Schweizerische Pioniere
des Brückenbaues
Rektoratsrede
gehalten am 12. November 1949 an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule von
Prof. Dr. Fritz Stüßi
Polygraphischer Verlag A.-G. Zürich • 1950
1.
Es ist ein außerordentlich reizvoller Zufall, daß in jeder der drei
Hauptbauweisen des Brückenbaues: im Massivbau, im Holzbau und
im Stahlbau, je ein großer schweizerischer Ingenieur oder Baumeister
mit vorbildlichen Bauwerken richtunggebend an der Gesamtentwicklung
beteiligt war. Ich nenne hier:
Jean Rodolphe Perronet, den Meister des klassischen Steinbrückenbaues,
Johann Ulrich Grubenmann, den Vollender der Kunst des Holzbrückenbaues,
und
Othmar H. Ammann, der mit dem Bau der George Washington
Bridge über den Hudson River in New York eine neue Epoche im
Bau weitgespannter Stahlbrücken eingeleitet hat.
Zwei dieser drei großen Baumeister lebten in jenem glanzvollen
und für die Entwicklung der Wissenschaften so bedeutsamen 18.
Jahrhundert, in welchem man begann, das Bauwesen mit den Erkenntnissen
der wissenschaftlichen Forschung in Zusammenhang zu
bringen und für die Ingenieurbaukunst eine wissenschaftliche Grundlage,
die Baustatik, zu schaffen, eine Aufgabe, deren Lösung allerdings
erst dem französischen Ingenieur Louis Navier in den zwanziger
Jahren des 19. Jahrhunderts in einem den Bedürfnissen seiner
Zeit genügenden Umfang gelungen ist, und an deren Vollendung
auch noch künftige Generationen mitzuarbeiten haben werden. Der
dritte dieser prominenten Brückenbauer ist unser Zeitgenosse; seine
Hudsonbridge gehört zu den technischen Großtaten unserer Zeit.
Ich möchte versuchen, das Wirken und die Werke dieser drei
Brückenbauer heute kurz zu schildern und zu würdigen. Da ihre
Tätigkeit entweder am Anfang oder am Ende jener zweihundertjährigen
Entwicklungsepoche steht, in der sich, soweit wir es heute
überblicken können, der Brückenbau entscheidend vom handwerklich-empirischen
Bauen zum rationellen, wissenschaftlich fundierten
Konstruieren gewandelt hat, dürfte unsere Betrachtung uns auch
erlauben, einige grundlegende Wesenszüge dieser Wandlung zu erkennen.
2.
Jean Rodolphe Perronet 1 wurde am 8. Oktober 1708 in Surennes
bei Paris als Sohn eines Schweizer Offiziers in französischen Diensten
geboren; er starb am 27. Februar 1794, also fast 86jährig, in
Paris, hochgeachtet von der Fachwelt, verehrt von seinen Schülern
und Mitarbeitern.
Perronet, der früh seinen Vater verloren hatte, beabsichtigte, in
die Schule des Génie militaire einzutreten, bestand auch mit 15 Jahren
die Aufnahmeprüfung, wurde aber aus Platzmangel nicht aufgenommen.
Er entschloß sich darauf zum Studium des Architektenberufes
und trat 1725 in das Bureau des Stadtarchitekten von Paris
ein, wo er sich rasch durch Projektierung und Bauleitung öffentlicher
Arbeiten die Anerkennung seiner Vorgesetzten und weiterer
Fachkreise erwarb. 1745 wurde er ins «Corps des ponts et chaussées»
aufgenommen.
Als Minister Trudaine eine besondere Schule zur Ausbildung von
Ingenieuren gründete, wählte er 1747 Perronet zum ersten Direktor
dieser «Ecole des ponts et chaussées». Perronet wurde gleichzeitig
zum «Inspecteur général des ponts et chaussées» und durch Beschluß
des königlichen Staatsrates vorn 14. Februar 1747 auch zum
«Premier Ingénieur des ponts et chaussées de France» befördert.
