Aktuelle Sprachwissenschaft
Zeitgeschehen und Zeitgeist im Spiegel der Sprache
Rektoratsrede
von
Prof. D. Dr. A. Debrunner
VERLAG PAUL HAUPT BERN 1952
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1952 by Paul Haupt Berne
Printed in Switzerland
Buchdruckerei Paul Haupt Bern
Es ist das Vorrecht des Rektors, am Dies Academicus vor einer
größern Öffentlichkeit über sein Fach zu sprechen. Dabei steht
er vor einer Doppelaufgabe: einerseits sollte er etwas von seinen
Fachkenntnissen so darbieten, daß die Zuhörer mehr davon
haben als das Staunen vor einer ungeheuer gelehrt klingenden,
aber dem Laien nahezu unverständlichen Sondersprache, d. h.
er sollte im besten Sinn popularisierend allgemeinere Gesichtspunkte
zur Geltung bringen. Auf der andern Seite aber sollte er
auch den Fachgenossen, die ja die gedruckte Rede zu Gesicht bekommen,
zeigen, wie er in seinem Fach selbständig die Forschung
weiterführen möchte (was gewöhnlich nur in speziellen Fragen
geschehen kann, also nur dem Fachmann vollverständlich ist).
Es scheint also, dass es nur ein Entweder —Oder gibt; etwas zugespitzt
würde das heissen entweder populär-verständlich oder
gelehrt-unverständlich.
Der Sprachwissenschaftler steht in diesem Zwiespalt, wenn ich
recht sehe, noch vor einer besondern Schwierigkeit. Einerseits
ist es sicher so, wie einmal Goethe gesagt haben soll: «Jeder
Mensch glaubt, weil er spricht, auch etwas von der Sprache zu
verstehen.» Als ob einer, der einen elektrischen Schalter bedienen
oder gar eine Sicherung oder Glühbirne ersetzen kann, etwas
vom Wesen der Elektrizität verstünde! Vielleicht erklärt sich
aus dieser falschen Vorstellung auch die Aschenbrödelrolle, die
im Rahmen des Universitätsbetriebes die Sprachwissenschaft
überall spielt: sie ist als Gehilfin der Philologie und des Sprachunterrichts
anerkannt —freilich mehr theoretisch als praktisch
—, und die Auffassung, die Sprachwissenschaft sei ein Luxusfach,
scheint recht verbreitet zu sein, bis in akademische Kreise
hinein. Auf der andern Seite ist dieses Mißverständnis aus der
Sache selbst heraus erklärbar: das sprachwissenschaftliche Studium
erfordert zwei Dinge, die sehr selten sind, nämlich Interesse
für Grammatik (das ja in den Schulen weitgehend vernachlässigt
oder gar ertötet wird) und Kenntnis der historischen Entwicklung
der eigenen Sprache und möglichst vieler, möglichst
alter und möglichst andersartiger Sprachen. Offen zuzugeben
ist, daß die Sprachwissenschaft vergangener Jahrzehnte — die
eigentliche Sprachwissenschaft ist noch keine hundertfünfzig
Jahre alt — aus der geschilderten Not oft eine Tugend gemacht
und sich in der Rolle einer überlegenen Isolierung gefallen hat.
Allein der geistige Umbruch des letzten halben Jahrhunderts
ist auch an der Sprachwissenschaft nicht spurlos vorübergegangen;
sie hat eine starke Hinwendung zur Gegenwart durchgemacht.
Die Fragen der Sprachphilosophie, die einst an der
Wiege der neuzeitlichen Sprachwissenschaft standen, dann aber
in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von der
naturwissenschaftlichen und entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise
verdrängt wurden, sind heute wieder modern
oder sogar Mode, und damit ist auch das Studium des grammatischen
und geistigen Aufbaus heutiger Sprachen in den Vordergrund
getreten. So liegt es nahe, auch dieser Rektoratsrede ein
Thema aus diesem Gebiet zugrunde zu legen. Wir folgen damit
der bekannten Mahnung der Lustigen Person im Vorspiel auf -
dem Theater in Goethes Faust:
Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
Ein jeder lebt's, nicht vielen ist's bekannt,
Und wo Ihr's packt, da ist's interessant!
Diese Worte passen wie angemessen auf die «aktuelle» Sprachwissenschaft.
Der bekannte deutsche Theologe Adolf Harnack, die führende
wissenschaftliche Größe der Kirchengeschichte seiner Zeit,
schrieb im Jahre 1922: «So ist es auch keine Profanierung, wenn
der Gelehrte seine Hand am Pulse des Lebens hält und ihn mit
seiner Arbeit zu kräftigem Schlagen bringt» 1, und sogar schon
1898 schrieb er: «Der Kirchenhistoriker wird zum Kirchenpolitiker,
er mag wollen oder nicht.» 2
Solche Töne waren damals auch in der Sprachwissenschaft selten.
So betitelte z. B. der dänische Linguist Sandfeld-Jensen 1915
das populäre Büchlein in der einst beliebten Sammlung «Aus
Natur und Geisteswelt» schlechtweg: «Die Sprachwissenschaft»,
obschon er im Vorwort bekennen musste: «Der Titel dieses Büchleins
bedarf insofern einer Rechtfertigung, als nicht die Sprachwissenschaft
in ihrem vollen Umfang hier behandelt wird, da
z. B. Fragen über das Verhältnis zwischen Sprache und Denken,
über Sprachrichtigkeit und Sprachschönheit u. a. m. überhaupt
nicht berücksichtigt werden.» Und sogar der Philosoph Fritz
Mauthner, der sonst an den Linguisten beißende Kritik übt, beginnt
noch 1912 das Kapitel «Was ist Sprachwissenschaft?» mit
den Worten, er könne nicht einsehen, «was in aller Welt Sprachwissenschaft
sein sollte, wenn sie nicht Sprachgeschichte wäre». 3
Ich glaube, heute sind solche Stimmen völlig verstummt, und es
ist eher am Platz, vor einer einseitigen Überbetonung der Sprachphilosophie
zu warnen. Es ist verständlich, wenn Sprachforscher,
die ein langes Leben der Forschung hinter sich haben, das Bedürfnis
empfinden, der Pyramide, an deren Fundamenten sie
so lange geduldig gebaut haben, die philosophische Spitze aufzusetzen.
