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C. F. RAMUZ' KRIEG GEGEN DIE PAPIERE

JAHRESBERICHT 1947/48 ___

Druck: Art. Institut Orell Füssli A.-G., Zürich

INHALTSVERZEICHNIS Seite

I. Rektoratsrede 3

II. Ständige Ehrengäste der Universität 26

III. Jahresbericht 27

a) Hochschulkommission 27

b) Dozentenschaft 27

c) Organisation und Unterricht 32

d) Feierlichkeiten und Konferenzen 39

e) Ehrendoktoren und Ständige Ehrengäste . . . . 41

f) Studierende 42

g) Prüfungen 44

h) Preisaufgaben 45

i) Stiftungen, Fonds und Stipendien 45

k) Kranken- und Unfallkasse der Universität . . . 47

l) Witwen-, Waisen- und Pensionskasse der Professoren der Universität 47

m) Zürcher Hochschulverein 50

n) Stiftung für wissenschaftliche Forschung an der Universität Zürich 52

o) Jubiläumsspende für die Universität Zürich . . . 57

p) Julius Klaus-Stiftung 60

IV. Schenkungen 65

V. Nekrologe 68

I.

FESTREDE

DES REKTORS PROF. Dr. THEOPHIL SPOERRI

gehalten an der 115. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 29. April 1948

C. F. RAMUZ' KRIEG GEGEN DIE PAPIERE

Der letzte zu Lebzeiten des Dichters erschienene Roman trägt den Titel: "La Guerre aux Papiers". Er behandelt die Episode der Schweizer Geschichte, die unter dem Namen der "Papierverbrenner", der "Bourla-Papey" bekannt ist. Es ist die Revolte der Waadtländerbauern vom Jahre 1802. Sie wurde veranlaßt durch eine voreilige, doch die fernere Zukunft vorwegnehmende Maßnahme der Helvetischen Republik: die Ablösung der Zehnten und Grundzinsen. Als dann infolge der katastrophalen Zerrüttung der Staatsfinanzen die Abgaben neben neuen Steuern wieder erhoben wurden, entstand eine Verwirrung, die sich in einem bewaffneten Aufstand Luft machte. Wilde Haufen von Bauern überfielen einzelne Schlösser und Landhäuser, plünderten die Archive und verbrannten in weithin sichtbaren Feuern die Urkunden, die schriftlichen Zeugen ihrer Abhängigkeit.

C. F. Ramuz hat aus diesem Geschehen etwas ganz anderes gemacht als einen historischen Roman.

Der Krieg gegen die Papiere ist das eine Grundthema seines Lebens und Schaffens. Eine Phase dieses Krieges ist Ramuz' Kritik an der Schweiz, die im Jahre 1937 eine besonders akute Form annahm. Der Angriff Ramuz' war um so schmerzhafter, als er von einem Dichter kam, der als der größte der welschen Schweiz zu betrachten ist, und weil er nicht vom eigenen Boden aus in freundeidgenössischer Auseinandersetzung erfolgte, sondern von im Ausland erscheinenden Zeitschriften aus, zuerst im Juli 1937 im Art Vivant und dann im Oktober 1937 im Esprit.

"Wie soll man von der Schweiz reden, da sie ein Land ist, das gar nicht existiert", so heißt es gleich am Anfang. Ramuz korrigiert sich dann, indem er sagt, politisch und militärisch existiere die Schweiz wohl, und zwar sehr kräftig, aber nicht kulturell, nicht auf der Ebene des Ausdrucks — sur le plan expressif. "Es ist ein Land, dein die Uniform der Postbeamten, die elektrischen Eisenbahnen und die Briefkästen allein eine gewisse Einheit geben." Wenn man in der Verschiedenheit der Länder, Sprachen und Sitten etwas Gemeinsames suche, so komme man vielleicht zu einer geographischen Gemeinsamkeit. Die Schweiz ist ein aufgewühlter Boden, ein Knäuel von Bergen. Sie bildet darum "eine strategische Einheit, die, weil sie auf der Natur fußt, gleichzeitig ein gewisses Klima bedingt, eine gewisse Art, sich zu benehmen, zu gehen, zu leben, eine gewisse Art, die Dinge anzuschauen, eine besondere Optik."

Der zweite Artikel hebt noch deutlicher die negativen Seiten hervor. Er spricht von der passiven Einheit, die sich in der Neutralität zeigt, von dem Hang zur materiellen Sicherung, der sich in einem übertriebenen Bedürfnis nach Sauberkeit und Ordnung äußert. Demgegenüber stellt Ramuz die Frage: "Welche Gründe aktiver Art haben wir, zusammen zu sein?" Er konstruiert dann auf der geographischen Grundlage einen Homo Alpinus, der eine besondere Gangart, eine gewisse Schwere und Gewichtigkeit hat; "denn beim Steigen spürt man sein Gewicht, wie beim Hinuntergehen, und auf einem Hang bewegt sich der Mensch anders als auf der Ebene... Wird aber der Homo Alpinus sich je in der Literatur oder Kunst auszeichnen? L'Homo Alpinus est-il capable non seulement d'ingéniosité, mais d'imagination et d'invention, ou bien est-il prédestiné à n'être jamais que portier d'hôtel?"

Man begreift, daß solche Sätze einen Sturm heraufbeschworen, der weithin die Gemüter in Wallung brachte. Als so weltoffene Kritiker wie E. Korrodi (NZZ 13. November 1937) und Fritz Ernst (Neue Schweizer Rundschau Dezember 1937) den welschen Landsgenossen zur Rede stellten, so merkte man am leidenschaftlichen Ton ihrer Äußerungen, daß es nicht um eine

akademische Diskussion, sondern um eine Lebens- und Herzensfrage ging. Die beiden Komponenten schweizerischen Wesens, die partikularistische und die unitaristische, treten in diesem Konflikt in brennender Aktualität zutage, und es lohnt sich wohl in diesem Jahr 1948 vom Werk des Dichters aus dieses strukturelle Grundproblem unseres Landes neu ins Licht zu stellen.