Perronets Tätigkeit ist nach zwei Richtungen zu würdigen: als
Leiter und Organisator derjenigen Schule, die zur klassischen und
vorbildlichen technischen Hochschule der Welt geworden ist, und
als projektierender und bauleitender Ingenieur.
Daß seine Tätigkeit an der Schule von Erfolg gekrönt war, ist bewiesen
durch den hervorragenden Ruf, den sie sichs unter seiner Leitung
erworben hat, durch die Anhänglichkeit und Verehrung, der
seine Schüler durch eine Ehrentafel sichtbaren Ausdruck gaben.
und durch die Anerkennung durch wissenschaftliche Gesellschaften
und Akademien, die ihm ihre Mitgliedschaft verliehen.
Als Ingenieur hat Perronet den Bau von sieben größeren Brücken,
von Schiffahrtskanälen und den Ausbau eines Straßennetzes von
etwa 3000 km Gesamtlänge direkt geleitet sowie mehrere große
Hafenbauten projektiert und ausgeführt. Die berühmteste der von
ihm erbauten Brücken ist wohl der «Pont de Neuilly»; dieses Bauwerk,
das sich durch seine Formschönheit und technische Zweckmäßigkeit
auszeichnete, ist erst vor kurzer Zeit durch einen Neubau
ersetzt worden.
Aus seinen akademischen Abhandlungen erkennen wir diejenigen
Probleme, die ihn hauptsächlich interessiert haben und zu deren
Lösung er wertvolle Beiträge geliefert hat; es sind dies der Bau und
das Absenken von Lehrgerüsten für steinerne Brücken, Fragen der
Fundierung, insbesondere mit Pfählen, sowie die Formgebung von
Pfeilern und Brückengewölben
Die erstaunlichste Leistung Perronets sehe ich jedoch in seiner
Abhandlung vom Jahre 1792 über weitgespannte Brückengewölbe.
Hier untersuchte er die Möglichkeit, Gewölbe aus Naturstein mit
einer Lichtweite von 500 Fuß (= 160,74 m) zu bauen, von den Anforderungen
an das Steinmaterial mit konkreten Angaben über seine
Beschaffenheit und die erforderliche Druckfestigkeit, über den Bau
und das Absenken des Lehrgerüstes, das er durch provisorische Zwischenpfeiler
stützen will, bis zur Frage der Bogenform mit durchbrochenem
Aufbau.
Die unerhörte Kühnheit dieser seiner Zeit weit vorausgehenden
Vision weitgespannter Steinbrücken wird uns deutlich, wenn wir
festhalten, daß etwa in unserem Lande die Spannweite von 100 m
erstmals im Jahre 1914 durch eine Massivbrücke, die Langwieserbrücke
der Chur-Arosa-Bahn, erreicht wurde, und daß die weitestgespannte
Massivbrücke unseres Landes, die Aarebrücke der Schweizerischen
Bundesbahnen in Bern, mit 150 m Spannweite, erbaut
1940, immer noch um etwa 10 in hinter der von Perronet untersuchten
Möglichkeit zurücksteht.
Perronet war, trotz aller akademischen Ehrungen, kein eigentlicher
Wissenschafter; er war ein Ingenieur, ein Verwirklicher seiner
Ideen über das Bauen. Wohl suchte er theoretische Überlegungen
dem Bauwesen dienstbar zu machen, aber ebenso wichtig waren
ihm die Erfahrung und die unmittelbare Anschauung. Eine seiner
Maximen lautete: «Nos connoissances, quelque étendues, quelque
variées qu'elles soient, ne sont que de deux sortes: celles que nous acquérons
par l'impression que les objets font sur nos sens, et celles
que la méditation ou l'étude peut nous procurer.»
