; bei der Jugend, in der Schule müsse in erster Linie die geistige und christliche Erneuerung einsetzen; setze sie hier nicht ein, so bleibe der ganze Neubau Kartenhaus. Systematischer und umfaßender sind diese Gedanken in der 1934 erschienen Schrift über die "Schweizerische Demokratie" dargelegt. Zuerst wird ein Bild von der Demokratie der alten Eidgenossenschaft entworfen, dann ihr gegenüber die liberale Demokratie des neunzehnten Jahrhunderts charakterisiert. Etter anerkennt allerhand Wertvolles am Liberalismus und tadelt die Opposition und Sezession des Sonderbundes gegen die Regeneration der Eidgenossenschaft: "eine starre Versteifung auf das Bestehende ist nie von Gutem und in der Regel unfruchtbar." Bedenklich aber erscheint ihm der geistige Gehalt des Liberalismus, die Inthronisation des von Gott losgelösten Menschen und die damit zusammenhängende Saekularisation des ganzen öffentlichen Lebens: "Die Laisierung des öffentlichen Lebens und die negative Haltung, die der liberale Staat dem religiösen Bekenntnis gegenüber einnahm, war eine der Hauptsünden, deren wir die liberale Demokratie anklagen." Darauf bespricht Etter die zwei Bewegungen, die gegen die liberale Demokratie aufgebrochen

seien, den auf den Materialismus begründeten und auf die Diktatur des Proletariates lossteuernden Sozialismus auf der einen und den auf die Rasse begründeten und auf den Gewaltstaat lossteuernden Faschismus auf der andern Seite und stellt ihnen die christliche Demokratie gegenüber. Das Wesentliche erscheint ihm nicht die Änderung der Form, sondern die Änderung des Inhalts; so soll selbstverständlich die Glaubens- und Gewissensfreiheit voll gewahrt bleiben; doch soll sie in positivem Sinne verwirklicht werden, d. h. im Sinne des positiven staatlichen Schutzes für die positive Betätigung des Bekenntnisses. Besonderes Gewicht legt Etter sodann wieder auf die Rezeption der berufsständischen Ordnung und auf die Wiederherstellung der christlichen Schule. Seine Ausführungen schließt er mit den Worten: "im Neuaufbau einer christlichen Demokratie erblicke ich die einzige Rettungsmöglichkeit; Zeiten des Umbruchs stellen Alle, die in engerem oder weiterem Kreis einen führenden Einfluß auszuüben berufen sind, vor eine schwere, ernste Verantwortung; ... die elfte Stunde hat geschlagen; wollen wir warten, bis die zwölfte schlägt?"

Neben Gonzague de Reynold und Philipp Etter steht auf römisch-katholischer Seite im Vordergrund der vom Protestantismus zum Katholizismus übergetretene Theologe und Kulturphilosoph Oskar Bauhofer mit seinem zu Anfang dieses Jahres erschienenen Werke: "Eidgenossenschaft". In ihm widmet er ein besonderes Kapitel dem "christlichen Wurzelgrund" unseres Landes. "Die Schweizerische Eidgenossenschaft" beginnt er, "ist, geschichtlich betrachtet, das Werk und die Heimat christlicher Menschen."Erst "die Bundesphilosophie von 1874" habe dieses christliche Erbe verleugnet. Immerhin sei es heute in gewisser Weise auch ein Glück, daß wir nicht mit einem christlichen Legalismus, mit einer formalen