Die heutige Schweiz ist vor hundert Jahren zusammengeschmiedet worden. Führend war damals der Freisinn, dessen Ideengut von der Aufklärung herkommend in der Helvetischen Gesellschaft großgezogen auf allerlei Bahnen in die breiten Massen getragen wurde, durch die 1818 gegründete Studentenverbindung Zofingia, durch die Turn- und Sängervereine, vor allem durch den eidgenössischen Schützenverein, der sich im Jahre 1824 konstituierte und dessen nationale Feste in den dreißiger und vierziger Jahren zu wahren Demonstrationen des Volkswillens wurden. Das seit 1830 alle zwei Jahre wiederkehrende eidgenössische Schützenfest wurde das eigentliche Volksparlament, die "Volks-Tagsatzung" gegenüber der immer schwerfälliger, und hilfloser werdenden "Herren-Tagsatzung". Wie das Gesicht der jungen Schweiz aus dem Gewühl der festlich erregten Massenversammlungen in immer deutlicheren Umrissen hervortrat, zeigt besonders anschaulich das eidgenössische Schützenfest in Basel vorn Jahre 1844, zu dem die drei größten schöpferischen Geister der Zeit persönlich Stellung nahmen: Jeremias Gotthelf, Jakob Burckhardt und Gottfried Keller. (Emil Dürr, Das eidgenössische Schützenfest von 1844 in Basel in der Beurteilung Jeremias Gotthelfs, Jakob Burckhardts und Gottfried Kellers. Neue Schweizer Rundschau, Oktober-November 1937). Während Jakob Burckhardt dem Festtreiben und Redesturm gegenüber kühl distanziert blieb, nahm Gotthelf an diesem Treffen leidenschaftlich Anteil, indem er zum voraus eine Flugschrift publizierte "Eines Schweizers Wort an den schweizerischen Schützenverein", nach Dürrs Urteil "eine gewaltige vaterländische Predigt... ein wichtiges Dokument zur Geschichte des schweizerischen Nationalbewußtseins", in dem Gotthelf das ganze ideologische Register radikaler Schützenfestrhetorik

auf seine Echtheit hin untersucht" (Dürr) und sich gegen den andrängenden Massengeist in wuchtigen, ja prophetischen Worten wendet: "Im Hause muß beginnen was leuchten soll im Vaterland... Nimmer und nimmer dürfen wir es vergessen..., daß die Kraft bei uns im Einzelnen liegt und jedes Einzelnen Wiege das Haus ist, während andere Völker die Kraft in der Masse suchen und die Masse Kraft in ihrer Größe und Verkittung... Die Folgen dieser Lehre werden einst blutig leuchten über Europa und über Amerika vornehmlich..."*)

Gottfried Keller aber steht auf der anderen Seite. Seine Schilderung des Basler Festes im zweitletzten Kapitel der ersten Fassung des "Grünen Heinrich" (1854) und die unsterbliche Novelle "Das Fähnlein der sieben Aufrechten" zusammen mit dem im Jahre 1843 entstandenen "O mein Heimatland" sind die lebendigsten Zeugen für die Echtheit des damaligen Radikalismus, der sich machtvoll einsetzte für die Überwindung des Partikularismus, für die Überführung der einzelnen Stände in einen neuen, vom Geist der Toleranz und Freiheit erfüllten staatlichen Verband.

Das Wunder von 1848 ist aber, daß ein Ausgleich geschaffen wurde zwischen der alten historischen und der neuen postulierten Schweiz in einem föderalistisch-zentralistischen Kompromiß. "Die starken und entschlossenen Werkmeister des neuen Bundes haben als große und echte Realisten auch jenen alten, ursprünglichen und unzerstörbaren Kräften Rechnung getragen, die ein Teil der geistigen und moralischen Existenz Gotthelfs und Burckhardts waren... So sind auch sie zu ihrem Rechte gekommen."(Emil Dürr, a. a. Ort p. 425).

Das ist die Situation von 1848. Der neue Bund ist aber nicht eine fertige Tatsache, sondern eine von der Geschichte gestellte Aufgabe. Der Rahmen ist gegeben, aber er muß mit neuem Leben erfüllt werden. Ob die verschiedenen Komponenten.

zu einem Ganzen zusammenwachsen, ob aus dem Willen zur Einheit und aus dem Drang zur Besonderheit eine Volksgemeinde entsteht, die zugleich auch eine Lebensgemeinschaft ist, ob sie immer tiefere Schichten erfaßt und von der politischen und militärischen zur sozialen und kulturellen Gemeinschaft führt, das sind Fragen, auf die man nicht theoretisch antworten kann. Nur die wirkliche Tat führt auf dieser Bahn jeweils um einen Schritt weiter. Oft bleibt die Entwicklung stecken, man lebt vom Kapital der Altvordern und speist sich und die andern mit Worten ab, wo Handeln allein am Platze wäre. Es ist leicht, sich über den wirklichen Stand der Dinge Illusionen zu machen, aber es gibt ein äußerst sensibles Registrierinstrument, an dem man ganz genau den Grad der Kristallisierung des Gemeinschaftslebens ablesen kann: das ist das literarische Kunstwerk. Das ist eben der "plan expressif", auf den Ramuz sich stellt, um die Frage zu beantworten, inwieweit die Schweiz existiert.

Sobald man nun die Einheit der Schweiz an diesem Maßstab mißt, kommt man zu einem seltsamen Ergebnis. Die beiden Komponenten der Schweiz sind dem Ausdruck nach sehr ungleicher Art. Der bodenständige Schweizer, der Bauer, der Gebirgler spricht nicht leicht; er ist verschlossen und schwerfällig. Er hat, wenn er zu sprechen gezwungen ist, eine rauhe, altväterische, ländliche Sprache man denke an Jeremias Gotthelf. Der andere Schweizer, der Vermittler und Handeltreibende, der an dem großen Dreiweg der europäischen Kulturen wohnt, der spricht schon leichter, aber er spricht nicht seinen Berglerdialekt, sondern die Sprache von Paris, Berlin oder Rom. Und ist es nicht eine merkwürdige Tatsache, an die man nie oft genug erinnern kann, daß der gewaltigste Ausdruck, den der helvetische Geist gefunden hat, der "Wilhelm Tell", von einem Deutschen stammt, der nie die Schweiz gesehen hat?

Das ist's, was unseren Dichter bewegt. Er anerkennt keine Gemeinsamkeit, die bloß auf dem Papier steht, bloß angelernt, nachgeplappert ist. Er sucht eine Gemeinschaft, die auf Wirklichkeit fußt und darum auch einen eigenen, lebendigen Ausdruck

gefunden hat. Und da zeigt sich die besondere Not des Welschschweizers. Bürger einer kleinen Minorität, Nachbar einer großen historischen Kultur, hat er seine sprachliche Autonomie frühe preisgegeben: die Dialekte verschwinden in den Städten schon im Laufe des 17. Jahrhunderts. Ein erschwerender Umstand ist die moralische Hypertrophie, die daher kommt, daß der Schatten Calvins durch Jahrhunderte auf den Gemütern lastete. Wo die ursprüngliche Glut des Glaubens erloschen ist, bleibt oft nichts anderes übrig als die ängstliche Sorge um das eigene Seelenheil. Die bekümmerte Selbstbezogenheit kann sich allerdings in einer positiven Weise auswirken: nirgends in der Welt ist der Sinn für das Seelische, das psychologische Interesse, so tief in die Substanz des Volkes eingedrungen. Es hat sich in einem Heer von Seelenkündern und Seelenforschern Ausdruck verschafft. Aber die Schattenseiten treten um so deutlicher hervor. Bei kleinem Geistern führt diese ewige Gewissenserforschung zu einer skrofulösen Skrupulosität, bei größeren zu einer Unfähigkeit zur entschlossenen Tat und zu einer papierenen Kompensation, wie sie uns überschwemmungsartig in den 16000 Seiten des Journal intime Amiels entgegentritt. Paul Seippel hat die Situation des Welschschweizers um 1900 in einer schlagenden Formel zusammengefaßt: Eine Seele, die einen Körper sucht.

