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GEGENWARTSKRISE UND PSYCHIATRIE

Rektoratsrede

gehalten am 26. November 1948
von
John E. Staehelin
Verlag Helbing &Lichtenhahn — Basel 1948

Druck von Friedrich Reinhardt AG. Basel

Hochansehnliche Versammlung!

Das Jahr 1948, dessen Vollendung wir uns nähern, hat unserer vor 488 Jahren eröffneten Universität nichts gebracht, was ihre friedliche Arbeit auf den verschiedensten Wissensgebieten wesentlich hätte stören können. Das muß fast als ein Wunder gelten, wenn wir daran denken, daß wir inmitten gewaltiger Umwälzungen leben. Auch vor 100 Jahren war Europa von Stürmen durchwühlt. Gleichwohl gelang es damals unserm Land, in der Bundesverfassung ein Werk zu schaffen, welches auf Verständigung und gegenseitiger Rücksichtnahme beruht und uns erlaubte, während 100 Jahren im Frieden zu leben.

Heute befindet sich die Welt wiederum mitten in einer schweren Krise. Wie und weshalb sich diese entwickeln konnte, ist immer wieder untersucht worden, innerhalb der Universität von Theologen, Juristen, Philosophen, Historikern, Psychologen und Nationalökonomen. Die medizinische Fakultät aber, abgesehen von psychoanalytischen Forschern, wagte es angesichts der Fülle, Vieldeutigkeit und Vielbedingtheit der Krisensymptome kaum, sich dazu zu äußern. Und doch spricht man von einer Krankheit, welche die Menschheit des 20. Jahrhunderts ergriffen, von einer Massenpsychose, welche uns alle mehr oder weniger angesteckt habe. Wir werden als Aerzte aufgerufen, von unserem Standpunkt aus auch zu diesem Leiden uns zu äußern, insofern es unserer Betrachtungsweise zugänglich

ist. Wenn ich nun versuche, über Gegenwartskrise und Psychiatrie zu sprechen, so werden sich zwei Schwierigkeiten immer wieder bemerkbar machen, die das moderne wissenschaftliche Denken überhaupt kennzeichnen: die Neigung zum Spezialisieren, welche der medizinischen Forschung große Entdeckungen ermöglicht hat, den Arzt aber vielfach zu einem einseitigen Urteilen und Behandeln veranlaßt, und die entgegengesetzte Tendenz zur Verallgemeinerung, welche eine oft unzulässige Vereinfachung, Vergröberung und Verflachung eines Forschungsgebietes bedingt und zu vielen Mißverständnissen Anlaß gibt, aber wesentlich dazu beiträgt, das medizinische Wissensgebiet volkstümlich zu gestalten.

Wegen der mit dem Begriff Krankheit zusammenhängenden Schwierigkeiten begnügen wir uns damit, die Erschütterungen in unserem Zeitalter mit dem allgemeineren Ausdruck Krise zu bezeichnen. Jacob Burckhardt schreibt in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", daß die echten, großen geschichtlichen Krisen selten seien. Im Römischen Reich sei "erst die Völkerwanderung die wahre Krise gewesen. Sie hat im höchsten Grad den Charakter einer solchen: Verschmelzung einer neuen materiellen Kraft mit einer alten". Zunächst trete "die negative, anklagende Seite zutage, der angesammelte Protest gegen das Vergangene, vermischt mit Schreckensbildern von noch größerem unbekannten Druck". Die um einer Sache beginnende Krise reiße alle wegen irgend etwas Unzufriedenen mit sich. Der Protest gegen das Vergangene vermische sich mit einem glänzenden Phantasiegebilde der Zukunft, welche alle kalte Ueberlegung unmöglich mache. "Vielleicht zuckt dabei auch rheumatisch ein Gefühl des Alterns mit, welches man durch des Postulat einer Verjüngung übertäubt."Positiv zu bewerten sei an

den Krisen, daß diese als "echte Zeichen des Lebens, als eine Aushilfe der Natur, gleich einem Fieber", gestatten, mit "Pseudoorganismen"aufzuräumen, aus denen das Leben gewichen ist, und daß sie frische, mächtige Individuen emporzubringen vermögen. Dem Terrorismus, welcher durch jeden Widerstand gesteigert werde, und der immer rascher werdenden Bewegung, in welcher "enorme Uebertreibung" und "Irritabilität" vorherrsche und Unbändigkeit rasch in Gehorsam umschlage und umgekehrt, folge eine Phase der Erlahmung, Ermüdung, des Zusammensinkens, der Gleichgültigkeit, eine tiefe Ernüchterung, in welcher der dann gerade Stärkste die Vorherrschaft an sich reiße, so daß Despotismus sich ausbreite. Ueber den letzten Beweggrund der geschichtlichen Krisen schreibt er: "Am Ende liegt ein Drang zu periodischer großer Veränderung in dem Menschen, und welchen Grad von durchschnittlicher Glückseligkeit man ihm auch gäbe, er würde (ja dann gerade erst recht!) mit Lamartine rufen: La France s'ennuie!"

