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Vertikalität als Denkrichtung

Rektoratsrede
gehalten am 14. November 1953 an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule von
Professor Dr. Karl Schmid
Polygraphischer Verlag A.-G. Zürich • 1954

Gesetzt, die existenzielle Unverwechselbarkeit des Menschen in der Geschichte, in der jeweiligen geschichtlichen Entscheidung, müßte der Gegenstand der Geschichte als Wissenschaft sein, so wäre damit ohne Zweifel ihre Unteilbarkeit gefordert. Sie ertrüge keine Auffächerung in politische Geschichte und Kulturgeschichte, in Geistesgeschichte und in die zahllosen Geschichten der einzelnen Wissenschaften, Künste, Techniken und Institutionen. Es bedarf keiner Erläuterung, daß eine solche ungeteilte Geschichte uns nicht möglich ist. Aber als Idee ist sie so wenig zu bezweifeln wie unsere Überzeugung, daß das Ganze einer Generation oder einer geschlossenen Kultur immer etwas anderes und mehr ist als die Summe alles dessen, was die Einzelgeschichten über sie aussagen können.

Der Abgrund zwischen unserem Wissen von einer Epoche und ihrer existenziellen Gestimmtheit wird vom Gestaltungswillen des Historikers überbrückt. Vor allem ist es die Geistesgeschichte, die in die Lücke springt und, wissentlich oder unwissentlich in den Spuren Hegels, dort, wo eine Generation in ihrem existenziellen Sosein uns versiegelt ist, diese ideengeschichtlich versteht, indem sie sich an die Inhalte ihres Denkens hält.

Im Zuge der Desillusionierungen, an denen das 20. Jahrhundert reicher ist als andere, hat aber in der europäischen Menschheit die Vermutung um sich gegriffen, daß auch die geschichtliche Erkenntnis in dieser Hinsicht so etwas wie einer Unbestimmtheitsrelation unterliegen könnte: je präziser der geistige Ort einer Generation bestimmt wird, um so geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß wir die ihr innewohnenden Entwicklungsmöglichkeiten, die Richtungen, nach denen sie sich wenden könnte, in ihrer ganzen Fülle wahrnehmen. Denn die ideengeschichtliche Fixierung einer Epoche wird dieser nur in ihrem Denken habhaft, in ihrer Wachheit, aber in welcher Zeit wäre nicht das Schlummernde auch? Die Gefahr der Geistesgeschichte liegt in den großen Namen, darin, daß wir eine Epoche mit ihren größten Söhnen verwechseln. Ist die Zeit um 1740 wirklich durch Leibniz repräsentiert? Diejenige um 1800 durch

Kant? Diejenige um 1880 in Nietzsche? Die Vorgänge, durch die das Denken der Größten einer Zeit sich, in Kaskaden sozusagen, ausbreitet und zur Wirksamkeit, zur Auswirkung gelangt, sind von der schwierigsten Vielfalt und nehmen Jahrzehnte, nicht selten aber auch Jahrhunderte in Anspruch. Und nicht das allein: das so hinab und zur Wirkung Gelangte ist immer auch ein von der Mit- und Nachwelt Verwandeltes, nämlich Anverwandeltes.

Die Vorstellungswelt aber und die existenzielle Gestimmtheit einer Generation, die Sensationen und Intentionen, in denen sie lebt, all das ist unsäglich viel komplexer, als daß es durch einen einfachen geistesgeschichtlichen Exponenten, der oft genug mehr nur einen philosophiegeschichtlichen Punkt bezeichnet, hinlänglich bestimmt oder symbolisiert werden könnte. Die geschichtliche Darstellung durch den Historiker muß immer auf Linearität ausgehen, aber auch wenn die Kunst der fugischen Nachzeichnung der Jahrhunderte bis ins Subtilste, Reichste und Schwierigst-Konstruktive vorgetrieben wird, kann sie der objektiv-wirklich vorhandenen Seelenverfassung nicht gerecht werden — kann es nicht, weil sie das Polyphon-Gleichzeitige in ein transitorisches Nacheinander auflösen muß. Lessing, der den Begriff des Transitorischen im «Laokoon» so verwendete, empfahl dem bildenden Künstler, der ein Bewegtes festzuhalten unternimmt, den «fruchtbaren Moment» herauszuheben. Aber was ist der fruchtbare Moment einer Zeit, jenes pars pro toto, das das Ganze über den dargestellten Teil hinaus intuitiv erschauen ließe?

