DIE STRUKTUR DES DANTESCHEN WELTBILDES

JAHRESBERICHT 1948/49

Druck: Art. Institut Orell Füssli A.-G., Zürich

INHALTSVERZEICHNIS Seite

I. Rektoratsrede 3

II. Ständige Ehrengäste der Universität 30

III. Jahresbericht 31

a) Dozentenschaft 31

b) Organisation und Unterricht 35

e) Feierlichkeiten und Konferenzen 47

d) Ehrendoktoren und Ständige Ehrengäste . . . . 48

e) Studierende 49

f) Prüfungen 51

g) Preisaufgaben 52

h) Stiftungen, Fonds und Stipendien 52

i) Kranken- und Unfallkasse der Universität. . . . 53

k) Witwen-, Waisen- und Pensionskasse der Professoren der Universität 54

l) Zürcher Hochschulverein 57

m) Stiftung für wissenschaftliche Forschung an der Universität Zürich 58

n) Jubiläumsspende für die Universität Zürich . . . 64

o) Julius Klaus-Stiftung 67

IV. Schenkungen 71

V. Nekrologe 74

I.
FESTREDE
DES REKTORS PROF. Dr. THEOPHIL SPOERRI
gehalten an der 116. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 29. April 1949

DIE STRUKTUR DES DANTESCHEN WELTBILDES

Derweilen wir unsre besondere Aufmerksamkeit auf das Weltbild Dante Alighieris richten, wollen wir uns ständig bewußt sein, daß jede Zeit sich ihr eigenes Bild von der Welt macht, und daß dieses Bild jeden Menschen in seinem ganzen Tun und Lassen bis in sein wissenschaftliches Denken hinein schicksalsmäßig bestimmt, so daß, wenn es möglich ist, die Struktur dieses Weltbildes zu erfassen, man auch diesen Menschen selbst, ja sein innerstes Lebensgesetz erfassen kann, was man auch ganz einfach so formulieren kann: Sage mir, wie du die Welt siehst, und ich sage dir, wer du bist.

Was nun das Dantesche Weltbild anbelangt, so meinen wir, und zwar mit Recht, eine sehr klare und deutliche Vorstellung davon zu haben. Äußerlich gesehen ist es das ptolemäische Weltsystem mit dem Erdball in der Mitte und den Himmelssphären gleich kristallenen Zwiebelschalen drum herum. Dante läßt dann aus eigener Vollmacht unter der Oberfläche der bewohnten Halbkugel den ungeheuren Höllentrichter mit seinen schaurigen Landschaften und Insassen sich öffnen. Auf der andern Seite erhebt sich aus dem Meer der Läuterungsberg. Die drei Reiche, Inferno, Purgatorio und Paradies sind genau nach drei mal drei Stufen gegliedert. Dem entspricht das vielgestaffelte Schema der Sünden, der Läuterungsgrade und der Seligkeiten. Und das gleiche harmonische Baugesetz wirkt sich aus in den dreimal dreiunddreißig Gesängen, die im fließenden Dreitakt der Terzinen zusammen mit dem Prolog das Weltgedicht zu hundert Gesängen aufrunden.

Ein vollständig durchgegliedertes, harmonisch in sich selbst abgestimmtes Gefüge, in welchem jeder Punkt jederzeit genau in seiner Beziehung zum Ganzen bestimmt werden kann, was auch Dante bei jeder Gelegenheit in umständlichen astronomischen Umschreibungen zu tun pflegt; denn es ist wichtig, ganz genau zu wissen, an welchem Ort man steht und welche Zeit es geschlagen hat.

Wenn wir auch von unserer chaotischen, ach so sehr in jedem Teil verschobenen und verstörten Welt aus auf diesen Danteschen Kosmos mit einer gewissen Wehmut zurückschauen, so können wir doch nicht im Grunde unseres Herzens eine solchermaßen festgelegte Ordnung für uns selber herbeisehnen. Wir glauben, in diesen geschlossenen Räumen nicht atmen, uns nicht bewegen zu können.

Aus einem ähnlichen Gefühl heraus hat Benedetto Croce in seinem berühmten Buch über Dantes Dichtung (La Poesia di Dante. Bari 1921 — Deutsche Übertragung von Julius Schlosser. Zürich 1921) eine Trennung vorgenommen zwischen der Struktur der Danteschen Welt und der darin aufblühenden Poesie. Der Aufbau, sagt er, "läßt sich als ein kraftvolles wuchtiges Bauwerk versinnlichen, aus dem üppiger Pflanzenwuchs sprießt, ein Schmuck hängender Zweige, Gewinde und Blüten, der ihn derart umkleidet, daß nur hier und da ein wenig rauhes Mauerwerk sichtbar wird oder eine Kante ihren harten Umriß zeigt"(Übertragung Schlosser. Seite 97). Das hat zur Folge, daß man in der Divina Commedia das opus poeticum genau herauszulösen hat aus dem opus philosophicum und aus dem opus practicum, ferner: daß alles, was Struktur ist, einen negativen Akzent trägt, und wer sich ernsthaft damit abgibt, Allotria treibt und den seit Jahrhunderten sich ansammelnden Wust von "Nebensachendeutung" noch vermehrt, welchen Wust zu beseitigen, Croce sich in seinem Dantebuch eben zum Ziel gesetzt hat. Seine Dantedeutung ist der lebendige Beweis dafür, daß es in der Tat viel Wust gab, den wegzuräumen ein großes Verdienst war, und daß der Wegfall der metaphysischen Einstellung den Blick für die menschlich ergreifenden Stellen geöffnet hat. Und doch ist dieser

Gewinn teuer erkauft. Nicht nur hat Croce trotz seiner ausdrücklichen Verwahrung die Einheit des Werkes zerstört, indem er von dem, was er den "theologischen Roman" nennt, die lyrisch-poetischen Teile absplitterte, sondern er hat durch einen unzureichenden und erstarrten Strukturbegriff Dantes innerstes Lebens- und Formgesetz verdunkelt.

Gerade diese Grundstruktur wollen wir versuchen aufzudecken, indem wir das Weltbild Dantes durch seine Bildwelt zu beleuchten unternehmen 1). Bilder sind eine Urform des Denkens "Alles Urdenken geschieht", nach Schopenhauers Wort, "in Bildern", eine Grundwahrheit, die in Rousseaus ein wenig frecher Ausdrucksweise so formuliert wird: "Il n'y a qu'un géomètre et un sot qui puissent parler sans figures", deren Sinn aber, wie noch aus unserer Betrachtung hervorgehen wird, am deutlichsten von Schuchardt in seiner Untersuchung über die "Romanischen Liebesmetaphern"folgendermaßen festgestellt wird: "Die Liebe hat geradezu die Metapher erschaffen. Sie hat die Sprache selbst erschaffen".

Es soll also ganz einfach der Bau der Danteschen Vergleiche und Metaphern untersucht werden, in der Überzeugung, daß das Gesetz, das in den kleinsten Elementen waltet, zugleich das Aufbaugesetz des Ganzen sein muß.

Überspringen wir zunächst den vieldiskutierten ersten Gesang "mit jener ,Wegmitte' des Lebens, auf der man, nach Croces spitzer Bemerkung, sich in einem Wald, der kein Wald ist, befindet, einen Hügel, der keiner ist, schaut, eine Sonne, die keine Sonne ist, erblickt, drei wilden Tieren begegnet, die solche und

wieder nicht solche sind" (Seite 109), um am Schluß auf das "Windspiel" zu stoßen, das für Croce den Fall darstellt, wo "die Allegorie die Dichtung nicht bestehn oder nicht erstehen läßt, sondern an ihrer Stelle einen Knäuel von unvereinbaren, dichterisch kalten und stummen Bildern setzt" (Seite 22).