Die Mehrzahl der Bilder, die Burckhardt bei der Charakterisierung der geschichtlichen Krisen der Menschheit verwendet, ist der Sphäre des Einzelmenschen entnommen: Vom Altern, vom zerstörenden und heilenden Fieber ist die Rede und von Zuständen, welche ins Gebiet der Psychopathologie fallen; Phasen der Exaltation und der Depression oder Apathie, der übertriebenen Reizbarkeit und Unbeherrschtheit, der Widerspenstigkeit und des blinden Gehorsams. Diesen Erscheinungen können als weitere Merkmale der großen Krisen der Neuzeit beigefügt werden: Alle möglichen Spaltungserscheinungen, ein Absinken ganzer Völker auf eine primitive Stufe vom Charakter der Herde, ein zähes Sicherungsbedürfnis in irgendeiner Form, das um so größer ist und um so heftiger

in Machtdrang und Aggression sich auswirkt, je stärker die Angst und die Ratlosigkeit gegenüber der Zukunft wird, je wandelbarer die bisher geltenden Normen und Begriffe geworden sind. Tatsächlich ist die Unordnung, die heute in manchen Teilen der Erde herrscht, so groß, daß man dauernd aneinander vorbeiredet und keine Möglichkeit einer Verständigung sieht, setzt diese doch die Einigung auf gewisse Grundbegriffe und gewisse Grundstrebungen voraus. Damit ist die Gefahr eines Gewaltaktes, der irgendeine für alle geltende neue Ordnung der Dinge schaffen soll, sehr groß, obwohl kaum je die Sehnsucht nach Entspannung und Frieden so stark war wie heute, schon weil jeder weiß, daß bei den modernen Kampfmitteln ein neuer Krieg Untergang oder doch ungeheuren Niedergang bewirken wird.

Wer als Arzt versucht, die verworrene Symptomatik der heutigen Krise zu sichten, wird sich fragen, ob diese, die ja doch letzterdings in der menschlichen Seele begründet ist, mit ihm bekannten psychischen Krankheiten sich irgendwie in Beziehung setzen läßt. Handelt es sich bei diesem ins Riesenhafte gewachsenen pathologischen Prozeß, bei diesen Umwälzungen einer ganzen Welt nur um eine mehr oder weniger augenscheinliche Analogie mit individuellen Krankheitsverläufen? Oder ist die Aehnlichkeit so groß, daß auf die Identität wenigstens gewisser Krankheitsbilder geschlossen werden kann? Handelt es sich dann, bei den Völkern, den Massen, bloß um die Verwendung der gleichen psychopathologischen Mechanismen, oder sind wenigstens zum Teil die gleichen pathogenetischen Faktoren wirksam, welche beim Individuum in der Regel gewisse krankhafte Konstitutionen und Dispositionen voraussetzen? Man sieht: Die ärztliche Betrachtungsweise der heutigen Krise führt mitten hinein in die

Problematik der seelischen Erkrankungen, deren Entstehungsbedingungen ja vielfach noch ungenügend geklärt sind. Dabei ist erst noch zu bedenken, daß schon der gesunde Mensch, erst recht aber mancher psychisch Kranke oder irgendwie Defekte in der "Massensituation" sich oft anders verhält als in seinem kleinen gewohnten Daseinskreis.

Man pflegt die heutigen Wirrnisse zurückzuführen auf politische, wirtschaftliche, soziale Machtkämpfe oder auf Anpassungsschwierigkeiten an eine durch die rasenden Fortschritte der Technik in kurzer Zeit gänzlich veränderte Welt, auf den Abfall des modernen Menschen vom Heilig-Göttlichen, auf den Verrat des Geistes und die Vorherrschaft des Triebhaften und des Rationalistisch-Materiellen. Es ist zu erwägen, ob diese Wandlung der modernen Menschheit auch damit in Beziehung zu setzen ist, daß in ihr offenbar die psychisch Kranken, stark Abwegigen oder Schwachen eine entschieden größere Wirkung entfalten können als früher. Durch den ersten Weltkrieg sind gerade die gesunden, leistungs- und widerstandsfähigen Individuen vielfach ausgemerzt worden. Dazu kommt, daß wegen der in den Kulturvölkern stark ausgebauten Sozialfürsorge und wegen der Fortschritte der ärztlichen Wissenschaft die psychisch Schwachen und Kranken nicht mehr, wie in früheren Jahrhunderten, zugrunde gehen. Die Tatsache kann nicht bestritten werden, daß heute in manchen Ländern, auch bei uns, für diesen Teil der Bevölkerung fast besser gesorgt wird als für viele Gesunde. Schwachsinnige und Charakterabnorme (Psychopathen) erfahren eine Berufsschulung, welche aus finanziellen Gründen manchen Intelligenten nicht geboten werden kann. Geisteskranke, die früher oft während Jahrzehnten in Anstalten interniert waren, Gehirnkranke, die

noch vor kurzer Zeit rasch dahinstarben, können heute so gebessert oder sozial wieder hergestellt werden, daß sie oft schon nach wenigen Wochen oder Monaten aus den Kliniken entlassen werden können. Manche aus seelischen Gründen Erkrankte (Neurotiker), manche Süchtige und Kriminelle können heute durch rechtzeitige ärztliche und fürsorgerische Maßnahmen so beeinflußt werden, daß sie sich extra muros aufhalten und Familien gründen können. Die Fortschritte der Heilkunst und der allgemeinen Hygiene führen zu einer immer noch andauernden starken Zunahme der durchschnittlichen Lebensdauer. Bei den älteren Menschen aber pflegen Charakterschwierigkeiten offenbar zu werden, welche nicht nur durch den Altersprozeß direkt bewirkt werden, sondern auch indirekt dadurch, daß nun angeborene Mängel nicht mehr versteckt oder beherrscht werden können. Viel persönliches Leid wird durch alle diese ärztlich-sozialen Maßnahmen gemildert oder vermindert, und nichts wird uns davon abhalten, diese Bemühungen an Hilfebedürftigen noch zu steigern. Aber die Frage liegt nahe und ist berechtigt, ob nicht der gesunde Teil eines Volkes durch den anderen, in gewissen Beziehungen stark Abwegigen oder Unzulänglichen, gefährdet wird. Ob nicht unter den vielen Faktoren, welche zur heutigen zerfahrenen Lage geführt haben, der Zunahme der geistigen Störungen die Bedeutung wenigstens einer wichtigen Ursache zukommt?