Das ist die Situation, in die Ramuz eintritt. 1878 in Lausanne geboren, erlebt er in der Schule die ganze papierne Unwirklichkeit seiner Umwelt, die Abstraktheit des schulmäßigen, gesellschaftlichen und vaterländischen Lebens. Die Auseinandersetzung mit seiner Heimat wird zum Krieg gegen die Papiere. Er ist aber der aggressive Ausdruck eines unendlichen Dranges nach wirklicher lebendiger Gemeinschaft. Immer wieder stellt sich für Ramuz das Problem seines Verhältnisses zur Schweiz. Dieses Ringen um Klarheit äußert sich in einer fast krisenhaften Heftigkeit, im Augenblick wo er im Jahr 1914, kurz vor dem ausbrechenden Weltkrieg als Sechsunddreißiger in seine Heimat zurückkehrt. Nach den Kindheits- und Schuljahren in Lausanne hatte er in Paris in mühsamem Sich-selber-suchen, seine ersten Werke hervorgebracht: Le petit Village (1903), Aline (1905),

La grande Guerre du Sondrebond (1906), Les Circonstances de la Vie (1907), Le Village dans la Montagne (1908), Jean Luc persécuté (1909), Nouvelles et Morceaux (1910), Aimé Pache, peintre vaudois (1911), Vie de Samuel Belet (1913).

Nun ist er wieder in seiner Vaterstadt. Die Abrechnung mit sich selber und seiner Heimat findet statt in einem großen Essai: Raison d'Etre (1914). Er hat in einem späteren Vorwort von den terribles maladresses gesprochen, die er darin begangen hat. Das mag uns zum voraus milde stimmen. Die Selbstbesinnung beginnt mit einer Anklage gegen die Schule. Den jungen Menschen, die hungrig waren nach Bewegung und ursprünglichem Leben, hat man alte lateinische Bücher vor die Nase gesetzt und anstatt den kleinen wilden Seelen frisches Gras zu geben, hat man sie mit Heu gefüttert. Alles was an Homer groß und mächtig ist, hat man unter grammatikalischen Fragen erstickt. So hat man die Schüler dem Leben entfremdet. Das Papier hat ihnen den Zugang zum eigenen Boden versperrt. Und das ist nur der Anfang einer größeren Selbstentfremdung. Der Schüler wird zum Bürger, der sich daran gewöhnt, alle Unterweisungen, Regeln, Konventionen, sowohl die poetischen als ästhetischen und politischen anzunehmen. Unmöglich von nun an, direkt zu den Dingen zu gelangen.

"Ich denke an viele meiner Kameraden, sie haben aufgehört zu leben, bevor sie 30 waren. Ich denke an uns, die wir zu einem bestimmten Lande gehören und es lieben: die Waadtländer lieben ihr Land, aber sie lieben es konventionell."

"Und nun mache ich einen Sprung", sagt Ramuz weiter, "über viel Papier hinweg... und eines Tages sind wir nach Paris gegangen".

Paris hat ihm geholfen, sich selber zu finden, und eines Tages ist er in die Heimat zurückgekommen.

Er weiß nun, was er will, und was diese Rückkehr bedeutet. "Man wirft unserer Generation vor, daß sie wenig Sinn für Ideen habe, man sollte aber, meine ich, statt Ideen Fiktionen sagen. Ich weiß nicht, ob das ihr besonders eigen ist, aber sie hat vor allem das Bedürfnis, sich auf Tatsachen zu beziehen... Wir

wollen uns auf die Dinge stützen, auf etwas, das man wahrnimmt, das man berührt, das sich messen läßt, nicht auf Ideen, die man einfach übernimmt, oft durch bloße Ansteckung... Rückkehr zum eigenen Boden, zur eigenen Rasse!"

In dieser Stimmung kehrt Ramuz heim und was findet er vor? Eine Stadt, die sich völlig verändert hat. Überall Neubauten, riesige Hotelpaläste. Am Marktplatz, an der Riponne, hat man einen Hügel abgetragen und etwas unmöglich Florentinisches hingesetzt. Überall Säulen, die nichts tragen, Dächer, die nichts decken. Und all das verlogene Material: Marmorimitation, Gips, Zement! Und in den Straßen hört man alle Sprachen. Natürlich hat man Entschuldigungen. Man ruft die altbekannte Tradition an. Unsere historische Rolle ist, daß wir vermitteln zwischen den Kulturen. Man nennt das den europäischen Geist. Der Fremde zahlt uns wohl gutes Geld, aber wir geben ihm dafür einen vorbildlichen Unterricht. Er lernt bei uns, was Demokratie ist. Der Türke hat sogar seither unser Zivilgesetzbuch angenommen.

Doch das ganze Land ist nicht mehr das gleiche. Wir finden uns nicht mehr zurecht. Die Geschichte kann uns auch nicht helfen. Wir haben überhaupt keine einigenden Taten zu verzeichnen. Von Anfang an sind die Schweizer gespalten gewesen. "Ihr Gefühl verdankten sie einer Rasse, einer Erde, einem Klima; ihre Ideen haben nichts mit der Rasse, dieser Erde, diesem Klima zu tun, sie entlehnten sie ,fabrikfertig' von ungefähr überallher. Nie haben sie diese zwei Hälften einigen können."

Das ist die Bilanz unserer Selbstbesinnung. Wir haben uns selber verloren. Und weil wir nicht uns selber sind, haben wir keinen eigenen Ausdruck gefunden.

Was hat statt dessen unsere berühmte Erziehung aus uns gemacht. Kleinbürger mit patentierten Kotkübeln und hygienischen Schulpalästen, brave Steuerzahler, die nur noch Sinn für Ordnung, Sauberkeit und Korrektheit haben.

Was soll man nun tun? Wäre man besser fortgeblieben? Doch plötzlich kam das Befreiende. Man steht in einer lebendigen Landschaft. Man hat mit wirklichen Dingen zu tun.