Gehen wir also gleich zum zweiten Gesang über und pflücken wir das erste unzweifelhaft dichterische Bild heraus:

Quali i fioretti, dal notturno gelo
chinati e chiusi, poi ehe 'l sol li 'mbianca
si drizzan tutti aperti in loro stelo,
tal mi fec' io. . . (II 127-130).

(Wie Blümlein, die der Nachtfrost schloß und beugte, /sobald die Sonne ihnen wieder scheint, /die Stiele recken und die Kelche auftun, /erholt ich mich...1)

Die Rhetoriker unterscheiden an einem Vergleich drei Teile: den Bildteil, hier die Blumen, den Sachteil, hier Dante selber (io) und das vergleichende Dritte, das Tertium comparationis, hier das Sichwiederaufrichten nach vorhergehendem Niedergedrücktsein.

Das Tertium comparationis ist nun gerade das, worin der Dichter sein Eigenstes verrät. Das wird uns bewußt, wenn wir das literarische Vorbild heranziehen, von dem wir zum Glück wissen, daß es Dante gekannt hat. Es ist die schönste Strophe der provenzalischen Poesie; sie stammt aus einem Lied des ersten Troubadours, Wilhelm von Poitiers:

La nostr' amor vai enaissi
Com la branca de l'albespi
Qu'esta sobre l'arbre en treman,
La nuoit, a la ploja ez al gel,
Tro l'endeman, que-l sols s'espan
Per las feuillas verz e-l ramel.

(Unsre Liebe entfaltet sich wie der Zweig des Hagedorns, der am Baume zittert die ganze Nacht unter Regen und Frost bis

zum Morgen, da die Sonne sich ausbreitet durch die grünen Blätter und das Geäst.)

Bei Wilhelm von Poitiers sind auffällig die Bewegungsverben: Die Liebe geht so und so —nicht: ist so und so, die Blüten zittern in der Nacht, die Sonne entfaltet sich. Das vergleichende Dritte ist also ein rein natürlich-dynamischer Vorgang. Bei Dante ist die Wirkung des Frostes und der Verzagtheit ein Doppeltes: chinati e chiusi — gebeugt und geschlossen und so auch die Wirkung der Sonne: si drizzan tutti aperti —das Sichaufrichten und Sichöffnen. Es ist ein geistiger Vorgang, und das strukturelle Merkmal des geistigen Geschehens tritt deutlich hervor, die Orientierung nach oben, die vertikale Richtung, welche Vertikalität zugleich eine Weitung, ein Offenwerden bedeutet:

si drizzan tutti aperti in loro stelo...

Hier haben wir schon am einfachsten Beispiel das Dantesche Strukturgesetz aufgewiesen.

Im folgenden Gesang finden wir wieder einen ausführlichen Vergleich, zu dem das Vorbild bekannt ist — Dante macht sozusagen Fingerübungen nach berühmten Mustern:

Come d'autunno si levan le foglie
l'una appresso de l'altra, fin ehe 'l ramo
rende a la terra tutte sue spoglie,
similemente il mal seme d'Adamo
gittansi di quel lito ad una ad una
per cenni, corne augel per suo richiamo. (III 112-117)

(Wie Blätter, die vom Baum im Spätherbst fallen, /und eines nach dem andern flattert weg /bis aller Schmuck der Zweige unten liegt, / so springen die verworfnen Adamskinder / auf Wink des Fergen eins ums andre ab / vom Ufer, wie der Vogel auf den Lockruf).

Das Vorbild zu diesem Vergleich fand Dante bei seinem geliebten Virgil (Aeneis VI 305 ss.). Virgil legt den Nachdruck nur auf die vielen Blätter, die im Herbst fallen (quam multa... lapsa cadunt folia) und auf die vielen Wandervögel, die vom

hohen Meer ans Land fliegen, wenn die Kälte sie zu den besonnten Küsten treibt (quam multae glomerantur aves...). Bei Dante ist das Vogelbild völlig verändert: Charon winkt der einzelnen Seele zu, und sie fällt vorn Ufer wie ein Vogel auf den Lockruf. Das Naturbild wird auch hier in einen geistigen Vorgang verwandelt. Das Fallen wird zur Verfallenheit, und gleichzeitig wird das Herausgerissenwerden aus dem Lebenszusammenhang, die Tragik der Vereinzelung, betont:

si levan le foglie l'una appresso dell'altra
gittansi di quel lito ad una ad una.

Es ist das genaue Gegenbild zum vorigen: wie die Bewegung nach oben ein Aufgehen, so ist das Fallen ein Verlust der Ganzheit, ein Zerfall.

Erst mit dem fünften Gesang entfaltet sich kühn und frei Dantes Bildkraft. Wir sind im Kreise der Wollüstigen. Dem immanenten Gesetz folgend, nach welchem die Strafe nicht von außen, nach einer festgelegten Gesetzestafel auferlegt wird, sondern nichts anders ist als die sichtbare Auswirkung der Sünde, werden die Seelen, die dem Wirbel der Leidenschaft haltlos verfallen waren, vom Sturmwind im Kreise herumgetrieben. Croce bemerkt trocken hiezu: "Wer in dieser Strafe des ewigen Ungewitters ein lebendiges Sinnbild der Wollust erblickt, die mit ihrem Rasen die Menschen ergreift und fortreißt, hat zwar vermutlich die Absicht des Verfassers ergründet, dennoch aber vielleicht mehr gesehen, als von dichterischer Wirkung tatsächlich darin liegt". (Seite 115.)

Dante hat aber schon im dritten Gesang ein erschütterndes Bild der Hölle entworfen:

Diverse lingue, orribili favelle,
parole di dolore, accenti d'ira,
voci alte e floche, e suon di man con elle
facevano un tumulto, il quai s'aggira
sempre in quell'aura sanza tempo tinta,
come la rena quando turbo spira. (III 25-30)

(Verschiedne Sprachen, fürchterliche Reden /und Worte, Ausbrüche von Schmerz und Wut / mit Stimmen scharf und dumpf, und Handgeklatsche /machten ein Durcheinander, einen Wirbel, / (der wie im Wüstensturm der Sand sich ballt /und ewig durch den grauen Dämmer fegt.)

Hier zeigt sich schon im Akustischen das Grundgesetz der Hölle: die Disharmonie, der Lärm, wie im Visuellen der Sturm, der Wirbel. Es sind einfache strukturelle Begriffe, die mit dem Grundsymbol der Hölle, dem trichterförmigen Loch zusammenstimmen. Der Wirbel ist die dynamische Form des Loches. "Le mal se fait toujours dans un trou", sagt Claudel im Soulier de Satin 1). Wie der Berg die Grundform des Purgatorio ist, wo mit dem Hinaufsteigen der Blick sich immer mehr läutert und weitet, so das Loch die Grundform des Inferno, wo mit dem Hinabsteigen in die Tiefe sich alles verdunkelt und einengt 2).

Die Richtungslosigkeit der vorn Wirbel ihrer ausweglosen Leidenschaft herumgetriebenen Seelen wird nun auch syntaktisch, nicht nur bildlich, figuriert:

E come li stornei ne portan l'ali
nel freddo tempo a schiera larga e piena,
così quel fiato li spiriti mali:
di qua, di là, di giù, di su li mena. (V 40-43)

(Und wie die Staren auf den Flügeln schweben /durch Winterluft in breiten vollen Schwärmen, / so fegt der Höllensturm die bösen Geister /nach rechts, nach links, hinauf, hinab — dahin.)