Nehmen die psychischen Krankheiten und Störungen überhaupt zu, nicht nur, was selbstverständlich ist, absolut, sondern auch relativ? Die Antwort lautet überall, wo eine richtige Untersuchung möglich war, bejahend. Aber es lassen sich wichtige Unterschiede feststellen zwischen den sog. großen, zum guten Teil auf Vererbung beruhenden, im Laufe des Lebens ausbrechenden Psychosen, den

angeborenen intellektuellen Entwicklungshemmungen und Charakterstörungen und jenen seelisch bedingten Störungen, die man Neurosen oder neurotische Entwicklungen bezeichnet. Daß die letzteren überall stark zunehmen, steht fest. Viele von ihnen sind jedoch nicht so sehr Ursachen der heutigen Unordnung in der Welt als Symptome oder Folgeerscheinungen derselben. Damit halten manche unsere Frage bereits erledigt. Sie bedenken nicht, daß für die Entstehung einer zu einem wirklichen Leiden oder zu einer erheblichen Störung der Umwelt führenden psychogenen Krankheit auch eine bestimmte Disposition und Anlage notwendig ist. Die Erbpsychiatrie hat den Nachweis geleistet, daß manche solcher Anlagen ganz oder teilweise identisch sind mit denjenigen, die sich später, unter Mitwirkung anderer Ursachen, in den eigentlichen Geistes- und Gemütskrankheiten auswirken.

Leider sind die Statistiken über die Geistesstörungen in den meisten Ländern so mangelhaft, daß wissenschaftlich brauchbare Zahlen sich ihnen nicht entnehmen lassen. In der Schweiz steht uns zunächst in den Rekrutierungsergebnissen ein einigermaßen brauchbares Material zur Verfügung. 1883 mußten 1,4%der Stellungspflichtigen wegen geistiger Gebrechen vom Militärdienst befreit werden, 1911 schon 2,8%, während des letzten Krieges und seither ca. 7 %, obwohl die Gesamtzahl der dienstuntauglich Erklärten in diesem Zeitpunkt erheblich gesunken ist. Worauf beruht diese Zunahme der wegen geistiger Gebrechen Ausgemusterten? Die Zahl der wegen angeborenen Schwachsinns vom Militärdienst Befreiten ist nicht größer geworden, sondern von 4,9 %(1935) auf durchschnittlich 2,6 % seit 1941 gesunken; dies ist aber wohl bedingt durch die Notwendigkeit, für die vielfältigen Aufgaben unserer Armee auch die letzten Kräfte zu mobilisieren, und nicht

durch die Abnahme der Zahl der Schwachsinnigen. Wissen wir doch durch unsere Basler Untersuchungen über die Fruchtbarkeit der Ehen der Schwachsinnigen und Normalbegabten, daß seit mehreren Jahrzehnten die Erbschwachsinnigen im Durchschnitt eine viel größere Nachkommenschaft haben als die Normalbegabten. Die Ehen der zeitweise Geistes- oder Gemütskranken sind eher unfruchtbarer als diejenigen der psychisch Unauffälligen. Die Zahl der wegen dieser Krankheiten und wegen Epilepsie Nicht-Rekrutierten blieb denn auch in den letzten Jahren gleich (2 %0 bzw. 9 %0). Die Zahl der nicht in die Armee aufgenommenen Psychopathen und Neurotiker aber beträgt ca. 3,2%. Bei vielen Nicht-Rekrutierten dieser Kategorie handelt es sich um Abkömmlinge anti- oder asozialer Psychopathen, die sich durch erheblichen Reichtum ähnlich veranlagter Kinder auszeichnen, welche dank der modernen Fürsorge wieder in die Lage kommen, Familien zu gründen.

Die Statistiken der Aufnahmen in die staatlichen und privaten psychiatrischen Anstalten der Schweiz zeigen, daß die Zahl der erstmals Aufgenommenen von 4000 im Jahre 1930 gestiegen ist auf 6433 im Jahre 1945 (nämlich 3296 Männer und 3137 Frauen). Ein Vergleich der einzelnen Krankheitsgruppen ergibt eine relative Abnahme der Erstaufnahmen infolge der wichtigsten konstitutionellen Geistes- und Gemütskrankheiten, nämlich der Schizophrenie von 32,3 % (1930) auf 24,3 %, der Manisch-Depressiven von 8 % auf 7,3 %. Eine entgegengesetzte Entwicklung scheint sich, wie bei der Rekrutierung, bei den angeborenen Charaktergestörten, den Psychopathen, bemerkbar zu machen. Doch sind diese Zahlen nur beschränkt zu verwenden, weil die Aufnahmebedingungen in den einzelnen Anstalten recht verschieden sind. Immerhin darf

wohl soviel gesagt werden, daß die absolute und relative Zunahme der psychisch Abnormen, die zu einer Überfüllung aller staatlichen psychiatrischen Anstalten in unserem Land geführt hat, zurückzuführen ist nicht auf eine relative Steigerung der Geistes- und Gemütskranken, sondern einerseits auf eine Zunahme der Alterskranken — im Zusammenhang mit der Überalterung der Bevölkerung —, anderseits auf eine Zunahme der Psychopathen und Neurotiker. Unter diesen findet sich eine immer größer werdende Zahl von anti- und asozial veranlagten Charaktergestörten, die auch abnorm leicht süchtig und kriminell werden und in früheren Zeiten vielfach früh zugrunde gingen, während man heute mit allen Mitteln versucht, sie zu resozialisieren. Nun gibt es aber unter den Psychopathen, besonders unter krankhaft veranlagten Blutsverwandten der Geistes- und Gemütskranken, die offenbar allmählich seltener werden, auch nicht wenige wertvolle Menschen, die an sich selbst leiden, denen aber die Wissenschaft und Kunst und die anderen kulturellen Bezirke viel zu verdanken haben: Viele unter ihnen vermögen entscheidende neue Zusammenhänge zu sehen und wichtige neue Wege zu weisen, teils wegen ihrer intrapsychischen Auflockerung oder Spannung und ihrer Neigung, gewohnte Denkgeleise zu verlassen, teils aber auch wegen ihrer beim Durchschnittsmenschen nicht vorkommenden eigenartigen Kombination verschiedener, für eine bestimmte Leistung besonders günstiger Eigenschaften. Das tiefe Leid, in welches der Kranke und seine Angehörigen durch Geistes- und Gemütskrankheit gestürzt werden, findet also nicht selten einen gewissen Ausgleich in besonders hervorragenden Leistungen solcher Familien, wofür wir gerade in Basel über eindrucksvolle Beispiele verfügen.