"Unmittelbare Berührung mit den Dingen, Stoß und Gegenstoß:

das ist alles. — Contact immédiat avec les choses, choc et réaction: voilà tout". Nicht die Dinge an sich, wie die Philosophen sagen, sondern die Dinge als Teile eines Ganzen. Es gibt nur eine Methode und ein Mittel: Übereinkunft —la convenance. "Übereinkommen heißt zusammenkommen, gegen den gleichen Punkt hinstreben, wie die zwei Seiten eines Dreieckes zu ihrer Spitze, zu diesem höheren Punkt des Konvergierens streben, wo zwei Kräfte in einer andern zusammenfließen, die sie beide zusammenfaßt." ("Convenir signifie: venir ensemble, tendre vers le même point. Tendre de bas en haut vers un même point, comme les deux côtés d'un triangle vers leur sommet, tendre à ce point supérieur de convergence où deux forces se fondent en une force autre, qui les résume toutes les deux. Il n'y a d'autre loi que cette loi de convenance.")

Und nun schlägt Ramuz das große Bilderbuch des Genfersees auf; und wie ein Kind, das langsam und eifrig buchstabiert, fängt er an, alle großen, einfachen Dinge des Daseins von dieser seiner geliebten Landschaft abzulesen. Und er endet mit dem großen Satz, der sein Lebensprogramm am gewaltigsten umreißt: "Qu'il existe, une fois, grâce à nous, un livre, un chapitre, une simple phrase, qui n'aient pu être écrits qu'ici, parce que copiés dans leur inflexion sur telle courbe de colline ou scandés dans leur rythme par le retour du lac sur les galets d'un beau rivage, —quelque part, si on veut, entre Cully et Saint-Saphorin —que ce peu de chose voie le jour, et nous nous sentirons absous."

Daß im letzten Wort (absous =entsühnt, gerechtfertigt) und in der ganzen Stelle eine religiöse Inbrunst mitklingt, hat der Dichter später ausdrücklich bestätigt. Er bemerkt trocken in einer Anmerkung: "Il faut faire son salut".

Man kann die Bedeutung des Erlebnisses, das in Raison d'Etre wiedergegeben ist, nie groß genug ermessen. Es ist eines jener Urerlebnisse, die einer ganzen Epoche ihr Gepräge aufdrücken. Ramuz ist immer wieder darauf zurückgekommen, am ausführlichsten in den autobiographischen Werken der letzten Jahre (Paris, Notes d'un Vaudois, 1938; Découverte du Monde, 1939), am deutlichsten in dem berühmten Brief an Herrn Mermod

(1929 O. C. vol. 11), in dem er als Fünfzigjähriger von der Höhe seines Lebens aus sich Rechenschaft zu geben sucht über sein Tun und Lassen, und der darum besonders erwähnt werden muß, weil er die Grundlinien des immer gleichen Erlebens mit dem Problem des Ausdruckes verknüpft.

Er geht von der Frage aus, warum die einfachen Leute, die er in seinem Werk zum Wort kommen läßt, ihn in Wirklichkeit nicht verstehen. Die Schule — "eine gewisse Schule", wie er deutlich sagt, ist schuld daran. Im Namen der Schriftsprache bekämpft sie die gesprochene Sprache. "Im Namen von Wörtern, die nur noch Konventionen sind, bekämpft sie die Wörter, die Akt und Gebärde sind. Sie kämpft im Namen von bloßen Zeichen gegen alles, was bildhaft ist —Elle va au nom des signes, contre l'image. So fabriziert eine gewisse Schule Kleinbürger (des petits bourgeois). "Eile fabrique une certaine classe d'hommes, ayant une conception tout abstraite du vrai, du bien, du beau, du ,distingué', de ce qui doit se faire et de ce qui ne doit pas se faire; —ayant un certain souci de l'hygiène, un certain goût du propre ou plutôt du propret, et essentiellement dès aujourd'hui la peur du risque, de tous les risques, d'où le besoin de la sécurité, d'où le besoin en toute chose d'une assurance extérieure à eux, et des assurances légales; d'où le besoin de l'uniformité, et d'une certaine moyenne en toutes choses, une moyenne en religion et une moyenne en morale..."

Ramuz zeigt dann, daß die Verwaltungen darauf angewiesen sind, daß eine immer wachsende Zahl solcher typisierten Menschen entstehen. Sie bekommen überall die besten Stellen. Sie bleiben bis zum Schluß Musterschüler, qui lisent d'après les programmes, d'après les conseils et selon les règles — restés dociles à ces conseils, restés pliés à ces règles. Das ist eben das Publikum, das Ramuz' Werke nicht liest. Tant mieux, sagt der Dichter. Aber er geht über diese persönliche Frage hinaus. Es handelt sich nicht darum, ob man einen gewissen Stil versteht oder nicht. Es geht darum, ob man die Wirklichkeit als solche sieht, oder ob man mit der Schulbrille das blutige Leben in eine papierne Angelegenheit verwandelt. Was er einer gewissen

Schule vorwirft, ist, daß sie das Primitive im Menschen, das immer auch da sein muß, zerstört. Daß das Angeborne durch das Angelernte erstickt wird. "Die Schule, eine gewisse Schule, glaubt alles zu wissen. Sie verachtet den Sinn für das Geheimnis." Und nun kommt er unvermittelt auf sein brennendstes Anliegen. "Au nom de sa grammaire l'école déteste l'informulé, au nom de sa syntaxe, le balbutiement. Or, qu'est-ce que fait l'homme, dans le fond de sa nature d'homme et en présence du mystère, si ce n'est de balbutier. Et, moi, j'aurais voulu faire sentir à ma façon ce balbutiement de l'homme devant l'être, j'aurais voulu exprimer ceux qui ne peuvent pas s'exprimer, précisément parce que c'est l'inconnu, parce que c'est cet inconnu, qu'ils auraient à exprimer. Non par des mots tout faits et des formules... mais par une allure, par une exclamation, un geste à l'occasion des choses et au milieu des choses; —de pauvres hommes, bien peu sûrs d'eux-mêmes, pleins de peurs, et des ,primitifs' si on veut; mais primitifs au nom et en vertu de ce qu'il y a de plus général et, je pense, de ce qu'il y a de plus humain chez l'homme, ce qui est de partout, ce qui est de tous les temps."

Und noch einmal wendet er sich gegen die Schule. Sie ist wie die Gesellschaft. Man drückt sich nur noch in Reden aus. "On ne s'exprime plus que quand on s'explique — l'école confond s'exprimer et s'expliquer. Il n'y a pour l'école que des valeurs explicatives; or le peuple (le vrai "peuple") s'exprime et ne s'explique pas.

