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Die Vorzüge des neuen bernischen Strafprozeßgesetzes.

Eine Rede zum Antritt des Rectorats der Hochschule in Bern,

den 15. November 1850.
Gehalten von
Dr. E. Eduard Pfotenhauer,
Professor der Rechtswissenschaft.
Bern,
Buchdruckerei von Rudolf Jenni. 1850 .

Es ist eine löbliche, auf allen . Universitäten althergebrachte, und auch unsrer Hochschule wenigstens noch nicht entfremdete Sitte, dass der neuantretende Rector seine Collegen und Commilitonen, sowie die Beschützer und Freunde der Wissenschaft einladet, ihre Gegenwart und Theilnahme einem Vortrage zu schenken, durch welchen er sich bei ihnen gewissermassen selbst öffentlich einzuführen und ihrem Wohlwollen sich zu empfehlen gesonnen ist.

Wenn auch ich, dem meine Herren Collegen das Amt eines Rectors übertragen haben, auf den heutigen gewohnten Tag, den Stiftungstag der Hochschule, eine solche Einladung ergehen liess, und wenn ich auf diese Weise ein drei Jahre hindurch von dicker Stätte aus beobachtetes Stillschweigen wiederum zu brechen wage, so geschieht dies sowenig aus dem Grunde, weil ich mir etwa eine besondere Gabe in der Redekunst zutrauete, dass ich im Gegentheil durchdrungen bin von der Ueberzeugung, wie sehr ich, in Ermanglung jeglicher Uebung, Ursache habe, Ihre ganze Nachsicht in Anspruch zu nehmen. Vielmehr geschah dies nur einmal, weil ich thatsächlich den Beweis liefern wollte, wie ich allen auch nicht gesetzlich gebotenen Pflichten meines Amtes nachzukommen bereit bin, und sodann, weil ich, ein Verehrer aller guten Gebräuche der Vorzeit, nicht dazu beitragen möchte, dass man sich dieser Pflicht ganz entwöhnte, um wahrscheinlich gar nichts, oder höchstens ein der materiellen Richtung unserer Tage zusagenderes Festmahl mit Trinkreden an die Stelle treten zu lassen.

Was den Gegenstand eines solchen Vertrags anlangt, so ist er ganz dem Ermessen des Sprechers anheimgegeben. Es hat nicht an Männern gefehlt, welche glaubten, sie müssten ihrer Rede nothwendig eine Beziehung geben zu dem öffentlichen politischen Leben, sei es nun, weil man dies unter den obwaltenden Zeitumständen von ihnen erwartete, sei es, weil sie, ohne eine solche indirekte Aufforderung, sich ganz besonders dazu berufen fühlten. Und in der That könnte nicht unzeitgemäss ein Theolog, an meiner Stelle, über die Unzweckmässigkeit einer Trennung der Schule von der Kirche sprechen: ein Jurist über die rechtliche Stellung der Hochschullehrer, über ihre Pflichten gegenüber dem Staat und der ihnen zur Bildung anvertrauten akademischen Jugend, so wie über die aus treuer gewissenhafter Pflichterfüllung sich ergehenden Ansprüche: ein Mediziner könnte sich versucht fühlen, die behauptete Nothwendigkeit der Amputation aller schadhaften unheilbaren Glieder des menschlichen Körpers auch als das entsprechende Heilmittel für den mit Ueberwucherung bedrohten Staatskörper zu empfehlen: ein Mann der Staatswissenschaften hätte Gelegenheit sich verdient zu machen, weil er vielleicht die wirksamsten und die Privatinteressen am wenigsten verletzenden Mittel anzugehen wüsste, durch welche dem überall gesunkenen Finanzzustand aufzuhelfen wäre, und einem Philologen wäre es zuzutrauen, dass er eine gelehrte Untersuchung über die Bedeutung des griechischen Optativ dazu benutzte, um zu zeigen, wie so Manches noch zu wünschen übrig bleibe in den heutigen Freistaaten im Vergleich mit der idealen Republik Platon's — einer Republik, der es freilich am Nothwendigsten gebricht, und zu allen Zeiten gebrechen wird, nämlich an den idealen Bewohnern. Einem Philosophen endlich stände vermöge des allumfassenden Gebietes seiner Wissenschaft alles Bisherige, und noch manches Andere zu Gebote.

Ich, hochachtbare Versammlung, habe von solchen Beziehungen absehen zu sollen geglaubt, und einen Gegenstand gewählt, der zwar meiner Fachwissenschaft angehört, aber doch von so allgemeiner, tiefgreifender Bedeutung für das gesammte Rechtsleben ist, dass auch Nichtjuristen ihm einiges Interesse zu schenken um so eher geneigt sein werden, als gerade sie dabei eine nicht unwichtige Rolle spielen. Ich meine das strafprozessualische

Institut der Mündlichkeit und Oeffentlichkeit in Verbindung mit den Geschwornen, um dessen Einführung es sich jetzt auch bei uns handelt, und worüber bereits eine so reichhaltige, von Tag zu Tag wachsende, Literatur erschienen ist, dass sie in ihrer Vereinigung eine kleine Bibliothek bilden würde.

Leider aber hat die Mehrzahl dieser Schriften eine vorherrschend polemische Tendenz. Ihre Verfasser kämpfen mit Leidenschaftlichkeit, und eben deshalb nicht ohne Selbstverblendung, die Einen für Beibehaltung des bisherigen, Jahrhunderte lang bestandenen Untersuchungsprozesses, die Andern für unbedingte Einführung des neuen, oder vielmehr — wie sie behaupten — für Wiedereinführung des noch ältern, dem germanischen Mittelalter angehörigen, und nur durch die fremden Rechte und die Despotie der Machthaber aus dem Mutterlande wiederum verdrängten Prozessverfahrens mit Schwurgerichten. Jene sind erfüllt von der Furcht vor den Gefahren und Missbräuchen einer Volksjustiz, wie sie etwa in den ersten Zeiten der französischen Revolution geübt wurde, wo allerdings die Mehrheit der Geschwornen aus halben Bettlern bestand, die kaum die ihnen vorgelegten Fragen verstanden, dem Vorurtheil, der Verführung durch Bestechung zugänglich, und überhaupt um zu geneigt waren, allen Verbrechern ihrer Partei und ihres Standes durchzuhelfen, während sie die Angeklagten, die eine abweichende politische Ansicht hatten, ohne sich viele Gewissensskrupel zu machen, für schuldig. erklärten. Sollen wir — rufen diese Verehrer des Alten .und Hergebrachten aus — sollen wir die rohe, ungebildete oder doch nicht juristisch gebildete Masse wiederum zum Richter über Leben und Tod, über Freiheit, Ehre und Eigenthum machen! Sollen die Früchte einer vielhundertjährigen organischen Entwickelung und Fortbildung weggeworfen, und alle Hoffnungen auf ein fremdländisches Pfropfreis gesetzt werden, von welchem wir nicht wissen, ob es bei uns gedeiht, und wenn es gedeiht, ob und welche Früchte es tragen wird! — Dabei verstehen es diese Männer, die Gebrechen des schriftlichen und geheimen Untersuchungsprozesses so im Schatten zu halten, die Vorzüge dagegen in einem so glänzenden Lichte darzustellen, dass es jedem uneingeweihten Leser räthselhaft erscheinen

muss, wie man im Bestes eines solchen Ideals — was freilich in der Wirklichkeit nirgends anzutreffen ist — Verlangen nach etwas Besserm haben könne.