Wie sich die Qualität und Quantität der psychisch Abnormen

in anderen Ländern verhält, kann nur unsicher gesagt werden. Immerhin wissen wir, daß z. B. in den nordischen Ländern die Verhältnisse ähnlich sind, wie in der Schweiz. Da der erste Weltkrieg vor allem die Zahl der gesunden Männer stark verringert hat, ist die Annahme gerechtfertigt, daß in den ehemals kriegführenden Staaten die Verhältnisse noch ungünstiger sind als bei uns. Die große Grippe-Epidemie und der zweite Weltkrieg haben wahllos Gesunde und Kranke vernichtet. Wir haben Grund zur Vermutung, daß in manchen außereuropäischen Ländern und in den osteuropäischen Staaten sowohl die ärztliche Behandlung wie die soziale Fürsorge bei weitem nicht so stark ausgebildet sind wie in unserem Wohlfahrtsstaat und in den anderen westlichen Ländern. Das könnte bedeuten, daß die natürlichen Ausmerzungsprozesse bei den Geistesschwachen oder -kranken sich dort viel stärker bemerkbar machen als bei uns. Dem muß aber entgegengehalten werden, daß in diesen Ländern noch keine eugenetischen Bestrebungen wirksam sind und die Geburten noch nicht beschränkt werden. Ferner ist bekannt, daß gerade bei Völkern, die in starker Umwälzung begriffen sind, alle möglichen sozial abwegigen Psychopathen sich leichter durchzusetzen, ja sogar zu Schlüsselstellungen zu gelangen vermögen. Aus all dem ergibt sich, daß die Zahl der psychisch Abnormen in allen Ländern beträchtlich und in steter Zunahme begriffen ist; aber über das für die Beantwortung unserer Frage Wichtigste, die Häufigkeit der einzelnen Gruppen unter diesen Abnormen, können wir nur Vermutungen äußern.

In den Zeiten des Umbruchs können oft nur wenige, aber sehr durchschlagsfähige und hemmungslose psychisch Abnorme die Führung an sich reißen und rasche Änderungen eines Volkscharakters erzielen. Es hat nicht an

Versuchen gefehlt, die allmählich sich vollziehenden psychischen Verwandlungen ganzer Völker zu Weltkrisen bewirkenden Menschenmassen wenigstens teilweise zurückzuführen auf die Wirkungen, die von Sippen mit abnormen Anlagen ausgehen: Teils durch Einheirat in ähnlich oder anders veranlagte Sippen, teils durch psychische Beeinflussung (Induktion) der Umgebung kann sich diese Wirkung recht erheblich gestalten, wenn man die absolut und wenigstens teilweise auch relativ zunehmende Häufigkeit der psychisch Kranken und Abnormen und die Freiheit, die man ihnen heute vielfach läßt, berücksichtigt. Das gilt aber offenbar in der Hauptsache für die anti- und asozial Veranlagten, sowie für die sog. fanatischen Psychopathen. Unsere schweizerischen Statistiken zeigen, daß der hereditäre Einfluß bei den Sippen mit vererbbaren Geistes- und Gemütskrankheiten auf die seelische Gestaltung eines Volkes nicht überwertet werden darf. Denn der Versuch ist mißlungen, von den sog. Normalen bis zu den Geistes- und Gemütskranken allmähliche Übergänge nachzuweisen. Die Krankheit ist etwas qualitativ Neues, wenn auch gewisse ihrer Elemente im praepsychotischen Charakter mancher Patienten und im Wesen ihrer Blutsverwandten festzustellen sind. Gerade in den letzten Jahren ist denn auch bewiesen worden, daß geistig-körperliche Anomalien, die man früher unbedenklich als Folgen einer Vererbung auffaßte, ganz oder teilweise auf äußere Schädigungen, z.B. auf Infektionskrankheiten der schwangeren Mutter oder auf körperliche Krankheiten des Patienten vor dem Beginn der Psychose, beruhen. Wir können deshalb heute vorsichtigerweise nur aussagen, daß die "Volksseele" neben manchen anderen Determinanten auch durch eine besondere Kombination vererbbarer und zugleich durchschlagskräftiger "psychischer Radikale"geformt wird, daß es aber sehr fraglich ist,

