Wandlungen
und Entwicklungen
in der Elektrodynamik
Rektoratsrede
gehalten am 13. November 1943 an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule von
Prof. Dr. Franz Tank
Polygraphischer Verlag A.-G. Zürich • 1944
Zu den großen Wundern unseres täglichen Lebens gehört das
Auftreten von Kräften. Tief unten im bunten Füllhorn des Naturgeschehens
liegen die Rätsel von Kraft und Stoff verborgen. Die
Kräfte sind es, welche (las große Uhrwerk des Weltengetriebes im
Gange erhalten; sie verursachen Bewegung und ändern Zustände.
Mit einem Worte: Kräfte sind die Grundlage jeglicher Dynamik.
Solange die Kräfte ganz unmittelbar auf Druck, Zug oder
Stoß beruhen, sind sie für uns anschaulich, gewissermaßen selbstverständlich.
Man beobachtet aber auch, daß elektrisch geladene
Körper oder Magnetnadeln sich auf Distanz beeinflussen. Im
Grunde ist dieses Verhalten sehr merkwürdig. Wir wollen in solchen
Fällen einmal von «Fernkräften» sprechen. Das berühmteste
Beispiel von Fernkräften bilden die Gravitationserscheinungen der
Materie, welche in großartiger Weise in der wechselseitigen An.
ziehung zwischen der Sonne und den Planeten zur Auswirkung gelangen.
Das von Newton aufgestellte Gravitationsgesetz wurde zum
Vorbild aller Fernewirkungsgesetze. Es fand eine solch restlose Bestätigung
in der Himmelsmechanik, daß an seiner Zuverlässigkeit
nicht zu zweifeln war. In dem Maße, wie die Mechanik sich entwickelte
und festigte, erstarrte aber auch ihr Kern, das, was Newton
eine «Philosophia naturalis» genannt hatte. Und während unter
der Meisterhand der großen Analytiker des 18. Jahrhunderts um
diesen Kern eine prächtige, edle Schale sich formte, nämlich die
«Méchanique rationelle» eines Lagrange, Euler oder Laplace, blieb
im Kerne selbst manches dunkel. Man hielt es aber nicht mehr für
zweckmäßig, nach seinen Problemen zu fragen, und damit fand man
sich auch bereit, die Fernkräfte als eine gegebene Naturtatsache
anzuerkennen. Was durch den Erfolg glänzte, wurde zur Richtlinie,
und was unverständlich war, wurde Gewohnheit. So mußte einer
Naturauffassung der Weg geöffnet werden, welche in der Zurückführung
aller Erscheinungen auf die Gesetze der Mechanik das
höchste Ziel jeglicher naturwissenschaftlichen Erkenntnis sah. Kein
Geringerer als Laplace wurde zum Verkünder jener kühnen Vision,
gemäß welcher eine ideale Intelligenz nur noch aus gegebenen Kräften
und Anfangsbedingungen auf mechanischer Grundlage den Ablauf
alles Geschehens zu berechnen hätte, damit wir jeglichen Wissens
über Vergangenheit und Zukunft teilhaftig würden.
Die Entwicklung der Physik im 19. Jahrhundert hat die Unhaltbarkeit
dieser Gedanken dargetan. Als Ergebnis der Forschung
vieler Dezennien kristallisierte sich die Erkenntnis heraus, daß es
Fernkräfte nicht geben kann, und weiter, daß gerade deshalb die
Natur sich nicht rein mechanisch verstehen läßt. Diese große
Wandlung der Anschauungen fand ihren Ursprung und Nährgrund
in der Lehre von den elektrischen und magnetischen Kräften, in
der Elektrodynamik. Die Elektrodynamik lag von Anfang an längs
der Berührungslinie zwischen Mechanik und Elektrizitätslehre.
Hier, im Reiche der Kräfte, bestand Gelegenheit zu einem fruchtbaren
Austausche geistiger Güter, entbrannte aber auch zwischen
Mechanik und Elektrodynamik ein langer und erbitterter Kampf
uni die Vorherrschaft. Es war die Bestimmung der Elektrodynamik.
daß aus ihrem Boden heraus ein neues, umfassendes Weltbild erwachsen
sollte, welches in Harmonie die verschiedenen Gebiete der
Physik in sich zu vereinigen imstande war.
Das Wort Elektrodynamik ist von dem großen Franzosen Ampère
geprägt worden, der auch als ihr erster bedeutender Vertreter
zu gelten hat, und von dem ein Zeitgenosse sagte: «Er ist ohne
Zweifel einer der tiefsten spekulativen Köpfe und scheint eine ungeheure
allgemeine Gelehrsamkeit zu besitzen.» Unter Elektrodynamik
verstand er das Kräftespiel zwischen stromdurchflossenen
elektrischen Leitern, bezw. zwischen bewegten elektrischen Ladungen.
Später, namentlich als die Vorstellung des elektromagnetischen
Feldes mehr und mehr Allgemeingut der Wissenschaft wurde, erweiterte
sich die Elektrodynamik zu einer allgemeinen Lehre von
den elektrischen und magnetischen Kräften und deren gegenseitiger
Verknüpfung. Sie umfaßte damit auch die Grundlagen der Elektrotechnik.