Christlichkeit des Staates belastet seien, daß die Neubesinnung gänzlich ungestört, gänzlich unpräjudiziert von einem unmittelbaren "Staatsinteresse"ihren Gang nehmen könne. Allerdings werde vielleicht aus der Neubesinnung wieder einmal die innere Ermächtigung erwachsen, aus der weltanschaulichen Neutralität herauszutreten, in die die Eidgenossenschaft sich zu hüllen für gut befunden habe, und das christliche Erbe auch im eidgenössischen Raum zu neuer Geltung und Sichtbarkeit zu erwecken. Großes Gewicht legt Bauhofer darauf, daß die beiden großen christlichen Konfessionen sich bei dieser christlichen Erneuerung "ritterliche Waffenbrüderschaft"leisteten. Die theologischen Fragen, die zwischen Katholizismus und Protestantismus schweben, sollen dabei nicht verwischt werden. "Aber etwas anderes ist möglich und gefordert in dieser geschichtlichen Situation, der wir alle ohne Ausnahme verhaftet sind: Katholizismus und Protestantismus stehen in diesem Raum der bürgerlichen Welt als die Repräsentanten der christlichen Tradition, der christlichen Lebensordnung; es ist unmöglich und undenkbar, daß die beiden großen Bekenntnisgemeinschaften in der gegenwärtigen Weltsituation sich nicht gegenseitig diese Dignität und diese Funktion zuerkennen, daß sie beide die Hüter und Wahrer des christlichen Erbes in unsern Völkern und Vaterländern sind; ... die Forderung der Stunde, dem christlichen Erbgut ein Schutzwall zu sein, erlaubt keinen Aufschub."

Neben die drei Wortführer der römisch-katholischen Kirche stellen wir drei Zeugen des Protestantismus.

Zunächst Leonhard Ragaz. Von leidenschaftlicher Glut verzehrt, steht er seit Jahrzehnten da und ruft mit unermüdlicher Stimme die zeitgenössische Völkerwelt mit allen Gebieten ihres Lebens und all ihren Bewegungen unter die Gottesherrschaft. Wir können aus der Fülle

seines Schrifttums 18 nur Weniges herausgreifen. Aus der Krisis des Weltkrieges stammen der an der Aarauer Studentenkonferenz von 1916 gehaltene Vortrag über die "Sittlichen Ziele der Volksgemeinschaft" und das im Dezember 1917 vollendete Werk: "Die neue Schweiz". Im Aarauer Vortrag geht Ragaz von der innern Not der Schweiz, die im Zusammenhang mit dem Weltkrieg aufgebrochen ist, aus. Ihre tiefste Ursache sieht er darin, daß unser Leben, besonders unser politisches und soziales, die sittliche Orientierung verloren habe: "wir sind, vielleicht manchmal im Namen der Religion, von Gott abgefallen zu den Götzen."Dieser Not gegenüber ruft Ragaz dazu auf, "von einer heidnischen Politik zu einer Politik Christi überzugehen", "die Aufgaben des Gottesreiches mit Ernst und Andacht zu erkennen und mit ehrlichem Willen anzufassen"; wir fragen nicht: "Schweiz oder Gottesreich?", sondern erfassen auf dem Boden, wo wir gerade als Schweizer stehen, das Gottesreich." Die Gedanken des Aarauer Vortrages sind näher ausgeführt im Werk über die "Neue Schweiz". Die Demokratie wurzle in einem geistigen und sittlichen Glauben, und wenn sie erneuert werden solle, so sei "eine religiöse Erneuerung, ein Auftreten neuer höchster Kraft, eine neue Reformation", "ein Wunder des Geistes" nötig; das "Soli Deo. gloria" sei das letzte Geheimnis auch der Demokratie. Wenn dieses Neue aber Ereignis werde, dann ergebe sich alles Andere von selbst. Und so entwirft Ragaz ein umfassendes politisches und kulturelles Programm der erneuerten schweizerischen Demokratie; besonders wichtig sind ihm die Beziehungen zur Völkerwelt und die neue soziale Ordnung, aber auch die Erneuerung der ganzen Lebenshaltung:

"einen Puritanismus haben wir wieder nötig, einen neuen Puritanismus nennen wir ihn, weil er natürlich in neuen Formen auftreten muß, und namentlich nicht auf dem Zwang beruhen darf, sondern auf der freien Einsicht; aber kommen muß dieses Läuterungsfeuer, wenn uns national geholfen werden soll." Schließlich spricht Ragaz auch noch von der Schule, indem er sich gegen den Zentralismus und Etatismus des Schulwesens, ja sogar gegen den Schulzwang wendet. Diesen Gedanken über die Schule und die Erneuerung des Volks- und Völkerlebens durch die Erneuerung des Schulwesens hat Ragaz in den folgenden Jahren besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 1920 erschien das Werk: "Die pädagogische Revolution; zehn Vorlesungen zur Erneuerung der Kultur", und 1925 gab er mit Ludwig Köhler zusammen sechs Vorträge über "Die heutige religiöse Lage und die Volksschule"heraus. Das erstere Werk geht von der Universität aus, faßt aber schließlich, wie der Untertitel sagt, die gesamte Kultur und ihre Lage ins Auge. Ragaz sieht die Kultur in tiefem Verfall begriffen, und den Grund dieses Verfalles findet er darin, daß unsere Kultur nicht mehr in einer letzten geistigen Einheit verwurzelt sei; von daher komme der Verfall, der Verfall des Einen in das Viele, des Ganzen in die Teile, des Geistes in die Materie, des Qualitativen in das Quantitative, der Seele in die Sache, der Freiheit in den Mechanismus, des Menschen in die Technik; mit dem absoluten Wert des Menschen sei auch die Demokratie verloren gegangen, das soziale Leben sei entartet zu Mammonismus und Krieg; dämonische Mächte wie Nationalismus, Imperialismus und Militarismus, Etatismus, Intellektualismus, hätten den Einzelnen wie die Völker ergriffen und dem gewaltigsten Zusammenbruch der ganzen Menschengeschichte entgegengetrieben. Die Heilung sei letzten Endes

nur in einer Rückkehr zu Gott zu finden; und alle Erneuerungen und Revolutionen, die soziale, die politische, die pädagogische müssten letztlich in einer religiösen Erneuerung und Revolution gipfeln. Im Mittelalter sei alles menschliche und menschheitliche Wesen in einer Theokratie, einer Gottesherrschaft, zusammengefaßt gewesen. Eine solche Theokratie müsse wieder geschaffen werden; nur müsse man auf Zwangsmittel verzichten und sich bloß auf die Macht der Wahrheit stützen; an die Stelle der Kirche müsse das Reich Gottes treten, die Wirklichkeit des lebendigen Gottes selbst, der nicht in einem besondern Tempel wohne, sondern die Welt zum Tempel habe, mit andern Worten: es müsse das katholische Ideal auf protestantischer Grundlage verwirklicht werden. In den Vorträgen von•1925 finden sich die gleichen Grundgedanken, nur daß dort das Problem der Volksschule den Ausgangspunkt bildet. In ihnen steht auch ein besonderer Abschnitt über die schweizerische Volksgemeinschaft: Das Größte und Beste an unserer schweizerischen Geschichte und Volksexistenz ströme her aus jener freien, laienhaften Theokratie, die einst besonders auf dem Boden der Schweiz verkündigt und zum Teil auch verwirklicht worden sei, und es sei unsere Aufgabe, "eine schweizerische Volksgemeinschaft herzustellen, die von einer neuen Theokratie her eine neue Demokratie wird, eine religiöse und soziale Demokratie in großem Sinn und Stil." Als im Jahre 1933 in Deutschland der Nationalsozialismus zur Herrschaft kam, und auch in der Schweiz allerhand Erneuerungsbewegungen aufbrachen, ergriff auch Ragaz, ähnlich wie etwa Etter, das Wort, indem er unter dem Titel "Die Erneuerung der Schweiz", ein "Wort zur Besinnung"herausgab. Ragaz begrüßt es, daß nun endlich große Volkskreise begriffen, daß die Schweiz eine tiefgreifende Erneuerung nötig habe. Aber allerdings, die