In ähnlicher Weise raisonniren denn natürlich auch ihre Gegner, in deren Reihen wir meist Männer der Praxis erblicken. Erfüllt zum Theil von überspannten Vorstellungen von der Volksherrlichkeit in den Republiken des Alterthums, zum Theil befangen in den politischen Stürmen und Treiben der Gegenwart, schien es fast, als ob sie es darauf abgesehen hätten, das Volk in Masse wiederum an die Stelle der Regierung zu setzen, und so den. antiken Freistaat mit seinen ungetheilten Gewalten zu reproduciren, ohne zu bedenken, dass dies kein Fortschritt, sondern ein offenbarer Rückschritt in die Zeit der noch unentwickelten Staatenbildung gewesen wäre. Vielleicht aber glaubten sie nur, man müsse seine Forderungen recht hoch stellen, um wenigstens etwas zu erreichen, und zu diesem Etwas zählten sie vor Allem die Schwurgerichte. Nicht bloss —sagen sie — bei Entscheidung der Fragen über Krieg und Frieden, über Besteuerung und über Gesetzgebung gebührt dem Volke eine Stimme, nein, auch die Handhabung der Gesetze, die Rechtsprechung, bisher das Monopol einer im Bewusstsein ihrer Bücherweisheit dünkelhaften Kaste — auch diese muss demokratisiert werden. Die unabhängigen Männer des Volks mit ihrem schlichten gefunden Menschenverstande sind hundertmal befähigter über die Schuld oder Nichtschuld eines Verbrechers abzuurtheilen, als diese besoldeten und ebendeshalb von der Regierung abhängigen, überstudirten Aktenmenschen, diese kaltherzigen, mitleidlosen Stubengelehrten, die meist den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, bei welchen der Geist in den Buchstaben untergegangen ist.

Solche und ähnliche Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen, wie man sie in Zeitschriften und Tagesblättern lesen, in Volksvereinen und Landtagsversammlungen hören konnte, waren begreiflich sehr wenig geeignet, den obwaltenden Streit einer befriedigenden Lösung entgegenzuführen. Vielmehr ist dies erst der neuesten Zeit gelungen, welche sich dem mühsamen, aber lohnenden Geschäft unterzog, die Geschwornenanstalt und die damit in engster Verbindung stehenden Einrichtungen, ihrer geschichtlichen, rechtlichen

und politischen Bedeutung nach, einer gründlichen, unparteiischen Prüfung zu unterwerfen.

Fragen wir daher zuvörderst nach dem Ursprung und der allmäligen Verbreitung der Jury, und versuchen wir dann ihren Werth und ihre Bedeutung etwas näher kennen zu lernen.

Wenn ich es unternehme, über den Ursprung des Geschwornengerichts zu sprechen, so muss ich begreiflich hier, wo es nicht um eine strengwissenschaftliche Abhandlung zu thun ist, und wo die Zeit mir gebietet, kurz zu sein, Vieles bei Seite liegen lassen, was ausserdem zur Begründung und weitern Ausführung der hier nur anzudeutenden Ansicht unerlässlich wäre. Ich bitte daher die Sachkundigen im voraus, dies beherzigen zu wollen.

Die neuesten Untersuchungen über die Entstehung der Jury, obgleich sie noch nicht für geschlossen zu achten sind, haben wenigstens so viel ausser Zweifel gestellt, dass diejenigen in einem Irrthum befangen sind, welche behaupten, es sei dies ein nationales altgermanischen Institut, welches nur durch die Ungunst der politischen Verhältnisse, durch das Feudalwesen und die Bemühungen der nach Absolutismus strebenden Fürsten aus Deutschland wiederum verdrängt worden sei. Dieser angebliche Empfehlungsbrief für die Wiedereinführung der Jury verdient aber um so weniger Kredit, als die Aussteller desselben gar nicht einmal darüber einig sind, in welcher Einrichtung des germanischen Gerichtsverfahrens die Geschwornen zu suchen seien. Nach Einigen waren es die altdeutschen Schöffen, nach Anderen die Eideshelfer und nach einer dritten Ansicht die alten Nachbarzeugen gewesen. Alle drei haben nun zwar das mit den Geschwornen gemein, dass sie ihren Ausspruch eidlich thun; im übrigen aber sind sie sowohl unter sich als auch von den Geschwornen wesentlich verschieden. Denn die altdeutschen Schöffen waren stehende Richter, die über Schuld und Strafe zugleich urtheilten, während die Jury bekanntlich aus wechselnden Volksrichtern besteht, die bloss über die Schuldfrage ihren Wahrspruch abgeben.

Die Eideshelfer und die Nachbarzeugen hingegen hatten keine richterlichen, sondern parteiliche Funktionen. Die ersteren bekräftigten nämlich durch ihren Schwur bloss die Glaubwürdigkeit desjenigen, der den Haupteid leistete, und dies war meist der Angeklagte, dem es gestattet war, sich durch sein beschworenes Wort von dem auf ihm lastenden Verdachte zu reinigen. Die Nachbarzeugen aber brachten ihre Wissenschaft um die That, über welche sie nicht urtheilen, sondern die sie nur bekunden sollten, bereits mit in das Gericht, während die Geschwornen erst aus Grund der vor ihnen gepflogenen Verhandlungen ihr Verdikt abgeben sollen. Nur so viel scheint allerdings nicht in Abrede gestellt werden zu können, dass die Eideshelfer und die Nachbarzeugen gewissermassen die Keime, die ersten Ansätze waren, aus welchen sich das Schwurgericht hervorgebildet hat. Dies geschah indessen weder in Deutschland, noch in Frankreich — vielmehr wurden hier jene Keime erstickt, und mussten dem kanonischen Inquisitionsprozess und dem römischrechtlichen Beweissysteme Platz machen — wohl aber in England, in diesem Lande mit seiner eigenthümlichen politischen und gesellschaftlichen Entwickelung, welche wiederum bedingt war durch die Verschiedenheit der Stämme, aus welchen die Bewohner dieses Landes zusammengeschmolzen sind, so dass man in der That noch jetzt auf Grund dieser Stammesverschiedenheit altgermanische, angelsächsische und normannische Elemente der englischen Jury unterschieden hat.

Nur in England also, wo die freie Gemeinde neben dem Königthum und dem Adel ihre Rechte zu behaupten wusste, und alle drei frühzeitig ihre verschiedenen Interessen auszugleichen verstanden, nur dort ist das Geschwornengericht ein naturwüchsiges, aus der Gesammtentwicklung des Staatslebens hervorgegangenes und eben deshalb von dem Volke nicht minder hoch und werthgeachtetes Institut, als seine übrigen Palladien der bürgerlichen Freiheit, wie die Magna Charta und die Habeascorpusacte.