Die Anregung zu seinen berühmten Arbeiten über Elektrodynamik
empfing Ampère durch eine kleine Schrift des dänischen
Physikers Oersted, welche dieser mit Datum vom 21. Juli 1820 an
Freunde und Männer der Wissenschaft verschickte, und welche den
Titel trug: «Versuche über die Wirkung des elektrischen Conflicts
auf die Magnetnadel». Er schildert darin ausführlich, wie er die
Pole einer kräftigen galvanischen Batterie mit einem leitenden
Drahte verbunden und dabei die Ablenkung einer Magnetnadel beobachtet
habe. Oersteds Entdeckung erregte in ganz Europa großes
Aufsehen. An der Académie des Sciences in Paris, die ein Kollegium
erlesener Gelehrter vereinigte, wurden Oersteds Versuche
wiederholt und überprüft. In Kürze entstand dort das bekannte,
von Biot und Savart erst erfahrungsmäßig gefundene, dann von
Laplace mathematisch formulierte Gesetz über die Kraftwirkung
eines stromdurchflossenen Leiterelementes auf einen Magnetpol.
Und schon am 25. September 1820 notierte sich Ampère über eine
Sitzung der Académie des Sciences: «... j'annonçais le fait nouveau
de l'attraction et de la répulsion de deux courants électriques sans
l'intermède d'aucun aimant, fait que j'avais observé sur des conducteurs
pliés en spirales. Je répétais cette expérience dans le
cours de la séance.» Diese Worte umschließen bedeutende Tatsachen.
Ampère hatte beispiellos rasch gefunden, daß auch elektrische
Ströme Kräfte aufeinander ausüben. Er stellte das dazugehörige
Gesetz in mathematischer Fassung auf, das dann später unter
der Bezeichnung «Grundgesetz der Elektrodynamik» in die Literatur
einging.
Dieses Grundgesetz der Elektrodynamik von Ampère, ebenso
wie das erwähnte Biot-Savartsche Gesetz und andere, ältere Gesetze
der Elektrizitätslehre, z. B. das bekannte Coulombsche Gesetz
der Elektrostatik, ist vollständig auf den Boden der Fernewirkungsvorstellungen
gegründet. Wohl sind die Aussagen klar und
einfach, aber es fehlt ein Einblick in allgemeinere Zusammenhänge.
Man war noch nicht an der Wurzel der Erkenntnis angelangt und
fühlte das. Zahlreich sind die Versuche, welche unternommen wurden,
auf fernewirkungstheoretischer Grundlage ein allgemeines
Gesetz zu finden, das alle bisherigen Teilerkenntnisse umfaßte.
Diese Versuche sind heute der Vergessenheit anheimgefallen. Der
bedeutendste unter ihnen stammt von dem trefflichen Physiker
Wilhelm Weber. Er stellte 1846 ein elektrisches Grundgesetz auf,
aus welchem sich auf deduktivem Wege nahezu alle in damaliger
Zeit bekannten elektro dynamischen Beziehungen herleiten ließen.
Diese Leistung fand allgemeine Anerkennung. Ein Freund und Mitarbeiter
von Weber, Rudolf Kohlrausch, äußerte sich darüber: «Die
Richtigkeit des Weberschen Gesetzes an und für sich wird keiner
bezweifeln, wenn er einmal gesehen hat, wie dasselbe allen Ansprüchen
genügt», und noch viel später urteilte Heinrich Hertz über
dieses Gesetz: «Man mag über seine Richtigkeit denken wie man
will, die Gesamtheit dieser Bestrebungen bildete ein in sich geschlossenes
System voll wissenschaftlichen Reizes; wer einmal in
den Zauberkreis desselben hineingetreten war, blieb in demselben
gefangen.
In diesem Zusammenhange dürfte die folgende Einzelheit
nicht ohne Interesse sein. Weber hatte seinem Freunde, dem großen
Mathematiker Gauß in Göttingen. Kenntnis von seinen Überlegungen
gegeben. Gauß, der schon etwa um das Jahr 1835 herum
sich eingehend mit elektrodynamischen Problemen befaßt hatte,
antwortete ihm in einem Briefe vom 19. März 1845: «Hochgeschätzter
Freund! Ich würde ohne Zweifel meine Untersuchungen längst
bekanntgemacht haben, hätte nicht zu der Zeit, wo ich sie abbrach,
das gefehlt, was ich wie den eigentlichen Schlußstein betrachtet
hatte, nämlich die Ableitung der Zusatzkräfte, und zwar
nicht aus der unvermittelten Fernewirkung, sondern, auf ähnliche
Weise wie beim Licht, aus einer in der Zeit sich fortpflanzenden
Wirkung. Mir hatte das damals nicht gelingen wollen; ich verließ
aber, soviel ich mich erinnere, die Untersuchung doch nicht ganz
ohne Hoffnung, daß (lies später vielleicht gelingen könnte, obwohl
erinnere ich mich recht mit der subjektiven Überzeugung,
daß es vorher nötig sei, sich von der Art, wie die Fortpflanzung
geschieht, eine konstruierbare Vorstellung zu machen.» Welche
Sehergabe besaß doch Gauß auch auf dem Gebiete der Physik,
wenn er schon von einer dem Lichte ähnlichen Fortpflanzung der
elektrischen Kräfte spricht, von der man eine konstruierbare Vorstellung
haben sollte!
Das Auffinden solcher konstruierbarer Vorstellungen bedurfte
aber neuer, aus dem Erfahrungserlebnis geschöpfter Gedanken und
mußte einem genialen Experimentator vorbehalten bleiben. Dieser
war Michael Faraday. Sohn eines armen Hufschmiedes, ursprünglich
Buchbindergeselle, kam er mit 22 Jahren in das Laboratorium
des Chemikers und Physikers Davy in der Royal Institution in
London und blieb hier nun während seines ganzen Lebens, erst
als Laboratoriumsgehilfe, Kammerdiener und Sekretär Davys,
später als dessen Nachfolger. Sein Einfühlungsvermögen in die Vorgänge
der Natur war von einzigartiger Vollkommenheit. Für ihn
bedeutete die Natur das große Webermeisterstück, wo alles Beziehung,
Verkettung und Verknüpfung ist. Sein begnadetes Auge ließ
ihn in ihrem Walten, mit Faust, schauend erkennen,
«Wie alles sieh zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt;
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!»