ob oder in welchem Ausmaß diese mit gewissen Kernelementen der Erbpsychosen zusammenhängen. Man könnte versucht sein, das Kühle, Zackige, Maschinenmäßige bestimmter Völker oder einzelner ihrer Teile, die sich mit großer Aktivität immer wieder durchzusetzen versuchen und sich in Andere auffallend schlecht einfühlen können, welche alles ordnen und überorganisieren wollen und an ihren politischen oder sozialen Dogmen starr festhalten, in Beziehung zu setzen mit dem schizophrenen Erbkreis. Das gemütvolle, stimmungslabile, stark gefühlsbetonte Wesen anderer Völker mit ihren weichen, graziösen Bewegungen, ihrer Neigung zum Überschwänglichen in Lust oder Schmerz, mit ihrer Antipathie gegenüber strenger Zucht und Disziplin könnte an den Menschen aus manischer-depressiver Familie erinnern, bei welchem das Gefühlsleben überwiegt. Jene Völker aber, bei denen schon äußerlich das Massige und Klotzige auffällt, die eine große Willenszähigkeit aufbringen, aber auch antriebsarm, gutmütig und sehr geduldig sich verhalten, plötzlich jedoch in schweren Explosionen sich zu entladen pflegen und deshalb unberechenbar, unheimlich erscheinen, könnten an das Verhalten gewisser Sippen erinnern, die zum epileptischen Erbkreis gehören. Aber, wie gesagt, diese Beziehungen sind bisher in keiner Weise gesichert. Es fehlt uns schon jedes statistische Material darüber, ob in jenen Völkern die entsprechenden Psychosen abnorm häufig auftreten. Da seit den Weltkriegen die Völker, wie noch nie, durcheinandergemischt wurden, sind solche Untersuchungen in Zukunft leider wohl ganz aussichtslos. Wir wissen nur, daß in unserem eigenen Land die Unterschiede in der Häufigkeit der Psychosen bei den alt eingesessenen Bevölkerungskreisen in den einzelnen Kantonen nicht so verschieden sind, daß die auffallende psychologische Verschiedenheit

der einzelnen Landesteile wenigstens teilweise damit in Zusammenhang gebracht werden könnte.

Weil uns also irgendwelche sichere Beweise für die erbbiologische Auswirkung Psychosen bedingender seelischer Anlagen ins Große fehlen, haben wir als Naturwissenschafter die Pflicht, die Einflüsse anderer Faktoren hervorzuheben, welche eine Volkspsyche gestalten, und deren Veränderung eine Krise mitbewirken könnte. Zunächt die Landschaft den "genius loci". Es wurde mit Recht immer wieder hervorgehoben, daß weite Ebenen, die Nachbarschaft der Wüsten und des unendlichen Meeres den Menschen an seine eigene Kleinheit und Bedeutungslosigkeit und an seine Abhängigkeit von Urmächten erinnern und dadurch eine Verinnerlichung und religiöse Einstellung begünstigen. Ebenso müssen die Fruchtbarkeit und Üppigkeit des Bodens die Menschen beschaulich, inaktiver und weicher gestalten als eine harte, kärgliche, nur mit großem Fleiß und Verzicht auf Bequemlichkeit zu bebauende Erde. Gebirgsländer mit vielen, teilweise engen Tälern werden die Menschen leichter zu Individualisten, ja zu Eigenbrödlern formen und ihren geistigen Horizont in gewissen Beziehungen verengern, aber ihren Unabhängigkeitssinn und ihre Hartnäckigkeit im Verteidigen ihrer Freiheit, ihres Besitzes und ihrer sozialen Sicherung steigern, die Gefahr des Aufgehens in der Masse und des Überorganisierens verhindern, dafür aber die Tendenz zur Spaltung erhöhen. Ähnliches gilt natürlich für das Klima, das sich ja wie der Boden nur in sehr langen Zeitepochen grundlegend ändert und schon deshalb für die Gestaltung der Landesbewohner viel wichtiger ist als deren Rasse. Es ist aber sehr schwierig, die Einwirkung dieser Faktoren richtig zu beurteilen. Man hat aus verständlichen Gründen solche Untersuchungen, allerdings mit noch ungenügenden Methoden,

besonders bei Menschen durchgeführt, die zu psychischen Krankheiten disponiert oder psychisch krank und deshalb in manchen Beziehungen überempfindlich oder widerstandsschwach sind. -

Für die wichtigsten Geistes- und Gemütskrankheiten und erst recht für die Psychopathien und Neurosen konnten bisher keine charakteristischen pathologisch-anatomischen Grundlagen gefunden werden. Bei vielen dieser Abnormen sind aber die psycho-physischen Korrelationen tiefgreifend gestört, als deren wichtigstes organisches Substrat wir die besonders im Stammhirn gelegenen Zentren kennen, durch welche der Stoffwechsel, das vegetative Nervensystem, die endokrinen Drüsen, das Wachen und Schlafen und andere für die Erhaltung des Lebens notwendige Funktionen geregelt werden. Diese physiologischen "Lebenszentren"sind natürlich allen Einflüssen der Außenwelt, die von Land zu Land wechseln, besonders ausgesetzt. Es ist deshalb kein Zufall, daß in gewissen Jahreszeiten die Zahl der Patienten, die in psychiatrische Spitäler aufgenommen werden müssen, sich regelmäßig stark steigern, daß bei gewissen Witterungsverhältnissen die depressiv-reizbaren Verstimmungen, die Selbstmordversuche und die epileptischen Anfälle oder ihre Aequivalente auf körperlichem oder geistigem Gebiet erheblich zunehmen. Die sehr vielgestaltigen "geopsychischen Verhältnisse" sind nicht bloß bedeutungsvoll für den zu krankhaften Reaktionen Disponierten, sondern auch für den ausgeglichenen Menschen, für das Zusammenleben der Einzelnen in Familien oder anderen Verbänden, für das Verhalten mehr oder weniger zufällig zusammengeströmter Gruppen, Mengen und Massen und für die vorherrschenden Reaktionen festgefügter großer Volkskörper wie z. B. einer Armee. Je mehr sich die Menschen den einem natürlichen Rhythmus gehorchenden

Gesetzen der Landschaft und des Klimas entfremden und je enger sie zusammengedrängt leben —beides geschieht in den Städten, deren Bewohner auf Kosten der ländlichen Bevölkerung dauernd zunehmen —, umso größer ist die Gefahr einer psychischen Erkrankung beim Einzelnen wie bei der Menge. Eine nicht unerhebliche Quelle der Überreiztheit und Übermüdbarkeit unserer Zeitgenossen ist auch die künstliche Änderung der Wach- und Schlafzeiten, der Beleuchtung und der Temperatur, die mit Hilfe der Technik beliebig den Bedürfnissen des Einzelnen oder ganzer Arbeitsschichten oder den Anforderungen eines Betriebes angepaßt werden können.