Hiermit soll nun freilich nicht. behauptet werden, dass die Jury nicht auch auf andere Völker übertragen und bei diesen einheimisch werden könnte. Wir wissen ja, dass sie bereits im vorigen Jahrhundert ihre Völkerwanderung angetreten hat, und nicht unwahrscheinlich ist es ihre Bestimmung,

noch vor Ablauf eines Menschenalters Gemeingut aller politisch gebildeten Nationen Europa's zu werden. Fünf Jahrhunderte hindurch war sie auf dem Continent fast unbekannt und unbeachtet geblieben. Da brach die erste französische Revolution aus, und man braucht nur oberflächlich mit der Criminalrechtspflege unter den vorletzten Ludwigen bekannt zu sein, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, dass es nicht leicht einen civilisirten Staat gegeben hat, in welchem das Loos der strafrechtlich Verfolgten gegen die abscheulichsten Ungerechtigkeiten weniger gesichert war, als in Frankreich vor 1789. Versiegelte geheime Cabinetsbefehle, mit welchen die Minister unter Ludwig XV. förmlich Handel trieben, wurden angewendet, um mißliebige Personen, ohne rechtliches Gehör, ihrer Freiheit zu berauben und in der Bastille, der sogen. maison du silence, schmachten zu lassen. Zu der grausamsten Anwendung der Folter kamen die Missbräuche der sogenannten Justizprozesse, in welchen die Könige aus oberstrichterlicher Machtvollkommenheit, auf geheime Umfrage, das Urtheil selbst sprachen, und daneben sah es summarische Sonderprozeduren und ausserordentliche Urtheilscommissionen, bei welchen es nicht leicht an willfährigen Werkzeugen des bei Hofe herrschenden Einflusses fehlte, und von einem der Gerechtigkeit nur einigermassen entsprechenden Verfahren kaum die Rede war. Kein Wunder daher, dass eine der ersten Arbeiten der Nationalversammlung darin bestand, dieses Grundübel mit der Wurzel auszurotten, und dass die Männer, welchen in der unbeschränkten Herrschaft eines Einzelnen, in der gänzlichen Aufschliessung des Volks von der Berathung über die wichtigsten Angelegenheiten des Staats der Grund des allgemeinen Verfalls der öffentlichen Einrichtungen zu liegen schien, ihre Blicke auf England richteten, das schon von Montesquieu gepriesene Land der Freiheit, dessen Verfassung, Sitten und Einrichtungen man sich überall zum Muster nehmen müsse. Nach einigen vorbereitenden Schritten, zu welchen u. A. die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit und die gänzliche Abschaffung der Folter gehörten, wurde im Jahr 1790 die Einführung der Geschwornenanstalt nach dein Muster der englischen Verfassung beschlossen, und dieser Beschluss im darauffolgenden Jahre auch ausgeführt.

Was aber immer zu geschehen pflegt, wenn eine so umfassende, tief in das Leben eingreifende Einrichtung auf ein anderes Volk übertragen und einer nach Abstammung, Charakter, Sitten und Gebräuchen fremden Nationalität eingeimpft werden soll, das .zeigte sich auch hier. Wer bis gestern Sclavenketten getragen hat, und heute die Freiheit erlangt, der ist unfähig zu einem vernünftigen Gebrauch derselben. Daher musste die englische Jury auf französischem Boden sehr bald vielfach modifizirt, auf der einen Seite beschnitten, auf der andern vervollständigt werden, um nur nicht am Ende mehr Schaden als Nutzen dadurch zu stiften — wobei man freilich die Greuelthaten, welche zur Zeit des Convents die Schlächtercommissionen unter dem Namen der Jury verübten, nicht dem Institute selbst, sondern nur den entfesselten Leidenschaften und dem Zustande des innern und äussern Krieges, in welchem man sich damals befand, aus Rechnung schreiben darf. Die wichtigsten Reformen dieser Art traf allerdings erst der nach der Militärrevolution vom 18. Brumaire VIII. wieder mit raschen Schritten dem Absolutismus zueilende Buonaparte, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre bereits im Jahr 1803 das ihm viel zu demokratisch erscheinende Schwurgericht wieder beseitigt worden, wenn er nicht selbst Bedenken getragen hätte, eine durch die Verfassung garantierte, von dem Volke um seiner politischen Bedeutung liebgewonnene, und selbst von einem Theil seiner Staatsräthe vertheidigte Einrichtung zu vernichten.

Was die weitere Verbreitung der Jury anlangt, so haben die Engländer sie bekanntlich nach ihren nordamerikanischen Colonien, und im zweiten Decennium unseres Jahrhunderts nach den Inseln Ceylon und Malta verpflanzt; in Brasilien wurde sie 1832 adoptirt. Die französische Juryverfassung hingegen, ihre Vorzüge und Nachtheile, hatten unter Napoleonischem Scepter Gelegenheit kennen zu lernen die Niederlande, Spanien, Portugal und einzelne deutsche Länder. Nach dem Aufhören der Fremdherrschaft verschwand auch sie in den meisten dieser Länder wieder; nur wenige, nämlich die preussischen, hessischen und bairischen Rheinprovinzen, haben sie bis auf den heutigen Tag beibehalten. Man trug sich seiner Zeit mit dem Gedanken, ob man nicht in ganz Baiern den

französischen Criminalprozess einführen solle. Da schrieb Feuerbach 1813 seine Betrachtungen über das Geschwornengericht, in welchen er sich mit der ganzen Energie seines Geistes dagegen aussprach, und es dachte Niemand mehr daran. Umgekehrt wünschte einige Jahre später Preussen seine altländische Criminalordnung auch auf die neuerworbene Rheinprovinz auszudehnen, war aber so billig, diese wichtige Frage einer unparteiischen Commission zur Begutachtung vorzulegen, und dieses Gutachten fiel, zum Verdruss des damaligen Justizministers, zu Gunsten des französischen Prozesses aus. So blieb es auch hier, wie es gewesen, bis eine neue Staatsumwälzung den Anstoss zu einer weiteren Verbreitung der Jury gab. Denn es ist eine in der Natur der Sache begründete und durch die Erfahrung vielfältig bestätigte Wahrheit, dass jede Umgestaltung der politischen Verhältnisse ihren Charakter auch dem Strafverfahren mittheilt, und dass dessen einzelne Institutionen durch die Fortschritte in den Grundansichten über bürgerliche Freiheit und über die Stellung der Bürger zum Staate bestimmt werden. Das Revolutionsjahr 1830 brachte Belgien die politische Selbststständigkeit, eine freie Staatsverfassung, und mit ihr 1831 auch die Schwurgerichte wieder, ebenso in Portugal 1832, und in Griechenland 1834, während kleinere deutsche Staaten vorerst nur soviel erlangten, dass ihnen die, zur Belohnung der treuen Anhänglichkeit und beispiellosen Aufopferung in den Freiheitskriegen, längst verheissenen, aber bisher hauptsächlich auf Oestreichs Betrieb immer vorenthaltenen, constitutionellen Verfassungen zu Theil wurden. Die neuen Stände entwickelten in dem nun folgenden Decennium eine legislative Produktivität, wie sie in der Geschichte ihres Gleichen sucht. Man hatte sich längst überzeugt, dass vor Allem die Criminaljustiz einer gründlichen Reform bedürfe, aber man vergriff sich in der Arbeit und fieng gewissermassen mit dem Ende an. Man schuf neue Gesetzbücher über Verbrechen und Strafen, während doch das bei Weitem grössere Uebel in dem Criminalverfahren seinen Sitz hatte. Gleich einem innern Krebsschaden nagte dieser schleichende, durchgängig schriftliche und geheime Untersuchungsprozess an dem Marke des Staatsorganismus, denn nicht blos Diejenigen, welche den Händen der strafenden Justiz, schuldig oder