Angeregt durch die Untersuchungen Oersteds und Ampères,
erfand Faraday schon 1821 seine bekannten Rotationsmechanismen
und damit die ersten Modelle elektrischer Maschinen. Von jener
Zeit an suchte er unablässig nach einer Möglichkeit, durch magnetische
Wirkungen oder durch elektrische Ströme selbst wiederum
elektrische Ströme zu erzeugen. Umsonst. Bis er nach langjährigem
Bemühen ani 29. August 1831 in sein Tagebuch eintragen konnte.
es sei ihm gelungen, durch veränderliche Magnetfelder elektrische
Ströme hervorzurufen. An jenem Tage hatte er das berühmte elektromagnetische
Induktionsgesetz gefunden und damit eine Entdeckung
gemacht, welche voit der allergrößten Auswirkung fur die
Wissenschaft und Technik werden sollte. In weiteren neun Tagen
gelangte er zu denjenigen Resultaten, welche er später am Anfang
seiner «Experimental Researches in Electricity» veröffentlichte.
und innerhalb von weniger als einem Vierteljahr gelang es ihm.
die einwandfreie und endgültige Formulierung des elektromagnetischen
Induktionsgesetzes aufzustellen. Von den vielen bedeutenden
Erfolgen Faradays war dies der größte. Er war damals vierzig
Jahre alt.
Faraday ist der Vater der Nahewirkungslehre in der Elektrodynamik.
Er schuf die Vorstellung der elektrischen und magnetischen
Felder, wodurch die gesamte spätere Entwicklung in eine
neue, fruchtbare Bahn gelenkt wurde. Allgemein bekannt ist das
Experiment, bei welchem man Eisenfeilichte auf ein Stück Papier
streut und dann beobachtet, daß in der Nähe eines Magneten diese
Eisenfeilichte längs deutlich erkennbaren Linien sich ordnen. Diese
Linienzüge nennt man magnetische Kraftlinien oder Feldlinien.
Mit etwas veränderten Versuchsbedingungen lassen sich auch elektrische
Kraftlinien zur Darstellung bringen. So einfach diese Dinge
scheinen, so schwer ist es, ihre tiefere Bedeutung klarzumachen.
Wir müssen uns nämlich denken, daß der Raum, in welchem Kraftlinien
nachweisbar sind, und welcher als elektrisches, beziehungsweise
magnetisches Feld bezeichnet wird, in einem eigenartigen
Zustande des Dranges und Zwanges sich befindet. Die Kraftlinien
sind das Mittel zur Beschreibung dieses Zustandes. Ihre Zahl und
Dichte veranschaulicht die örtliche Stärke des Feldes; längs der
Kraftlinien herrscht ein Zug und quer zu ihnen ein Druck. Der
Feldbegriff ist mehr als eine bloße Gedankenkonstruktion; ihm
entspricht eine bestimmte physikalische Realität. Der Physiker hat
längst gelernt, das eigene Ich und seine Empfindungen nicht mehr
zum Maßstab aller Dinge zu nehmen und auch das als Wirklichkeit
gelten zu lassen, was den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen
zwar entzogen sein kann, aber durch Meßinstrumente nachweisbar
ist. Für ihn sind die elektrischen und magnetischen Felder Realitäten,
ebensogut wie das Licht eines unsichtbaren Spektralbereiches
oder die Töne eines unhörbaren Klangbereiches.
Faraday hat nie gerechnet. Sein bedeutendstes Werk, die «Experimental
Researches in Electricity», umfaßt drei Bände und über
3000 numerierte Abschnitte, enthält aber keine einzige Formel.
Dies hängt mit der Singularität von Faradays Begabung zusammen.
So wie bei dem großen Schweizer Geometer Jakob Steiner das Vermögen
der geometrischen Vorstellung nahezu unbegrenzt erscheint,
und er bei den schwierigsten Problemen die Lösungen einfach sah,
so finden wir hei Faraday die Fähigkeit, das physikalische Geschehen
ganz unmittelbar zu erfassen. Und doch stellt kein Geringerer
als James Clerk Maxwell ihn auf die Stufe eines bedeutenden Mathematikers.
Maxwell sagt wörtlich: «Es ist in der Tat so, daß niemand
eine exakte Wissenschaft mit Erfolg pflegen kann, ohne die
für dieses Wissensgebiet besonders geeignete Art von Mathematik
zu kennen. Ich bin daher nicht der Auffassung, daß nur die an sich
so nützlichen Rechnungen und Gleichungen die ganze Mathematik
ausmachen. Die Rechnung ist nur ein Teil der Mathematik. Die
Geometrie der Lage ist ein Beispiel für ein mathematisches Spezialgebiet,
welches ohne die Hülfe von eigentlicher Rechnung aufgebaut
werden kann. Faradays Kraftlinien kommt nun innerhalb
der Elektrodynamik dieselbe Stellung zu wie den Linienbüscheln
in der Geometrie der Lage. Sie liefern eine Methode, uns im Geiste
ein klares Bild von den Dingen zu entwerfen, mit welchen wir uns
beschäftigen. Die Art und Weise, wie Faraday die Vorstellung
seiner Kraftlinien herbeizog und sie mit dem Phänomen der elektromagnetischen
Induktion verknüpfte, beweist, daß er in Wirklichkeit
ein Mathematiker von hohem Range war.»