Erneuerung, die man ausrufe, sei in mancher Beziehung schlimmer als der Zustand, dem man abhelfen wolle. So geht er daran, die Erneuerung, wie sie ihm zu schauen gegeben ist, zu verkünden. Wieder ist das erste und letzte Wort das Reich Gottes oder die Theokratie. Aus ihr, der Theokratie, müsse die schweizerische Demokratie erneuert werden, müsse der Sozialismus zu seinem eigentlichen Wesen zurückkehren, müsse der Nationalismus bejaht und zugleich begrenzt werden, erhalte auch die korporative Idee ihr Recht und ihre Bedeutung. "Diese Revolution Gottes", so schließt Ragaz, "diese Revolution von Gott in Christus her und zu ihm hin, sie ist das, was wir in letzter Instanz glauben und wollen. Aus dieser Revolution, die wir im Zusammenhang dieser Ausführungen eine neue Reformation nennen können, wird allein auch die neue Schweiz geboren werden."

Nicht minder als Ragaz ist der Basler Historiker Hermann Bächtold von dem Ringen nach Erneuerung der Schweiz aus der Wahrheit des christlichen Glaubens innerlich umgetrieben. 19 1916 griff er in die große vaterländische Debatte, die der Weltkrieg hervorgerufen hatte, ein mit der Schrift "Die nationalpolitische Krisis in der Schweiz und unser Verhältnis zu Deutschland". In ihr geht es Bächtold darum, die Schweiz zu warnen, aus einem wesentlich naturrechtlich-aufklärerischen Denken heraus einseitig gegen Deutschland Stellung zu beziehen und sich in einen unhaltbaren schweizerischen Nationalismus hineinmanövrieren zu lassen. In einem Kapitel spricht er vom individualistisch-liberalistischen Denken und stellt ihm

die positive Staatsgesinnung gegenüber 20; dabei wendet er sich auch an die Christen: was uns Christen angehe, so sollten wir uns viel entschlossener, aktiver und positiver zum Staate stellen, nicht weil wir den Staat als die vollendetste "civitas Dei" betrachteten, vielmehr gerade weil wir das nicht könnten und doch das Bild jener im Herzen trügen. In einem andern Kapitel ist vom staatsbürgerlichen Unterricht die Rede; Bächtold bejaht ihn nur soweit, als er vertiefte Einführung in das ganze politische Geschehen der Gegenwart sei; einen besonderen staatsbürgerlichen Moralunterricht lehnt er jedoch strikte ab; gewiß sei das staatsbürgerliche Handeln eine besondere Provinz sittlicher Betätigung; aber auch die staatsbürgerliche Sittlichkeit quelle doch aus derselben Wurzel, aus der die sittlichen Kräfte in alle Lebensbeziehungen überhaupt ausstrahlten; und diese Wurzel sei keine andere als die religiöse. 21 Das sind die ersten programmatischen Kundgebungen des christlichen Politikers Hermann Bächtold. In der Folge warf er sich zunächst vor allem auf den Kampf um die christliche Schule, indem er am 18. Oktober 1919 vor dem Evangelischen Schulverein der Schweiz über die "Schulpolitische Stellung und Aufgabe der christlichen Gemeinde in unserer Zeit"sprach 22 und 1921 die Broschüre herausgab: "Freie Schule oder Staatsschule?; eine Frage an christliche Eltern." Bächtold geht aus von der Problematik der neutralen Staatsschule: die staatliche Schule könne eine wahre Erziehungsstätte nicht mehr sein, weil sie vom letzten und höchsten Lebensziel