In der Einführung zur Göttlichen Komödie 3) und anderswo 4) habe ich schon auf die Bedeutung dieses Di qua, di là, di giù, di su hingewiesen. Ariost verwendet dieselbe Häufung auseinandergehender Richtungsadverbien, um das Sinnlose, das "Verrückte"

der Liebesleidenschaft darzustellen. Auch hier ist wie am Anfang der Commedia der Wald der Ort der Verirrung:

Gli (l'amore) è come una gran selva, ove la via
Conviene a forza, a chi vi va, fallire:
Chi su chi giù, chi qua chi là travia. (XXIV 2)1)

(Die Liebe ist wie ein großer Wald, wo unfehlbar den Weg verliert, wer sich hineinwagt, hinauf, hinab, hierhin, dorthin verirrt er sich.)

Auch in der französischen Literatur finden wir dieses charakteristische deça, de là. So in der bekannten Ballade des Charles d'Orléans:

Aveugle suy, ne sçay ou aler doye;
De mon baston, affin que ne forvoye,
Je vois tastant mon chemin ça et là;
C'est grant pitié qu'il convient que je soye
L'omme esgaré qui ne scet ou il va!

Am stärksten durch den gebrochenen Rhythmus betont und auch hier mit dem wehenden Blatt im bösen Herbstwind finden wir diese Adverbien der richtungslosen Verfallenheit in der Chanson d'automne Verlaines:

Et je m'en vais
Au vent mauvais
Qui m'emporte
Deça, delà,
Pareil à la
Feuille morte.

Es wäre müßig, immer wieder auf diese Beispiele hinzuweisen, wenn hier nicht an dem einfachsten sprachlichen Gestaltschema die Permanenz eines tief in der menschlichen Natur verwurzelten Orientierungssinnes sich nachweisen ließe. Er ist der Seele eingebaut, wie ein Kompaß, der unter jedem geistigen Klima unbeirrbar den "rechten 'Weg" (la diritta via) weist.2)

Es erübrigt sich, noch mehr Beispiele von gestörten Strukturen aus dem Bereich der Hölle anzuführen 1). Es genügt ein Hinweis darauf, daß ein Mensch, der in sich die geistige Richtkraft wach erhalten hat, schon im Prolog bei aller Unklarheit angesprochen wird durch das vernichtende Gefühl des Verirrtseins im dunklen Wald und den unwiderstehlichen Drang zur lichten Höhe. Er wird dann auch ganz anders beim Aufstieg auf den Widerstand des "tierischen Sinnes", wie Pestalozzi sagt, reagieren und sogar, vielleicht, den apokalyptischen Windhund als eine ferne mythische Andeutung des kommenden Heils empfinden.

Vielleicht wird uns schon hier auch bewußt, daß solche Bilder und Strukturen niemals aus dem "theologischen Roman", sondern nur aus der Tiefe der Existenz hervorwachsen, und daß wir hier dem lebendigen Dante selber begegnen, der in seiner Verbannung das eigne und allgemeine Verirrtsein in furchtbarer Weise erfuhr, der auch sehr wohl wußte, welche bannende Macht der "tierische Sinn"hat, er, der später vor Beatrice bekennen muß, wie oft er dem Kurzschluß (breve uso) der sinnlichen Leidenschaft verfallen war, er, der Gewalttätige, der sogar in seinem braven Convivio einmal sagt, auf ein solches Argument sollte man nicht mit Worten sondern mit dem Messer antworten.

Doch schauen wir nun, ob die strukturelle Bildkraft Dantes sich mit der gleichen Macht wie im Destruktiven auch im Konstruktiven äußert. Nehmen wir gleich einige Bilder aus den ersten Gesängen des Purgatorio: das Zusammenströmen der Menge, wo sich ein Bote mit einem Olivenzweig meldet (II 70-75) das Auseinanderflattern der Tauben, wenn sie durch etwas erschreckt werden (II 124-132), das zögernd-ängstliche Heraustreten der Schafe aus ihrem Stall (III 79-87), das Sichlosreißen des gewinnenden Würfelspielers von der Schar der ihn umdrängenden Bittsteller (VI 1-12). Das Gemeinsame an all diesen Bildern ist, daß es sich um ein Zusammenkommen oder Auseinandergehen handelt. Ein zentrales Motiv der Divina Commedia tritt in Erscheinung: menschliche Gemeinschaft.

Hier hat dem Klima des Vorraums entsprechend die Bewegung noch etwas Herdenmäßiges, Stockendes, Unsicheres, Suchendes. Trotzdem herrscht über dem Instinktiven das geistige Auf-ein-Ziel-gerichtet-sein vor. Per udir novelle ... heißt es bei der zusammenströmenden Menge ... perchè assaliti son da maggior cura... bei den aufgeschreckten Tauben — ed il perchè non sanno... bei den Schafen und beim Würfelspieler: Ei non s'arresta...1).

Wir brauchen neben diesen geistig strukturierten Bewegungsbildern Dantes nur einige typische Vergleiche Torquato Tassos zu setzen, um innezuwerden, wie beim Dichter der Gerusalemme liberata alles ins bloß Dynamische, ins Psychologische, ja ins Pathologische abgebogen ist. So wird im neunten Gesang (Strophe 46) das andrängende Christenheer mit dem Fluß Po verglichen. Das vergleichende Dritte ist das Schwellen, Überborden, die Dämme durchbrechen, die Landschaft überschwemmen, das Ringen mit dem Meer, das der vielarmige Fluß zurückstößt anstatt ihm Tribut zu bringen. Der Sultan Soliman wird im zehnten Gesang (Strophe 2) dem Wolf verglichen, der todbringend unter den Schafen gewütet hat und nun, gezwungen zu fliehen, sich die blutbefleckten Lefzen leckt. Der Vergleichspunkt ist hier das Untergründige, Unersättliche des Instinktes, dessen Tiefendimension durch das Sich-Einwühlen-ins-Eingeweide schaurigen Ausdruck findet:

...se bene del gran ventre ornai ripiene
ha l'ingorde voragini profonde.

Noch deutlicher ist das Bild des Fisches, der im sumpfigen Gewässer sich in einer Reuse verfängt:

... e vien che da sé stesso ei si rinchiuda...
così Tancredi...
Entro per sé medesmo, e ritrovosse
poi là rinchiuso, ond'uom per sé non parte. (VII 46-47)

So ist auch der Wald bei Tasso ein dunkler Komplex, in dem jeder dem Bann seiner Verdrängungen verfällt.

Immer überwiegt der drängende Trieb; es ist Bewegung an sich, mit aller Verführbarkeit, aber auch mit dem ganzen Zauber des ungehemmt fließenden Lebens.

Wenn für Dynamiker wie Tasso und Rousseau der Satz Gaston Bachelards gilt: "Die Sprache besteht nicht in einem Austausch von verfestigten Begriffen, sie ist ein Fließendes, das unser fließendes Sein in Bewegung setzt"1), so gilt für die Bilder Ramuz' das Gegenteil. Der Himmel ist blau, wie die blauen Kugeln, die die Hausfrauen bei der Wäsche brauchen, der Rauch des Dampfschiffes wie geflochtenes Roßhaar, das der Tapezierer aufdröselt, die Sonnenstrahlen, die von den Bergen fallen, sind wie die frischgehobelten Bretter, die der Schreiner gegen die Mauer stellt. Im Gegensatz zum Luftleeren des Geistes und zur falschen Vornehmheit der Salonbilderei verfestigt Ramuz in uns und in der Welt das Körperhaft-Alltägliche, wie es auch der Kubismus mit letztem strukturellem Fanatismus erstrebte.