Und doch blieben Faradays Gedankengänge seinen Zeitgenossen
größtenteils unverständlich. Viel später noch schildert uns der
große Physiker Hermann von Helmholtz die Schwierigkeiten,
welche ihm das Studium der Faradayschen Arbeiten bereitete, mit
folgenden Worten: «Ich möchte Faradays Zeitgenossen nicht herabsetzen,
weil seine Worte ihnen unbestimmt und dunkel erschienen;
ich weiß zu wohl, wie oft ich selbst gesessen habe, hoffnungslos
auf eine seiner Beschreibungen von Kraftlinien und von deren Zahl
und Spannung starrend oder den Sinn von Sätzen suchend, wo
der galvanische Strom als eine Achse der Kraft bezeichnet wird,
und ähnliches mehr.» Dann führt Helmholtz weiter aus: «Jede
tiefgreifende Veränderung der grundlegenden Prinzipien und Voraussetzungen
einer Wissenschaft führt notwendig die Bildung neuer
abstrakter Begriffe und ungewohnter Vorstellungsverbindungen mit
sich. Neue Abstraktionen in allgemeinen Sätzen zu definieren, so
daß nicht Mißverständnisse aller Art vorkommen könnten, ist sehr
schwer. Dem Urheber eines solchen neuen Gedankens wird es
meist viel schwerer herauszufinden, warum die anderen ihn nicht
verstehen, als ihm die Entdeckung der neuen Wahrheit gewesen.
Es brauchte einen zweiten Mann von derselben Tiefe und Selbständigkeit
der Einsicht, der berufen war, in den normalen Formen
des systematischen Denkens das große Gebäude auszuführen,
dessen Plan Faraday in seinem Geiste entworfen hatte. Dieser
zweite Mann war James Clerk Maxwell.»
James Clerk Maxwell wurde am 13. Juni 1831 in Edinburgh
geboren als Sproß einer alten schottländischen Familie. Er sollte
ursprünglich wie sein Vater Advokat werden, entschloß sich
dann aber zu einer der reinen Wissenschaft gewidmeten Laufbahn.
Im Dezember 1850 trat er in das Trinity College in Cambridge
ein, wo auch der große Newton seine Ausbildung genossen hatte.
«Er brachte», so berichtet ein früherer Schulkamerad von ihm,
«eine für einen so jungen Mann ungeheure Menge von Kenntnissen
mit, aber so ungeordnet, daß seine auf das Methodische bedachten
Lehrer sich oft darob entsetzten.» Er liebte nicht nur die
Poesie, sondern dichtete auch selbst gern. Seine Schriften zeichnen
sich denn auch durch literarische Vollendung aus. Der tiefe
und künstlerisch veranlagte Ludwig Boltzmann hat Maxwell einen
Dramatiker unter den Physikern genannt. Die Wucht der Gestaltung
und der Reichtum der Vorstellungswelt in Maxwells Werken
atmen in der Tat einen Geist, der vom Erbe Shakespeares zeugt.
Vierundzwanzig Jahre alt, schrieb Maxwell seine erste größere
Abhandlung, «Über Faradays Kraftlinien», mit einer kurzen, aber
hochbedeutenden und von seltener Reife zeugenden Einleitung.
Eine Reihe von Jahren später erschienen weitere Aufsätze, zusammengefaßt
unter dem Titel «Über physikalische Kraftlinien», und
1864 trug er vor der Royal Society seine berühmte große Abhandlung
vor über «Eine dynamische Theorie des elektromagnetischen
Feldes». In dieser Theorie sind jene partiellen Differenzialgleichungen
niedergelegt, welche noch heute Maxwells Namen tragen
und welche ihn unsterblich gemacht haben. Diese Gleichungen bilden
den Schlüssel zur Erkenntnis alles elektrodynamischen Geschehens,
einschließlich eines großen Teiles der Lehre vom Licht
und einschließlich der weitverzweigten technischen Anwendungen.
Ludwig Boltzmann hat später dem zweiten Teile seiner Vorlesungen
über Maxwells Theorie tier Elektrizität — Goethe frei abwandelnd
— die Worte vorangesetzt:
«War es ein Gott, der diese Zeilen schrieb.
Die mit geheimnisvoll verborgnem Trieb
Die Kräfte der Natur um mich enthüllen
Und mir das Herz mit stiller Freude füllen?»
Maxwells Werk bedeutet den großen Wendepunkt in dei Entwicklung
der Elektrodynamik. Maxwell betonte ursprünglich, daß
er nicht daran denke, eine eigentliche Theorie aufzustellen, sondern
im Gegenteil nur versuchen wolle, an Hand von mechanischen
Analogien — gewissermaßen in der Sprache von Gleichnissen —,
welche unserem Denkvermögen leicht zugänglich sind, physikalische
Vorstellungen zu gewinnen, die der weiteren Entwicklung
eher förderlich als hinderlich sein sollten. Er hoffe dadurch die
Gefahr zu vermeiden, welche eine auf voreiligen Hypothesen aufgebaute
Theorie mit sich bringt. «Denn», sagt er, «wenn wir eine
physikalische Hypothese wählen, so sehen wir die Erscheinungen
wie durch eine gefärbte Brille und sind zu jener Blindheit gegen
Tatsachen und Voreiligkeit in den Annahmen geneigt, welche eine
auf einem einseitigen Standpunkte stehende Erklärung begünstigt.»
Die Maxwellschen Modellvorstellungen sind im Grunde hochinteressant,
jedoch kommt ihnen heute keine praktische Bedeutung
mehr zu. Sie konnten fallen. nachdem das Ziel, nämlich die Aufstellung
der Feldgleichungen, erreicht war, so wie das Gerüst zu
beseitigen ist, wenn der Bau vollendet dasteht.