Aus diesen und anderen Gründen sind schon die der ärztlichen Forschung zugänglichen Verhältnisse dermaßen kompliziert und unübersichtlich geworden, daß es äußerst schwer fallen wird, gewisse Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten, verhalten sich doch ähnlich veranlagte Menschen durchaus verschieden bei dieser oder jener körperlichen oder seelischen momentanen Verfassung, dieser oder jener Landschaft oder Witterung, in dieser oder jener Sozietät. Dazu kommen nun als wichtigste psychische Einflüsse die heute stark und rasch sich verändernden Wirkungen der Erziehung und der Tradition, der politischen, sozialen, rechtlichen, ethisch-religiösen und anderer Grundanschauungen dieses oder jenes aus der Menge hervorragenden Einzelmenschen, mit dem man sich identifizieren, in den man seine Ideale projizieren oder von dem man sich kontrastieren möchte. Es kommt all das hinzu, was über die Psychologie der Gruppen, Mengen und Massen und ihre die persönliche Verantwortungsfreude und das individuelle Gewissen schwächenden Organisationen festgestellt worden ist. Der moderne Mensch fürchtet sich vor Einsamkeit; er drängt zum Leben in der Menge und ist deshalb allen massenpsychologischen

Einwirkungen intensiv ausgesetzt. Noch nie wurden so bewußt und so intensiv die Gesetze der Massenpsychologie angewendet wie heute, angewendet mit diabolischem Geschick gerade von geistig abnormen Menschen. Als Opfer ihrer primitiven Denk-Einseitigkeit und Rücksichtslosigkeit und ihrer elementaren Machttriebe benützen diese zunächst mit Vorliebe einen kleinen Kreis entwurzelter Menschen, die, vielfach selbst krankhaft veranlagt oder geworden, mit sich und der Welt zerfallen sind. Dann erfolgt mit allen Mitteln die Beeinflussung weiterer Kreise, bis ganze Volkskörper von innen ausgehöhlt und jenen Despoten ausgeliefert sind, die mit den Werkzeugen der modernen Technik ihre Macht zu sichern und auszudehnen vermögen.

Es kommt schließlich als krisenbegünstigender Faktor hinzu der "Geist des Zeitalters", den W. Schubart in seinem bekannten Buch "Europa und die Seele des Ostens" dem "Geist der Landschaft" gegenübersteht, ohne die Frage zu untersuchen, ob nicht gerade die außerordentlich großen Veränderungen, welche der technisch-rationalistische Mensch der Neuzeit an der Landschaft vorgenommen hat, wichtige Ursachen seiner eigenen Wandlung darstellen, so daß sich ein circulus vitiosus bilden konnte. Schubart hat in seiner Theorie von der phasisch sich ablösenden Vorherrschaft des harmonischen, heroischen, asketischen und messianischen Menschen die uralte Lehre von den vier sich ablösenden Aeonen in einer zwar einseitigen und stark vereinfachenden, aber umso großartigeren Weise erneuert und den Fundamentalsatz aufgestellt: "Wo der Geist der Landschaft mit dem Geist des Zeitalters verwandt ist, ziehen sie sich gegenseitig an und verstärken ihre Wirkung. Wo sie ungleichartig sind, stürzen sie den Menschen in schwere Krämpfe und

Konflikte." Für ihn ist das Rußland der beiden letzten Jahrhunderte ein erschütterndes Beispiel für die Folgen eines Zwiespaltes zwischen dem Geist der Landschaft und dem Geist unseres Aeons, den er als "prometheisch" bezeichnet, weil der moderne Mensch den Blick auf die Erde richtet, in weite Fernen, nicht mehr in unbegrenzte Höhen, auf den Besitz der irdischen Macht, während er nicht mehr an einen Gott glaubt oder Gott, wie der religiös begabtere Mensch des Ostens, bekämpft.

Wenn wir uns diese in größeren oder kleineren Zeitabschnitten dauernd wechselnden Einflüsse und Beziehungen vor Augen halten und von jenen anderen Faktoren absehen, welche das Lebensgefühl eines Menschen mitbegründen, so werden wir Ärzte allen Grund haben, bescheiden zu sein. Wir werden diejenigen enttäuschen, welche hoffen und glauben, das, was wir als brauchbares Heilmittel zur Genesung eines psychisch irgendwie gestörten Einzelnen erkannt haben, lasse sich grundsätzlich auf immer größere Kreise, von der Familie bis zum Volkskörper, vom Einzelstaat bis zum Weltverband der Länder und Völker übertragen.

Aber vielleicht geben uns gewisse seelenärztliche Erfahrungen beim Einzelnen wenigstens einen Hinweis darauf, wie solche Heilbemühungen um größere menschliche Verbände gestaltet, auf was sie gerichtet sein sollten? Selbstverständlich kann unsere moderne Therapie der großen Psychosen, deren Symptomatik und Aetiologie mit derjenigen der Weltkrisen nur in verhältnismäßig wenigen Faktoren übereinstimmt, bloß in sehr vager, symbolhafter Form mit den Bemühungen um die Gesundung zerrütteter Völker in Beziehung gesetzt werden. Mit unserer somatischen Therapie versuchen wir, Beruhigung von Erregungszentren zu erreichen oder Umstellung von