Es erregt aber einen Schauer, wenn man sich vorstellt,
es könnte etwa im akademischen Unterricht mit dieser Spitze begonnen
werden, ohne daß die Hörer die intensive historische
Schulung, die allein den Unterbau liefern kann, durchgemacht
haben. Diese Gefahr ist nicht eine haltlose Zukunftsphantasie
oder ein Angsttraum verkalkter «Positivisten». Der sechste internationale
Linguistenkongreß, der 1948 in Paris stattfand, war
der erste, der auf sogenannte Sektionssitzungen verzichtete und
nur Fragen allgemeiner sprachphilosophischer Natur behandelte
(neben einigen praktisch-technischen Fragen). In der
Schlußsitzung urteilte darüber Prof. John Orr, der Vertreter der
französischen Sprache und Literatur an der Universität Edinburg,
in der Dankrede, die er im Namen der ausländischen Kongressteilnehmer
hielt, folgendermaßen: «Certains ont prétendu
que les questions proposées au Congrès auraient gagné à être
d'un ordre plus concret. C'est un point de vue que je comprends,
mais auquel je ne me rallie pas entièrement. Il était désirable,
je crois, inévitable peut-être, en reprenant contact après une si
longue separation (d. h. seit dem Kongress von 1936) «de s'interroger
sur des conceptions théoriques et fondamentales. Cependant,
je reconnais volontiers la peine qu'il peut y avoir à
séjourner trop longtemps dans la stratosphère linguistique où
l'oxygène nécessaire à la vie se raréfie, et d'où la terre et les
hommes et les langues elles-mêmes risquent de paraître de bien
chétives choses.» 4
Es war mir eine starke Beruhigung, daß die letzten Worte
spontan einen mächtigen Beifall auslösten.
Wenn nun aber schon für die ausgesprochenen Sprachphilosophen
die Gefahr der Luftakrobatik so gross ist, so tut gewiss der
Nichtphilosoph erst recht gut. daran, zu verzichten und sich an
konkretere Fragen der Gegenwartssprache zu halten.
Doch bevor ich dazu übergehe, möchte ich doch versuchen,
Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, was Sprachwissenschaft
eigentlich ist, d. h. ihren Umfang zu umgrenzen, um zu zeigen,
wo in diesem Gesamtrahmen die Stelle der genannten Sprachphilosophie
ist, und zugleich, wo sich unsere nachherigen Beobachtungen
zeitgenössischer Sprache einordnen. Ich muß mich
dabei der größten Kürze befleißigen, trotz dem damit verbundenen
Risiko, das einst Sokrates in seiner Verteidigungsrede im
voraus abzuwenden suchte mit der Bitte:
(«Regt euch nicht auf, wenn ihr
findet, ich spreche ein großes Wort gelassen aus» Plato, Apologie
20 e).
Wenn wir eine Wertstufenfolge der Wissenschaften aufstellen
wollen, so bleibt uns nichts anderes übrig, als die Sprachwissenschaft
als die höchste zu erklären (abgesehen natürlich von der
Theologie). Wir betrachten ja doch wohl den Menschen als die
Krone der Schöpfung —trotz der neuesten Weltgeschichte; und
wir stimmen Cicero bei, wenn er (de officiis 50) sagt, das Band
der menschlichen Gemeinschaft im Gegensatz zum Tier sei ratio
et oratio («Vernunft und Sprachfähigkeit») — auch das trotz
allen Kriegen; ohne die Sprache aber ist auch die Vernunft
weder wahrnehmbar noch denkbar. So wäre also die Sprache
das höchste irdische Gut der Menschenkinder — trotz ihrem
gigantischen Mißbrauch durch individuelle und kollektive Lüge
—und damit die Sprachwissenschaft die höchste Wissenschaft.
Ein besonderes Charakteristikum der Sprachwissenschaft ist
eine große Vielgestaltigkeit ihres Gegenstands, der Sprache.
Die sinnenfälligste Seite der Sprache ist die physiologisch-physikalische:
durch gewisse Bewegungen gewisser Teile des Körpers
werden Schallwellen erzeugt; der Luftstrom, der von der Lunge
ausgestoßen wird, bekommt durch die verschiedenen Stellungen
der Stimmbänder im Kehlkopf und durch die verschiedenen Gestaltungen
des Atemweges vor allem mittels der Zunge sehr mannigfache
Färbungen. Die so erzeugten Schallwellen sind etwas
rein Physikalisches; Beweis: sie können heute mit staunenswerter
Treue durch Apparate aufgenommen und und rein mechanisch
durch Schallplatten, Tonform, Sprechband und Lautsprecher
wiedergegeben und verbreitet werden. Die Apparate verstehen
nichts vom Inhalt; es gibt also eine Seite der Sprache, die
sich vom Inhalt und vom Menschen ablösen laßt. Mit dieser
Seite befaßt sich die Sprachphysiologie, die Sprechakustik und
die mit Apparaten arbeitende experimentelle Phonetik.
Daß die Sprache zweitens Ausdruck von Seelischem ist, also
eine psychische Seite hat, leuchtet jedem ohne weiteres ein;
diesem Studium widmet sich die Sprachpsychologie.
Die dritte Seite, die soziale, ist erst in unserem Jahrhundert
genügend gewürdigt worden: Sprache ist Mitteilung des Sprechers
(oder Schreibers) an den Hörer (oder Leser) mit Hilfe des
Symbolcharakters der Schallwellen. Dadurch, daß mehrere Menschen
die gleichen Gegenstände und Begriffe mit denselben
Schallwellenfolgen oder Lautkomplexen bezeichnen, entsteht
eine Sprachgemeinschaft. Diese Seite ist also das Arbeitsgebiet
der Sprachsoziologie.
Leicht wird über alledem die ebenso wichtige vierte Seite
übersehen: die geistige. Die einzelnen Bezeichnungen in einer
Sprache sind nicht kunterbunt durcheinandergeworfene Zufallsprodukte,
sondern der Ausdruck dessen, wie eine Sprachgemeinschaft
im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende die Gesamtheit
der Welt, sowohl des Beobachteten wie des Gedachten, sich
vorgestellt und geordnet hat: die Sprache ist nicht ein Sandhaufen,
der beliebig umgeschaufelt werden kann, sondern ein
sinnvolles Gesamtbild, in dem, wie in einem Mosaik oder einem
Gemälde, jedes Steinchen, jeder Pinselstrich seinen bestimmten
Platz hat. So kann man mit einiger Vorsicht (die leider nicht
immer angewandt wird) sagen: jede Sprache enthält ein Weltbild. 5
Selbstverständlich ist diese Vierteilung nur ein Mittel zur Bewältigung
des ungeheuren Stoffes und darf der Forscher den
engen Zusammenhang der vier Seiten nie aus den Augen verlieren.
Dasselbe gilt von andern Einteilungen des Stoffes, die von
andern Blickrichtungen her möglich sind; so der Unterschied
zwischen Längsschnitt und Querschnitt durch eine Sprache (zwischen
der diachronischen oder historischen und der synchronischen
Betrachtung) 6, ferner der zwischen beschreibender, erklärender
und wertender Sprachbetrachtung und der zwischen
den verschiedenen kleinem und grössern Sprachgemeinschaften
(wonach man zum Beispiel eine germanische, slawische, indogermanische,
semitische und schließlich eine allgemeine Sprachwissenschaft
betreibt). Alle diese Einteilungen haben ihre Berechtigung,
und zu einer vollen Erfassung des Phänomens der
Sprache ist die Vereinigung, besser gesagt die gegenseitige Durchdringung
aller Teilbetrachtungen nötig; dabei ist dann noch der
Unterschied zwischen dem Sprechen, d. h. dem einzelnen, momentanen,
vergänglichen Sprechakt, und der Sprache, d. h. der
Gesamtheit des verfügbaren Sprachbesitzes eines Einzelnen oder
einer Sprachgemeinschaft, zu berücksichtigen.