Aus den Maxwellschen Gleichungen geht hervor, daß jeder
elektrische oder magnetische Vorgang den Charakter eines Wellenphänomens
besitzt. Die Lehre vom Gleichstrom, die Elektrostatik
und die Magnetostatik bilden Grenzfälle davon. Mit Maxwell beginnt
das Wellenphänomen eine zentrale Bedeutung in der Physik
zu gewinnen. Die elektrischen und magnetischen Felder pflanzen
sich von Punkt zu Punkt wellenartig im Raume fort, wobei sie
sich gegenseitig auseinander erzeugen. Fernewirkungen gibt es
keine mehr. Die alten Fernewirkungsgesetze stellen sich als Näherungen
dar für den Fall nicht zu großer Entfernungen. Maxwell
hat die Lehre von den elektrischen Wellen rein theoretisch erschlossen.
Erst ein Vierteljahrhundert später gelang Heinrich
Hertz deren experimenteller Nachweis, worauf dann die großen
Anwendungen in der drahtlosen Telegraphie und Telephonie folgen
konnten. Doch erkannte Maxwell mit voller Klarheit die Identität
der elektrischen Wellen mit dem Lichte. So schlug seine
Theorie eine mächtige Brücke zwischen zwei Gebieten der Physik.
welche bisher nur in loser Beziehung zueinander gestanden hatten:
der Elektrizitätslehre und der Optik.
Den Beweis von der Wesensgleichheit zwischen den elektrischen
Wellen und dem Lichte baute Maxwell auf Versuche von
Wilhelm Weber und Rudolf Kohlrausch. Diese Physiker hatten
1 856 mit einer für die damalige Zeit erstaunlichen Genauigkeit das
Verhältnis der elektromagnetisch gemessenen Einheit der Stromstärke
zu deren elektrostatisch gemessenem Werte ermittelt. Ihre
Methode bestand darin, daß sie die Ladungsmenge eines Kondensators
elektrostatisch bestimmten und dann mit einem Galvanometer
den Strom maßen, der bei der Entladung des Kondensators
sich einstellte. Für die Verhältniszahl, welche merkwürdigerweise
den physikalischen Sinn einer Geschwindigkeit besaß, fanden sie
den Betrag von 310000 Kilometern in der Sekunde. Nach Maxwell
ist nun die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der elektrischen
Wellen im leeren Raume gleich dieser Verhältniszahl. Schon 1862
sagte er in seiner Abhandlung «Über physikalische Kraftlinien» in
ebenso scharfsinniger wie kühner Erkenntnis tier Dinge: «Die Geschwindigkeit
der Transversalschwingungen, welche sich für unser
Medium aus den elektromagnetischen Experimenten von Weber
und Kohlrausch ergibt, stimmt so genau mit der aus optischen Experimenten
berechneten Geschwindigkeit des Lichtes überein, dass
wir kaum den Gedanken zurückweisen können, daß das Licht aus
Transversalschwingungen desselben Mediums besteht, welches auch
die Ursache der elektrischen und magnetischen Erscheinungen ist.
So wollte es das Schicksal, daß die Vertreter dor Fernewirkungslehre
den ersten und wichtigsten Beitrag für den Nachweis der
Richtigkeit der Nahewirkungstheorie lieferten.
Maxwells Theorie fand nur langsam Eingang in die Wissenschaft.
Ihrer Verbreitung stand lindernd im Wege einerseits das
Ungewöhnliche, das ihr anhaftete, anderseits die immer noch starke
Position der Fernewirkungs-Anschauungen, Bahnbrechend wirkte
endlich Maxwells großes Standardwerk «A Treatise on Electricity
and Magnetism», das 1873 erschien und von dem er nicht ohne
Stolz sagte: «Ich habe es nicht als Richter, sondern wie ein Advokat
geschrieben.» Maxwell starb 1879, 48jährig, als erster
Professor für Experimentalphysik des von ihm eingerichteten und
nachmals zu so hoher Berühmtheit gelangten Cavendish-Laboratoriums
in Cambridge.
Zu den frühesten und bedeutendsten Förderern Faraday-Maxwellschen
Gedankengutes auf dein europäischen Kontinente
zählte Hermann von Helmholtz. Hermann von Helmholtz, zehn
Jahre älter als Maxwell, universell begabt, der Musik, Dichtkunst
und Malerei zugetan, war zugleich Physiker, Physiolog, Mathematiker
und Philosoph. Mit Recht reiht man ihn unter die bedeutendsten
Forscher des 19. Jahrhunderts ein. Bande der Freundschaft
verknüpften ihn besonders auch mit dem englischen Physikerkreis.
Maxwell zählte zu seinen größten Verehrern. In einem
Lebensbilde, welches Maxwell von Helmholtz entwarf, nennt er
ihn einen «intellectual giant», einen Riesen an Geisteskraft. Helmholtz
hatte bereits bedeutende Arbeiten über Elektrodynamik veröffentlicht
und war zur Einsicht gekommen, daß die Fernewirkungstheorien
zu Widersprüchen mit den Axiomen der Mechanik
fuhren, wenn man sie auf ungeschlossene Ströme anwendet. Nach
der Maxwellschen Theorie besteht nun neben den Leitungsströmen
eine weitere Art von Strömen. welche Maxwell Verschiebungsströme
nannte. Diese Verschiebungsströme treten vor allem bei
raschen Feldänderungen in Nichtleitern auf und besitzen die Fähigkeit,
in sich selbst geschlossene Stromkreise zu bilden oder offene
Leitungsströme zu geschlossenen Kreisen zu ergänzen. Nachdem
Helmholtz einmal die Überlegenheit der Faraday-Maxwellschen
Anschauungen erkannt hatte, suchte er folgerichtig nach experimentellen
Beweisen für das Vorhandensein solcher Verschiebungsströme
und damit nach weiteren Möglichkeiten der Entscheidung
zwischen Nahewirkungstheorie und Fernewirkungstheorie. Helmholtz
bemühte sich vor allem auch, das Interesse seiner Schüler
auf die neuen Problemstellungen zu lenken. Unter diesen Schülern
ragte vor allen hervor Heinrich Hertz.