Und nun geht er der tiefsten Frage nach, die ihn als Künstler bewegt. Warum muß man schreiben, warum etwas ausdrücken? Ganz einfach weil das Ausdrucksbedürfnis ein Bedürfnis wie alle andern ist. Man hat das Bedürfnis zu geben, weil man bekommen hat. On a besoin de se donner après avoir été donné soi-même et parce qu'on a été donné à la vie. Und aus diesem Bedürfnis entsteht Gemeinschaft. Un besoin de "rejoindre", un besoin de se mêler... Un livre pour le vrai lecteur n'a pas besoin de finir bien, il n'a pas besoin d'être "moral", il n'a pas besoin d'apporter des faits, et d'être instructif, de nous apprendre quelque chose, comme on dit, de rien expliquer; ou plutôt il explique tout et

enseigne tout et tire toute sa moralité de nous mettre d'abord profondément en communication avec un être et à travers cet être avec les autres êtres, le monde des créatures et même le monde incréé. Damit wird der Dichter zum Mitarbeiter Gottes an der Schöpfung. Indem er den Dingen den Namen gibt, bringt er sie zu ihrem eigentlichen Sein. Die Welt existiert nur dadurch, daß sie im Wort des Sehers sich selber wiederfindet. "Denn nichts existiert als nur im Ausdruck — Rien n'existe que dans l'expression."

Wir verstehen immer besser, was Ramuz in seinem berüchtigten Briefe meinte, als er von der Ebene des Ausdrucks, le plan expressif, sprach. Nur von hier aus werden seine Äußerungen über die Schweiz, über die vaterländische Gemeinschaft verständlich.

Hier stehen wir vor dem eigentlichen Problem des Dichters, seines Landes und unserer Zeit. Sein Anliegen ist, daß man von der Welt der Papiere in die Welt der Dinge hinabsteigt; das ist sozusagen der Inhalt seiner Botschaft. Aber der Vorgang hat auch seine formale Seite: die neue Bodenständigkeit wird am Ausdruck gemessen, sie muß sichtbar werden in einem neuen Stil, sie tritt bildhaft hervor. Das ist das Wunderbare bei Ramuz, daß das Problem nicht nur theoretisch angegangen wird, sondern experimentell. Ramuz' Werk ist ein großes europäisches Experiment, und wenn die Lenker der Völker auf die Stimme des Dichters zu hören gewohnt und gewillt gewesen wären, so hätten sie in diesem apokalyptischen Bilderbuch ihr Schicksal zum voraus ablesen können. Schon die Titel deuten eine visionäre Weite an: La Guerre dans le Haut Pays (1915), Le Règne de l'Esprit Malin (1917), La Guérison des Maladies (1917), Histoire du Soldat (1918), Les Signes parmi nous (1919), Chant de notre Rhône (1920), Salutation paysanne (1921), Terre du Ciel (1921), Présence de la Mort (1922). La Séparation des Races (1922), Paysage du Poète (1923), L'Amour du Monde (1925), La grande Peur dans la Montagne (1926), La Beauté sur la Terre (1927).

Die Abwendung von der abstrakten Gemeinschaft im Luftreich der Ideen führt Ramuz ruckartig auf den Boden der harten Dinglichkeit. Er will sich nur noch ans Sichtbare halten.

Er sucht den Umgang mit dem einfachen Menschen, das Elementare zieht ihn unwiderstehlich an. "L'élémentaire est partout. L'élémentaire rapproche: les traditions opposent. Peut-être même est-ce en lui et par lui qu'on peut atteindre à la reconciliation du particulier et du général, du local et de l'universel..." (Besoin de Grandeur, p. 20).

Das Elementare hat seinen besonderen Stil. Nachdem Ramuz in seiner ersten Schaffensperiode noch die französische Schriftsprache mit ihrem glatten Fluß und ihrer eleganten Klarheit handhabt, wagt er es in der mittleren Schaffensperiode nach seiner Rückkehr in die Heimat, erschüttert durch den Weltkrieg und von seinen lokalen Hemmungen befreit durch die Freundschaft mit dein russischen Musiker Strawinsky, seinen eigenen Ausdruck immer gewaltsamer herauszugestalten.

Er spricht sozusagen nur noch in Blockschrift. "Die Schwerfälligkeit", sagt er in Une Province qui n'en est pas une (1938), "ist nur ein Fehler, wenn man sie unter einer falschen Leichtigkeit verbergen will... im Grund ist sie nur eine Art Gewichtigkeit (gravité)... alles hängt am Gang des Menschen... Die Gangart des Menschen ändert sich im Gebirge... Es gibt auch eine Gangart der Bilder und des Stils. Die Gangart des Gebirglers ist nicht gleich, wie die des Menschen in der Ebene: die Sätze haben auch eine Gangart, die gar nicht dieselbe ist, je nachdem sie sich vornehmen, ins Ungebahnte und Unbekannte emporzusteigen, oder vorsichtig auf ebenem Boden sich zu bewegen."

Indem aber Ramuz den schweren, wiegenden Gang des Bergbauern auf seine Sätze überträgt, kehrt er zu den Urgründen der Sprache zurück. Die Gebärde ist die Sprache des primitiven Menschen. Und das vermengende "man" ist das Grundwort der primitiven Gemeinschaft. Es ist eine Gemeinsamkeit des primitiven Lebens. Alles Kultivierte, Literarische wird abgestreift. "On ne fait de la poésie qu'avec l'antipoétique." (Salutation paysanne) Ramuz' Bilder und Vergleiche stammen aus dem Bereich des alltäglichsten Lebens. Der Himmel ist blau, wie die blauen Kugeln, die die Hausfrauen bei der Wäsche brauchen, der Rauch des Dampfschiffes wie geflochtenes Roßhaar,

das der Tapezierer aufdröselt, die Sonnenstrahlen, die von den Bergen fallen sind wie die frischgehobelten Bretter, die der Schreiner gegen die Mauer stellt.

Mehr und mehr hört bei Ramuz das psychologische Erklären und Analysieren auf. Alles verwandelt er in Sichtbarkeit. Denn das Sichtbare ist das untrüglich Wahre. Darum kann es auch Gemeinschaft nur im Sichtbaren, in einer übersehbaren Landschaft geben. Nicht die geschichtliche Tradition sondern die geographische Situation schafft Gemeinsamkeit*).