Er besaß die Gabe der praktischen Intuition, verbunden mit sicherem
Formempfinden; er stand, trotzdem er die erste technische
Hochschule leitete, noch durchaus auf dem Boden der empirischen
Tradition, die er vervollkommnete und durch einzelne Versuchsergebnisse
sowie durch den Beizug mathematischer und geometrischer
Hilfsmittel bereicherte. Mit seiner Vision von weitgespannten
Steinbrücken reichte er weit über die Möglichkeiten hinaus, die er
mit den Mitteln seiner Zeit beherrschen konnte; er steckte damit
ein Ziel, das voll zu erreichen erst einer neuen Art des Bauens, dem
wissenschaftlich fundierten Konstruieren, möglich wurde. Er wurde
aber dadurch mit zu einem der Wegbereiter dieser grundlegenden
Wandlung.
3.
Das Leben des Zimmermeisters Johann Ulrich Grubenmann aus
Teufen spielte sich im bescheidenen Rahmen seiner Heimat ab und
verlief äußerlich nicht so glanzvoll wie das seines Zeitgenossen Perronet,
der sich der Gunst und Unterstützung des mächtigsten Fürstenhofes
seiner Zeit erfreuen durfte.
Ulrich Grubenmann 2 entstammt einer tüchtigen Zimmermannsfamilie
des Appenzellerlandes; er wurde am 23. März 1709 in Teufen
geboren, wo er auch am 24. Januar 1783 beerdigt wurde. Seinen
Zimmermannsberuf erlernte er im Elternhause, wobei er wohl hauptsächlich
durch seinen tüchtigen Bruder, Baumeister Jakob Grubenmann
(1694-1758), der besonders als Erbauer ausgezeichneter
Dachkonstruktionen bekannt ist, gefördert wurde.
Die Baumeister Grubenmann haben zu ihrer Zeit eine große Anzahl
von Bauwerken hergestellt; wir finden darunter nicht nur
Brücken, sondern auch Kirchen, Staatsgebäude und Privathäuser.
Alle ihre Bauwerke sind durch einen bemerkenswert hohen Stand
des handwerklichen Könnens gekennzeichnet. Von unserem Ulrich
Grubenmann ist die Ausführung von elf Kirchen, darunter der
Kirche Wädenswil, mit einer weitgespannten Dachkonstruktion, die
auch heute noch unsere Bewunderung verdient, sowie von acht
Brücken nachgewiesen. Eine Reihe dieser hölzernen Bauwerke ist
heute noch erhalten und erlaubt eine direkte Beurteilung des Grubenmannschen
Könnens. So ist es aufschlußreich und reizvoll, Grubenmannsche
Dachkonstruktionen für Kirchenbauten in chronologischer
Ordnung miteinander zu vergleichen, weil wir so eine stetige
Weiterentwicklung, eine ständige Verbesserung der Tragwerksform
und der baulichen Einzelheiten erkennen können. Dies erlaubt
uns, anschaulich festzustellen, wie sein technisches Können
durch Beobachtung bestehender Bauwerke, auch seiner eigenen,
nach und nach weit über den Stand seiner Zeit hinauswuchs. Neben
der gründlichen handwerklichen Tradition seiner Familie und seiner
Zeit besaß Ulrich Grubenmann die individuelle Begabung der
intuitiven Erfassung des Kräftespiels in Tragwerken, wie sie im
gleichen Ausmaß sich wohl kaum mehr wiederholt hat.
Sein überragendes Meisterwerk ist die Rheinbrücke von Schaffhausen,
als Ersatz eitler am 3. Mai 1754 eingestürzten alten Steinbrücke;
zu diesem Neubau erhielt er den Bauauftrag am 2. Oktober
1755. Der Stadtrat von Schaffhausen hat Grubenmann diesen Auftrag
nicht ohne Bedenken erteilt; denn der einfache Zimmermeister
hatte die unerhört kühne Ansicht geäußert, den Rhein in einer einzigen
Spannweite von etwa 120 m zu überspannen, und er hatte
auch ein Modell dieser Brücke angefertigt. Der Stadtrat hielt ein
solches Bauwerk für unausführbar und stellte die Bedingung, daß
die Brücke in ihrer Mitte auf einen von der früheren Steinbrücke
stehengebliebenen Pfeiler abgestützt werden müsse. Grubenmann
fügte sich scheinbar. Wir kennen die von ihm gebaute hölzerne
Brücke aus Bildern der Stadt Schaffhausen in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts und aus zahlreichen Berichten von Zeitgenossen.