nicht schuldig, verfielen, hatten darunter mehr als recht und menschlich zu leiden, auch den Staatshaushalt begannen die finanziellen Opfer zu erschöpfen, . welche bei der zunehmenden Bevölkerung und steigenden Verbrecherzahl gebracht werden mussten, und den nur einigermassen gewissenhaften Beamten wuchsen die Actenstösse zu Bergen an. Erst als man der sich häufenden Geschäfte kaum mehr Meister werden konnte, als die Gefängnisse und Strafanstalten nirgends mehr zureichen wollten, und als zugleich die freier gewordene Presse mehrere empörende Beispiele einer von autokratischen Untersuchungsrichtern maasslos geübten Willkühr laut zur Sprache brachte — erst dann fieng man an, da zu helfen, wo es vor Allem hätte geschehen sollen. Man erliess einen Theil der Schriftlichkeit, oder vielmehr man fügte derselben eine (wenig bedeutende) mündliche Schlussverhandlung hinzu, und gestattete dabei eine beschränkte Oeffentlichkeit. Dies geschah namentlich in Württemberg 1843; in ausgedehnterer Weise dagegen in Baden 1845, und in Preussen, wo 1846 die Mündlichkeit der Hauptverhandlungen und 1847 auch die Oeffentlichkeit derselben eingeführt wurde, jedoch zunächst nur für den Gerichtsbezirk der Residenz mit ihren 400,000 Bewohnern. Man wollte zuerst in einem kleinen Kreise versuchen, wie sich die neue Einrichtung bewähre, welche Mängel etwa noch zu beseitigen seien, bevor. man sie auf das ganze Staatsgebiet ausdehnte. Nur zu der bedenklich erscheinenden Jury hatte man sich in keinem von diesen in der Reform am Weitesten vorgeschrittenen Staaten verstehen mögen.

Da wälzte sich zum dritten Mal von Frankreich her die Revolution über das diesmal nur zu empfängliche Deutschland hinweg — die Throne der Fürsten wankten — und von einem Markten um einzelne Zugeständnisse war jetzt nicht mehr die Frage; man gab im Drang der Umstände mit vollen Händen. So wurde denn auch der noch fehlende Schlussstein des neuen Prozessgebäudes, die Geschwornenanstalt, staatsgrundgesetzlich garantirt, und ist jetzt in dem grösseren Theile von Deutschland bereits in Wirksamkeit getreten. So namentlich in Baiern und Hessen schon seit 1848, in Preussen seit 1849, und sogar in Oesterreich seit Anfang des jetzt zu Ende gehenden Jahres, während in Baden soeben der Entwurf eines Schwurgerichtsgesetzes

den Kammern zur Berathung vorliegt. Und alle diese .neuerer Criminalprozessordnungen stimmen in der Hauptsache mit denjenigen Vorschriften überein, welche auch in dem neuen bernischen Strafprozeßgesetz, dessen Einführung bevorsteht, anerkannt worden sind.

Arn Schluss dieser Uebersicht derjenigen Länder, in welchen das neue Verfahren Fuss gefasst hat, und zu welchen auch noch Genf (wiederum) seit 1844 und Waadt seit 1845 gehören, erlaube ich mir, die verehrte Vers. noch auf folgende Erscheinung aufmerksam zu machen. Das englische Strafverfahren hat sich auf eine ruhige, .nicht gewaltsame und eben deshalb einer organischen Entwicklung mehr entsprechende Weise über die Grenzen des Mutterlandes hinaus verbreitet: die Jury Frankreichs hingegen, welche in wesentlichen Punkten von der englischen abweicht, war ein Kind der Revolution, und diese Abstammung; diesen Flecken ihrer Geburt, wenn ich mich so ausdrücken darf, hat sie fast nirgends verleugnen können; denn wenige Länder sind es, welche sie nicht entweder in Folge eines Eroberungskrieges oder einer Revolution, also auf eine mehr oder minder gewaltsame Weise, überkommen hätten. , '

Nicht unwahrscheinlich ist es eben dieser Umstand, welcher mit dazu beigetragen hat, dass man sich von jeher mehr, als wohl nöthig war, vor ihrer Einführung gescheut hat.

Indem ich mich jetzt zu dem zweiten und letzten Abschnitt des Vortrags wende, zu der Beurtheilung des neuen Strafverfahrens seiner rechtlichen und politischen Bedeutung nach, muss ich, wenn anders das Folgende nicht blos für Sachkundige verständlich sein soll, die Hauptunterschiede hervorheben, welche zwischen dem bisherigen und dem neuen Criminalprozess stattfinden; denn nur auf diese Weise wird es Jedem möglich werden, die Hauptfrage, die uns Alle gleich interessirt, sich gewissermassen selbst zu beantworten, die Frage nämlich: Verdient es der seit Jahrhunderten in Deutschland und auch bei uns bestandene reine Untersuchungsprozess, dass man ihm den Abschied gebe, oder liegt diesem vielseitigen

Verlangen nicht etwa blos eine tadelnswerthe, von der revolutionären Politik angefachte Neuerungssucht zu Grunde, welche in dem Volke die Lust erweckt hat, anstatt des alten abgetragenen auch einmal ein neues französisches, und immerhin volksthümlicheres Gewand anzulegen?

Diese Hauptfrage werden wir am zweckmässigsten in folgende zwei Unterfragen auflösen: Was verlieren wir an dem alten, und was gewinnen wir durch das neue Strafverfahren?

Wir verlieren in der That viel, oder wenigstens vielerlei, nämlich

Erstens: die durchgängige Heimlichkeit des Verfahrens, denn diese ist in dem reinen Untersuchungsprozesse unerlässlich. Der Inquirent muss sich und seine Angriffspläne wider den Angeschuldigten in ein undurchschauliches Dunkel hüllen und jenen gegen die Aussenwelt ganz abschliessen, sonst ist wenig oder nichts zu hoffen von den hunderterlei mehr oder minder erlaubten Mitteln, die ihm zu Gebote stehen und die er sich anzuwenden genöthigt sieht, um den Verdächtigen immer verdächtiger zu machen, und ihn am Ende, vielleicht erst nach Jahren, zu einem Geständniss zu bewegen, oder wohl gar dann erst die niederschlagende Ueberzeugung zu gewinnen, dass alle Mühe vergebens gewesen, dass er sich total geirrt, und aller Scharfsinn, alle Inguisitionskünste an einen Nichtschuldigen verschwendet worden seien, den eine unglückliche Verkettung verdächtigender Nebenumstände als den Schuldigen habe erscheinen lassen.

Zweitens verlieren wir die durchgängige Schriftlichkeit der Verhandlungen. Der Untersuchungsrichter soll nämlich jeden Schritt, den er zur Ermittlung der That wie des Thäters unternimmt, jede Vernehmung des Verdächtigen, der Zeugen und Sachverständigen zu Protokoll bringen, und wenn er über einen einzigen Fall ganze Actenbände vollschreiben müsste; denn diese Acten sind ja die einzige und eben deshalb unentbehrliche Grundlage für den künftig erkennenden Richter, der von alle dem, was er hier zu lesen bekommt und worüber er nun urtheilen soll, nicht das Geringste gesehen noch gehört hat. Er verlässt sich auf die Acten, darin muss ja Alles verzeichnet sein, und was nicht darin steht, das existirt für ihn nicht, das ist eben nicht vorgefallen.

Wir verlieren drittens: die im bisherigen Prozess als Hauptvorzug gepriesene Trennung des untersuchenden und des erkennenden Richters. Dem Untersuchungsrichter entzog man nämlich das Recht der Entscheidung, weil man ihn durch die bisher geführte Untersuchung für befangen hielt, und gleichwohl sind es eben die schriftlichen Aufzeichnungen dieses eingestandenermassen befangenen Beamten, auf welche einzig der erkennende Richter sich verlassen; aus welchen er sein unparteiisches Urtheil schöpfen soll.