Darum liebt Ramuz über alles sein Land, den Berghang an der Rhone, am Genfersee. Angesichts dieser Landschaft kommt wie ein Rausch über ihn. Alle trennenden Schranken fallen. "Im Wein werden Dinge gesagt, die man nüchtern nicht sagt. Die Menschen erkennen einander, denn sie lassen sich gehn. Im Wein kommt man einander entgegen: ,Das freut mich, euch wiederzusehen!' Dazu hat man im alltäglichen Leben den Mut nicht. Man ist mit seinen Gedanken von einer Mauer umschlossen. Es braucht den Wein, damit man über die Mauer springt."

In dieser Stimmung hat Ramuz das dichterisch-vaterländische Glaubensbekenntnis geschrieben, das alles Bisherige zusammenfaßt und den Ton angibt für seine neue Schaffensperiode. "Die Menschen verleugnen ihre leibliche Familie, und sie verleugnen ihren eigenen Leib, weil sie an ihm gelitten haben. Sie suchen sich geistige Brüder jenseits der irdischen Grenzen und andere Verwandtschaft als die der Geburt und des Geblütes; denn sie erkennen sich nicht mehr in denen, die ihnen am nächsten sind... Sie haben sich in die Welt der Gedanken geflüchtet aus Angst und Abscheu vor der Wirklichkeit... Die Heimat, sagen sie, ist, wo der gleiche Glaube herrscht. Die wahre Heimat ist die Heimat des Herzens. Und so ist ihre Heimat ein Standpunkt, ein Buch, eine Lehre; sie mißachten alles, was erdhaft ist, alle Bindung des Blutes. Keine Nationen mehr, keine Rassen: ich komme

im Gegenteil, um die Rasse aufzuzeigen, ich komme, um das Besondere zu sagen, das Besondere zu singen, eine besondere Natur zu sagen und aufzuzeigen, diese Natur, die ganz nur Natur ist, das Unterschiedliche zu sagen und aufzuzeigen. Und das alles aus Liebe zum Gemeinsamen; das kommt aber später... zuerst muß ich mich in mich selber festigen und in den Dingen um mich herum..." (Aus dem Gesang von den Ländern der Rhone. Übersetzt von W. J. Guggenheim. Neue Schweizer Rundschau, November 1937).

Wir horchen auf. Dieses Bekenntnis zu Blut, Boden und Rasse haben wir seither in ganz anderer Orchestrierung gehört. Mit ganz andern Augen schauen wir heute auf Ramuz' Werk. Wir können nun mit Händen greifen, warum das Experiment nicht gelungen ist, warum Ramuz in der Welt des Elementaren nicht die Gemeinschaft gefunden hat, die er im Reich der Tradition, der Kultur, des Geistes vergeblich suchte.

Was uns das große Weltgeschehen seither zeigte: daß die kollektive Machtdämonie und Blutmystik die Welt nicht verwandeln, das Reich nicht aufbauen können, sondern die Völker ins Verderben stürzen, das ist schon in Ramuz' Romanen divinatorisch Zug für Zug vorgebildet. Wir erleben hier das Hereinbrechen der elementaren Natur- und Seelenmächte ins geordnete Dasein der traditionellen Gesellschaft. Es scheint zuerst auf ganz alltägliche Weise zuzugehen. Ein fremder Schuhmacher eröffnet eine Werkstatt, ein Verkäufer biblischer Schriften zieht von Haus zu Haus, ein Kino nistet sich im Gemeindesaal eines abgelegenen Städtchens ein, eine Alp wird nach langer Zeit wieder gegen den abergläubischen Widerstand der alten Generation neu bezogen, ein fremdländisches Mädchen wird Serviertochter in der Wirtschaft am See. Doch allmählich werden instinktiv-dämonische Kollektivkräfte geweckt. Naturereignisse, Epidemien, andauernde Sommerhitze, die Tierseuche, die spanische Grippe beschleunigen das Geschehen. Ein panischer Taumel fällt über die Menschen her. Ein zerstörender Wirbel erfaßt die Gemeinschaft. Dann vergeht der Sturm, nur noch die schreckhafte Erinnerung bleibt.

Nichts hat sich mi Grunde verändert. Die elementare Dynamik hat die Welt nicht verwandelt. Aus dem Kollektivrausch ist keine neue Gemeinschaft entstanden. Die Gegensätze bleiben bestehen. Der Mensch fühlt sich allein, getrennt von den höheren Mächten, getrennt von der Natur, getrennt von den Mitmenschen. Die Flucht vor dem Geist, die Rückkehr zu der Erde hat in eine Sackgasse geführt. Ramuz ist durch sein eigenes Werk überführt worden. Und so beginnt für ihn eine letzte Schaffensperiode, eingeleitet und begleitet durch tastend-theoretische Werke: Une Main (1933), Taille de l'homme (1934), Questions (1935), Besoin de Grandeur (1937), aus denen dann, neben autobiographischen Schriften, wie Berggipfel die wunderbarsten Dichtungen emporwachsen: Farinet ou la fausse monnaie (1932), Adam et Eve (1932), Derborence (1935), Le Garçon savoyard (1936), Si le Soleil ne revenait pas (1938), La Guerre aux Papiers (1942), Les Servants et autres Nouvelles (1946).

Bis zuletzt ringt Ramuz uni das Problem der Gemeinschaft. Immer noch sucht er das Band, das die Welt und die Menschen im Innersten zusammenhält. Früher suchte er es unten. "Je prétends redescendre à une nature qui subsiste par-dessous". (Journal, p. 323). Die Richtung nach oben trat mehr schattenhaft in geometrischer Abstraktheit auf. So spricht er in Raison d'Etre von den nach oben konvergierenden Schenkeln des Dreiecks, und im Adieu à beaucoup de Personnages heißt es: "J'envisage les points divers de la terre, et tout ce qui s'y agite; je vois que tout est séparé. Où converger, sinon vers un sommet, mais qui se trouve situé en dehors de nos vies terrestres et bien trop au-dessus de nous, à moins que, sourdement, la conscience totale n'habite nos coeurs déchirés"*). Mehr und mehr tritt die Höhendimension in ihrer lebendig-transzendenten Bedeutung hervor. Der Dichter wird sich bewußt, daß eine Einigung

nur von einer Weite kommen kann, welche die Menschheit umfaßt, weil sie umfassender ist als die Menschheit.