Schon damals wurde sie als ein Meisterwerk anerkannt und gepriesen.
Grubenmann hat bei diesem Bauwerk auch seinen Kopf
gegenüber der Forderung des Stadtrates durchgesetzt: Der Tragkonstruktion
der beiden Öffnungen hat er noch ein drittes Tragsystem
überlagert, und zwar derart, daß die Brücke sich über die ganze
Flußbreite tragen konnte. Damit hat er tatsächlich den Beweis erbracht,
daß er imstande sei, die weitestgespannte Brücke seiner Zeit
zu bauen.
Grubenmann war besessen vom Problem der großen Spannweite,
und dieser Besessenheit verdanken wir die Brücke in Schaffhausen,
diesen wohl großartigsten und frechsten Kontrapunkt, der in der
Geschichte des Brückenbaues je verwirklicht wurde. Für die Ausführung
der weitgespannten Brücke mit nur scheinbarer Benützung
des vorgeschriebenen Mittelpfeilers gibt es keine stichhaltige sachliche
Begründung; auch der Hinweis auf die Möglichkeit, daß der
Pfeiler bei Hochwasser unterkolkt und zerstört werden könnte,
ist nicht genügend stichhaltig. Bestimmend war einzig die Überzeugung
Grubenmanns, eine Brücke von 120 m Spannweite bauen zu
können, und sein unbeugsamer Wille, diese Überzeugung auch zu
beweisen. Daß die Brücke infolge der Nachgiebigkeit der Verbindungen
und der Formänderungen des Tragwerkes im Laufe der Zeit
sich wieder auf den Pfeiler absenkte, ändert nichts daran, daß ihm
dieser Beweis auch tatsächlich gelungen ist.
Merkwürdig ist, daß Karl Culmann, der Schöpfer der graphischen
Statik, diese Leistung Grubenmanns nicht sehr hoch einschätzte. Er
schreibt in seinem berühmten Reisebericht 3 über die ganze Kunst
des schweizerischen Holzbrückenbaues nur die folgenden wenigen
Zeilen: «Zwar hatte sich bei den Schweizern eine ganz andere Konstruktionsweise
von hölzernen Brücken entwickelt, allein sie fand
wegen ihrer Schwerfälligkeit und der hieraus entspringenden Kostspieligkeit
nie viele Nachahmer.» Hier stoßen offenbar zwei Denkweisen
unversöhnlich aufeinander. Culmann, seit Navier einer der
größten Förderer der Baustatik, dessen Lebenswerk ja darauf zielte,
das Kräftespiel in unseren Tragwerken durch die Wissenschaft der
Statik mit dem Verstand erfassen und die Verwirklichung darauf
aufbauen zu können, besaß offenbar nicht das Sensorium, die gewaltige
intuitive Leistung Grubenmanns würdigen zu können. Wir
erkennen daraus mit Deutlichkeit, daß noch zur Zeit der Gründung
unserer Hochschule die Synthese zwischen Wissenschaft, Erfahrung
und künstlerischer Intuition, die nach unserer Meinung erst imstande
ist, hochwertige und vorbildliche Brückenbauwerke zu schaffen,
nicht vorhanden war.
Richtiger hat nach meiner Meinung der bedeutende englische
Ingenieur Thomas Tredgold (1788-1829) Grubenmanns Leistung
beurteilt, wenn er in seinem klassisch gewordenen Buche «Elementary
principles of carpentry» schreibt: «The French army, in 1799,
destroyed the celebrated bridge across the Rhine at Schaffhausen
but the fame of Grubenmann the carpenter will long continue; and
the form of that excellent specimen of the art will only cease to be
remembered, when carpentry itself no longer exists.»
4.