nicht mehr reden dürfe; in dieser Degradierung verfalle sie der seelischen Dürre; in Wirklichkeit werde allerdings die Vertreibung jeder Weltanschauung aus der Staatsschule nicht möglich sein, weil niemand ohne Weltanschauung sein könne; aber das Christentum sei im Weichen begriffen, und an seiner Stelle setze sich in der Schule immer mehr eine unkontrollierbare Moral und Lebenslehre durch. Demgegenüber verlangt Bächtold, daß der Staat durch eine angemessene Subventionierung die Schaffung freier Schulgemeinden für alle diejenigen Volkskreise ermögliche, die auf dem festen Grund einer bestimmten Weltanschauung stünden. Auf Grund dieser Forderung entstand 1922 im Kanton Basel-Stadt die Freischul-Initiative, wurde aber in der Volksabstimmung vom 17./18. Februar 1923 verworfen. Mit seiner Forderung christlicher Freischulen gibt Bächtold den Anspruch, daß die gesamte schweizerische Volksgemeinschaft auf christlicher Grundlage ruhen solle, zunächst gewiß preis, und er sagt es ausdrücklich, daß er das Sich-Klammern an die Idee des christlichen Staates für einen irrigen Standpunkt halte. Doch liegt ihm aller Separatismus fern; er ruft vielmehr nach der christlichen Freischule, damit wieder aus höchster Höhe herunter der Geist wahrer Solidarität gepflanzt werden könne, und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß gerade ein freies christliches Schulwesen der Durchgangspunkt sei, "daß Gott noch einmal allem Volk seine Schule baue." Aus dieser Verantwortung für die ganze Volksgemeinschaft hat sich Bächtold auch der 1919 gegründeten "Evangelischen Volkspartei der Schweiz" angeschlossen und von 1920 bis 1922 ihr Organ, die "Evangelische Volkszeitung", redigiert. 1924 entwarf er für die "Evangelische Volkspartei"auch ein Parteiprogramm. 23 Über die Grundlage

der Partei spricht er sich darin folgendermaßen aus: "Die Evangelische Volkspartei erstrebt die Umgestaltung der Volksgemeinschaft im Sinne des Evangeliums; sie anerkennt Politik und Gesetzgebung als Mittel dieser Umgestaltung, insoweit die dabei wirksame Gesinnung aus der Erneuerung durch Jesus Christus stammt und sich nach Gottes Willen richtet; sie geht von der Überzeugung aus, daß das Trachten nach dem Reiche Gottes auch zum Ausdruck kommen muß im Kampf gegen die Nöte und Sündhaftigkeiten der Staats-, Sozial- und Wirtschaftsordnung." In Beziehung auf die Schule fordert er, daß die staatliche Schule wieder in höherem Maße Erziehungsschule werde, und daß in Erziehungsziel und Erziehungsarbeit in möglichst hohem Maße die christliche Lebensauffassung zur Auswirkung komme; wo dagegen die staatliche Schule eine christliche Erziehung nicht mehr verbürge, solle darauf hingewirkt werden, daß der Staat die Bildung freier christlicher Schulen finanziell unterstütze. Im Abschnitt über die Sozialpolitik heißt es, daß die Partei, ausgehend von der Auffassung, daß mit der überlieferten Wirtschaftsordnung vielfach große Ungerechtigkeiten verbunden seien, für diejenigen Umgestaltungen und Reformen der Wirtschaftsordnung eintrete, die den ökonomisch Zurückgesetzten das Gefühl der Ausnutzung und der Hintanstellung zu nehmen vermöge; sie suche sich von dem starren Gegensatz: "bürgerlich-sozialistisch" freizuhalten und wolle Brücken schlagen von Volksklasse zu Volksklasse und den Geist der Bruderliebe setzen an die Stelle von Standesdünkel und sozialer Überhebung auf der einen Seite, von Haß und gewaltsamem Umsturzwillen auf der andern.

Die Erneuerung der Schweiz aus dem Geist des Evangeliums heraus ist endlich auch ein heiliges Anliegen des großen Zürcher Rechtslehrers Max Huber, Präsidenten des