Aus dieser wundervollen Fülle, die nur angedeutet, nicht ausgebreitet
werden konnte, möchte ich nunmehr in grösster Bescheidenheit
ein paar Mosaiksteinchen aus der Sprache der Gegenwart
herausgreifen, indem ich versuche, an einigen Beispielen
zu zeigen, wie sich in der heutigen deutschen Sprache das
Zeitgeschehen und der Zeitgeist spiegeln. So ist der etwas marktschreierische
Titel meiner Rede gemeint, den ich der Kürze
wegen gewählt habe. Schwungvoller hat es Harnack in den schon
zitierten Worten ausgedrückt: «der Gelehrte hält seine Hand
am Pulse des Lebens».
Wer sich auf ein solches Unternehmen einläßt, muß sich bewußt
sein, daß er sich auf Glatteis begibt wie jeder, der sich beobachtend,
denkend und urteilend mit der Gegenwart beschäftigt.
Solange sich der Forscher mit alten Zeiten befaßt, muss er
von sich und darf man von ihm strengste Objektivität verlangen;
je mehr er sich aber der Gegenwart nähert, um so mehr wird ihn
der Stoff auch im Gemüt ergreifen, und wenn er die Gegenwart
selber zum Gegenstand wählt, erwartet man mit Recht von ihm,
daß er sich nicht darauf versteift, sich selber in zwei Menschen
spalten zu wollen, einen zu bejahenden objektiven Forscher und
einen zu vordrängenden subjektiven Menschen — ein Versuch,
der sowieso in den seltensten Fällen gelingen dürfte. Was man
aber verlangen muß, ist, daß er —wie jeder echte Wissenschaftler
—weiß, wo die objektive Beobachtung aufhört und die subjektive
Deutung und Wertung beginnt. Über anfängliche Bedenken
gegenüber solcher «aktueller» Sprachwissenschaft habe ich
mich schon vor 26 Jahren durch ein Wort des genialen Sprachforschers
Hugo Schuchardt hinwegtrösten lassen, das er als Zweiundachtzigjähriger
zwei Jahre vor seinem Tod in einem Aufsatz
«Der Individualismus in der Sprachforschung» 7 geschrieben
hat: «Ich empfinde es immer wohltätig, wenn unter dem kühlen
Panzer der Objektivität hervor mich ein warmer Hauch von Subjektivität
anweht, der ja doch nie fehlt.»
Nun freilich: bei der Behandlung der Gegenwartssprache wird
naturgemäß der «warme Hauch der Subjektivität» oft zur scharfen
Bise der Kritik werden müssen —und damit komme ich auf
eine weitere Schwierigkeit meines Themas: die Sprache der Gegenwart
wird eben von Menschen der Gegenwart gesprochen und
geschrieben. Da würde nun die strenge Wissenschaft fordern, daß
jedesmal genau angegeben würde, wer den kritisch zu beleuchtenden
Ausdruck gebraucht hat; aber das würde unter Umständen
Hörer oder Leser treffen. Ich muss deshalb meine Beispiele
mit Rücksicht auf lebende Menschen und bestehende Institutionen,
soweit es irgend geht, namenlos vorbringen und gelegentlich
der Verschwiegenheit und Vertuschung zuliebe etwas abändern.
«Gebrannte Kinder fürchten das Feuer», oder, wie es
ein Inder ausgedrückt hat: «Das Kind, das sich am gekochten
Milchreis gebrannt hat, pustet auch die saure Milch.» Kein Kollege
kein Politiker, keine politische Partei, kein Schriftsteller,
keine Zeitung, kein Radiosender soll sich speziell angegriffen
fühlen, und wenn sich baslerisch-satirische Töne einmischen sollten,
so möge der Berner daran denken, daß die Satire nicht höhnen,
sondern nach Horaz «lachend die Wahrheit sagen» will.
Dass sich die Geschichte und das Denken einer Zeit, soziale
Zustände, große geistige Erlebnisse, nationale Verschiedenheiten,
fremdländische Einflüsse in der Sprache niederschlagen, ist
eine Selbstverständlichkeit; es mag hier ein Hinweis auf die Bereicherung
des deutschen Wortschatzes durch die Sondersprachen
der Kirche, des Rittertums, der Mystik, des englischen Sports,
der italienischen Musik genügen. Schon oft ist insbesondere der
starke Einfluß der heute ja alles beherrschenden Technik auf
unsern allgemeinen Sprachgebrauch hervorgehoben worden:
alles Mögliche wird heute ein- und ausgeschaltet, Menschen werden
gleichgeschaltet wie der elektrische Strom und überholt wie
ein Schiff und eine Maschine, liquidiert wie ein bankrottes Unternehmen;
Projekte werden angekurbelt und laufen an wie eine
Maschine; der Sektor hat von der Mathematik auf die Kriegstechnik,
dann auf das Geschäftsleben und die Wirtschaft, ja auf
das Geistesleben übergegriffen. Nicht nur Maschinen laufen auf
hohen Touren (besser: auf hoher Tourenzahl), sondern auch
die Wirtschaft; manchmal werden daraus sogar Hochtouren, auf
denen die Wirtschaft oder auch ein Heer von Spionageagenten
läuft: hoffen wir, daß wenigstens die erste ohne Todessturz herunterkommt!
Früher setzte man für eine Sache freiwillig sich
selber, sein eigenes Leben, seine Ehre, sein Wort ein; jetzt aber
werden Menschen, ob sie wollen oder nicht, eingesetzt, nicht nur,
was verständlich und berechtigt ist, von einer Armeeleitung, sondern
auch etwa von einer Betriebsleitung oder von einer staatlichen
Planungsstelle.