Gegenüber diesen verflüssigenden und verhärtenden Strukturen wird uns deutlich bewußt, worin das Wesen der Danteschen Bilder besteht. Hier sind alle Funktionen der Metapher vereinigt:

das die Welt der greifbaren Dinglichkeit Festigende
des objektiven Verstandes,
das in Fluß Bringende, alle falschen Fixierungen Auflösende
der seelischen Bewegung,
endlich aber das Aufhellende, Ausweitende, Strukturierende
des richtunggebenden Geistes.

Wie Bachelard sagt, ist Dante "le plus verticalisant des poètes, le poète qui explore les deux verticales du Paradis et de l'enfer". Die Lektüre der Göttlichen Komödie kommt einer Kur gleich: "une cure de verticalité".

Alles, was wir bisher sahen, bedeutet ganz einfach, daß das Dantesche Bildgesetz den ganzen Menschen in seinem vertikalen Wesen erfaßt und verwandelt, und als Besonderes kommt im Purgatorio mehr und mehr hinzu, daß diese Verwandlung, bei welcher der Mensch ganz Mensch wird, in einer bestimmten Situation geschieht: in der Begegnung von Mensch zu Mensch, was wiederum nichts anderes heißt, als daß das strukturelle Grundgesetz der Welt die Liebe ist.

Eine massive Metapher am Schluß des Purgatorio bringt uns das auf unerwartete Weise zum Bewußtsein. Dante ist auf der Höhe des Berges von Virgil in hohen Worten mündig erklärt worden:

Erwarte Lehre nicht noch Wink von mir,
denn frei, gesund und aufrecht ist dein Wille,
und Irrtum wär es, jetzt ihn noch zu zügeln.
Du sei dein eigner Kaiser und dein Papst. (XXVII 139-142)

Diese kühne Selbstkrönung des mittelalterlichen Menschen — das Erwachen der abendländischen Autonomie — ist aber nur das Thema der Verwandlung.

Die eigentliche Verwandlung geschieht in der Begegnung mit Beatrice. Diese Begegnung führt Dante zu einer Gewissenserforschung, die bis auf den Grund der tiefsten Demütigung geht. Dante steht zuletzt vor Beatrice wie ein verheultes Kind, das nicht mehr wagt, aus seiner Zerknirschtheit aufzuschauen. In diesem Augenblick erfolgt der scharfe Zuruf Beatrices: alza la barba — heb den Bart — und es kann kein Zweifel bestehen über den Sinn dieses Wortes:

E quando per la barba il viso chiese
ben conobbi il velen dell'argomento. (XXXI 74-75)

(Und wie sie "Bart"verlangte für Gesicht, /bemerkte ich wohl den giftgen Stachel in den Worten.) Dieser harte Zuruf erinnert

ihn an das Zeichen seiner Mannheit. Alza la barba — sei ein Mann: wieder als vertikaler Aufruf, aber zugleich ist die Aufrichtung ein Sich-Zuwenden zum andern hin.

E le mie luci, ancor poco sicure,
Vider Beatrice volta in su la fiera
Ch'è sola una persona in due nature. (XXXI 79-81)

Mit dem Blick auf Beatrice öffnet sich auch der Blick auf den, der in einer Person Gott und Mensch ist.

Es ist der unsichere, tastende, mythisch verdeckte Anfang der Aufwärtsbewegung und Geisteserhellung, die sich im Höhenflug des Paradieses fortsetzen wird.

Das ist Verwandlung, und was diese Verwandlung bedeutet, wird in den Bildern des Paradiso endgültig ins Licht gebracht 1).

Hier ist wohl der Ort, zu sagen, daß die Vertikalität des Mittelalters, die sich unvergänglich sichtbaren Ausdruck in den aufsteigenden Linien der gotischen Dome geschaffen hat, manchmal zu steil von der Welt weg den Wolken zustrebt. Jede Struktur hat ihre Gefahren. So treten wir gespannt in den Raum, wo die Danteschen Strukturen sich am reinsten entfalten.

Gerade hier, im Paradiso, fällt uns aber auf, wie konkret, wie wirklichkeitsgesättigt, wie erdzugewandt alle Bilder und jeglicher sprachliche Ausdruck ist. Ja es scheint geradezu die Sinnlichkeit des Bildes sich umsomehr zu steigern, je spiritueller der Inhalt ist. Bis in trivialste Einzelheiten hinein wird ständig das geistige Geschehen mit dem Essen verglichen 2).

Auf der andern Seite zeigt sich Dantes Genialität in den Bildern, die das Mysterium der Transparenz, die Auflösung aller dinglichen Schalen und körperlichen Schranken darstellen. Wie eine Vorübung ins transzendente Sehen sind die ersten Gesänge des Paradieses. Man wird ganz allmählich in eine Atmosphäre der reinen Durchsichtigkeit eingetaucht.

Wie durch geputzte, durchsichtige Scheiben
oder durch reines stehendes Gewässer,
nicht allzu tiefes, daß der Grund noch sichtbar,
von unsern Angesichtern Spiegelbilder
gedämpft uns wiederkehren, wie die Perle
auf weißer Frauen Stirne matt hervortritt:
so sah ich da Gesichter... (III 10 ff.)

Auch das Gehör nimmt an diesem Prozeß der Sinnesdurchläuterung teil, und wunderbar wirkt es, wenn der Dichter das Mittel des Versübergriffes gebraucht, um das Untertauchen eines schweren Gegenstandes im Wasser anzudeuten —wie der zweite Teil des Avemaria im nachfolgenden Vers versinkt, so verschwindet der selige Geist vor den Augen Dantes:

Così parlommi, e poi cominciò "Ave
Maria" cantando, e cantando vanio
come per acqua cupa cosa grave. (III 121-123)1)

Transzendenz ist aber bei Dante immer an die konkreteste Beziehung gebunden: Offensein zum Höchsten ist immer zugleich Offensein zum Nächsten. In all diesen Bildern und noch viel andern ist das Wesentliche die Beziehung von Mensch zu Mensch. Nicht nur in der Wiedergabe wunderzarter Begegnungen sondern im unbestechlichen Aufdecken des gesellschaftlichen Gefüges in seiner Reinheit wie auch in seinen Trübungen zeigt sich Dantes dichterische und menschliche Leidenschaft.

Man greift sich an den Kopf, wenn man sieht, wie Croce alle die wunderbaren Bilder des Paradieses aufzählt, aber nur, mn sie als lyrisches Spiel zu genießen, ohne das, worauf sie zielen, die weltstiftende und weltübersteigende Macht der Gemeinschaft, ernst zu nehmen. Es ist, wie wenn jemand Liebes mir die Hand zum Gruß hinhielte, und ich würde, anstatt sie zu ergreifen, Betrachtungen über ihre Form anstellen.

Nur zwei Beispiele aus vielen: "Die Paradiesessonne, die

Tausende von Leuchten entzündet in der Weise, wie es unsere Sonne mit den Sternen macht, spricht nicht zu unserer Seele, wohl aber versetzt uns der begleitende Vergleich in den Traum einer geheimnisvollen, heiligen Schönheit: ,Wie in des Vollmonds heiterklaren Nächten Luna lacht unter den ew'gen Nymphen, die das Gewölb des Himmels ganz besternen — Quale nei plenilunii sereni — Trivïa ride tra le ninfe etterne che dipingono il ciel per tutti i seni' ... Die Lichtscheine recken ihre Spitzen in die Höhe, indem sie auf diese Weise die tiefe Liebe, die sie für Maria hegen, zu erkennen geben: aber dieses Züngeln und alle diese Liebe der Seelenleuchten wiegt nicht auf: ,das Kindlein, das die Ärmchen streckt verlangend zu der Mutter, wenn sie ihm die Brust gereicht ..." (Seiten 221-223).