Heinrich Hertz ist bekannt geworden als Entdecker der nach
ihm benannten Hertzschen Wellen. Er ist daher zugleich der eigentliche
Begründer der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. Seine
großen Experimentaluntersuchungen fallen in sein 28. bis 32. Lebensjahr
oder in die Zeit, während der er als Professor der Physik
am Polytechnikum in Karlsruhe tätig war. Die Tagebücher von
Hertz sind uns zu einem großen Teil noch erhalten. In anschaulicher
und zugleich spannender Lebendigkeit entrollt sich uns hier
ein Bild des Entwicklungsganges seiner Arbeiten von tier Konzeption
der ersten Gedanken bis zum glücklich vollendeten Versuche.
Am 16. September 1886 schreibt er: «Unschlüssig, welche
Arbeit zu beginnen», am 4. Oktober 1886: «Funkenversuche», am
13. November 1886: «Geglückt, die Induktion zweier ungeschlossener
Stromkreise aufeinander darzustellen», und am 5. Dezember
1886 folgt ein Brief an den verehrten Lehrer Helmholtz: «... Es
ist mir nämlich gelungen, sehr sichtbar die Induktionswirkung eines
ungeschlossenen geradlinigen Stromes» (heute würden wir sagen:
einer Antenne) «auf einen andern ungeschlossenen geradlinigen
Strom darzustellen, und ich darf hoffen, daß der betretene Weg
mit der Zeit die eine oder andere an diese Erscheinung sich knüpfende
Frage zu lösen gestatten wird.» Er stellt nun durch Funkenentladungen
Wellen von wenigen Dezimetern Wellenlänge her und
zeigt deren lichtähnliche Reflexion und Brechung. Große Hohlspiegel
werden hergestellt und Ablenkprismen aus Asphalt, Pech
oder Schwefel gegossen. Seinem Vater gesteht er in einem Briefe.
daß zum Gelingen der Versuche neun Zentner Pech (!) notwendig
waren und fährt dann weiter: «Die Arbeit, die ich in den nächsten
Tagen mit Gottes Hilfe beendigen werde, ist eigentlich eine Lösung
der Aufgabe. welche im Jahre 1879 die Berliner Akademie gestellt hat.
welche aber ohne Bearbeitung geblieben ist. Helmholtz forderte
mich damals zur Bearbeitung auf. aber ich stand davon ab, da
ich gar keinen gangbaren Weg sah. Jetzt ist es mir fast spielend geglückt,
auf einem Wege, der damals freilich nicht zu vermuten war.
Darum ist die Arbeit für mich eine Art persönlichen Triumphes.
Diesen persönlichen Triumph durfte er in sichtbarer Weise
entgegennehmen, als er im September 1889 an der Versammlung
deutscher Naturforscher und Ärzte in Heidelberg seinen berühmt
gewordenen Vortrag hielt «Über die Beziehungen zwischen Licht
und Elektrizität.» Darin führte er unter anderem aus: «Was ist
das Licht? Wir wissen, daß es eine Wellenbewegung ist. Wir kennen
die Geschwindigkeit der Wellen, wir kennen ihre Länge, wir
wissen, daß es Transversalwellen sind, wir kennen mit einem Worte
die geometrischen Verhältnisse der Bewegung vollkommen. An
diesen Dingen ist ein Zweifel nicht mehr möglich; eine Widerlegung
dieser Anschauung ist für den Physiker undenkbar. Die
Wellentheorie des Lichtes ist, menschlich gesprochen, Gewißheit:
was aus derselben mit Notwendigkeit folgt, ist gleichfalls Gewißheit.
Es ist also auch gewiß, daß aller Raum, von dem wir Kunde
haben, nicht leer ist, sondern erfüllt von einem Stoffe, welcher
fähig ist, Wellen zu schlagen, dem Aether.» Und nun bezeichnet
Heinrich Hertz die Frage nach der Natur dieses Aethers als die
brennende Tagesfrage der Physik, indem er fortfährt: «Immer
mehr gewinnt es den Anschein, als überrage diese Frage alle übrigen,
als müsse die Kenntnis des Aethers uns auch das Wesen
der alten Materie und ihrer innersten Eigenschaften, der Schwere
und der Trägheit, offenbaren.» Es sind (lies Worte von prophetischer
Tiefe.
Die nun folgende Entwicklung hat Hertz nicht mehr erlebt.
Er starb am 1. januar 1894, noch nicht 37 Jahre alt, ein unerschöpflich
spendender Geist in einem erschöpften Körper. Die
Elektrodynamik entwickelte sich nun zunächst in einer Richtung,
welche bereits Maxwell vorgeschwebt hatte und schon vor ihm
durch Wilhelm Weber angebahnt worden war, nämlich nach
der Seite der Atomtheorie. Helmholtz schloß 1881 als einer der
ersten aus den Gesetzen der Elektrolyse, daß die Elektrizität
nicht ein beliebig unterteilbares Fluidum sein könne, sondern daß
auch sie letzten Endes eine diskrete Struktur aufweise und aus
letzten Ladungselementen bestehe, den positiven und negativen
Elementarladungen. Diese Anschauung fand ihre Bestätigung bei
den Untersuchungen der Ionen- und Elektronenstrahlen in den
elektrischen Gasentladungen und wurde zum Ausgangspunkt einer
großangelegten Elektronentheorie der Materie. Als deren bedeutendsten
Vertreter dürfen wir den hochbegabten Holländer Hendrik
Anton Lorentz bezeichnen. Nach Lorentz gibt es einen Äther.
welcher im unendlichen Raume in absoluter Ruhe sich befindet.