Die letzten Jahrzehnte mit ihren Kriegen, ihren sozialen Spannungen,
ihren Rationierungsnöten haben überall zu einer Verstärkung
der obrigkeitlichen Macht geführt; das äußert sich
sprachlich z. B. darin, daß Zusammensetzungen mit dem ersten
Bestandteil Kriegs-, Not-, Zwangs-häufiger werden: Kriegswirtschaft,
Kriegstrauungen, Kriegswitwen und -waisen, Notverordnungen,
Notschlachtungen, Notabitur, Mangelwirtschaft, Zwangsgestellung,
Zwangsernährung und vieles andere. Dem Rationierungswesen
ist die Beliebtheit des Wortes «zusätzlich» zu verdanken,
das meinem Eindruck nach über den Rhein zu uns gekommen
ist. Zusatz setzt eine Norm voraus und die zusätzliche
Ration die Normalration; ein Zusatz ist aber in Rationierungszeiten
etwas so Wichtiges, daß nun überhaupt jede Art von Zugabe
als «zusätzlich» bezeichnet wird; ich habe sogar gelesen,
daß eine Ansicht zusätzliche Anhänger gefunden habe. Vermutlich
ist das Wort von deutschen Puristen als Ersatz für das Fremdwort
«extra» geschaffen worden; vielleicht wird schließlich
auch aus der Extrawurst eine zusätzliche Wurst!
Aus dem deutschen modernen Amtsstil stammt es wohl auch,
wenn vielfach auch bei uns ein Kredit nicht mehr verlangt, sondern
anbegehrt oder angefordert wird und wenn Waren angeliefert,
nicht einfach geliefert werden, und in dieselbe Gruppe gehört
auch der Ernte-«Anfall».
«Anfallen» ist zwar ein altes Wort der Rechtssprache; aber
es bedeutet da: «jemandem von Rechts wegen zufallen» wie
in dem Grundsatz: «die über den Zaun hängende Frucht fällt
den Nachbar an» und in Luthers Bibel: «du wirst weder teil
noch anval haben an diesem wort», d. h. keinen Anspruch. 8
Auch das Schweizerdeutsche kannte einst diese Verwendung
des Wortes; Bullinger schreibt 1540: «der unglöubig furcht,
in fallind kind an, vertrüwet Gott nit», d. h. er fürchtet, es
könnten ihm Kinder zuteil werden; und Anfall ist in Twann
1426 Obst, das auf des Nachbars Boden fällt und ihm nach
altem Recht ganz oder teilweise gehörte. 9 Wahrscheinlich
hat jemand auf das alte Wort zurückgegriffen, ohne es recht
verstanden zu haben; denn der Ernteanfall ist heute so viel
wie der Ernteertrag. Dass der neue Gebrauch außerhalb der
Amtsstuben noch nicht geläufig ist, das beweisen zwei Fälle
falschen Gebrauchs: ein deutscher Schriftsteller schreibt
1938: «Der gute Herr Doktor, der die Grippe, die Angina,
den Rheumatismus behandelt, was eben so anfällt in der
Familie, er ist da nicht zuständig»; da ist einfach gemeint:
«was so vorkommt», aber der Krankheitsanfall klingt mit an.
Und in einer Schweizer Zeitung war zu lesen: «80 Prozent
des Wasserverbrauchs fällt als häusliches Abwasser an», d. h.
einfach: «wird Abwasser»; es wird kaum jemand Anspruch
darauf erheben. Unerfreuliche Anfälle hat auch die schweizerische
Versicherungsgesellschaft, die von «sämtlichen unserer
Anstalt angefallenen Lawinenschäden» spricht.
In den Erörterungen über die Finanzreform tauchte auch
das neue Wort «Schlüsselung» auf in der atemraubenden
Wendung: «Bei ordnungsgemäßer Schlüsselung der zusätzlichen
Kantonsbeiträge zur Deckung der durch Reduktion
der Bundesbeiträge entstandenen Ausfälle»; gemeint ist die
Verteilung auf Grund eines Schlüssels. In der «Muttersprache»,
der Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins, finde
ich folgende Definition: «Entziffern heißt einen nach einem
unbekannten Schlüssel (verfahren) verschlüsselten Text (Geheimtext)
in Klartext verwandeln. Ist dagegen der Schlüssel
bekannt, so spricht man von entschlüsseln (dechiffrieren)» 10.
Aber der deutsche Theologe, der von einer Entschlüsselung
der Gleichnisse schrieb, meinte wohl das Finden des Schlüssels
nicht die Anwendung eines schon gegebenen Schlüssels.
Mit dem Ausbau des modernen Staates zum Wohlfahrtsstaat
hängen auch sprachliche Wandlungen zusammen: aus der Armenpflege
und der Wohltätigkeit wurde durch die staatliche
Organisation die Fürsorge und die Betreuung. In dem riesigen
Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm (Band I von 1854)
gibt es kein Stichwort «betreuen» und unter «Betreuung» ein
einziges Beispiel aus dem Jahre 1716, in dem von der Betreuung
der Reben gesprochen wird. Dazu wird die Bemerkung gemacht:
«das soll doch heiszen pflege, wartung? von betrauen, betreuen,
mit etwas beauftragen.» Auch uns ältern Leuten war das Wort
bis vor wenigen Jahren fremd; man sagte eben: «für jemand
sorgen», im Dialekt: «zue-n-em luege»; beim heutigen Betreuen
denken wir sicher an treue Fürsorge, Beaufsichtigung,
Pflege.
Weniger glücklich ist das Wort «Unfäller», das mir letztes
Jahr in einem Zeitungsartikel mit der Überschrift «Sind Unfälle
gewollt? Katastrophen aus seelischer Veranlagung» begegnet
ist. Unfäller sind demnach Leute, die psychisch zu Unfällen neigen
(der Artikel spricht auch von unfall-anfälligen Personen,
von Unfall-Affinität und von Nichtanfällern). Bei der ersten Erwähnung
ist das Wort «Unfäller» in Anführungszeichen gesetzt;
es ist also vielleicht die Schöpfung des psychologischen Verfassers
in Anlehnung an das englische accident-proneness, wie nach
ihm die Amerikaner diese Unfall-Anfälligkeit nennen. Früher
nannte man solche Leute «Pechvögel» — aus einer völlig andern
Weltanschauung heraus!
Aufschlußreich scheinen mir auch gewisse Vorgänge zu sein,
die wir als retrograde oder rückläufige Wortableitungen bezeichnen:
aus der Notlandung eines Flugzeuges wird ein notgelandetes
Flugzeug, obschon es kein Verbum «ich notlande» oder «ich
lande not» gibt. So führt die Nachfrage nach Studentinnen für
häusliche Hilfsdienste zu «nachgefragten» Studentinnen, die
Baubewilligung zu «baubewilligten» Wohnungen; die Bausparer
lassen die Aufforderung ergehen: «bauspare!» Notlandung,
Nachfrage, Baubewilligung, Bausparer sind eben feste Begriffe
geworden, die als Überschriften von Aufsätzen und Aktenbündeln
und als Etiketten auf Registraturschubladen ein aufdringliches
Wesen entwickeln. 11 Als ich zum erstenmal im letzten
Dezember von «vermittelten Aushilfsangestellten» las und
daß «bei den meisten die Vermittelbarkeit erschwert» sei, hatte
ich ein unangenehmes Gefühl. Warum? Die Aufgabe einer (privaten
oder öffentlichen) Arbeitsstellenvermittlung ist doch die,
einer Person Arbeit oder eine Stelle zu vermitteln; die Rede
vom «vermittelten Angestellten» aber setzt voraus, dass der Angestellte
einem Arbeitgeber vermittelt wird, wie man etwa jemandem
ein Darlehen oder einen billigen Gelegenheitskauf vermittelt,
dass also der Arbeitsuchende Objekt eines Geschäfts ist.