In scheuen Worten deuten die Erinnerungen an Strawinsky (1929) das Geheimnis der wahren Gemeinschaft an. "Jenseits aller Länder ist vielleicht das Land (das verlorene, dann wiedergefundene, das wieder verlorene, und noch einmal für eine Weile gefundene): wo man gemeinsam einen Vater und eine Mutter hat, wo die große Verwandtschaft unter den Menschen für einen Augenblick sichtbar wird. Denn nach diesem kurzen ,Augenblick' schauen alle Künste aus, und nach nichts anderem... Für einen Augenblick gelangen wir zum Menschen der Anfänge, dem Menschen vor dem Fluche vor der großen ersten Wegscheide, deren Abzweigungen immer eine neue Wegscheide mit sich brachten, und diese wieder eine andere und so fort bis ins Unendliche, so daß schließlich jeder allein auf seiner kleinen Strecke dahinzieht. Und da ist auch dieser Fluch, in dem man wohl weiß, daß man lebt (denn nichts um uns her ist wirklich zur Entfaltung und Reife gekommen... und alle Arbeit ist zuerst hart und mühsam, alles was Schaffen heißt, geht uns zuerst wider den Strich und geht wider den ,Einen', alle Arbeit ist ein Fluch), bis plötzlich durch eine Art Umkehr — der Segen kommt, bis plötzlich dieses Zusammenwirken mit dem ,Einen' da ist, diese Möglichkeit der Rückkehr, diese Rückkehr selber, dieses , Sichwiederfinden'..."*).

So wird immer enger das Problem der Gemeinschaft verknüpft mit dem Geheimnis der Schöpfung, mit dem Zug zu einer transzendenten, nie erreichten, immer erstrebten Einheit, die aber dadurch fühlbar wird, daß der Dichter ihr in seinem geisterfüllten Wort Ausdruck verleiht.

Aber nun führt Ramuz den Krieg gegen die Papiere in der neuen Dimension. Ideen genügen nicht, das Wort muß Fleisch werden: Und nun stellt sich wieder die Frage wie bei jenem frühen Gemeinschaftsrausch, der gespiesen war von den Elementarmächten: wird jetzt das Experiment der Dichtung ein Bild echter Gemeinschaft erstehen lassen, eine Gemeinschaft, die bei aller Erdverbundenheit doch aus der Einheit des Geistes lebt und wächst?

Auch hier sagt Ramuz' Dichtung: nein! So schön seine geistigen Positionen sind, so wenig lassen sie sich ins Wirkliche übersetzen. Jeder Roman ist wie eine Absage an den Anspruch des Geistes. Bolomey in Adam et Eve träumt von einem paradiesischen Verbundensein mit allen Dingen. "Car nous sommes là pour deviner les choses dans leurs natures particulières: alors elles nous en sont reconnaissantes, n'est-ce pas? Une parenté intervient. Il n'est plus seul, il est parmi des amis et des amies, lui semble-t-il, écoutant maintenant grogner le feu comme le chien de garde dans sa niche. Le gros, l'épais, le tendre, le résistant, le dur, le lisse, le grenu, le brillant, le mat: il y a un langage des choses, seulement les hommes ne veulent pas l'entendre, c'est ce qu'il se dit; et c'est pourquoi les hommes sont malheureux. On n'est pas séparé, on communique, c'est ce qu'il se dit; prenant dans sa paume le gros bol de faïence, rond et tiède comme un sein" (p. 97). Und nun baut sich Bolomey sein künstliches Paradies in seinem Garten und meint, seine Liebe werde die

Frau, die ihn verlassen hat anziehen, und dann werde alles wieder eins sein. "On ne sera plus deux, mais un... on sera tellement dans le temps qu'on sera dans l'éternité, tellement enfoncés dans la matière, qu'elle sera du même coup dépassée, c'est-à-dire réalisée" (p. 165). Aber nun kommt Adrienne zurück. Nach dem ersten Liebesrausch erwacht er mitten in der Nacht. Und nun fängt das alte Rechnen wieder an: Eins und eins macht nicht eins sondern zwei.

"Deux".

"Le petit chiffre recommence à faire du bruit dans sa tête, comme le grelot de la chèvre..."

"On a prétendu à tout, on n'a rien. Et il y a elle, qui est elle; et, moi, je suis moi pour toujours."

Und so gilt das alte Gesetz der Trennung wieder. "Séparés et collés ensemble. Unis par le dehors, par les lois, par les habitudes, désunis du dedans: frères et étrangers, père et fille et étrangers, mère et fils, mari et femme...

Séparés dans la vie, séparés dans la mort, car on meurt seul, comme on est né..."

Auch der Garçon savoyard träumt von einer Wirklichkeit, die ihn über den Alltag hinaushebt. Wie eine Vision ist ihm im Zirkus die vom. Trapez in die Höhe entschwindende Tänzerin erschienen, und nun findet er keinen Zugang mehr zur Wirklichkeit. "Faut-il aimer ce qui est, tel qu'il est? ou bien faut-il aimer une chose qui n'est pas, à cause de sa beauté plus grande? ou encore, est-ce qu'il y a un lieu où ce qui est et ce qui n'est pas se trouvent enfin réconciliés?" Nachdem er die Nacht mit der Serviertochter Mercedes verbracht hat, sagt er sich "C'est pas ça." Und wie sie ihn in einer andern Nacht aus seinem Grübeln herauslocken will, indem sie ihm handgreiflich zeigt, daß seine geträumte Schönheit nur nacktes, gepudertes, geschminktes Fleisch ist, verliert er die Besinnung und erwürgt sie, worauf er mit dem Schiff auf den See hinausfährt und in den Boden ein Loch bohrt, weil er es nicht mehr in dieser endlichen Welt aushalten kann.

Ist Le Garçon savoyard eine Absage an die fleischliche Liebe

aus dem Drang nach unberührbarer Schönheit, so ist Si le soleil ne revenait pas eine Absage an apokalyptische Weltflucht im Namen der irdischen Wirklichkeit. So pendelt der Dichter zwischen den beiden Polen. In seinem reifsten Roman Derborence scheint er zum erstenmal eine Lösung zu geben. Der von einem Bergsturz verschüttete Antoine steigt nach zwei Monaten aus dem Dunkel der Erde hervor. Er muß sich ans Licht gewöhnen, er muß die Dinge wieder neu wie die Buchstaben eines Wortes zusammensetzen lernen. Aber den Dorfgenossen erscheint er wie ein Gespenst. Er findet sich nicht mehr zurecht und will wieder zu seinem toten Gefährten in den Berg gehen. Aber seine junge Frau, die ein Kleines erwartet, bringt ihn zum Leben zurück. Zum erstenmal ist der Mensch mächtiger als die Natur. "La montagne est méchante, elle est toute-puissante; mais voilà qu'une faible femme s'est levée contre elle et qu'elle l'a vaincue, parce qu'elle aimait, parce qu'elle a osé. Elle aura trouvé les mots qu'il fallait dire, elle sera venue avec son secret; ayant la vie, elle a été là où il n'y avait plus la vie; elle ramène ce qui est vivant du milieu de ce qui est mort."