Viertens verlieren wir die unnatürliche Stellung des bisherigen Untersuchungsrichters, in welche er durch die widerstreitenden Pflichten gedrängt wird, die man ihm aufgebürdet hat. Unnatürlich ist seine Stellung; denn er soll einmal unparteiisch die Wahrheit erforschen, sodann soll er möglichst auf Entdeckung der Schuld, aus Erlangung eines Geständnisses hinarbeiten, und endlich soll er eine gleiche Thätigkeit für die mögliche Unschuld entwickeln: er soll also demselben Individuum gegenüber drei Rollen zugleich spielen, die eines unbefangenen Inquirenten, die eines Anklägers und die eines Vertheidigers — eine Aufgabe, sollte man meinen, welcher die menschliche Natur nach psychologischen Gesetzen nicht gewachsen ist.

Fünftens wird die bisherige Beweistheorie untergehen, ein Inbegriff sanctionirter Regeln, welche dem Richter vorschreiben, unter welchen Voraussetzungen er eine Thatsache für wahr halten dürfe. Es ist dies eine Art Zwangsjacke für das menschliche Erkenntnissvermögen, in welcher sich freilich die richterliche Intelligenz nach und nach so unbehaglich fühlte, dass sie sich mit Gewalt herausarbeitete, woher es denn gekommen ist, dass jene bindenden Beweisfesseln in der neueren Zeit immer mehr den Charakter blos negativer Vorsichtsregeln angenommen haben, ohne dass man diese dem erkennenden Richter in vielen neuen Gesetzgebungen, und z. B. auch bei uns, ausdrücklich zugestandene Freiheit in der Prüfung und Beurtheilung der Beweise nur gutzuheissen vermöchte, so lange es noch an der nothwendigen Vorbedingung zu dieser Freiheit, nämlich an der Unmittelbarkeit der Erkenntniss bei der Urtheilsfällung, gebricht. — Das Aufgeben der gesetzlichen Beweistheorie wird.

Sechstens auch der Richtung der Untersuchung aus Erlangung eines Geständnisses ein Ende machen, in Folge welcher sich jene verrufene Inquisitionskunst ausgebildet hat, die es auf das Hintergehen, Ueberlisten und Fangen des Angeschuldigten abgesehen hat, und, wenn es mit List nicht gelingt, "den offiziellen Durst nach dem Geständniss zu befriedigen, durch allerhand subtile Zwangsmassregeln nach übelsten weiss.

Der siebente und letzte Handverlust trifft den erkennenden Staatsrichter, welcher künftig — die gänzliche Durchführung des neuen Prozessverfahrens vorausgesezt — wenigstens in allen wichtigen Fällen nicht mehr allein über Schuld und Strafe zu urtheilen, sondern diese doppelte Function mit wechselnden Volksdichterin in der Art zu theilen hat, dass die letzteren, die Geschwornen, zuvörderst die Schuldfrage entscheiden, ihm selbst aber nur noch die Bestimmung der weiteren gesetzlichen Folgen jenes Wahrspruchs überlassen bleibt.

Wenn wir nun von der zuletzt erwähnten Theilung der Function des erkennenden Richters absehen, und ihren Werth oder Unwerth einstweilen noch auf sich beruhen lassen, so weiss ich in der That nicht, ob irgend Jemand geneigt sein sollte, die übrigen bisher aufgezählten Eigenheiten unseres Untersuchungsprozesses, welche geopfert werden müssen, wenn es zu dem neuen Verfahren kommen soll, als wirkliche Vorzüge anzuerkennen. Ich für meinen Theil glaube, wir können uns zu diesem scheinbaren Verlust nur Glück wünschen, besonders wenn wir uns vergegenwärtigen, wodurch drese alten Formen und Einrichtungen künftig ersetzt werden sollen. Ich sage ausdrücklich: "die alten Formen und Einrichtungen", denn nur diese haben anderen, angemesseneren Platz zu machen, und keineswegs soll auch das Prinzip des .bisherigen Verfahrens, das Untersuchungsprinzip, aufgehoben und etwa mit dem Anklageprinzip vertauscht werden. Freilich ist es eine gerade jetzt nur zu oft gehörte, aber nichtsdestoweniger ganz irrige Behauptung, dass künftig an die Stelle des verhassten Untersuchungsprozesses sein directes Gegentheil, der Anklageprozess, treten werde. Allein dieser Anklageprozess der antiken Welt, welcher es den Privaten überliess, für die Verfolgung und Bestrafung der Verbrechen zu sorgen, wahrend der

Richter eine zwischen dem Ankläger und dem Angeklagten indifferente Stellung einnahm — dieses Verfahren ist in seiner Einseitigkeit nicht minder verwerflich, als der bisherige Untersuchungsprozess, und noch dazu dem heutigen Staate, der sich und seine Aufgabe begriffen hat, ganz unwürdig. Wir würden einen offenbaren Rückschritt machen, wenn es sich nur darum handelte, diesen accusatorischen Prozess der griechischen und römischen Freistaaten wieder einzuführen. Im Gegentheil wird auch das neue Verfahren von dem Untersuchungsprinzip beherrscht bleiben, d. h. der Staat wird es nach wie vor für seine Aufgabe erklären, dass die Verbrecher zur Rechenschaft und Strafe gezogen werden; allein er wird zugleich dafür sorgen, dass jenem Prinzip nicht eine so schrankenlose, alles gerechte Maass überschreitende Ausdehnung gegeben werde, wie bisher, wo es so weit mit der Nichtachtung des Rechts der freien Persönlichkeit gekommen ist, dass der Angeschuldigte seinem Untersuchungsrichter gegenüber ungefähr die Stelle eines selbstlosen Objects, eines unpersönlichen Dinges einnimmt, an welchem willkührlich mit allerhand Kunstgriffen und Zwangsmassregeln herumexperimentirt wird, bis es gelingt, die geheimsten Falten seines Innern zu entdecken und bloss zu legen. Hat doch ein ausgezeichneter Justizbeamter, seiner Zeit selbst Untersuchungsrichter, sich nicht gescheut, öffentlich zu erklären und drucken zu lassen, wenn er das Unglück haben sollte, in eine Criminaluntersuchung verwickelt zu werden, und unschuldig wäre, so würde er lieber landesflüchtig, als dass er sich dem Ungemach und den Vexationen aller Art aussetzen möchte, welche unvermeidlich damit verbunden seien. Ich, verehrte Versammlung, gehöre gar nicht derjenigen Richtung der Neuzeit an, welche es sich aus falschem Liberalismus zur Aufgabe gemacht zu haben scheint, nur immer Milde und Mitleid für die Uebertreter der Strafgesetze zu proklamieren, sie wo möglich "in Baumwolle einzuwickeln", damit ihnen nur nicht wehe gethan werde. Den Schuldigen soll die verdiente Strafe treffen, aber man soll ihm auch, bevor man ihn schuldig befunden, nicht eine Behandlung angedeihen lassen, die nicht selten eine grössere Summe von Uebeln enthält, als die nachher zuerkannte Strafe.

