Waffenruhe
Akademische Ansprachen
gehalten am 9. Mai 1945 an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule von
Rektor Prof. Dr. Franz Tank
Prof. Dr. Charly Clerc
Prof. Dr. Karl Schmid
Prof. Dr. Giuseppe Zoppi
Polygraphischer Verlag A.-G. Zürich • 1945
Ansprache
von Rektor
Prof. Dr. Franz Tank
Hochgeehrter Herr Schulratspräsident,
Liebe Kollegen, liebe Mitarbeiter unserer Hochschule,
Liebe Studierende!
Die Waffen ruhn. Von tiefer Weihe ist die Stunde. Selbst der
Zeiger der Weltenuhr, sonst rastlos getrieben von den Gesetzen
der ehernen Notwendigkeit, scheint für Augenblicke stillzustehen.
Ergriffen und erschüttert von der Allgewalt des Schicksals, das
seinen Machtspruch gefällt hat, betreten wir die Schwelle einer
neuen Zeit.
Verehrte Anwesende! Empfangen Sie den herzlichsten Dank
dafür, daß Sie an diesem Tage einer Weltenwende in diesem Saale
sich eingefunden haben, wo schon so oft von den Aufgaben und
Zielen unserer Hochschule gesprochen wurde, und wo wir heute
mehr denn je die Gemeinschaft empfinden, zu welcher die Liebe,
Sorge und Arbeit für unsere Hochschule uns verbunden haben. Uns
aile bewegen Gefühle des tiefen Dankes. Hundertfach ist dieser
Dank schon in allen Landesgegenden ausgesprochen worden, hundertfach
haben ihn gestern die Kirchenglocken verkündet — und
doch dürfen wir ihn wiederholen. Unsere Dankbarkeit gilt dem
Schicksale, das uns vor dem Schwersten bewahrt hat, unsern Behörden,
die vorbildlich ihre Pflicht erfüllten, unserer Armee, die
uns Schutz und Schild war, und jedem Einzelnen, der treu und
selbstlos auf seinem Posten stand. Unvergeßlich werden unsern
Studierenden die Studienjahre zwischen 1939 und 1945 bleiben.
Hier gab es nur die Arbeit im Wehrkleide und die Arbeit an der
Hochschule; Semester und Jahre wurden geopfert. Und doch, liebe
Studierende, tragen Sie aus dieser Zeit einen unschätzbaren Gewinn
für Ihr Leben davon. Nichts hätte Sie enger an Ihr Vaterland binden
können als der Dienst in der Armee, nichts hätte Ihnen die
wahre Seele und den gesunden Kern unseres Schweizervolkes besser
enthüllen können als der tägliche Verkehr mit so vielen Wehrmännern
aus den verschiedensten Volksschichten. Ihr Vaterland ist
Ihnen zum unauslöschbaren Erlebnis und damit zum teuern Besitztum
für immer geworden; Sie haben es sich recht eigentlich verdient.
So ist an Ihnen in Wahrheit der Sinn des Dichterwortes in Erinnerung
gegangen:
«Was Du ererbt von Deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!»
Mit Ehrfurcht gedenken wir auch in dieser Stunde der entschwundenen
Generationen, welche unser schweizerisches Staatswesen
festgefügt und uns ein Erbe hinterlassen haben, das wir
durch den Sturm der Zeiten hindurch bewahren durften.
Unser Glück ist uns tiefste Verpflichtung. Nicht Siegesjubel
und Fanfaren geziemen uns, sondern die Besinnung auf unsern
Weg und der heilige Wille, ihn zu beschreiten. Übergroß ist das
Leid in Europa. Die Verfolgten, die Obdachlosen, die Entrechteten,
die Besitzlosen, jene Unzähligen, welche alles verloren haben, was
ihnen teuer und heilig war, sie bilden ein Millionenvolk der Armut
und des traurigen Elends. Daß hier das Wunder der Genesung geschehe
und aus der Not der Zeit ein neuer, die Tiefen des Lebens erfassender
Maßstab der Wertung aller Dinge entstehe, das dürfen
wir vielleicht doch hoffen. Wir wollen es in Zuversicht hoffen,
wenn wir unsere Pflicht tun und nicht versagen, wenn wir bereit
sind, der höchsten Tugend, der Gerechtigkeit, zu dienen, und nach
dem höchsten Wissen, der Wahrheit, zu streben. Neben dem weißen
Kreuze im roten Felde möge das rote Kreuz im weißen Felde uns
Symbol sein und bleiben.