Wenden wir uns nun dem dritten großen schweizerischen Brückenbaumeister,
dem in Amerika tätigen Othmar H. Ammann, zu. Dem
letzten großen Adressenverzeichnis der Gesellschaft ehemaliger
Polytechniker vom Jahre 1937 entnehme ich folgende biographische
Notizen:
Ammann, Othmar H., von Schaffhausen
Ing.-Schule 1898-1902
1902 Wartmann & Valette, Brugg
1903 Buchheim & Heister, Frankfurt a. M.
1904 Assistant Engineer, New York
1910 Principal Assistant Engineer, New York
1923 Consulting Engineer, New York
1925 Bridge Engineer. The Port of New York Authority
1929 Chef Engineer. The Port of New York Authority
1929 auch Consulting Engineer für die Golden Gate Bridge
1934 auch Chief Engineer Triborough Bridge Authority, New
York, usw.
Unser Zeitgenosse Othmar H. Ammann hat sein Lebenswerk noch
nicht abgeschlossen, und wir dürfen und können es auch nicht abschließend
beurteilen. Eines aber steht schon heute fest: Seine Hängebrücke
über den Hudson River in New York stellt für alle Zukunft
einen bedeutenden Markstein in der Entwicklung des Baues von
Hängebrücken und damit von Brücken in Stahl überhaupt dar. Betrachten
wir kurz die Spannweite der wichtigsten früheren Ausführungen:
Brooklyn Bridge 1883, Spannweite 1595,5 Fuß
Manhatten Bridge 1910, ., 1470
Delaware Bridge 1926, 1750
so erkennen wir den großen Sprung nach vorwärts, den die 1932 eröffnete
George Washington Bridge mit einer Spannweite von 3500
Fuß schon äußerlich bedeutet. Wenn auch später die Spannweite,
nicht aber die Nutzfläche der George Washington Bridge durch die
Golden Gate Bridge uni einen Fünftel überschritten worden ist und
weitere Steigerungen der Spannweite heute durchaus als möglich und
sogar als wirtschaftlich vertretbar erscheinen, so ändert das nichts
an der Tatsache, daß die George Washington Bridge eine erstmalige
Leistung ist.
Das Bedürfnis nach einer Überbrückung des Hudson River bestand
schon seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Alle
früheren Entwürfe, obwohl von bedeutenden Ingenieuren auf gestellt,
wurden nicht verwirklicht, weil sie das Problem nicht in wirtschaftlich
tragbarer Weise lösten; dies war dem Ammannschen Entwurf
vorbehalten.
Die Ammannsche Lösung beruht auf der zunächst vielleicht intuitiv
erfaßten Idee, daß ein genügend schweres Seil an sich, ohne weitere
versteifende Elemente, genügend steif sei, um auch noch bewegliche
Verkehrslasten mit genügender Verkehrssicherheit aufnehmen
zu können. Zwischen dieser Idee aber und der gesicherten und rechnerisch
bewiesenen Erkenntnis, zwischen der ersten skizzenhaften
Vorstellung und den baureifen Plänen und der Ausführung liegen
Jahre härtester Arbeit, Jahre der Sorgen und Zweifel. Die Umsetzung
der geistigen Erkenntnis in ein Bauwerk, das sechzig Millionen
Dollars kostete und von Tausenden von Menschen benützt werden
sollte, brauchte den schöpferischen Mut, der große Ingenieure
kennzeichnet, brauchte die ganze Verantwortungsfreudigkeit eines
ganzen Mannes. Wir dürfen dabei nicht vergessen, daß dem Ban der
George Washington Bridge ein Jahrhundert des Hängebrückenbaues
vorausgegangen ist. Navier hatte 1823 die Theorie der unversteiften
Hängebrücken aufgestellt, nach der dann solche Tragwerke
auch bemessen wurden. Es traten aber so viele Unfälle und Einstürze
wegen mangelnder Steifigkeit von unversteiften Hängebrücken
ein, daß diese Bauweise mit der Zeit allgemein als unrichtig
angesehen und aufgegeben wurde. Es galt noch vor zwanzig
Jahren als selbstverständlich, daß Hängebrücken in allen Fällen
durch besondere Versteifungsträger auszusteifen seien. Daß Ammann
es wagte, entgegen dieser allgemeinen Auffassung, gestützt
aber auf seine der Allgemeinheit nicht oder zu wenig bekannten
eingehenden Berechnungen, die größte Hängebrücke der Welt ohne
solche Versteifungsträger zu bauen, wurde damals von maßgebenden
europäischen Fachleuten mindestens als tollkühn betrachtet.