Die unbestreitbaren Vorzüge des neuen Criminalverfahrens, bei welchem solche Auswüchse des Untersuchungsprozesses nicht mehr vorkommen können, bestehen nun aber in folgenden Punkten:

Erstens in der Aufstellung eines neuen Beamten, des sogenannten Staatsanwalts, dessen Hauptaufgabe darin besteht, im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft für die Verfolgung und die Bestrafung der Verbrechen thätig zu sein, und weiterhin die Rolle des öffentlichen Anklägers zu übernehmen — woraus sich von selbst seine grundwesentliche Verschiedenheit von dem jetzigen bernischen Staatsanwalt ergibt. Erst durch Einführung dieses dem Untersuchungsprozess ganz unbekannten Organes, welchem, sobald er in dem Beweisverfahren seine Function als öffentlicher Ankläger übernimmt, der Vertheidiger des Angeschuldigten gegenübersteht, erscheinen einerseits die parteilichen Interessen gehörig gewahrt, und erhält andererseits der Untersuchungsrichter die ihm gebührende würdige Stellung, indem er nun in der That das sein kann, was er sein soll, ein ruhiger unparteiischer Ermittler der Wahrheit in Beziehung auf das begangene Verbrechen, was er zwar bisher auch sein sollte, aber wegen der unnatürlichen Rollenhäufung in seiner Person nimmermehr zu leisten vermochte.

Ein zweiter unverkennbarer Gewinn, den uns das neue Verfahren bringen wird, besteht in der naturgemässen Sonderung des ganzen Prozesses in zwei wesentlich verschiedene Abschnitte, nämlich in die schriftliche und geheime Voruntersuchung, welche es mit der Beweisaufnahme, und in die mündliche und öffentliche Hauptverhandlung, welche es mit der Beweisausführung zu thun hat. Zwar kennt auch der reine Untersuchungsprozess eine Generale- und eine Spezial-Inquisition; allein da beide von dem nämlichen Beamten, auf dieselbe schriftliche und geheime Weise geführt werden, und denselben Zweck, Erlangung eines vollgültigen Geständnisses, verfolgen; so hat sich die Theorie seit Langem darüber gestritten, wie dieser Unterschied zu fixiren sei, und die Praxis hat ihn meist als eine nutzlose Förmlichkeit betrachtet und behandelt. Wie man auch den Unterschied bestimmen mochte — dem Inquirenten flossen General- und Spezialuntersuchung unter der Hand immer in Eins zusammen. Ganz

anders das neue Verfahren. Die Voruntersuchung wird, auf Betrieb des Staatsanwalts, vom Untersuchungsrichter, und zwar nach wie vor schriftlich und nicht öffentlich geführt, denn ihre Hauptaufgabe besteht in der Ansammlung des Beweisstoffes in Beziehung auf die That und den Thäter, zunächst zu dem Zwecke, damit eine ebenfalls neue Mittelbehörde, die Anklagekammer, darüber entscheiden könne, ob genügende Gründe vorhanden seien, den Verdächtigen in Anklagezustand zu versetzen. Entscheidet sich dann die Kammer für die Anklage, so folgt nun der zweite dramatische Hauptabschnitt des Prozesses, das Beweisverfahren vor dem erkennenden Richter, in welchem es sich um nichts Geringeres, als um die Erlangung der Ueberzeugung von der Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten handelt. Diese Ueberzeugung dem erkennenden Gericht zu verschaffen, war bisher einzig Sache des geplagten und desto mehr wieder plagenden Untersuchungsrichters. Denn wodurch konnte er diese schwierige Aufgabe, bei der bestehenden Beweistheorie, zwar nicht am ehesten, aber doch am sichersten lösen, als wenn es ihm gelang, dem Angeschuldigten ein Bekenntniss abzulocken oder abzupressen? Daher denn diese Ausdehnung der einzelnen Verhöre bis in die Nacht hinein, um den Verhörten geistig und körperlich zu erschöpfen, und hinwiederum dieses Monate lange Sitzenlassen ohne alles Verhör, um den hartnäckig Leugnenden mürbe zu machen; daher diese Sucht, ihn durch das Vorlegen schlauer, oder durch das Wiederholen der nämlichen schon oft beantworteten Fragen, in Widersprüche zu ,verwickeln, auf einer Lüge zu ertappen, oder ihn durch berechnete Kälte und herzlose Gleichgültigkeit zum Zorn, zu ungebührlichem Betragen zu reizen, um dann gegen den psychologisch Gemarterten mit Lügen- oder Ungehorsams-Strafen operiren zu können; daher endlich auf Kosten seiner Gesundheit und seines Vermögenszustandes das Jahre lange Hinziehen einer Untersuchung, bis der Gejagte, all dieser Quälereien müde, zum eigenen Verräther geworden oder wohl selbst Thatsachen zugestanden hat, deren er gar nicht schuldig war — daher aber auch die allgemeine sittliche Entrüstung. über. dieses geheime garantielose Verfahren, unter dessen Herrschaft Jordan verkümmerte und der Pfarrer Weidig verbluten konnte! Entweder der Staat

glaubt ein Zwangsrecht gegen den Angeschuldigten auf Ablegung eines Bekenntnisses zu haben; dann soll er es auch offen und ungescheut mit aller Energie geltend machen, und sollte ihn dies wieder zur Folter zurückführen; oder er scheut sich vor solchen offenen Eingriffen in das Recht der freien Persönlichkeit, und ist zu der Ueberzeugung gelangt, dass es nur eine sittliche Pflicht des Angeklagten sei, seine Schuld zu bekennen; dann soll er auch ein Verfahren aufgeben, welches unter dem Schutz des Geheimnisses die freie Innerlichkeit des Verdächtigen zum Gegenstand der unwürdigsten und gehässigsten Inquisitionskünste macht und ihn Jahre lang schutzlos den Launen und der Willkühr eines einzigen Beamten preisgibt.

Wie löst nun aber das neue Verfahren die schwierige Aufgabe, zu der Ueberzeugung der Schuld oder Nichtschuld des Verdächtigen zu gelangen? Auf die einfachste, natürlichste und sachgemässeste Weise. Vor Allem gibt es dem Angeklagten sein ursprüngliches, ihm bisher verkümmertes Recht wieder, von den Richtern, die über sein Schicksal entscheiden sollen, selbst gesehen und gehört zu werden, und zwar nicht hinter verschlossenen Thüren, sondern in öffentlicher Versammlung. Unter den Augen der erkennenden Richter und in Gegenwart des theilnehmenden Publikums stehen die beiden Hauptparteien, der Staatsanwalt als öffentlicher Ankläger und der Angeklagte mit seinem Vertheidiger, einander gegenüber, und verhandeln in der: Form des Anklageprozesses, indem sie in wechselnder Rede ihre entgegengesetzten Interessen geltend machen, während zugleich ein inquisitorisches Element in der Person des die ganzen Verhandlungen leitenden Assisenpräsidenten thätig ist, dessen freiem Ermessen es namentlich überlassen bleibt, von sich aus, unabhängig von den Anträgen der einen oder andern Partei, alle diejenigen Schritte zu thun oder zu veranlassen, welche nach seinem Dafürhalten der Entdeckung der Wahrheit förderlich sind. Bei diesen öffentlich-mündlichen Verhandlungen wird nun das ganze in der Voruntersuchung gesammelte Beweismaterial vorgeführt und benutzt. Die vorgeladenen Zeugen für und wider den Angeklagten müssen, befragt vom Präsidenten, ihre Aussagen mündlich abgeben, ebenso werden die Ortsbesichtigungsprotokolle und die Gutachten der Sachverständigen in Gegenwart ihrer Verfasser abgelesen

und discutirt, und die zur Ueberführung dienenden Gegenstände vorgezeigt, so dass man in Wahrheit sagen kann, es werde auf diese Weise die ganze That gewissermassen nochmals vor den Augen und Ohren der Richter und des Publikums vorübergeführt. '