falsch gesteuerten Regulationen oder Auflockerung von Erstarrendem oder Wiederingangsetzen von Selbstheilungsmechanismen oder Ersatz eines schlimmen Leidens durch eine mildere Krankheit. Einige dieser medizinischen Prinzipien glaubt man wieder zu erkennen, wenn man an die Revolutionen und Kriege denkt, in denen manche früher Massenphänomene sahen, die ein Volk von Zeit zu Zeit brauche, um sich zu reinigen, zu ertüchtigen, zu verjüngen. Heute sehen wohl alle die Notwendigkeit ein, dem mit solchen Gewaltkuren immer verbundenen Elend vorzubeugen durch Maßnahmen, welche zu starke soziale und politische Spannungen rechtzeitig ausgleichen und die Entstehung von Massenerregungen oder von Erstarrungen ganzer Volksschichten verhindern sollen durch Einrichtungen, die eine lebendige Evolution ermöglichen. Die moderne "Psychochirurgie" aber findet ihr Analogon in den Diktatursystemen, durch welche drohendes Chaos mit raffinierten Methoden wohl gebremst, aber statt wirklicher Gesundung nur eine Primitivierung erzielt werden kann. Diese Andeutungen genügen, um klarzumachen, daß diese Prinzipien ärztlicher Heilmethoden, die dem Einzelnen helfen können, nicht oder doch nur in sehr vager Weise sich auf krank gewordene Völker übertragen lassen.

Wenn wir nun aber den einzelnen Menschen ins Auge fassen, der aus psychischen Gründen, nicht wie der Geistes- und Gemütskranke infolge primärer organischer Veränderungen, krank wird, so ergeben sich viel klarere Beziehungen zwischen dem individuellen Mikrokosmos und dem Weltgeschehen und entsprechende Nutzanwendungen sowohl in aetiologischer als therapeutischer Hinsicht. Der Einzelne kann, ganz allgemein gesprochen, seelisch erkranken dadurch, daß seine Kräfte zu stark oder zu schwach

oder auf unrichtige Weise beansprucht werden. Wir wissen, daß auch heute noch Millionen Menschen in öder und vielfach sehr ungesunder Umgebung unter schweren Entbehrungen aller Art dauernd überanstrengt, als Arbeitsmaschinen mißbraucht werden, daß sehr viele andere, gerade in unserem Land, die Arbeit stark überwerten oder sich damit betäuben und deshalb körperlich und psychisch überreizt und zugleich übermüdet werden, von ihrem Leben unbefriedigt sind und so den verschiedensten krankhaften Reaktionen auf körperlichem und psychischem Gebiet abnorm leicht zugänglich werden. Wir wissen aber auch, daß genau dieselben Störungen entstehen können, wenn zu wenig Anforderungen an einen Menschen gestellt werden, wenn z. B. seine Arbeitszeit immer weiter beschränkt wird, ohne daß dafür gesorgt wird, daß er in der übrigen Zeit eine andere für ihn befriedigende Beschäftigung erhält. Verwahrlosung, Verwilderung, Absinken auf eine primitive Daseinsstufe sind die Folge, und aus der Leerheit und Langeweile wächst das Bedürfnis, sich zu ärgern, die Lust am Streiten, die Begierde nach aufregender Sensation durch alle möglichen Mittel bis zu den Rauschgiften und Verbrechen. Daß ganze Volksschichten ähnliche Zustände reizbarer Schwäche bis zu dauernden seelischen Spannungszuständen, Phasen der Leerheit mit mehr oder weniger plötzlichen Explosionen in Revolutionen und Kriegen zeigen können, hat unsere Generation genug erfahren. in den Kriegen und Revolutionen aber kommt nicht nur ein gewaltiger, aufgestauter Selbstbefreiungsdrang und das nicht mehr überwindbare Bedürfnis, alle Unlust einmal hemmungslos an andern austoben zu dürfen, zur Entladung, sondern auch ein starker Selbsthingebungsdrang, indem uralte Selbstaufopferungstriebe zum Durchbruch gelangen. Wir wissen, daß die allerverschiedensten

bewußten und unbewußten Beweggründe und Triebfedern den Einzelnen zu bestimmten krankhaften Reaktionen veranlassen und daß wir aus der Art dieser psychogenen Störungen nicht ohne weiteres auf deren Ursachen schließen können. Genau dasselbe gilt von den "Kollektiv-Neurosen"und Massenreaktionen in den Völkerwirren. Der Ausgangspunkt ist eine bei vielen Individuen zugleich vorhandene, mit negativen Gefühlen besetzte seelisch-körperliche Situation der Unzufriedenheit. Diese ist oft bedingt durch materielle Not, ungerechte Behandlung, menschenunwürdige soziale Verhältnisse und andere Schädigungen von außen, Ebenso wichtig sind aber individuelle Faktoren, welche zu einer Unzufriedenheit mit sich selbst führen, wie Unzulänglichkeit oder Schuld, die man sich nicht einzugestehen wagt, triebhaftes Begehren, dessen Erfüllung aus irgendeinem Grunde nicht möglich ist, aber auch eine innere Nötigung zu wertvollen Leistungen, die man seit Jahren unterläßt, oft aus zu starker Beanspruchung durch andere Pflichten, oder aus Bequemlichkeit oder aus Scheu vor Kritik. Alle diese Insuffizienz-, Schuld- und Unterlassungsneurosen, deren Ansätze bei fast jedem differenzierten Menschen zu beobachten sind, oder anders bedingte psychogene Störungen führen zu depressiven Spannungen, zu einer Selbstentzweiung und aktivieren die Mechanismen, die dem Selbstschutz und der Selbstheilung, der Wiederherstellung des Gleichgewichts, des inneren Friedens dienen. Es seien hier nur erwähnt die Vorgänge der Absperrung, der Affektverschiebung, der Erinnerungs- und Wahrnehmungstäuschung, der Kompensation, der Fremdentwertung, der Projektion, der Angriffs- oder Fluchtreaktion. Wir wissen heute, daß viele Neurosen und viele Sekundärerscheinungen bei Geisteskrankheiten nichts anderes darstellen als Selbstheilungsversuche,

ja daß auch viele Wahnvorstellungen, welche der Laie neben den Sinnestäuschungen als die offenkundigsten Merkmale schwerer geistiger Erkrankung beurteilt, dem Selbstschutz dienen, dem Schutz vor dem inneren Zerfall und dem Bedürfnis nach Wiederherstellung der inneren Geschlossenheit, Einheit, Sicherheit, also der Selbsterhaltung.