Nirgends hat Ramuz die Situation des Menschen, des heutigen Menschen so mächtig und einfach im Bild dargestellt wie hier: "Un pauvre homme pourtant qui sort de dessous la terre, un pauvre homme qui est apparu dans un espace vide que les blocs laissent entre eux dans leur superposition hasardeuse, — sorti de l'ombre, sorti de quelles profondeurs, sorti de la nuit; qui s'efforce vers la lumière."

Im ersten und letzten Roman dieser dritten Periode wagt er sich aber an das Problem der politischen Gemeinschaft. Farinet ist der Aufstand des Naturmenschen gegen die vorn Gesetz beherrschte Gesellschaft. Er hat im Berg eine Goldader gefunden und mit seinen selbstgemachten echten Goldstücken erkämpft er sich seine eigene Freiheit. "C'est plein de règlements partout là-bas, plein de défenses de passer... Nous, dit-il, on va où on veut." Die Versuchung kommt aber an ihn, die Tochter des Gemeindepräsidenten zu heiraten, sein Heim, seine Familie zu haben, ein geregeltes Leben zu führen und so sich in die Gesellschaft

einzuordnen. Aber er hat sich zu weit mit der Natur eingelassen. Josephine, seine frühere Geliebte, will ihn nicht loslassen, so muß er den Bergen treu bleiben bis zum Tod. "Votre liberté", ruft er denen zu, die ihn aus seinem Bergloch herauslocken wollen, "qu'est-ce que c'est?... Ça s'appelle des règlements, des décrets, des permis; ça s'appelle des autorisations; moi je suis autorisé à mourir."

Auch ein Aufstand gegen die obrigkeitlichen Verordnungen ist endlich der letzte Roman: La Guerre aux Papiers. Aber die Revolution der Bauern versagt kläglich. Die Hauptfigur ist von vornherein ein armseliger Held, ein zerlumpter Bauer in einer zerfallenden Hütte, der eine Zeitlang eine große Rolle spielt, weil er beim Aufstand leicht verwundet wurde. Doch eine ganz andere Revolution stellt das lärmige richtungslose Treiben der Menschen in den Schatten — die Revolution, die am Himmel geschieht. Die Landschaft, die dieses andere Geschehen darstellt, deutet zum ersten Mal auf eine ganz ferne und prekäre aber doch aktive Verbindung zwischen oben und unten: "Die wirklichen Revolutionen geschehen oben am Himmel, und sie lenken uns von den andern ab. Denn bei uns zu Lande ist man vor allem Bauer. Man ist ein Sklave der Jahreszeiten; sie befehlen. Die Sonne heißt uns um vier Uhr morgens aufstehen und läßt uns erst um neun Uhr zu Bett gehen, im Sommer, weil sie selbst früh aufsteht und spät zur Ruhe geht. Nicht wir tun dies, die Sonne tut's. Wir helfen ihr nur, wir Menschen. Die Körner, die wir in den Boden legen, können wir sorgfältig auswählen. Wir können diejenigen wählen, die einer bestimmten Beschaffenheit des Bodens und des Klimas entsprechen... was aber nachher im Samenkorn geschieht, jenes große Geschehen, dazu vermögen wir Menschen nichts zu tun. Wir sind gezwungen, es geschehen zu lassen, wir können nur hoffen, wir können nur flehen, wenn Regen notwendig wäre oder wenn es zuviel regnet, wenn keine Sonne scheint oder die Dürre zu groß ist. Man vertraut auf jemand, von dem man abhängig ist. Man arbeitet mit, man wirkt mit. Aber der, mit dem man arbeitet, hat seinen eigenen Willen, der nicht immer der unsere ist. Er, mit dem man zusammen arbeitet, hat seine Pläne.

Sie sind oft den unserigen entgegengesetzt. Und winzig klein wandern wir unter dem Himmel, mit unserem winzigen Schatten, während er dort oben ist, in seiner Allmacht, sich wenig um uns kümmert; vielleicht nichts von uns weiß, oder sich vielleicht freut, uns entgegenzuwirken." (Übertragung von Werner Johannes Guggenheim).

Nun schweigt der Dichter. Am 23. März 1947 haben sich seine Augen für immer geschlossen. Was ist die Bilanz seines Lebens? Hat er das Problem der Gemeinschaft, das ihn bis zum Ende verfolgt hat, gelöst?

Wir wissen, daß er es weder in seinem Leben noch in seinem Werk zu einer wirklichen Lösung brachte. Er ist ein Einsamer geblieben. Sein Verhältnis zur Schweiz hat sich nie wesentlich geändert. Sein Werk stellt den gewaltigen tragisch tastenden Versuch dar, den Menschen aus den fiktiven, papiernen Zusammenhängen heraus in eine echte Lebens- und Geistesgemeinschaft zu führen. Es ist das Paradox seines Lebens, daß er, der Papierverbrenner für nichts anderes als das Papier gelebt hat. Das ist die Grundsituation des Dichters, daß er wie jene, die das Präriefeuer mit Feuer bekämpfen, einer ist, der sich dem Papier mit dem Papier widersetzt. Aber auf dem einen Papier ist das Wort tot, auf dem andern lebt es und macht lebendig.

Ramuz' ganzes Schaffen kann in einem Satz seines Tagebuches zusammengefaßt werden: "Ils bâtissent la ville, mais il faut quelqu'un pour le dire, sans quoi la ville n'est pas bâtie". (Journal, p. 326). Es genügt nicht, Häuser und Städte zu bauen, es geht darum, daß die Menschen, die darin wohnen, wissen, was menschliches Sein und Zusammensein bedeutet. Der Mensch findet sich selbst und offenbart sich dem andern, indem er sich ausspricht — in einem Wort, das der Ausdruck seines tiefsten Wesens ist. Uns darin zu helfen, ist das Amt des Dichters. Auch wenn er das erlösende Wort nicht sagen kann, so kann er ihm den Weg bereiten, indem er uns vom Bann der unwesentlichen Wörter befreit. Ramuz hat diese Aufgabe für uns heutige Menschen in großartiger Weise erfüllt. Wenn er auch das gemeinschaftstiftende

Wort weder in der Tiefe noch in der Höhe, weder in der Nähe der Dinge noch in der Weite des Geistes fand und nur manchmal ahnungsweise von weitem in der Verbindung beider sah (welche Verbindung das eigentliche Problem unseres Landes, ja aller Länder ist), so ist es, weil Gemeinschaft nie einfach vorhanden ist, sondern immer neu errungen werden muß. Der Dichter kann nicht sagen, was nicht ist. Damit er ein Weiteres sagen kann, muß die Stadt weiter gebaut werden. Nun ist es an uns, mit der von ihm geschenkten Einsicht an die Arbeit zu gehen.