Ich muß schleunigst einem Mißverständnis vorbeugen: ich habe
weder gesagt noch gedacht, daß der Mensch auf irgendeiner Vermittlungsstelle
als Ware behandelt werde; selbstverständlich
kann der Vermittlungsbeamte oder -angestellte den Arbeitsuchenden
durchaus menschlich-freundlich behandeln; ich will
nur sagen, daß jede Organisation —je größer sie ist, um so mehr
— die Gefahr der Entpersönlichung in sich trägt und daß sich
dies gelegentlich auch in der Sprache äußert.
Nicht nur die modernen. Entwicklungen und Tendenzen der
staatlichen Regierung und Verwaltung finden ihren sprachlichen
Niederschlag, sondern auch die Reaktion des Publikums dagegen.
Die Verbote rufen der Übertretung, und zur Bezeichnung
dafür hat sich in den letzten Jahren das Wort «schwarz» als geeignet
erwiesen: es gibt Schwarzschlachtungen, Schwarzhandel,
schwarzen Markt, schwarzen Grenzübertritt, aber auch Schwarzarbeit,
da es ja auch Arbeitsverbote von seiten von Verbänden
gibt; neuerdings hören wir auch von Schwarzhörern am Radio
und in unsern Hörsälen. Es wäre verlockend, der Symbolik und
Mystik nachzugehen, die mit solchen Verwendungen der Farbwörter
verbunden ist; ich erinnere an das Rot des Sozialismus,
das Schwarz des Klerikalismus, an die Schwarz- und Braunhemden,
an die schwarz-rot-goldene Internationale aus der Zeit des
Weimarer Staats, an die rot-grüne Allianz, an die Weißgardisten.
Ich will nur versuchen, in Kürze zu zeigen, wieso «schwarz»
die Bedeutung «verboten» bekommen haben kann: schwarz
ist die Nacht und alles, was geheimnisvoll, dämonisch, teuflisch,
unglückdrohend ist; darum ist die schwarze Liste eine
feindselige. Damit vereinigt sich eine zweite Linie: der
Schuldner wird mit Kreide auf eine schwarze Tafel aufgeschrieben,
er ist also «schwarz angeschrieben» oder «angeschwärzt»;
darum heisst auch ein Buch, in dem Gesetzesübertreter
eingetragen sind, «das schwarze Buch». Drittens
ist die «schwarze Kunst», d.h. die Zauberei, eine Übersetzung
eines mittellateinischen nigromanteia «Schwarzwahrsagerei»,
das seinerseits ein Mißverständnis des griechischen
nekromanteia «Totenbeschwörung» ist. Die «schwarze Kunst»
ist aber eine von der Kirche verbotene Kunst, die mit dem
«Schwarzen», dem Teufel, in Verbindung steht. Ich habe das
Gefühl, daß unter den genannten Neuwörtern mit Schwarz der
Schwarzhandel und der schwarze Markt die ältesten
sind; das könnte an die alte Verwendung von «schwärzen»
und «Schwärzer» im Sinn von schmuggeln, Schmuggler anknüpfen;
womit wir in das Gebiet der Gaunersprache kämen,
die ja stark mit symbolischen, nur dem Eingeweihten verständlichen
Ausdrücken durchsetzt ist. -
Begreiflicherweise erfordern neue politische Gebilde neue
Namen; unser halbes Jahrhundert ist besonders reich an solchen;
ich erinnere nur an neueste Namen wie Israel, Pakistan, Indonesien
(das früher nur ein geographischer Begriff war), an Vietnam,
Irak, Malaya. Damit ist verbunden die Schaffung von Bezeichnungen
für die Bewohner dieser neuen Staaten. Für die
Bürger des Staates Israel war der alte Name Israeliten nicht
brauchbar, da er seit Jahrhunderten in anderem Gebrauch festgelegt
war; man liest jetzt etwa von den Israelern oder den
Israelis (letzteres gebildet aus dem hebräischen Israeli = der
Israelit mit dem romanisch-abendländischen Plural-s); als selbstverständlich
ergab sich das Adjektiv israelisch. Aus verschiedenen
Motiven stammen die in den letzten Jahrzehnten ebenfalls
häufig gewordenen Umbenennungen von Städten und Staaten:
Oslo ersetzt das an die dänische Oberhoheit erinnernde Kristiania;
mit Thessaloniki statt Saloniki, mit Agrigento statt Girgenti
wird auf die alten Namen einer ruhmreichen Vergangenheit zurückgegriffen,
mit Eire für Irland, Tallinn für Reval, Turku für
Abo wird gegenüber einer politischen oder kulturellen Überfremdung
die Nationalsprache zu Ehren gebracht, mit Leningrad
für Petersburg oder Petrograd, mit Kaliningrad für Königsberg
und zahllosen ähnlichen Fällen wird eine politische Umwälzung
besiegelt; und die Versuche, die gute alte «deutsche
Schweiz» in eine «alemannische» umzutaufen, verraten noch
heute Spannungen und Ressentiments, an die wir uns nicht gern
erinnern. Die territorialen Probleme der Zeit nach dem zweiten
Weltkrieg haben uns z. B. die Ost- und Westzonen, die Berliner
Sektoren, den Namen Nordrhein-Westfalen und die Kunstgebilde
Be-ne-lux (Belgien, Niederlande, Luxemburg) und die Erweiterung
zu Fr-ita-lux (Frankreich, Italien, Benelux) öder Fi-nebel
gebracht. Der erste Weltkrieg war auch in dieser wortschöpferischen
Beziehung noch weniger produktiv; aber er schuf z. B.
die Einrichtung und das Wort «Mandatgebiete» und das Königreich
SHS, d. h. Serben, Hrvaten und Slowenen. Daß totalitäre
Regierungen für ihre grundstürzenden Ideen und die radikale
Durchorganisierung des ganzen Lebens eine Unmenge neuer
Wörter brauchen, haben wir zuerst am Bolschewismus, dann am
Nationalsozialismus erlebt. 12 Wir wissen auch, welche ungeheure
Ausdehnung in diesen beiden Staatsformen die Abkürzungssprache
(scherzhaft-polemisch Aküsprache genannt) angenommen
hat und wie sie auch bei uns der Zunahme der Kompliziertheit
des ganzen Lebens folgt: ETH, PTT, Biga (= Bundesamt
für Industrie, Gewerbe und Arbeit) sind längst nicht mehr vereinzelt.