Die George Washington Bridge dient nun seit 17 Jahren einem
intensiven Verkehr, und alle Beobachtungen und Erfahrungen bilden
eine glänzende Bestätigung der Ammannschen Voraussagen
und Berechnungen. Unsere Hochschule darf für sich in Anspruch
nehmen, daß sie die Leistungen ihres großen ehemaligen Schülers
schon vor dieser Bewährungsprobe durch die Verleihung der Würde
eines Ehrendoktors im Jahre 1930 gewürdigt hat.
5.
Die George Washington Bridge von Othmar H. Ammann ist eines
jener Bauwerke, mit denen das vollendet wurde, was Generationen
von Ingenieuren und Forschern begründet und vorbereitet haben:
die Synthese von Intuition, Erfahrung und wissenschaftlich fundiertem
Berechnen und Konstruieren ist vollzogen.
Daß bei dieser Wandlung des Bauingenieurwesens vom handwerklich-empirischen
Bauen zum bewußten, durch den Verstand
kontrollierten Gestalten auch schweizerische Baumeister — und wir
dürfen wohl Perronet dank seiner schweizerischen Abstammung
und trotz seines späteren französischen Bürgerrechtes dazu zählen
—hervorragend beteiligt, sind, vorn Anfang dieser Entwicklung
bis heute, muß uns Ansporn sein fur die Zukunft.
Das Ideal dieser Art des Bauens ist heute wohl erst in einzelnen
Fällen erreicht. Der Holzbrückenbau beispielsweise hat seinen
hohen Stand, den er unter Grubenmann besaß, zu einem großen
Teil wieder verloren. Die intuitive und handwerkliche Beherrschung
des Baustoffes ist noch nicht vollständig ersetzt durch wissenschaftlich
gesicherte Grundlagen. Noch allzu häufig weisen Rückschläge
und Bauunfälle auf den weiten Weg hin, der noch zu gehen ist. Der
Einsturz der Tacomabrücke in Amerika im Jahre 1940 oder die
Rückschläge an geschweißten Brücken in Deutschland und Belgien
sind nur besonders stark beachtete, aber bei weitem nicht die einzigen
Beispiele.
Viele kleinere oder alltägliche Bauaufgaben lassen sieh befriedigend
mit den erlernbaren Mitteln der Baustatik und ihrer konstruktiven
Anwendungen lösen, wenn der Ingenieur gewillt ist, in jedem
einzelnen Fall ein gutes Bauwerk zu schaffen. Die technisch einwandfreie
Lösung auch derartiger normaler Aufgaben ist notwendig,
nützlich und wertvoll. Hervorragende und richtungweisende
Bauwerke aber, Bauwerke, die der gesamten Entwicklung neue
Wege weisen und die damit diese Entwicklung befruchten, können
nur geschaffen werden, wenn zu den wissenschaftlichen Grundlagen,
wie sie auch unsere Hochschule zu vermitteln sucht, noch
die individuelle Kraft des intuitiven Gestaltungsvermögens und die
auf eigener Arbeit beruhende gereifte persönliche Erfahrung hinzukommen.
Ich wünsche unserer Hochschule, daß sie nicht nur ihre normale
Aufgabe, tüchtige Ingenieure im normalen Sinn des Wortes auszubilden,
auch in Zukunft lösen möge, sondern daß es ihr zugleich
vergönnt sei, vomi Zeit zu Zeit einem hervorragenden Pionier, einem
Manne von der Bedeutung Perronets, Grubenmanns oder Ammanns,
diejenigen wissenschaftlichen Grundlagen zu vermitteln, auf denen
sich die Synthese von Intuition, Erfahrung, Wissen und Können
vollziehen kann, die allein große Ingenieurbauwerke zu schaffen
vermag.