und in welchem die Maxwellschen Gleichungen strenge Gültigkeit
besitzen. Die Materie baut sich aus den positiven Atomladungen
und den negativen Elektronen auf, indem sie ein mehr oder weniger
geordnetes lockeres und löchriges Gerüst bildet. Durch die
Materie werden jene Modifikationen der elektrischen und magnetischen
Felder bewirkt, welche, makroskopisch gemessen, in den
Materialkonstanten der Stoffe zum Ausdruck gelangen. Der eigentliche
Träger der Felder bleibt jedoch der Äther. So rückt auch in
der Elektronentheorie der Materie das Ätherproblem schließlich
wiederum gegen den Schwerpunkt der Betrachtung. Eine besonders
kritische Lage wurde nun durch die Einbeziehung bewegter
Körper in den Kreis der Untersuchungen, d. h. durch die Fragen
der Elektrodynamik bewegter Körper, geschaffen.
Im ruhenden Äther muß ein elektromagnetisches Signal, z. B.
ein Zeitzeichen oder ein Lichtblitz, als Kugelwelle sich ausbreiten.
Es scheint fast selbstverständlich, daß ein in Bewegung befindlicher
Beobachter, der von seiner eigenen Bewegung nichts weiß.
den Eindruck gewinnt, daß diese Welle in einer bestimmten Richtung
—es ist dies die Bewegungsrichtung des Beobachters —
sich weniger rasch fortpflanzt als in der entgegengesetzten Richtung.
Nun finden sich aber in der Natur keinerlei schlüssige Beweise
für das Bestehen eines solchen Effektes; die feinsten Meßmethoden
führen zu negativen Resultaten. Ob wir relativ zur Sonne
im Raume ruhen, oder ob wir mit der außerordentlichen Geschwindigkeit
von rund 100000 Kilometern in der Stunde nut der Erde
auf ihrer Bahn uns bewegen, immer ist das überraschende und
zunächst unbegreifliche Ergebnis festzustellen, daß ein von einem
Punkte aus gesendetes elektromagnetisches Signal uns als Kugelwelle
erscheint. Das heißt aber, daß eine Relativbewegung der
Erde oder irgendeines bewegten Körpers zu dem als ruhend gedachten
Äther nicht nachweisbar ist. Daraus läßt sich weiter folgern,
daß unsere Experimentierkunst, mit andern Worten unsere
Erfahrung, uns den Nachweis für das Bestehen eines mit substanziellen
Eigenschaften begabten Äthers nicht zu erbringen vermag.
Der Äther hat jedes Versuches gespottet. ihn mechanisch zu begreifen,
und damit reifte schließlich die Erkenntnis, (laß die Natur
überhaupt auf der Grundlage der Mechanik allein nicht verstanden
werden kann.
Den scheinbar unlösbaren gordischen Knoten, welchen das
Ätherproblem bildete, mit dem Schwert des Geistes zerteilt zu
haben, ist Albert Einsteins Verdienst. Wir finden den Namen
Albert Einstein in den Verzeichnissen der Studierenden am Eidgenössischen
Polytechnikum in den Jahren 1897-1900 zusammen
mit denjenigen seiner Studienkameraden Marcel Großmann und
Louis Kollros. Der junge Akademiker scheint schon früh eigene
Wege gegangen zu sein. Die Direktion sieht sich veranlaßt, auf Antrag
des Professors für Physik Einstein einen Verweis zu erteilen
wegen Vernachlässigung des Physikalischen Praktikums. Nach abgelegter
Diplomprüfung wird Einstein Ingenieur am Eidgenössischen
Patentamt. Er entfaltet nun auf dern Gebiete der theoretischen
Physik eine wissenschaftliche Tätigkeit von erstaunlicher
Fruchtbarkeit und Tiefe. Im Jahre 1905 erscheint in den Annalen
der Physik seine inhaltsschwere Abhandlung «Zur Elektrodynamik
bewegter Körper». Erst 26jährig, holt er hier mit seltener Zielsicherheit
aus zu einer großen Revision unserer Vorstellungen über
Zeit und Raum. Tiefschürfend den grundlegenden Unterschied
zwischen Denkgewohnheiten und Denknotwendigkeiten erkennend.
stellt er sein berühmtes Prinzip der Relativität auf, zusammen mit
dem Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. «Die zu
entwickelnde Theorie», sagt er in der Einleitung, «stützt sich —
wie jede andere Elektrodynamik — auf die Kinematik des starren
Körpers, da die Aussagen einer jeden Theorie Beziehungen zwischen
starren Körpern (Koordinatensystemen), Uhren und elektromagnetischen
Prozessen betreffen. Die nicht genügende Berücksichtigung
dieses Umstandes ist die Wurzel der Schwierigkeiten
mit denen die Elektrodynamik bewegter Körper gegenwärtig zu
kämpfen hat.»