Die gleichen Vorgänge, die wir beim Einzelnen beobachten, sehen wir bei ganzen Familien, Bevölkerungsschichten und Völkern, und zwar um so deutlicher und mächtiger, je größer die Zahl derer ist, die keinen inneren Frieden mehr finden, sondern unter dem dauernden Druck innerer oder äußerer Not, Unsicherheit und Angst oder unter dem dumpfen Gefühl der inneren Leere, der Langeweile stehen und nichts mit sich anzufangen wissen, Deshalb verfallen diesen Mechanismen willens- und widerstandsschwache und andere Psychopathen oder infolge schwerer äußerer oder innerer Schädigungen Neurotisierte als Führer oder als Verführer besonders leicht, wie die Geschichte der beiden Weltkriege und der Nachkriegszeit mit aller Deutlichkeit zeigt. Revolutionen, Kriege und alle Formen von Diktatursystemen sind von unserem ärztlichen Standpunkt aus Krankheitserscheinungen und zugleich unrichtige Selbstheilungsversuche, die genau wie die individuellen psychogenen Störungen großartige Leistungen und wichtige Ansatzpunkte zu neuen wertvollen Entwicklungen erzeugen können, aber immer auch von einem so abgrundtiefen Leid, von so viel Zerstörung und Elend begleitet oder gefolgt sind, daß wir ihre Entstehung vorbeugend zu verhindern versuchen müssen. Diese Aufgabe können wir als Ärzte aber nur beim einzelnen Hilfesuchenden erfüllen und jenen anderen Menschen, mit denen das Schicksal sie in Beziehung gesetzt hat. Jede

Gesundung muß beim Einzelnen, muß "unten" ansetzen. Die großen "Heilmaßnahmen", welche man von "oben", mit Hilfe von Gesetzen, Verboten, Vorschriften in Gang setzt, werden in der Regel so lange erfolglos bleiben, als beim Einzelnen das Verständnis für die Notwendigkeit und die Bereitschaft zur willigen Unterordnung ihnen gegenüber fehlt. Die Neurose des Einzelnen ist oft der Ausdruck einer inneren Revolte und kann in manchem mit dem äußeren Aufstand einer Masse verglichen werden, auch darin, daß Zwangs- und Unterdrückungsmaßnahmen auf die Dauer unwirksam bleiben. Die Häufung beider Phänomene, der Neurosen einerseits, der Kriege und Unruhen andrerseits, in unsrer Zeit beweist, daß die Anpassung an die rapid sich ändernden äußeren und inneren Lebensbedingungen nicht gelungen ist, sodaß "irrationale Kräfte" immer wieder durchzubrechen vermögen. Es fragt sich nur, ob nicht auch der Rationalismus, welcher die Neuzeit im Abendland kennzeichnet und zu einer unglaublichen Überwertung des Intellektes und des Fachwissens gefährt hat, uns in diese Weltkrise gebracht hat. Wir wissen aus der individuellen Psychotherapie, daß — entgegen der früheren, so bezeichnenden Annahme — das Bewußtwerden der eine Neurose bewirkenden Faktoren nie genügt, um diese Krankheit zu heilen. Je schärfer wir in die Tiefen des Menschen leuchten, um so mehr entdecken wir im Unbewußten, im Tiefenmenschen nicht nur gewisse Macht- und Zerstörungstriebe, sondern auch jene tiefe Sehnsucht nach dem Unvergänglichen, die uns als "Wanderer zwischen zwei Welten"kennzeichnet. Vielen von uns Ärzten ist heute bewußt, daß die Vorherrschaft des uns in Schuld und Sünde verstrickenden Anteils des Tiefenmenschen bei vielen nur durch Abfall vom Geist oder durch die mangelnde Entwicklung aller jener auch

aus der Tiefe zum Licht drängenden Kräfte möglich geworden ist, die den Menschen über ihn selbst hinwegweisen und ihn seiner wirklichen Bestimmung entgegenführen. Der Zerfall unserer Welt beruht nicht zuletzt darauf, daß der Mensch in der dauernd hastigen Betriebsamkeit unserer Zeit die Fähigkeit zur fruchtbringenden Ruhe, zur Verinnerlichung und Selbstbesinnung verloren hat, daß er an nichts Uebersinnliches mehr glaubt und deshalb Menschen, Systeme und Doktrinen vergottet, daß er seinem Leben keinen Gehalt, keine Richtung mehr zu geben weiß und nun vom Staat, einer Organisation, einem ärztlichen oder politischen "Führer"all das erwartet, was er in sich selbst vergebens sucht. Es genügt deshalb nicht, die wunden Stellen aufzudecken, das Wirre, Kranke, Schlechte. Sondern es gilt heute mehr denn je, den Geist des Heiligen und Reinen, der Ehrfurcht und der Demut, des Gerechten, Gütigen und Schönen, vor allem den Geist der Liebe mit unendlicher Geduld in und um uns zu pflegen. Je mehr wir, besonders die Naturwissenschafter und Techniker, uns klarmachen, daß unsere Entdeckungen und Erfindungen, alle unsere Arbeiten überhaupt, nicht Selbstzweck sein dürfen, sondern letzterdings, um eine in seiner kindlichen Einfachheit und Tiefe erschütternde Bezeichnung Anton Bruckners zu gebrauchen: "dem lieben Gott gewidmet"sein sollten, umso eher wird der Einzelne und die Welt gesunden.