Vorbildliches hat der «Fonds Européen du Secours aux Etudiants»,
dessen Sitz in Genf ist, geleistet und trefflich wurde er
durch seinen schweizerischen Zweig, die «Schweizerische Studentenhilfe
für kriegsnotleidende Studenten» unterstützt. Der Gedanke
der Solidarität der europäischen Hochschulen hat sich im Laufe der
Kriegsjahre fest und fester verankert. Die Hochschulen, in ihrer
geschichtlichen Entwicklung Treuhänder der menschlichen Kultur,
sollen es auch in Zukunft bleiben. Denn die menschliche Kultur ist
das Werk der Besten aller Nationen. Vergessen wir nicht, was der
große Hermann von Helmholtz über die Arbeit des Hochschullehrers
und Forschers sagte: «Es tritt ihm die ganze Gedankenwelt
der zivilisierten Menschheit als ein fortlebendes und sich weiter
entwickelndes Ganzes entgegen, dessen Lebensdauer, der kurzen
des einzelnen Individuums gegenüber, als ewig erscheint. Er sieht
sich mit seinen kleinen Beiträgen zum Aufbau der Wissenschaft in
den Dienst einer ewigen heiligen Sache gestellt, mit der er durch
enge Bande der Liebe verknüpft ist.»
Man zählt auch auf unsere Hochschule. Wo wir teilen können,
müssen wir teilen. Die studierende Jugend anderer Länder wird
bald in vermehrtem Maße sich wieder bei uns einfinden und alte
Bande der Freundschaft neu knüpfen. Sie soll uns willkommen sein.
Daß unsere Hochschule, zusammen mit dem Internierten-Hochschullager
Winterthur, an einem Bildungswerk für Polen arbeiten durfte,
erfüllt uns mit Genugtuung. Wir hoffen, daß der schweizerische
akademische Ingenieur bald wieder im Auslande Zeugnis ablegen
kann von schweizerischer Tatkraft und schweizerischem Können; er
soll in seinem Vaterlande stets den unentbehrlichen Rückhalt finden.
Möge ein Geben und Nehmen sich einstellen, das alle beglückt
und alle bereichert.
Die Technik ist das Instrument, mit welchem der Menscheit
unsägliche Wunden geschlagen wurden. Die Technik soll auch das
Mittel sein, jene Wunden zu heilen. Wenn wir daher an unserer
Hochschule das technische Können lehren, dann wollen wir auch
den Menschen formen, in dessen Hand die Technik zum Segen wird.
Möge unsere akademische Jugend sich bewußt sein, daß hinter
dem eigenen Wollen und Streben stets ein höheres Ziel liegt, welches
dem Dienst an der Allgemeinheit gehört. Möge sie zu den
Schöpfungen der Technik jene innere Verbundenheit gewinnen,
welche der Ehrfurcht vor geistigen Werten und dem Wissen um das
Werden der Dinge entspringt. Möge ihr die Technik nicht ein Mittel
zum Zwecke, sondern eine große und heilige Aufgabe sein. In
diesem Sinne müssen wir auch in Zukunft tien steilen Pfad der
Technik emporsteigen. In diesem Sinne müssen wir versuchen, mit
unsern schwachen Kräften einen Beitrag zu leisten am Wiederaufbau
dieser Welt. Schwer ist das Werk und nicht zu lösen ohne den
Opfermut der Jugend. Aber dieser Jugend wollen wir an unserer Eidgenössischen
Technischen Hochschule das Beste mitgeben, was wir
können: ein treffliches technisches Rüstzeug und den unerschütterlichen
Glauben an die Mission unseres Landes. Diesen Glauben soll
sie schöpfen aus dem geschichtlichen Werdegang der Schweiz, aus
dem Zusammenwirken der verschiedenen Sprachen und Kulturen
innerhalb unserer Grenzen, aus unserer Bewahrung wahrend der
Kriegsjahre — und auch aus dem Erlebnis der heutigen Stunde.