Hier will Croce, der uns die Augen für das Menschliche der Göttlichen Komödie neu aufgetan hat, das Eigentliche, um das es Dante geht, nicht mitmachen.

Noch deutlicher wird dieses Eigentliche, auch wieder im Verkennen, wenn wir einen andern Großen zum Worte kommen lassen, den Croce in seiner Dantedeutung ablehnt, gerade weil er ihm zu strukturell denkt. Es ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der in seinen Vorlesungen über Ästhetik (Jubiläumsausgabe Stuttgart 1939, 14. Band, Seite 409) zeigt, wie Dante "der kühnste Geist seiner Zeit" ... "die lebendige Welt menschlichen Handelns und Leidens" in das "wechsellose Daseyn" des Jenseits hineinsenkt. Er fährt dann weiter: "Wie die Individuen in ihrem Treiben und Leiden, ihren Absichten und ihrem Vollbringen waren, so sind sie hier, für immer, als eherne Bilder versteinert hingestellt ... sie haben sich bewegt, und sie sind nun mit ihrem Handeln und Seyn in der ewigen Gerechtigkeit erstarrt und selber ewig... Diesem Charakter des für sich schon fertigen Gegenstandes muß auch die Darstellung folgen... Sie kann nur eine Wanderung seyn durch die ein für allemal festen Gebiete".

Alle strukturellen Begriffe Hegels betonen das Statische in Dantes Welt: eherne Bilder, versteinert, erstarrt, fertig, ein für allemal, fest. Damit will er aber keineswegs eine "Nebensache"

an Dantes Dichtung aufweisen, sondern den Grundzug: den Charakter des metaphysischen Epos 1).

Hier hat sich aber eine weitere Dimension aufgetan, und wir müssen noch einen der neusten Danteerklärer heranziehen, um eine letzte Einsicht in Dantes Bildwerdung zu bekommen. Erich Auerbach bringt Croce und Hegel auf den gleichen Nenner, indem er die Dantesche Bildgestaltung auf den Terminus "Figura" in seiner spezifisch mittelalterlichen Verwendung zurückführt 2).

"Die Figuraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere dagegen das eine einschließt oder erfüllt... Wenn zum Beispiel ein Vorgang wie das Opfer Isaacs interpretiert wird als Präfiguration des Opfers Christi... so wird ein Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen hergestellt, die weder zeitlich noch kausal verbunden sind — ein Zusammenhang, der auf vernünftige Weise in dem horizontalen Ablauf, wenn man dies Wort für eine zeitliche Ausdehnung gestattet, gar nicht herzustellen ist. Herzustellen ist lediglich, indem man beide Ereignisse vertikal mit der göttlichen Vorsehung verbindet ... Die zeitlich-horizontale und kausale Verbindung der Ereignisse wird gelöst, das Jetzt und Hier ist nicht mehr Glied eines irdischen Ablaufs, sondern es ist zugleich ein schon immer Gewesenes und ein sich in Zukunft Erfüllendes; und eigentlich, vor Gottes Auge, ist es ein Ewiges, Jederzeitliches, im fragmentarischien Erdgeschehen schon Vollendetes" (77-78). Auf Dante angewendet, bedeutet das, "daß sich Figur und Erfüllung zwar gegenseitig ,bedeuten', daß aber ihr Bedeutungsgehalt keineswegs ihre Wirklichkeit ausschließt; ein figürlich zu deutendes Ereignis bewahrt seinen wörtlichen, historischen Sinn, es wird nicht zum bloßen Zeichen, es bleibt Ereignis" (Seite 190). So erlaubt die figurale Anschauung "zu verstehen, daß das Jenseits ewig ist und doch Erscheinung, wechsellos —jederzeitlich und doch erfüllt von Geschichte" (Seite 191). Wenn Auerbach hier

mehr auf der Seite Hegels zu stehen scheint, den er mit hoher Anerkennung zitiert, so rückt er schließlich doch Croce näher. Dante "schuf mitten im Jenseits eine Welt der irdischen Gestalten und Leidenschaften, die in ihrer Wirkung aus dem Rahmen heraustritt und selbständig wird; die Figur übertrifft die Erfüllung, oder noch eigentlicher: die Erfüllung dient dazu, die Figur noch deutlicher hervortreten zu lassen ... Dantes große Kunst treibt es so weit, daß die Wirkung ins Irdische umschlägt... das Bild des Menschen tritt vor das Bild Gottes" (Seiten 194-196).

Wenn wir nun zum Schluß den Brennpunkt suchen, der diese verschiedenen Perspektiven und alle bisherigen Erläuterungen zusammenfaßt, und von dem aus die letzten Fragen, die Dante in uns aufwühlt, geklärt werden können, so finden wir ihn in einem kristallinischen Wort, in der aktiven Form von "Figura": Transfiguration 1).

Transfiguration bedeutet ein Dreifaches.

Zuerst, daß es sich um einen Akt handelt, um den figurierenden Akt.

Das ist an sich nichts Unerwartetes. Dante ist Künstler. Wie sollte seine Welt ein anderes Herz haben als sein eigenes — als das Herz dessen, der brennend ist von der Leidenschaft des Schaffens.

Aber diese Mitte seiner Welt ist die Mitte der wirklichen Welt, das Herz der Schöpfung.

Die Poesie ist nicht nur die Muttersprache, sondern auch das allzeitige Urdenken der Menschheit.

Denn Weit ist nicht, sondern wie Martin Heidegger sagt: Welt weltet. Die Schöpfung schafft. Die Wirklichkeit ist nicht ein Ruhendes, Gegebenes, Festgelegtes, sondern ein Werdendes, Sich-selber-Verschenkendes, Wirkendes.

Und weil die Welt im Akt lebt, wird sie nur im Akt erfaßt; weil sie ein Geschehen — Geschichte — ist, wird sie nur dem in ihrem tiefsten Wesen offenbar, der Anteil nimmt an diesem Geschehen, der selber geschichtlich ist.

Diesen erkenntnistheoretischen Grundsatz, der das opus poeticum nicht künstlich scheidet vom opus philosophicum und vom opus practicum, hat Giambattista Vico für alle Zeiten neu ins Licht gestellt. Verum esse ipsum factum. Das Wahre ist selbst ein Tun. Darum, folgert Vico, erfassen wir nur, was wir selber tun. Und darum haben wir die Prinzipien der Wahrheit nicht von der Natur abzuleiten, die wir, weil wir sie nicht selber schaffen, nur von außen erkennen, wodurch unser Erkennen veräußerlicht und verhärtet: verunmenschlicht wird, sondern von dem, was die Menschen selber schaffen, und das ist die Geschichte; Geschichte ist aber immer Geschichte von menschlicher Gemeinschaft.

Das ist die Erkenntnistheorie, die dem Danteschen Schaffen, die jeder großen Inspiration zugrundeliegt. Ces arts, sagt Valéry im Eupalinos, doivent 'enfanter en nous non point une fable, mais cette puissance cachée qui fait toutes les fables.'