Internationalen Gerichtshofes im Haag in den Jahren 1952 bis 1927 und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz seit 1928. Wie Wenigen steht ihm die ungeheure Dynamik des gegenwärtigen politischen Lebens der ganzen Völkerwelt lebendig vor Augen; aber als eine unendlich darüber erhabene Größe schaut er die Welt Gottes in Jesus Christus: ,je mehr der Mensch", so sagt er selbst in einem seiner Vorträge, "von der Höhe des Evangeliums aus schauen darf, um so mehr sieht er die nahen und die fernen, die großen und kleinen Dinge des geschichtlichen Geschehens an ihren wirklichen Platz gerückt; von der Höhe des Evangeliums aus sind selbst die Hochgebirge der Politik nur Hügel in der endlos weiten Ebene der Zeit"24. Von da aus hat Huber immer wieder das Wort zum Problem "Evangelium und politisches Leben"ergriffen. 1923 erschien das Referat: "Staatenpolitik und Evangelium". 1934 sprach er im Rahmen des von der Zürcher Studentenschaft veranstalteten Vortragszyklus "Politik als gegenwärtige Entscheidung" über "Wesen und Sinn des schweizerischen Staates". Am Schluß kommt er auf den Ingreß der Bundesverfassung: "Im Namen Gottes des Allmächtigen" zu sprechen und stellt die Frage, ob er für das heutige Schweizervolk noch einen Sinn habe. Kein Mensch könne diese Frage mit Sicherheit beantworten; aber eines sei gewiß: "wenn die Eingangsworte der Verfassung für uns keinen Sinn mehr haben würden, dann wäre uns wohl auch der Sinn dessen, was das Wesen unseres schweizerischen Staates ausmacht, nicht mehr bewußt, und wenn dem Wesen der Sinn fehlt, dann ist auch das Wesen des Staates an der Wurzel getroffen; wo aber das Wesen nicht mehr rein und kraftvoll vorhanden ist, ist auch das Sein des Staates in Frage gestellt". In einem im nämlichen Jahre 1934 an der Christlichen Studentenkonferenz

in Aarau gehaltenen Vortrag über "Evangelium und nationale Bewegung" betont Huber besonders die kultur- und staatskritische Bedeutung des Evangeliums: es sei die Korrektur einer doppelten Hybris, der Verabsolutierung der Freiheit, sei es des Einzelnen oder des Staates, sowie der Verabsolutierung der Autorität und der staatlichen Gemeinschaft; zugleich bewahre es allerdings auch vor einem grundsätzlichen Pessimismus: der Christ stehe in zwei Welten, in einer gefallenen und in einer erlösten, im gegenwärtigen und in dem in Christus angebrochenen Aeon; und wenn es oft scheine, als ob die Mächte dieser Welt allein die Geschichte beherrschten, harre er aus im Glauben, daß der Sieg seinem Herrn gehöre am Ende der Zeiten 25. Aus dem Jahre 1935 stammen die beiden Vorträge "Der Christ und die Politik" und "Das Verhältnis der Kirche zur Politik". In dem letztem behandelt Huber auch das Problem der "christlichen Partei". Die Forderung, eine aus christlicher Verantwortung bestimmte Gesamtpolitik zu treiben, sei grundsätzlich berechtigt; allerdings stehe eine solche Partei besonders vor zwei Gefahren, vor der Gefahr, als große Volkspartei, im Ausgleich der in ihren Gliedern verkörperten, auseinanderstrebenden Interessen, nach innen eine Kompromißpolitik zu treiben, oder, als eine wirtschaftlich homogene Partei, die Wahrung der Interessen ihrer Glieder als eine christliche Forderung zu betrachten; in einer christlichen Partei müsse das Religiöse den Primat über das Politische haben; dieses Erfordernis werde in einer numerisch kleinen, nicht auf Massenwirkung ausgehenden Partei sich am ehesten verwirklichen können; als gesinnungstreue Stoßtruppe könne eine christliche Partei im politischen Leben eines Volkes ein wertvoller Faktor sein.