Der Verlockung, dieses höchst lehrreiche und oft sehr
amüsante Thema zu behandeln, muß ich mir hier versagen; es
spielen dabei die verschiedensten Motive mit: erzwungene oder
blos spielerische Geheimtuerei, Zusammengehörigkeitsgefühl,
Bequemlichkeit, Sparsamkeit in Aufschriften und Reklame und
anderes. Das älteste Beispiel scheint das altchristliche Symbol
des Fisches zu sein: ichthys, das griechische Wort für den Fisch,
enthält die Anfangsbuchstaben des Bekenntnisses: «Jesus Christus,
Gottes Sohn, Retter». War hier das Abkürzungswort und
seine bildliche Wiedergabe ein geheimes Erkennungszeichen in
Verfolgungszeiten, so ist die Abkürzungsseuche heute weit überwiegend
ein Ausdruck der immer noch wachsenden Aktenfreudigkeit
unserer Zeit. Doch schlägt dann und wann doch noch das
Urmotiv durch: denken wir nur an die ungeheure Wirkung der
Parole V =victory, auch in seiner Umsetzung in die gespreizten
Finger und in das Anfangsmotiv der V. Symphonie Beethovens.
Besonders bezeichnend ist nun aber für unsere Gegenwart, wenigstens
vor dem Eisernen Vorhang, die ungeheure Internationalisierung
des Lebens unter angelsächsischer, besonders amerikanischer
Führung; das muß sich auch in sprachlicher Beeinflussung
geltend machen. Die Technik der drahtlosen Übermittlung
ermöglicht heute eine ungemein rasche und weitreichende
Verbreitung der Nachrichten, und das Verlangen der Radiohörer
und Zeitungsleser nach blitzschneller, täglich mehrmaliger
Information zwingt alle dabei beteiligten Einrichtungen und
Menschen oft zu schnellster Arbeit in der Abfassung und Übersetzung
von Nachrichten und ganzen Aufsätzen. Dabei geht der
Einfluß des Radios weit über den der Zeitungen hinaus, und
zwar aus mehreren Gründen:
1. Das Radio erreicht unvergleichlich viel mehr Menschen als
die Zeitung, vor allem die Jugend, die sich um Zeitungen
wenig kümmert, aber dem Radio anscheinend rettungslos
verfallen ist.
2. Nach dem Umfang ist das, was der Durchschnittshörer
hört, ein Vielfaches dessen, was der Leser liest.
3. Gehörtes, zumal häufig und regelmässig Gehörtes, haftet
viel fester als Gelesenes.
4. Der einfache Deutschschweizer, für den die deutsche Hochsprache,
abgesehen von seltenen Vorträgen oder Predigten,
eine reine Schriftsprache war, unterliegt nun auch dem täglichen
Einfluß der gehörten Hochsprache nach Aussprache,
Sprachmelodie, Betonung, Wortwahl und Satzbildung.
5. Bei der gehetzten Übersetzung englischer und französischer
Texte kommen natürlich Fehler vor; beim Radio stellen
sie sich besonders leicht ein, können sie weniger leicht korrigiert
werden und wirken sie stärker und auf einen viel
weitern Raum.
Ich möchte daher aus der Fülle von sprachlichen Beobachtungen
an Presse und Radio einige solche Übersetzungsfehler behandeln.
Der Linguist, der sich vorwiegend mit den leicht feststellbaren
großen Sprachveränderungen der Vergangenheit befaßt,
sieht sich immer wieder vor die Frage gestellt: wo hat diese
oder jene Veränderung der Aussprache, diese oder jene grammatische
Neuerung, dieses oder jenes neue Wort begonnen, und
wie hat sich jeweilen das Neue ausgebreitet? Am liebsten
möchte er in der Sprache der Gegenwart solche Einzelfälle direkt
feststellen, um eine Grundlage für die Beurteilung früherer
Fälle zu gewinnen. Diesem Wunsch stellt sich aber ein fast unübersteigliches
Hindernis entgegen in der Tatsache, dass für
sprachliche Änderungen der Moment und Ort der Entstehung
nur in ganz seltenen Ausnahmefällen bekannt ist. Bei einer Reihe
von Neuwörtern des politischen Lebens läßt sich wohl aktenmäßig
feststellen, wann und wo sie geschaffen worden sind; ich
denke z. B. an die «United Nations Organization» samt der Abkürzung
«Uno» und an den entsprechenden französischen Ausdruck.
Aber Nachforschungen dieser Art dürften in den allermeisten
Fällen äusserst mühsam und zeitraubend sein. Die modernen
Wortneubildungen dieser Art sind zwar oft auf dem Weg
der protokollarisch erfaßbaren Organisationen entstanden, im
Unterschied von den mehr impulsiven Schöpfungen einer weniger
organisierten Zeit; dafür aber sind die Äußerungen der
Menge der heutigen kleinen und großen Organisationen viel unübersichtlicher
geworden.
Was sich aber an modernen sprachlichen Neuerungen verhältnismäßig
leichter beobachten läßt, das sind die Verbreitungswege,
wenn man sich etwa die Mühe nimmt, irgendwelche Einzelheiten
ein paar Monate oder Jahre hindurch an dem, was man
liest und hört, zu verfolgen. In diesem Sinne möchte ich nun
einige Übersetzungsfehler zu beleuchten suchen.
Gelegentlich hat man bei einem solchen Fehler den Eindruck,
er könnte erstmalig sein, und man hofft dann, er möge einmalig
bleiben. So schrieb eine Schweizer Zeitung am 2. Juni 1950: «In
Amerika mur man es sich gefallen lassen, dass in das Radioprogramm
plötzlich Reklamesendungen eingeblendet werden.»
Natürlich sollte es heissen: eingemischt; der Übersetzer hat das
englische to blend gedankenlos mit dem ganz anders gebrauchten
deutschen blenden wiedergegeben. 13
Bei andern Fehlern kann man sich gut vorstellen, daß sie leicht
auch andern passieren können. Ein Journalist schreibt in der
Übersetzung eines Schreibens eines welschen Anwalts: «Die zuständige
Behörde konnte diese Untersuchung nicht ignorieren,
denn sie war an der Sitzung. . . vertreten.» Aber man kann doch
sicher etwas ignorieren, d. h. unbeachtet lassen, auch wenn man
in der Sitzung anwesend ist. Gemeint war: elle ne pouvait pas
ignorer, d. h. «sie konnte nicht unwissend sein, sie musste es wissen»;
nur so versteht man die Fortsetzung: «Trotzdem fasste sie
die schwerwiegendsten Beschlüsse.» Ignorer und ignorieren ist
eben nicht dasselbe!
Wichtiger als solche Augenblicksfehler sind Übersetzungsfehler,
die sich in der Zeitungs- und Nachrichtensprache schon
durchgesetzt zu haben scheinen oder jedenfalls auf dem Weg
dazu sind. Ich greife einige heraus.