Das Grundvermögen des Menschen ist für Dante die "besondere Kraft, die ohne Tun nicht spürbar ist und die sich nur in ihrer Wirkung zeigt wie das Leben im Baum am grünen Laub"

specifica virtù...
la qual senza operar non è sentita,
nè si dimostra ma che per effetto,
come per verdi fronde, in pianta, vita. (Purg. XVIII 51-54)1)

Nun verstehen wir endlich, warum Dante alles mit allem vergleichen kann, in Bildern, die oft an Kühnheit alles gewohnte Maß übersteigen, wie das vom Vater Adam, der von den unausgesprochenen Fragen Dantes aufgeregt, sich in seiner Lichthülle so herumwälzt, wie ein Tier, "das, von einem Tuche überdeckt,

sich darunter abmüht, während die Decke den heftigen Bewegungen folgt, mit denen es sich zu befreien strebt." (Par. XXVI 97-102.) Nicht irgendeine ästhetische Angemessenheit, sondern die Identität des Aktes ist für Dante das allumfassende Tertium comparationis. Es ist eine analogia entis, die alle Kreatur, den Hund unter der Decke und den Urvater des Menschengeschlechts im gleichen Drang nach "Äußerung" verbindet, so daß auch das ganze Universum dem rauschhaft in allen Sinnen ergriffenen Dante als ein Lachen vorkommen kann:

Cio ch'io vedeva mi sembrava un riso
dell'universo, che per mia ebbrezza
intrava per l'udire et per lo viso. (Par. XXVII 4-6)1)

Da der Akt auch die Grundform von Dantes Sprache ist, verstehen wir, daß er alles verfestigte Wortmaterial in flüssige Lava verwandeln kann, alles Substantivische immer wieder in Verbales umformt. Seltene Neubildungen leuchten wie Edelgestein in Dantes Versen auf:

Quella che imparadisa la mia mente (Par. XXVIII)

Und wunderbar wird durch Aktivierung von persönlichen Fürwörtern die Begegnung von Ich und Du aktualisiert:

S'io m'intuassi, come tu t'inmii (Par. IX, 81)

(Wenn ich mich verdute, wie du dich vermichst.)

Auch die vertikale Struktur der Hauptepisoden wird von hier aus verständlich. Bei jeder entscheidenden Begegnung (Francesca, Farinata, Beatrice) durchbricht die Erzählung die Horizontale der Gemütserregung und des objektiven Tatbestandes, bis sie zum Wendepunkt in der Tiefe gelangt, an dem das Geschehen seinen "Sinn" offenbart: Sinn als Bedeutung, Sinn als Richtung.

Und daß der Richtungssinn das innerste Organ des Lebens ist, wird nun auch ersichtlich. Der Sitzende braucht keine Orientierung, aber der Handelnde muß wissen, wohin er geht.

Transfiguration bedeutet aber auch, daß der Akt im Sichtbaren verläuft. Figur entsteht. Das ist der zweite Grundzug der Danteschen Weltgestaltung: sein ungeheurer Verleiblichungsdrang. Eine ganze Welt von Formen hat er geschaffen, alles hat er in Gestalt verwandelt. Auch der subjektivste Vorgang wird sprachlich objektiviert; Francesca sagt nicht: ich werde weinen und sagen, sondern: ich werde tun, wie derjenige, der weint und sagt; Dante sagt nicht: Wenn die Liebe mich inspiriert, so zeichne ich es auf, sondern: Ich bin einer, der, wenn die Liebe ihn inspiriert, es aufzeichnet... 1) Der Formungsdrang geht so weit, daß Dante sich von der höchsten geistigen Autorität, unter die er sich sonst überall beugt, Thomas von Aquin, löst, um die Grundkraft der Seele, den formschaffenden Normwillen — la virtù informativa — noch über den leiblichen Tod hinaus wirken zu lassen (Purg. XXV). Ja, er läßt Salomon im Paradies so beweglich die Sinnenkraft des künftigen Körpers schildern, daß alle Seligen vor Sehnsucht nach der Leiblichkeit entbrennen.

So flink und so behende stellten sich
mit ihrem Amen beide Chöre ein,
daß man ihr Heimweh nach dem Leib erkannte —
und nicht für sich allein wohl auch für andre,
für Mutter, Vater und die Lieben alle,
so wie sie einst vor der Verklärung waren. (XIV 66-61)

Figuren, Strukturen, Gestalten, Gesichte — in unendlicher Fülle wachsen sie aus der Einbildungskraft Dantes heraus. Wer wollte da noch unterscheiden zwischen Struktur und Poesie? Waltet nicht überall die gleiche Grundkraft, die nicht anders kann, als sich dem Stoff der Welt zeugend, formend, strukturierend, figurierend zu vermählen?

Aber hier, ganz am Schluß, müssen wir doch Croce recht geben. Struktur ist nicht ein Letztes. Dante selbst löst am Ende alle räumliche Stufung, alle äußere Beschränkung, alle Figur 1) auf. Mit souveräner Freiheit erklärt er alle Kategorien des Verstandes aus der Gebundenheit unseres irdischen Fassungsvermögens. Von der äußersten Himmelssphäre aus erscheint alles Räumliche als bloße Anschauungsform. Der statische Raumbegriff mit seinen festen Grenzen und Einteilungen wird ins Dynamische umgesetzt. Paradies, Hölle und Erde sind nur Figuren, welche die innere Formkraft des Welterbauers sichtbar machen. Das Universum ist die fließend strukturierende Ausstrahlung der schöpferischen Liebe. Die sichtbare Welt ist der Abglanz der Weltidee, die Gott aus Liebe erzeugt hat:

Non è se non spender di quella idea
Che partorisce, amando, il nostro Sire. (Par. XIII 55)2)

Soll das nun heißen, daß alle Dantesche Struktur nun nicht mehr gilt, daß überhaupt alles, was Struktur, feste Form und Ordnung, geltende Institution und verbindliche Satzung ist, relativiert werden soll, daß das Diesseits um dieser jenseitigen Verankerung willen sein Gewicht und seinen Realitätswert einbüße, ja, daß schließlich alles Objektive in diesen subjektiven Seinsgrund hineingezogen werde, daß die kopernikanische Wendung Immanuel Kants, die darin bestand, daß man die Forderung "alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten" umkehrte in die Annahme, "die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten" (Vorwort zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft) sich nun noch tiefer ins Existenzielle verlagere, indem der Akzent verschoben wird von der gestalteten Wirklichkeit auf das gestaltende Wirken, vom geformten Weltbild auf die formende Bildkraft — so daß es außer dem glühenden Krater des schöpferischen Aktes kein objektiv Gültiges, dem Menschen Gegenüberstehendes, ihm

Entgegenkommendes, kein ihn anblickendes Gesicht, keine Begegnung gäbe?

Hier kann nur der letzte und tiefste Sinn der Transfiguration die Antwort sein. Er ist in zwei Pascalschen Fragmenten am einfachsten formuliert:

Figure porte absence et présence, plaisir et déplaisir... La réalité exclut absence et déplaisir (Fr. 677, 678).

Pascal setzt Figur und Realität einander entgegen. Was aber Realität ist, sagt er im andern Fragment:

Tout ce qui ne va point à l'unique but en est la figure.
Tout ce qui ne va point à la charité est figure.
L'unique objet de l'Ecriture est la charité (Fr. 670).

Der einzige Gegenstand der Göttlichen Komödie ist auch die Liebe. Darum ist alle Figur und Struktur nur ein Vorletztes, eine Anbahnung. Als solche sind sie unentbehrlich. Ohne sie zerflösse alles im chaotischen Urgewoge. Aber darin erweist sich die objektive Gültigkeit der Struktur, daß sie nicht ins Leere geht, sondern auftrifft auf die Struktur der objektiven Menschenwelt. Nicht die Strukturen sind das Wirkliche, aber ohne Struktur komme ich nicht an das Wirkliche heran. Jeder Mensch erfaßt soviel Struktur in der Welt, als er Struktur in sich hat. Es heißt nicht: Selig sind, die reinen Herzens sind, denn der Mensch muß um jeden Preis rein sein, sondern: denn sie werden Gott schauen.