Allerdings sei nicht weniger wichtig, ja noch wichtiger als die Bildung konfessioneller, christlicher Parteien das Eindringen von überzeugten Gliedern der christlichen Gemeinde in alle Parteien, und sie sollten in diesen nicht nur spezielle kirchliche oder christliche Forderungen vertreten, sondern, schon durch ihr bloßes Dasein, an ihrem Platz der besonderen, aus der christlichen Glaubenshaltung folgenden Grundeinstellung zur Politik Ausdruck geben. 1937 nahm Huber an der oekumenischen Konferenz für praktisches Christentum in Oxford teil und präsidierte die besonders wichtige Sektion, die das Problem "Kirche und Staat" zu behandeln hatte. In einem Studienbuch über "Die Kirche Christi und die Welt der Nationen", das 1938 die Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für praktisches Christentum herausgab, stellte er sodann "Einige Betrachtungen zum christlichen Verständnis der internationalen Rechtsordnung" an. Weiterhin suchte er in dem von der Neuen Helvetischen Gesellschaft für das Jahr 1939 herausgegebenen "Nationalen Jahrbuch": "Die Schweiz"die Frage: "Sind wir ein christlicher Staat?" zu beantworten. Bei dieser Untersuchung kommt er zu folgenden Schlüssen: wenn man auf die rechtlichen Institutionen, speziell der Kantone schaue, so nehme in diesen die christliche Kirche, in ihren Hauptkonfessionen, einen bedeutenden Raum ein und erfasse, rechtlich, einen sehr großen Teil des Schweizervolkes; institutionell trage demnach der schweizerische Staat ein christliches Gepräge. Wenn es sich dann darum handle, inwieweit in diesem weiten kirchlichen Rahmen christlicher Glaube erkannt, bekannt und festgehalten werde und in christlicher Sitte und tätiger Teilnahme am kirchlichen Leben sich äußere, so werde man wenigstens in einem sehr großen Teil des Landes, einen weiten Abstand zwischen institutionellem Kirchentum und lebendiger

Kirche nicht verkennen können; gehe man endlich aus dem kirchlichen Rahmen hinaus in das bürgerliche Leben, speziell auch in die Politik, so werde man gewahr, daß das betont Christliche hier sehr wenig zum Ausdruck komme, daß das Leben außerhalb der kirchlichen Sphäre einen betont weltlichen, wenn auch nicht unchristlichen Charakter aufweise. Worauf es ankomme, sei demnach nicht in erster Linie eine Änderung der Institutionen, sondern das Vorhandensein einer lebendigen Kirche; mit diesem Vorhandensein stehe und falle das Wiederchristlichwerden der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Endlich führte Huber im Sommer dieses Jahres die schon genannte deutsche Bearbeitung der "Conscience de la Suisse" Gonzagues de Reynold mit einem Vorwort ein; er hebt darin besonders hervor, daß die Philosophie Gonzagues dc Reynold nicht still stehe an den Grenzen geschichtlicher und nationaler Erkenntnis; man könne in der Tat nicht vom Schweizer sprechen ohne Besinnung auf die Grundlagen der menschlichen Existenz überhaupt; erst vom christlichen Verständnis des Menschen, der im Ewigen wurzelnden menschlichen Person könnten die Erscheinungen der Geschichte in eine sinnvolle Rangordnung gebracht werden.

5.

Noch ließe sich ein ganzer Chor von Stimmen anführen, die in derselben Richtung gehen 26. Aber die paar Stimmen, die wir haben reden lassen, dürften genügen, eindrücklich zu machen, daß es sich bei der Frage

nach der christlichen Grundlage der Schweizerischen Eidgenossenschaft um ein Problem handelt, an dem niemand, der bei der vaterländischen Besinnung mitreden möchte, vorbeigehen darf.

Man könnte vielleicht versuchen wollen, die Dringlichkeit der Frage mit dem Einwand zurückzuweisen, daß ein Staatsvolk keinen gemeinsamen geistig-metaphysischen Hintergrund haben müsse, sondern daß es genüge, wenn es durch bestimmte Rechtsnormen zusammengehalten werde. Nun aber gibt es keine frei in der Luft schwebenden Rechtsnormen, sondern auch die Auffassung des Rechts ist ganz und gar bedingt durch letzte Glaubensentscheidungen oder übergreifende Weltanschauungen; wenn also ein Volk sich auf bestimmte Rechtsordnungen einigen soll, so muß es, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, auch in einem die Rechtssphäre überragenden geistigen Hintergrund einig sein. Damit hängt zusammen, daß kein Staat nur Rechtsstaat sein kann, sondern, daß Recht und Kultur gar nicht zu trennen sind, und daß auch der liberalste Rechtsstaat zugleich Kulturstaat sein muß. Damit wird aber die Notwendigkeit noch größer, daß er aus einer bestimmten einheitlichen Idee heraus handelt.