Ueberhaupt kann man sich die Verschiedenheit der Lage des bisherigen Richters, der lediglich aus dicken Actenbänden sein Urtheil über den nie gesehenen unb nie gehörten Angeschuldigten zusammenlesen soll, von der weit günstigern Lage des neuen Richters, der auf Grund der öffentlich-mündlichen Verhandlungen zu entscheiden hat, nicht wohl deutlicher vergegenwärtigen, als wenn man die Verschiedenheit der Eindrücke mit einander vergleicht, die man empfängt, je nachdem man ein dramatisches Product blos für sich liest, oder je nachdem man dasselbe auf der Bühne lebendig darstellen sieht. Gleichwie uns erst bei einer solchen lebendigen Vorführung des Dramas so manche Einzelnheiten, die wir bei dem blossen Lesen unbeachtet liessen, klar und verständlich werden, und als nothwendige Glieder in der Kette hervortreten, durch welche das Ganze zur Einheit verknüpft wird, gleichwie wir dadurch erst in den Stand gesetzt werden, nicht blos tiefere Blicke in das Innere der handelnd auftretenden Persönlichkeiten zu thun, sondern auch einen Gesammteindruck zu empfangen, und nach diesem unser Urtheil zu bilden über den Werth oder Unwerth des Stückes: so gewährt auch das neue Verfahren dem Richter den unberechenbaren Vortheil, durch die lebendige Reconstruction der begangenen That in den mündlichen Verhandlungen, mit eigenen Sinnen wahrzunehmen, wie sich. die einzelnen Glieder der Beweisführung an einander reihen und zu einem Ganzen vereinigen, und nach dem aus diese Weise erlangten Totaleindruck seine Ueberzeugung von der Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten zu begründen.

Eben in dieser wiederhergestellten Unmittelbarkeit der richterlichen Erkenntniss bei der Urtheilsfällung und in der dadurch gewährten Möglichkeit eines Totaleindrucks, der nicht aus blosser Reflexion hervorgehen kann, besteht der dritte Hauptvorzug des neuen Verfahrens, welchem sich sofort als ein weiterer Vorzug die Oeffentlichkeit der Verhandlungen anschliesst, deren wohlthätige Wirkungen wohl kaum noch von irgend

Jemand in Zweifel gezogen werden. Denn was ist wohl geeigneter, als eben diese politische oder volksthümliche Oeffentlichkeit, zur Erhöhung der Feierlichkeit des ganzen Actes beizutragen? Wie muss sie nicht die Richter zu um so grösserer Pflichttreue, die Zeugen zur Gewissenhaftigkeit in ihren Aussagen anspornen, den Untersuchungsrichter von jeder Ueberschreitung seiner: Befugnisse in der Voruntersuchung abhalten, und in den Zuschauern selbst die Achtung vor. dem Gesetz und den Abscheu gegen Verbrechen vermehren? während andererseits auch sie allein im Stande ist, die strafende Justiz von dem ihr bisher nur zu oft und mit Recht gemachten Vorwurf der Heimlichkeit und von dem daraus unvermeidlich entspringenden Misstrauen zu befreien.

Doch die vorgerückte Zeit und die Ihnen, verehrte Anwesende, schuldige Rücksicht bestimmen mich, meinen Vortrag abzukürzen und nur noch zwei Consequenzen des neuen Verfahrens, die Zeitersparniss, welche zugleich eine Verminderung der Kosten des Prozesses im Interesse des Staats nach sich zieht, und die Möglichkeit der Zuziehung von Geschwornen, hervorzuheben.

Es ist eine anerkannte Forderung der Criminalpolitik, dass die Strafe dem Verbrechen wo möglich auf dem Fusse folgen solle, weil auf diese Weise die wohlthätigen Wirkungen, welche sich der Staat für seine Zwecke von ihrer Vollziehung verspricht, die Abschreckung und Besserung, am ehesten erreicht werden. Allein wenn irgend eine, so ist es gewiss diese Forderung der Strafpolitik, welche man in dem bisherigen, der Schriftlichkeit bis zum Excess huldigenden Untersuchungsprozess unter die frommen Wünsche zählen musste, da bei jedem bedeutenden und verwickelten Fall in der Regel Jahre verlaufen, bevor es nur dem Untersuchungsrichter gelingt, die Acten spruchreif zu machen; und wie lange sie sich dann noch bei dem erkennenden Richter aufhalten — das hängt von mancherlei Umständen ab. Unter der Herrschaft des neuen Strafprozessgesetzes hingegen werden wir künftig die zur Untersuchung und Beurtheilung eines Verbrechens erforderliche Zeit, wenn auch nicht nach Monaten, wie in England, so doch .gewiss nicht mehr nach Jahren, sondern im Durchschnitt nach Vierteljahren, nach den

Quartalsitzungen der Assisen, berechnen können. Man läuft freilich bei solchen Versicherungen Gefahr, der Uebertreibung beschuldigt zu werden; allein um diesen Verdacht von mir abzulehnen, erlaube ich mir, Ihnen folgende Thatsachen vorzuführen. Es sind dies drei in den Annalen der Criminalrechtspflege berühmt gewordene Fälle der neueren und neuesten Zeit. Bei allen dreien handelt es sich um Mordthaten. Der erste wurde nach dem alten, die beiden andern nach dem neuen Verfahren, und zwar der zweite in England, der dritte in Deutschland untersucht und beurtheilt.

1) Der Prozess gegen den Tischler Wendt in Rostock wegen Vergiftung seiner Ehefrau und einiger anderer Personen.

1830, und zwar gegen Ende dieses Jahres: Eröffnung der Untersuchung

1834: Publikation des ersten Erkenntnisses, welches den Angeschuldigten zu geschärfter Todesstrafe verurtheilte;

1836: Publikation des zweiten Erkenntnisses, durch welches der Verurtheilte vorläufig — und

1838: Publikation des dritten und letzten Erkenntnisses, durch welches Wendt völlig freigesprochen wurde.

Dieser Prozess, der sich also acht Jahre hinzog, liefert in seinen Einzelnheiten zugleich den doppelten Beweis, einmal, wie ein Nichtschuldiger (die Unschuld des Wendt hat sich 1839 durch ein freiwilliges Bekenntniss des wahren Thäters herausgestellt), um nur den Leiden einer mehrjährigen Untersuchung und den unerträglichen Plackereien seines um jeden Preis nach einem Geständniss verlangenden Untersuchungsrichters zu entgehen, am Ende dahin gebracht werden kann, sich schuldig zu bekennen, und sodann, wie bedenklich es ist, dem lediglich aus den Acten schöpfenden Gericht die Befugniss einzuräumen, auf Anzeigen hin ein Verdammungsurtheil zu fällen. '

2) Der Prozess gegen die Manning'schen Eheleute in London wegen Ermordung ihres Hausfreundes, des Steuerbeamten Patrik O'Connor.

1849, den 9. August war die That verübt worden.

1849, den 17. August: Auffindung des in der Küche des Manning'schen Hauses vergrabenen Leichnams;

" den 18. " Besichtigung und Anerkennung des Leichnams durch den Coroner, und Vernehmung der Zeugen und Auskunftspersonen;

(Die schuldigen Ehegatten hatten sich beide nach verschiedenen Richtungen hin auf Reisen begeben.)

" den 21. " Festnahme der Frau Manning in Edinburg;

" den 27. " " des Mannes in Jersey;

" den 23. Oktober: Schuldigsprechung beider durch die grosse Jury, also Versetzung in den Anklagestand;

" den 25. " Eröffnung der mündlichen Verhandlungen vor den Assisen;

" den 26. " Schluss dieser Verhandlungen; die Geschwornen sprechen nach dreiviertelstündigem Berathung über beide Gatten das Schuldig aus;

" den 13. Novbr.: Aufknüpfung des Ehepaares am Galgen, welche nach englischer Sitte schon am 28. Oktober erfolgt wäre, wenn nicht die Frau Manning durch eine (fruchtlose) Berufung an den Appellhof die Execution verzögert hätte.