So hat jede Struktur ihren Sinn als Offenheit zum Ganzen hin —das Letzte ist, daß an dieser offenen Stelle die Begegnung mit dem Sein, mit dem ganz einfach menschlichen Sein des Nächsten stattfindet, in welcher Begegnung ihm auch das Göttliche entgegentritt. "Gott ist nur durch die Menschen der Gott der Menschen" ist ein Satz Pestalozzis. Und ein anderer Satz lautet: "Der Gott der Liebe hat die Liebe an die Ordnung der Welt gebunden."1)

Das "Trans" der Figuration geht also nicht vom Diesseits ins Jenseits, sondern umgekehrt. Wenn man Dantes göttliche

Relativitätstheorie ernst nimmt, dann sind Hölle, Purgatorio und Paradies Anschauungsformen, wie der pythagoräische Lehrsatz. Dann sind sie aber auch so real wie alle geometrischen Wahrheiten. Sie gelten hier und jetzt. Es braucht keinen andern Ort des Jenseits als das Diesseits. Dante hat Hölle, Purgatorio und Paradies in dieser Welt selbst lokalisiert. Wer im Lichte des Jenseits das Diesseits anschaut wie Dante, der sieht Hölle und Purgatorio und Paradies wie er. Ob das ptolemäisch oder kopernikanisch vorgestellt wird, ist von relativer Bedeutung. Das einzig Reale ist die menschliche Beziehung. Das ist, wo sie gestört ist, Hölle, wo sie rein ist, Paradies.

Im Augenblick, wo Dante durch alle Sphären des Himmels bis zur allerheiligsten Gegenwart der Dreieinigkeit gelangt ist, sieht er im vollkommenen Rund des Kreises das menschliche Antlitz des Erlösers ihm entgegenleuchten. Es ist für ihn ein Unvereinbares — dieser Kreis und dieses Antlitz —; hier ist in letzter Vereinfachung der Gegensatz von Struktur und Poesie, von mathematisch vollendeter Form und kreatürlicher Gestalt. Wie der Geometer, der über der Quadratur des Zirkels sich zersinnt, rätselt Dante über dieser letzten Paradoxie — doch hier zerbricht die Kraft seines Geistes — er kann diesen Zusammenhang nicht verstehn, doch was tuts: er, der nicht begreift, wird ergriffen — wie vom gleichmäßig sich drehenden Rad — durch die Liebe, die bewegt die Sonne und die andern Sterne.

All'alta fantasia qui mancò la possa; ma già volgeva il mio disiro e il velle, si come ruota ch'egualmente è mossa, l'amor che muove il sole e l'altre stelle.

Exkurs I

Man kann nicht genug die räumliche Phantasie bewundern, die sich in den Bildern der Hölle äußert. Nur einige Beispiele:

Der Bergsturz (XII 4-10). Landschaft in Bewegung verwandelt, Richtung steil von oben nach unten: ehe da cima del monte, onde si mosse, al piano.

Das Arsenal von Venedig (XXI 7-18). Der erste Eindruck einer Fabrik auf einen mittelalterlichen Menschen. Der Vergleich bricht über den Vergleichspunkt hinaus (Quale bolle la pece, tal bollia la pegola). Das Pech erinnert ihn an das Arsenal, aber das Bild der verschiedenen Hantierungen drängt sich unwiderstehlich auf. Die gehäufte Aufzählung erinnert an den Anfang von Par. XI, auch eine Aufzählung von nebeneinander sich abspielenden Tätigkeiten: Chi... chi... chi...

Die Rettungsaktion (XXIII 37-45). Die Mutter, die, nur mit einem Hemd bekleidet, das Kind aus dem brennenden Haus rettet: ein Adverb "subito" entfesselt einen ganzen Vers: che prende il figlio e fugge e non s'arresta. Dante hat immer mehr Dynamik, als der zu vergleichende Vorgang es braucht.

Der Sommerabend (XXVI). Ein Idyll mitten in der Hölle! Dante steht schon unter dem Bann der in seinem Geist aufsteigenden, die tiefsten Schichten aufwühlenden Odysseusepisode. Die Abendstimmung ist wie ein Adagio in einer Brucknersymphonie vor dem Eintreten des ersten Themas, das schöpfungsmäßig brütende Flimmern, aus dessen Tiefe die steil aufflammende melodische Linie des folgenden Bildes — Elias auf dem Feuerwagen — hervorbricht.

Die Türme von Montereggione (XXXI 34-45). Die Giganten der untersten Hölle sind wie die Verkörperung der panisch überdimensionierten Materie; wenn sich der Nebel, der sie der Sicht beraubt, verzieht, stehen sie plötzlich in ihrer erschreckenden Größe da.

Die Garisenda (XXXI 136-141). Der sich herabneigende Riese erschreckt Dante; er vergleicht ihn mit der Garisenda, einem der zwei schiefen Türme von Bologna: wenn einer an seinem Fuße steht und eine Wolke über ihn hinweg geht, so sieht es aus als ob er auf den kleinen Menschen da unten niederfallen werde. Das Statische bekommt eine beängstigende Beweglichkeit; wenn das Feste ins Wanken kommt, dann bricht die ganze Welt zusammen.

Exkurs II

Die gleiche Überbetonung der statischen Struktur finden wir bei den zwei neusten Danteerklärern, allerdings von entgegengesetzten Gesichtspunkten aus:

Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie. Frankfurt 1942 und Odysseus in der Hölle. Geistige Überlieferung. Berlin 1942. (Siehe meine Besprechungen in Trivium 1943 und 1944. Dazu die Einleitung

in die Einführung zur Göttlichen Komödie und E. R. Curtius, Danteforschung. Rom. Forsch. 1942.)

Friedrich stellt sich auf den Standpunkt einer dogmatisch festgelegten Rechtsordnung, darum gibt er dem "Dichter" den Vorzug, für den schon alles zum voraus feststeht gegenüber dem "Wanderer", der die Welt Etappe für Etappe im Werden erfährt.

E. R. Curtius faßt in Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter seine Dantebetrachtung folgendermaßen zusammen: "Ein Einzelner und Einziger stellt sich einem ganzen Jahrtausend gegenüber und formt diese Geschichtswelt um. Liebe, Ordnung, Heil sind die Brennpunkte seiner inneren Vision; Lichtkugeln, in denen ungeheure Spannungen versammelt sind. Sie schießen zusammen, kreisen umeinander, konstellieren sich zu Figuren. Sie müssen entfaltet werden in Gestalten, Chören, Geisterketten, Satzungen, Verheißungen. Die ganze Fülle des inneren Gesichtes muß auf die ganze Weite der Welt, auf alle Tiefen und Höhen der Überwelt bezogen werden. Das ungeheuerste Beziehungssystem wird benötigt. Von jedem Punkt des mythisch und prophetisch gesteigerten Erlebens laufen Bänder zu jedem Punkt des stofflich gegebenen. Sie sind geschmiedet und vernietet in diamantharter Materie. Ein Sprach- und Geistgefüge ist geschaffen, umfassend, vielschichtig und unwandelbar wie das Weltgebäude". (S. 382 f.)

Wenn man diese großartige Stelle genau auf ihren strukturellen Aggregatzustand untersucht, so überwiegt auch hier das Statische. Das kommt wohl daher, daß die Geschichte stark an die überlieferten Formen gebunden wird. "In der Welt des Geistes ist das schöpferische Neue sehr viel seltener, als Bergson anzunehmen scheint. Ohne ein ihm vorschwebendes Gestaltschema (platonisch: eidos) kann der Dichter nicht dichten. Die literarischen Gattungen, die metrischen und strophischen Formen sind solche Schemata" (395). Wie ist nun Dantes Originalität zur Auswirkung gekommen gegenüber dieser berghoch sich türmenden Masse von traditionellen Formen? Es kann sich nach Curtius nicht um eine Durchdringung handeln, nicht um eine Transfiguration, sondern nur um eine Explosion. "Der explosive Einbruch erlebter Geschichte in die episch, mythologisch, philosophisch, rhetorisch geprägte Bildungswelt des lateinischen Mittelalters schuf die Konstellation, aus der die Commedia entstand" (369).