1. «Die Moral» im Sinn von Haltung, Stimmung. Das Französische
scheidet zwischen la morale «die sittliche Haltung», was
auch im Deutschen «die Moral» heisst, und «le moral». Das
Wörterbuch von Sachs-Villatte gibt für «le moral» die Übersetzungen:
«Mut in der Ertragung von Widerwärtigkeiten etc.,
remonter le moral d'une armee den Mut eines Heeres neu beleben.»
Dieser Unterschied wird verwischt, wenn heute oft von
der Moral der Truppe gesprochen wird statt von ihrer Ausdauer
oder Haltung. Aber hoffentlich lacht oder lächelt noch heute jeder,
wenn er die Worte eines Berichtes über die Tour de Suisse
liest: «Das Tricot gibt ihm die Moral. Und Moral ist Form!»
oder wenn sich einer zu der Frage versteigt: «Was wissen wir
Menschen von der Moral des Bären?» Das gediegene Verdeutschungswörterbuch
von Otto Sarrazin kennt in der fünften Auflage
von 1918 das Wort Moral nur in den Bedeutungen: «Sitten-,
Pflichten-, Tugendlehre oder -gesetz; Sittlichkeit, Pflichtgefühl,
Tugend...; Nutzanwendung, Lehre».
2. Kontrolle und kontrollieren ist im Deutschen so viel wie
nachprüfen, ob eine Angabe richtig ist, ob eine Rechnung stimmt,
ob ein Fahrausweis vorhanden ist, ob ein Auftrag richtig ausgeführt
worden ist. Aber sehr oft hört und liest man heutzutage
von einem Konzern, der die Mehrheit der Aktien kontrolliert,
von einer Großmacht, die ein Gebiet oder einen Produktionszweig
kontrolliert, das soll heissen: beherrscht. In einem Bericht
über den Alkoholismus in einem angelsächsischen Land war sogar
von der Selbstkontrolle die Rede. Im Englischen ist eben to
control «kontrollieren» und «beherrschen», und für self control
bietet jedes Wörterbuch das gutdeutsche «Selbstbeherrschung».
Auch der Bedeutungsumfang des französischen contrôle und
contrôler entspricht ziemlich genau dem des Deutschen.
3. Unter Autorität verstehen wir maßgebenden Einfluß, auch
eine in einem Fach allgemein anerkannte Person. Aber eine
Zeitung berichtete neulich aus Lake Success von der Schaffung
einer übernationalen Jordan-Wasser-Autorität, d. h. einer Behörde,
die sich mit dem Wasser des Jordans vom wirtschaftlichen
und politischen Standpunkt aus zu befassen hatte. Im Französischen
und Englischen ist autorité und authority nicht nur die
Autorität, sondern auch eine Behörde, besonders im Plural: les
autorités communales, the local authorities usw.
4. Die «Hochrheinschiffahrt», die Schiffbarmachung des
«Hochrheins», das «Tagblatt vom Hochrhein». Wir machen im
Deutschen einen Unterschied zwischen dem Hochland und dem
Oberland. Das Hochland hat eine beträchtliche Höhe über Meer,
ihm entspricht das Tiefland. Das Oberland aber ist am Flußlauf
orientiert wie sein Gegenstück, das Unterland oder die Niederlande;
so auch der Oberrhein und der Niederrhein. Aber im
Französischen heisst das Waadtländer Oberland le Pays-d'Enhaut,
und französische Departemente heissen z. B. Haute-Savoye
und Bas-Savoye, Haute-Loire, Haute-Marne und so jetzt auch
Haut-Rhin und Bas-Rhin. Aber der Haut-Rhin hat seine Entsprechung
im Oberrhein; Hochrhein ist undeutsch —ebenso undeutsch
wie der «Hochkommissar». Haut commissaire, high
commissar oder high commissioner muss mit Oberkommissar
übersetzt werden; noch besser, aber etwas schwerfällig wäre der
Oberbevollmächtigte. Den Hochkommissar könnte man allenfalls
mit dem Hinweis auf den einstigen Hochmeister des Deutschritterordens
rechtfertigen, nicht aber den Hohen Kommissar,
der gegenwärtig auch in unsern Zeitungen sein Unwesen treibt:
«hoch» als Beiwort von Behörden ist eine Ehrung: die hohe Regierung,
der hohe Bundesrat; so wäre auch eine hohe Kommission
nicht das Gleiche wie eine Haute Commission oder High
Commission; dies ist vielmehr eine Oberkommission 14 oder ein
Oberausschuß. La Haute Autorité ist die Oberbehörde, nicht die
hohe Autorität; aber ein Einzelner oder eine Körperschaft kann
hohe Autorität, hohes Ansehen haben.
5. Die Ruhr, die Saar. «Die Franzosen marschieren in die
Ruhr», «Minister X weilte in der Saar», «in der Saar fand eine
Kundgebung statt»: das ist französisch gedacht. Da es eine Anzahl
von französischen Departementen gibt, deren Name mit dem
eines Flusses zusammenfällt, z. B. Ain, Aisne, Allier, Marne,
Oise, Seine, so hat man schon am Ende des ersten Weltkriegs
aus dem Saargebiet eine Saar, aus dem Ruhrgebiet eine Ruhr gemacht.
Man wende nicht ein, unser «Tessin» sei auch zugleich
ein Fluß und ein Kanton; das stimmt nur für das französische
le Tessin und das italienische il Ticino. Aber das deutsche
Sprachgefühl hat sich dagegen gesträubt und scheidet: der Fluß
ist der Tessin, der Kanton das Tessin, gewissermaßen das Tessingebiet,
und die deutschsprachigen Kantone, die ihren Namen
vom Fluss haben, setzen «-gau» daran: der Aargau und der
Thurgau. Die sprachliche Unsicherheit zwischen Saar und Saargebiet
spiegelt so den politischen Kampf um dieses Land wider.
Auch der heutige Name des Landes Nordrhein-Westfalen ist
französisch gedacht: die preußische Provinz am Unterrhein hiess
Rheinland oder Rheinprovinz, nicht Nordrhein oder Niederrhein.
Es gibt aber sogar Beispiele eines grammatischen Fremdeinflusses
auf das heutige Deutsch. Wer mit deutschem Sprachgefühl
und ohne Kenntnis der chinesischen Geschichte von den
«großen Malern der Ming- und Tsing-Dynastien» liest, der sagt
sich erstaunt: es hat also offenbar in China mehrere Mingdynastien
und mehrere Tsingdynastien gegeben. Wenn er aber
von einem liest, der «Mitglied der gesetzgebenden und exekutiven
Räte von Singapore» sei, so wird er sich sagen, daß es doch sicher
auch in Singapore nur eine Konsultative und eine Exekutive geben
wird. «Die Schlüssel von Miami werden in den Staats- und
Stadtarchiven aufbewahrt werden»: das ist doch wohl nur je
ein Archiv. Jeder weiss heute, daß es ein Abkommen von Yalta
und eins von Potsdam gibt; aber eine mit einem Engländer verheiratete
Schweizerin schreibt: die Yalta- und Potsdamer Abkommen.