Diese einfachen Wahrheiten sind in den letzten Generationen verkannt worden, und das Leben der Völker begann, einer allgemeinen Desintegration zu verfallen. Darum erleben wir jetzt einen geradezu furchtbaren Gegenschlag, indem neue Ideen auf den Thron erhoben und die Völker mit einem ungeheuren Apparat von Propaganda und Gewalt in ihren Bann gezwungen werden.

So kommen wir auch in der Schweiz nicht darum herum, neu nach den letzten Grundlagen unserer Volksgemeinschaft zu fragen. Und die Antwort auf dieses Fragen kann meiner Überzeugung nach keine andere

sein als diejenige, die uns die eben miteinander ins Auge gefaßten Männer zugerufen haben.

Allerdings haben wir nicht darum wieder nach der christlichen Grundlage der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu ringen, weil die Eidgenossenschaft unter dem Zeichen des christlichen Glaubens entstanden ist und Jahrhunderte lang unter diesem Zeichen gelebt hat. Dies hieße, geschichtliche Tatbestände zu letzten Prinzipien erheben, und das wäre ein gefährliches und unheilvolles Unterfangen. Vielmehr kann der Ruf zur Rückkehr der Schweizerischen Eidgenossenschaft in den Raum des Evangeliums nur darin seine Begründung haben, daß das Evangelium die Wahrheit ist, aus der die Welt geschaffen wurde und in der sie allein bestehen und gerettet werden kann, und daß alle andern Losungen Schein und Trug sind.

Die Forderung, daß, wie alles menschliche Wesen, so auch das staatliche Wesen seinen Grund in der Welt Gottes und seines Christus suchen müsse, darf auch nicht dahin mißverstanden und mißbraucht werden, daß das Evangelium in den Dienst der Staaten zu treten, daß es sich in die Interessen der Politik herabziehen zu lassen habe. Vielmehr steht die Welt des Christus erhaben über allen Gebilden der Weltgeschichte, und an diesen ist es, sich in die Welt des Christus emporheben zu lassen. So ist die Heiligkeit und Herrlichkeit Gottes auch nicht dazu da, den Belangen der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu dienen, sondern die Schweizerische Eidgenossenschaft ist berufen, Gott und seinem Reiche zu dienen, unter die Herrschaft Gottes zu treten.

Mit dem allem ist nicht gemeint, daß der konfessionelle Zwangsstaat des Mittelalters und des 16. und 17. Jahrhunderts wieder aufgerichtet werden soll. Dieser Zwangsstaat war mit großer Schuld beladen, und man kann das 18. und 19. Jahrhundert auch vom christlichen Glauben

aus weithin als eine notwendige Reaktion auf den konfessionellen Zwangscharakter jener Zeiträume betrachten. An der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die die Bundesverfassung von 1874 proklamiert hat, soll nicht im Mindesten gerüttelt werden; im Gegenteil, sie soll auch als Forderung der christlichen Erkenntnis unverrückt bestehen bleiben. Aber ebenso stark und lebendig sollte zur Geltung kommen das, was über der Bundesverfassung steht, das "Im Namen Gottes des Allmächtigen".

Allerdings liegt das nicht ohne Weiteres in unsrer Macht, sondern es hängt wesentlich davon ab, ob uns, um mit Leonhard Ragaz zu reden, "das Wunder des Geistes" geschenkt wird. Aber auf dieses Wunder des Geistes hin können wir doch wenigstens unruhig und sehnsüchtig werden. Und wer sollte heute nicht auf dieses Letzte, auf diese wahre Grundlage der Schweizerischen Eidgenossenschaft hin unruhig und sehnsüchtig werden, wo die Glocken der Weltgeschichte Sturm läuten?