Hier zeigt sich ein strukturelles Gesetz: wenn man den Stoff der Geschichte zu sehr verhärtet, kann Verwandlung nur als Sprengung geschehen. Dante ist wohl auch ein explosiver Geist, aber das Transformierende überwiegt bei ihm bei weitem.

Exkurs III

Die Studie Friedrichs über Pascals Paradox ist nicht nur methodisch außergewöhnlich, sie ist vom klarsten und unerbittlichsten französischen Denken her, von den Pensées Pascals aus gesehen, die beste Anbahnung zum transzendenten Schauen Dantes. Ein Satz Pascals und ein Fragment

von Novalis, die Friedrich zitiert, könnten als Motto zur Divina Commedia dienen: Ceux-là honorent bien la nature qui lui apprennent qu'elle peut parler de tout, et même de la théologie (Fr. 29). — "Sollte das höchste Prinzip das höchste Paradoxon in seiner Aufgabe enthalten? Ein Satz, der schlechterdings keinen Frieden ließe, der immer anzöge und abstiesse, immer von neuem unverständlich würde, so oft man ihn auch schon verstanden hätte? Der unsere Tätigkeit unaufhörlich rege machte, ohne sie je zu ermüden, ohne je gewohnt zu werden? Nach alten mystischen Sagen ist Gott für die Geister etwas Ähnliches".

Es ist verständlich, daß das strukturelle Grundelement der Pascalschen Welt, die im kartesianischen Zeitalter und auf französischem Boden ins Glasgehäuse des Gedanklichen eingebaut sein mußte, nicht die Figura, sondern das Paradox war. Das Paradox ist "die Projektion der metaphysischen Wirklichkeit auf den Denk- und Sprachbezirk des Verstandes. Es ist die höchste Leistung des Menschen, aus seinen Mitteln die Grenze der Transzendenz zu erreichen; die Grenze überspringen kann nur noch der Glaube. Das Paradox ist die Antwort der Klarheit auf das Vorhandensein der Unklarheit" (s. 366). Das Paradox führt auf der Ebene des Existenziellen zum Moment des Tragischen, es wird zur "Gleichzeitigkeit unvereinbarer Kräfte in einer einzigen Seele" (369). Die reinste Form aber des Paradox ist auch für Pascal die "figure". Er überträgt "die Lehre vom Gleichnis, Wahrheit und Wahrheitsververdeckung zu sein (chose figurée und chose figurante), auf alle Einzelheiten des christlichen Daseins. Eine Wahrheitsverdeckung nach der andern durchstoßend, dringt die Suche nach Unverdecktheit doch immer nur zu neuen Wahrheitsverdeckungen vor. Alles kann Gleichnis für alles werden... So sinkt... ein Dogma nach dem andern zur Gleichnishaftigkeit herab; das wahre Sein Gottes (,la gloire') zieht sich... zurück in übergleichnishafte, übersprachliche Transzendenz. Zugleich aber... sind die sprachlich faßbaren, durch Handlung berührbaren Erscheinungen nicht beiseite zu lassen, denn, da wir Menschen sind... wohnt ihnen allein der Anreiz inne, durch sie hindurch auf jene Transzendenz der ,Gloire' zu dringen, die sich gibt, indem sie entweicht. Sie sind Bild und nur Bild" (365).

Aus der Danteschen Sicht heraus können wir wohl die Paradoxie des Daseins — daß der Einzelne nicht das Ganze, daß der Mensch nicht Gott ist, begreifen —, und wunderbar spricht Dante immer wieder diese Paradoxie aus (liberi soggiacete Purg. XVI 80, E vinta vince Par. XX 99 usw.) —und doch überwiegt im Gleichnis das Gleiche, eben weil Gott dem Menschen zugewandt ist ("Siehe, das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen"), weil das Wort Fleisch geworden ist, weil also die Transzendenz der Immanenz, das Jenseits dem Diesseits zugekehrt ist. Der Sinn des Weltgeschehens ist, daß das Ganze vom Einzelnen aufgenommen wird, aber damit das Einzelne als Träger des Ganzen erscheinen kann, muß im Einzelnen selber die Spannung zum Ganzen, die Aufgebrochenheit zum Ganzen hin, sichtbar bleiben. Das ist die gleiche Paradoxie, wie bei Pascal, die gleiche Tragik wie bei Racine, nur mit dem positiven Vorzeichen, dem Pluszeichen, das als Kreuz zugleich das Zeichen der Gnade ist.

Exkurs IV

Bedeutsam ist Dantes Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Ordnung. Weder lehnt er sich um der Freiheit willen gegen jede verfestigte Ordnung auf, noch weist er die Freiheit um der Ordnung willen in enge Schranken. Wohl niemand hat im autoritätsgläubigen Mittellalter so kühn Kritik an aller Autorität geübt; aber gerade weil die Ordnungen und die Institutionen für ihn durch die strukturierende Liebeskraft Gottes geheiligte Formen waren, mußte er diejenigen, die sich an ihrem Formgesetz vergriffen, unerbittlich an den Pranger stellen. Keiner ist so nahe an die Haltung Dantes gekommen wie Pestalozzi im Nachtrag von 1823 zur Fabel "Heidensorgen" (zitiert von W. Bachmann, a. a. O. S. 86 f.) "Das innere Wesen des wahren Glaubens, der (las Herz des Menschen reinigt und ihm göttliche Kraft zu allem Göttlichen verleiht, ist eine Kraft, die über den Schall und den Ton menschlicher Meinungen, Ausdrücke und Wortfügungen unendlich erhaben, auch von aller Wortdeutlichkeit und Erklärungsbestimmtheit ganz unabhängend, die Menschennatur im ganzen Umfang ihrer Kräfte sie heiligend ergreift. Als Meinung, als menschlich bestimmte, als menschlich gemodelte, gesiebte und decretierte Wahrheit, ist jede religiöse Ansicht nur eine todte Schaale des innern Wesens der Religion, des wahren Glaubens. Und es ist nur die innere Reinheit der göttlichen Gewalt, mit der die Menschennatur im ganzen Umfang ihrer Kräfte für das innere Wesen irgend einer menschlich ausgesprochenen Glaubenswahrheit ergriffen wird, wodurch ihr diese Glaubenswahrheit individualiter zum Fundament seines wahren, ihn wirklich seligmachenden Glaubens wird. Aber in diesem Falle wird dem, durch seinen Glauben wahrhaft veredelten Menschen freilich auch die menschliche Schaale, in der ihm das innere Wesen seines Glaubens von Jugend auf beygebracht und zu einem heiligen, göttlichen und göttlich wahren Wesen eingeübt worden, an sich selbst heilig und in ihm selbst in der Ansicht ihres Heiligthums unverlezlich. Ein solcher Mensch denkt sich das heilige Fundament seiner innern Veredlung in jedem Fall in den ihm menschlich gegebenen Namen, Wortfügungen und Bildern seiner kirchlichen Glaubenslehren im innigsten Zusammenhange. Es ist desnahen offenbar, mit welcher Schonung und Zartheit auch die Irrthümer jeder von Jugend auf dem Menschen beigebrachten, religiösen Meinung, d. j. auch die Flecken der Schaale, mit der ihr inneres segnendes Wesen dem Menschen menschlich in die Hand gelegt worden, behandelt werden muß. Wahrlich, es ist in dieser Rücksicht ein großes Wort: wehe dem, der Ärgerniß gibt".

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Rektorats Reden © Prof. Schwinges
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