Und der Schweizer, der von den Albula-, Flüela- und
Grimselpässen sprach, wußte doch wohl, daß das drei einzelne
Pässe sind; vielleicht wollte er mit einem Sprachfehler Fremdenwerbung
treiben? Von den Saas- und Binntälern war kürzlich
am Radio zu hören. Von der Sprachgrenze stammt die Übersetzung:
«Schiffahrtsgesellschaft der Neuenburger- und Murtenseen».
In einem Reuterbericht aus London über den Atlantikpakt
stand zu lesen: «die dritten und vierten Artikel» statt «der
dritte und vierte Artikel». Wir befinden uns wieder im Bereich
des englischen und französischen Einflusses; das Englische sagt:
the third and fourth articles, das Französische: les troisième et
quatrième articles.
Damit mag die kleine Auswahl von modernen Fremdeinflüssen
im Deutschen geschlossen werden. Es liegt mir daran, nochmals
mit allem Nachdruck zu betonen, daß meine Ausführungen zwar
auf vielen Einzelbeobachtungen beruhen, aber nicht auf breitesten,
systematischen Materialsammlungen, wie sie für eine streng
wissenschaftliche Behandlung nötig wären. Wie solche durchzuführen
sind, das zeigt in vorbildlicher Weise die Berner Dissertation
unseres Kollegen Siegfried Heinimann vom Jahr 1944
über «Wort- und Bedeutungsentlehnung durch die italienische
Tagespresse im ersten Weltkrieg» 15; für Arbeiten dieser Art ist
noch überreichlich Raum!
Ich habe mich trotz der Unvollkommenheit meines Materials
nicht auf die Feststellung von Fremdeinflüssen beschränkt, sondern
auch innerdeutsche moderne sprachliche Entwicklungen,
Veränderungen, Neuerungen gestreift und daraus Schlüsse zu
ziehen versucht. Wir wissen alle, daß unser Jahrhundert nicht
nur grosse politische, militärische, wirtschaftliche und technische
Umwälzungen, sondern, teils als ihre Ursache, teils als ihre Folge,
geistige, moralische, ideologische, weltanschauliche Umwertungen
gebracht hat; einzelne sprachliche Auswirkungen dieses Umbruchs
wollte ich hervorheben. Es ging mir nicht entfernt um
eine Kulturkritik der Gegenwart, nur um bescheidene Beiträge
zur Sprachkritik. Ein bei Laien und zum Teil auch bei Sprachgelehrten
besonders beliebtes Sondergebiet der Ausdeutung
sprachlicher Tatsachen habe ich seiner ganz besondern Gefährlichkeit
wegen gemieden: die Rückschlüsse von grammatischen
Tatsachen aus auf die geistige und moralische Qualität ganzer
Völker. 16 In solcher Charakteristik von Völkern aus ihrer Sprache
heraus entlädt sich gern die politische Antipathie gegen andere
Völker, bei uns etwa auch die Neckerei von Kanton zu Kanton
oder das Überlegenheitsgefühl über die Sprachgrenze hinüber;
kein Wunder, daß dann sozusagen ausnahmslos die Sprache des
andern Teils auf geistige Minderwertigkeit oder auf Bosheit, die
eigene auf Genialität oder Ehrlichkeit oder sonst eine prächtige
Eigenschaft gedeutet wird. Der französische Sprachforscher
Aurélien Sauvageot hat kürzlich diese Methode so charakterisiert 17:
«Disons notre inquiétude devant ce genre de philosophie
linguistique. De pareilles élucubrations ne mèneront à rien de
bon. II ne suffit pas de pêcher au petit bonheur tel ou tel détail
de la structure d'une langue pour en inférer que les sujets qui la
parlent présentent telle ou telle particularité mentale. Il faut repérer
le sens exact de cette particularité, sa fonction, son rendement
et se demander si la même chose n'est pas exprimée ailleurs
par des procédés équivalents bien que dissemblables en apparence.
II s'agit, en d'autres jeunes, de découvrir si la categorie
linguistique est superposable à celle de la pensée.» In der Tat:
das Urteil über den Nachbarn ist zuerst da, und dann sucht man
es hintendrein mit sprachlichen Argumenten zu rechtfertigen.
Auf der andern Seite ist aber nicht zu leugnen, daß die Sprache,
da sie der vollkommenste Ausdruck des menschlichen Denkens
ist (vollkommener als die Kunst), weitgehend die Spiegelung des
menschlichen Denkens sein muß. Aber eben: die Frage ist, wie
weit das tatsächlich der Fall ist. Gewiß hat die Sprache den
Zweck, das gesamte Denken und Fühlen des Menschen genau
widerzuspiegeln; aber sie ist eine menschliche Schöpfung und
Leistung und deswegen notwendig unvollkommen; darum ist es
Aufgabe einer verantwortungsbewußten Sprachwissenschaft, die
Grenzen der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen
und sich dabei der eigenen Grenzen stets bewußt zu bleiben, und
das um so mehr, je näher der einzelne Forschungsgegenstand der
eigenen Gegenwart liegt. Die Unvollkommenheit der Sprache
äussert sich ja Tag für Tag in der Tatsache, daß Angehörige derselben
Sprachgemeinschaft sich immer wieder mißverstehen, und
das Erstaunliche ist nicht diese Möglichkeit des Mißverstehens
oder Nichtverstehens, sondern die andere Tatsache, daß unter
Menschen überhaupt in so hohem Maße ein Sichverstehen möglich
ist.
Damit rühren wir an eines der allerwichtigsten Probleme des
menschlichen Lebens, das grundlegende und ewige Problem des
Verhältnisses des Einzelnen zur Gemeinschaft. Die besondere
Gestaltung der menschlichen Gemeinschaftsformen im Unterschied
von den tierischen ist entscheidend bedingt durch die Besonderheit
der menschlichen Sprache als eines Werkzeugs der
Mitteilung und der geistigen Verständigung. Aber die Sprache
teilt mit allen andern Werkzeugen des Menschen die Eigenschaft,
daß sie mißbraucht werden kann: die ganze Stufenleiter
von der Einzellüge oder Einzelbeschimpfung bis zur hochoffiziellen
Lügenpropaganda gegen ganze Völker entspricht der Entwicklung
von den primitivsten Waffen bis zur Atombombe. Sind
wir uns bewußt, dass jeder von uns, ganz besonders aber der Student
und der Akademiker, mitträgt an der ungeheuren Verantwortung
zur Pflege einer Gesinnung, die solchen Missbrauch
nicht nur der Technik, sondern auch der Sprache verhindert —
der Sprache, die doch das höchste Gut der menschlichen Kultur
ist?
Anmerkungen