Eine so prompte Justiz werden wir nun zwar auch durch das neue Strafprozessgesetz nicht erlangen, und sie ist kaum wünschenswerth, da bekanntlich in England die Schnelligkeit der Rechtspflege meist nur auf Kosten der Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit des Verfahrens und namentlich der Voruntersuchung erreichbar ist, wenn gleich da, wo alle Bürger mit ihrer etwaigen Wissenschaft den Richter zu unterstützen bereit sind, wie dies in England Sitte und zum Theil selbst gesetzlich geboten ist, auch die Arbeit des Richters schneller von Statten gehen muss. Allein wenden wir uns

3) zu dem Prozess gegen die Mörder des Generals v. Auerswald und des Fürsten Lichnowsky. Wenn dieser Fall, auf dessen Veranlassung in der schriftlichen, mehrere tausend Bogen füllenden Voruntersuchung

gegen 200 Zeugen und Auskunftpersonen vernommen wurden, und der Verdacht der intellectuellen oder physischen Mitwirkung sich nach und nach gegen 62 Personen richtete — wenn dieser am 18. September 1848 verübte Mord noch nach dem alten Criminalverfahren zu verhandeln und zu beurtheilen gewesen wäre, welche Reihe von Jahren wäre wohl über der gerichtlichen Erledigung desselben verflossen, wie viele Ries Papier hätte der Untersuchungsrichter zur Specialinquisition verbraucht, und wie viel Zeit hätte es für den erkennenden Richter bedurft, um diese Last von Actenbänden nur durchzulesen, geschweige denn sie zu studiren, zu prüfen und excerpirten, um endlich das Urtheil auf Grund derselben fällen zu können? Und doch wurde diese Riesenarbeit in 19 Monaten bewältigt, indem die öffentlich-mündlichen Verhandlungen vor dem Assisengericht zu Hanau den 8. April 1850 begannen und den 27. April mit der Schuldigsprechung und Verurtheilung der 7 Angeklagten zu verschiedenen Strafen geschlossen wurden.

Der letzte Gegenstand, der meiner Aufgabe gemäss noch einer Erwähnung bedarf, und der freilich für sich allein mehr als hinreichenden Stoff zu dein heutigen Vortrag dargeboten haben würde, betrifft die Theilnahme nicht juristisch gebildeter Männer aus dem Volke an dem Geschäft der Urtheilsfällung, oder die Geschwornen. Diese werden bekanntlich in allen schweren, sogenannten peinlichen oder eigentlichen Criminalfällen, und nach den meisten neuen Gesetzgebungen auch dann, wenn es sich um politische und Pressvergehen handelt, den rechtskundigen Richtern zu dem Zwecke beigesellt, um zuvörderst das Schuldig oder Nichtschuldig über den Angeklagten auszusprechen. Nach dem bisherigen Untersuchungsprozess war die Zuziehung solcher Volksrichter geradezu unmöglich. Denn das Zusammensuchen der einzelnen Beweiselemente aus den voluminösen Untersuchungsacten, und das Prüfen und quantitative Abwägen ihrer Glaubwürdigkeit und ihrer Kraft für die Herstellung der Wahrheit nach den Regeln der gesetzlichen Beweistheorie ist ein so mühsames und künstliches Geschäft, dass nur Männer vom Fach ihr Heil damit versuchen können. Wenn man nun aber die ' Mündlichkeit der Hauptverhandlungen an die Stelle der bisherigen Schriftlichkeit setzt und die alte gemeinrechtliche Beweistheorie aufgibt — wie dies

der neue Strafprozess thut — und wenn nun vermöge der dadurch gewährten unmittelbaren Anschauung dem Richter ein lebendiges Gesammtbild des zu entscheidenden Falles vor die Seele gestellt wird; so muss man auch zugestehen, dass die Beurtheilung der Schuld des Angeklagten auf Grund des empfangenen Totaleindruckes, keine specifisch-juristische, sondern eine rein menschliche Operation sei, und dass mithin Männer aus dem Volke mit Lebenserfahrung und gebildetem Verstand dazu nicht minder befähigt seien, als wissenschaftlich gebildete Staatsrichter.

Nur um nicht missverstanden zu werden, füge ich dem Bisherigen noch zwei Bemerkungen hinzu. Einmal nämlich habe ich ausdrücklich erklärt, dass wechselnde Volksrichter zur Entscheidung der Schuldfrage eben so fähig seien, als Staatsrichter. Dabei bin ich weit entfernt, den Werth zu verkennen, welcher den Geschwornen ausserdem noch gebührt, weil durch sie ein sehr wohlthätiges, volksthümliches Element in die Strafrechtspflege kommt. Allein ich kann mich derjenigen Ansicht nicht anschliessen, welche in doch wohl übertriebenem Eifer die Staatsrechtes für geradezu unfähig zu jenem Geschäft erklärt. Als ob man über dem juristischen Studium alle gesunde Lebensanschauung verlieren müsste, und als ob nicht selbst in denjenigen Staaten, wo das neue Verfahren bereits besteht, die bei Weitem grösste Zahl aller strafbaren Handlungen, wenigstens 8 Zehnttheile, blos von rechtskundigen Richtern beurtheilt würden.

Hieraus würde nun folgen, wenn man auch bei Uns die Einführung der Schwurgerichte aus politischen oder sonstigen Gründen, als für den Augenblick nicht zeitgemäss, beanstanden zu sollen glaubt — ein Bedenken, welches sehr wohl gerechtfertigt sein kann, und worüber ich wenigstens nicht zu entscheiden wage — dass es dennoch höchst wünschenswerth erscheinen muss, das neue bernische Strafprozessgesetz, um seiner unbestrittenen anderweiten Vorzüge willen, so bald als möglich ins Leben treten zu lassen; indem man einstweilen die Urtheilsfällung auch in Criminalsachen ungetheilt (d. h. die Entscheidung sowohl der Schuld- als der Straf-Frage) den Staatsrichtern überträgt. Denn so gewiss die Mitwirkung der Geschwornen bedingt ist durch die Mündlichkeit und Oeffentlichkeit der

Verhandlungen in der Form des Anklageprozesses, so unbegründet ist die Voraussetzung, dass ein öffentlich-mündliches Anklageverfahren sich ohne Schwurgerichte nicht durchführen lasse. Belege hiezu liefern die Strafprozessgesetzgebungen von Neapel, von Holland und von Baden.

Endlich spreche ich noch meine Ueberzeugung dahin aus, dass zu der Theilnahme an den Schwurgerichten nur ehrenhafte, charakterfeste und durch Lebenserfahrung gebildete Männer geeignet sind, weil die Geschwornen nicht blos Urtheilsfähigkeit, sondern auch den ernsten Willen und den festen Muth besitzen müssen, unabhängig von jeder fremden Einwirkung ihre reine Gewissensüberzeugung, und nichts als diese auszusprechen. Denn Gott bewahre uns vor einer volksthümlichen Justiz, die ihren hohen Beruf so weit vergessen könnte, dass sie persönlichen oder politischen Parteileidenschaften einen Einfluss auf ihre Urtheile gestattete; dann hätten wir Machtsprüche, aber keine Rechtssprüche mehr zu gewärtigen.