Und er stellt sich nun die Frage: «Welche Beziehungen müssen
in der Welt der Physik bestehen, wenn es grundsätzlich unmöglich
sein soll, irgendeine stoffliche Eigenschaft des Trägers der elektromagnetischen
Wellen nachzuweisen?» Er zeigt, daß es auf diese
Frage eine klar umschriebene Antwort gibt und daß diese Antwort
identisch ist mit dem Postulat, daß die Naturgesetze ihre Form
nicht ändern sollen, wenn man von einem ursprünglichen Koordinatensystem
zu einem neuen, relativ zu ihm in gleichförmiger
Translationsbewegung begriffenen übergeht. Dies ist eier Kern der
sogenannten speziellen Relativitätstheorie, welche Einsteins Namen
in alle Welt getragen hat. Die Durchführung seines Postulates gelang
Einstein durch eine geistreiche Abklärung des Begriffes der
Gleichzeitigkeit zweier räumlich getrennter Ereignisse. Diese Art
der Gleichzeitigkeit muß nämlich definiert werden, denn nur die
Gleichzeitigkeit von Vorgängen, welche am selben Ort stattfinden,
ist der Erfahrung direkt zugänglich. Nach der Relativitätstheorie
gibt es keine Gleichzeitigkeit im absoluten Sinne, und als Folge
davon wird die Vorstellung von unvermittelten Fernewirkungen
unhaltbar. In der relativistischen Elektrodynamik ist von vornherein
kein Platz mehr da für Fernkräfte. Nur im Falle, daß die
Lichtgeschwindigkeit als sehr groß betrachtet werden darf gegenüber
jeder sonst vorkommenden Geschwindigkeit, bleiben die alten
Fernewirkungsgesetze als Näherungen bestehen. Die Maxwellschen
Gleichungen behalten jedoch ganz allgemein ihre volle und strenge
Richtigkeit. Der Schütze Maxwell hatte gut getroffen; daß der
Pfeil in der Mitte saß, bewies Albert Einstein.
An der Naturforscherversammlung in Salzburg 1908 war der
junge Ingenieur des Eidgenössischen Patentamtes der Mittelpunkt
der physikalischen Welt; 1909 erfolgte Einsteins Berufung an die
Universität Zürich, womit er die Reihe der großen theoretischen
Physiker eröffnete, deren unsere Schwesteranstalt sich rühmen
darf; 1912-1914 finden wir ihn an der Eidgenössischen Technischen
Hochschule in Zürich.
Der Ausbau der Elektrodynamik auf Grund des Relativitätsprinzipes
führt in die Sphären höchster Abstraktion. Und doch
läßt sich wohl keine angemessenere mathematische Form für die
Elektrodynamik denken als die relativistische. Das Gewand der
relativistischen Formulierung ist der elektrodynamischen Feldtheorie
so angepaßt wie im Märchen der Schuh an tien Fuß des
Aschenbrödels. Es wird eine vierdimensionale Welt geschaffen, in
welcher zu den drei Raumdimensionen noch als vierte, zwar imaginär,
aber formal gleichwertig, die Zeitdimension tritt. Aller Flittertand
von Vorstellungen, der einmal aus der Kammer der Alltagswelt
entlehnt worden war, muß fallen. Anschauung und Sinnenwelt
spielen kaum eine Rolle mehr. Die Denkökonomie der mathematischen
Sprache leistet das Äußerste an Präzision und Kürze. In
Gleichungen von wenigen Zeilen findet sich Grundsätzlichstes zusammengedrängt;
eine Welt liegt in einer Nußschale gefangen. Das
Naturgeschehen ergibt sich als Verwirklichung dessen, was an sich
als das mathematisch überhaupt denkbar Einfachste erscheint. Die
Elektrodynamik geht auf in einer Art Geometrie. Der Raumbegriff
wird erweitert und zu einem neuartigen Fundament der Physik.
Der Raum bleibt nicht mehr das passive Gefäß alles Geschehens,
sondern er übernimmt die Rolle welche man immer dem Äther
zuschreiben wollte. Er ist der Träger tier elektrischen und magnetischen
Felder; (liese sind physikalische Zustände des Raumes.
Es ist, wie wenn in dieser Art Physik der alte Traum vieler
Dichter und Denker von den Urbildern aller Dinge in Erfüllung gegangen
wäre. Goethe schildert uns durch den Mund des Mephisto
diese Welt der Urbilder in folgenden Zeilen:
«Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne.
Den Schritt nicht hören, den du tust.
Nichts Festes finden, WO du ruhst!»
Worauf Faust zuversichtlich antwortet:
«Nur immer zu! wir wollen es ergründen —
In deinem Nichts hoff ich das All zu finden.»
Und es ist so: die relativistische Fassung der Elektrodynamik enthält
— wenigstens zu einem großen Teile — das All der Elektrizitätslehre,
ja der ganzen Physik.
Die Elektrodynamik, so wie sie aus dem geschilderten Entwicklungsgange
herausgewachsen ist, wollen wir die klassische Elektrodynamik
nennen. Viel mehr, als wir uns dessen im allgemeinen
bewußt sind, ist ihr geschichtlicher Verlauf durch die großen Forscherpersönlichkeiten
des 19. Jahrhunderts bestimmt worden. Die
Werke dieser Männer sind umstrahlt vom unvergänglichen Glanze
der Einmaligkeit. Die Elektrodynamik des 20. Jahrhunderts zeigt
neue Aspekte. Aufs tiefste wird sie berührt durch die Problematik
der Beziehungen zwischen Welle und Korpuskel. Der Stern, welcher
dieser neuen Ära vorausleuchtete. wurde von dem deutschen
Physiker Max Planck im Jahre 1900 entdeckt und von ihm «das
universelle Wirkungsquantum» genannt. In seinem Zeichen begann
die Physik neue Reiche zu gründen.
Was das 19. Jahrhundert geleistet hat, übernehmen wir als
Erbe. Dieses Erbe ermöglichte die Schöpfung einer gewaltigen und
schicksalbestimmenden Technik. Die Technik ist eine Macht; aber
ihre Grundpfeiler heißen Erkenntnis und Arbeit, und daher ist sie
in letzter Bestimmung zum Guten berufen. An uns ist es, ihre geschichtliche
Sendung zu erkennen und ihren tieferen Sinn zu erfassen.
Und wenn wir aus dem uns überkommenen wunderbaren
Gefäß des Wissens das Können schöpfen und die Technik formen,
dann müssen wir es tun mit dem Bewußtsein tiefster Verantwortung
und mit einem unentwegten Glauben an die Ideale.