Wüßten wir es für unsere Zeit namhaft zu machen? Ist irgendein Faktum geistiger, politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, künstlerischer Art zu denken, das wir als stellvertretend für unsere Zeit anzusprechen uns bereit finden könnten? Stellvertretend in dem Sinne, wie wir die griechische Plastik des 5. Jahrhunderts so leicht als Ausdruck und Symbol jener Zeit nehmen, oder das höfische Epos für die Wende des Hochmittelalters, oder die französische Revolution für das Ende des 18. Jahrhunderts. An Vorschlägen dürfte es zwar nicht mangeln. Die Atombombe, die Relativitätstheorie, die Psychoanalyse, der Existenzialismus, die Weltkriege, der Kommunismus, die Zwölftonmusik, die surrealistische Malerei und

so fort — jedes dieser Ereignisse bedeutet für Ungezählte unserer Zeitgenossen das eigentlich unsere Zeit Charakterisierende, das, worin sie ihr Wesen zu Tage treten sehen. Angesichts einer solchen Fülle, eines solchen Wirrwarrs der Diagnosen drängt sich die Vermutung auf, daß wir eben in verschiedenen Geschichten leben. Sie drängte sich auf, wäre nicht auch das Gefühl der «one world», der einen und unteilbaren Schicksalsgemeinschaft aller zivilisierten Völker so ungemein mächtig, wären nicht auch die Querverbindungen so augenscheinlich: von der Wissenschaft zur Kriegführung, zwischen den Künsten, von der Psychologie zu den Literaturen, von der Politik zur Kultur, und dergleichen mehr. Gäbe es nicht jene allgemeine, im Kern meist doch wohl angstvolle Neugier, mit der die ungeheure Menge der Menschheit die Fortschritte der Wissenschaft und der Technik, aber auch die Fanfaren der geistigen und künstlerischen Avantgarden verfolgt. Und wäre vor allem nicht jene intuitive Ahnung da, daß sich an all diesen auffälligsten Manifestationen des modernen Geistes der westlichen Welt ein Gemeinsames ablesen lasse.

Es gibt, wie wir wissen, schon eine Reihe ernstzunehmender Versuche, des gemeinsamen Gesetzes der physikalischen, biologischen, psychologischen, philosophischen, künstlerischen Entwicklungen unseres Jahrhunderts habhaft zu werden; es seien als Beispiele B. Bavink, K. v. Neergaard, P. Jordan, A. Weber, J. Jeans, J. Gebser, L. Ziegler genannt. Der Sprechende würde sich nie unterfangen, diese synthetischen Entwürfe um einen weiteren zu vermehren. Aber die kleine Spanne Zeit mag dazu dienen, vor einem Auditorium von der größten Vielfalt und inneren Geistesverschiedenheit einen Gedanken anzudeuten, der in dieses Gefüge gehört und genau derjenigen Ahnung seinen Ursprung verdankt, von der soeben die Rede war. Nichts kennzeichnet diesen Gedanken mehr als seine Unbestimmtheit, und er darf ihr wohl, als seinem Elemente, vorläufig nicht entrissen werden.

Zu den Merkmalen unserer Zeit gehört unbestritten der beispiel. lose Abbau von Grundlagen und fundamentalen Strukturen, die noch für die Welt des 19. Jahrhunderts den Rang von Schöpfungs-Selbstverständlichkeiten besaßen. Wir nennen die soziologische Krisis

des Bürgertums und die mächtige Anwesenheit der kommunistischen Gegenwelt heute, nicht mehr nur vor den Toren Europas, sondern osmotisch schon seine Ränder ergreifend und Kernbezirke störend. Oder den Nihilismus, der sowohl humanistisch-idealistische wie religiöse Voraussetzungen der alten Geisteswelt zunichte macht. Oder die Verwandlung der Künste, die aus Bereichen der Heilheit zu Kernen der Fragwürdigkeit geworden sind. Oder die Fundamentalveränderungen, die sich in der neuen Physik abzeichnen und in ein paar Schlagwörtern von hoher Virulenz, wie Relativität, Akausalität, Auflösung von Zeit, Raum und Stetigkeit das Ihrige beitragen zur Zermürbung apriorischer Böden des überkommenen Denkens; leicht kommt es da zu einer Götterdämmerungsmystik von eschatologischer Prägung. Oder die Tatsache, daß der technische Fortschritt für den Laien durchaus die Dimension des Quantitativen, des Immer schneller, Immer weiter, Immer größer zu verlassen beginnt; die Träume — die Tagträume und die nächtlichen —, die ihm entsprechen und denen er entspricht, sind nicht mehr durch die gesteigerte Fähigkeit des Menschen gekennzeichnet, sondern durch seine gesteigerte Gefährdung, nicht durch den Zauberteppich, sondern durch die Angst des Zauberlehrlings. All dies ist bekannt genug.

Dieser «Abbau» mag innerhalb der einzelnen Wissenschaft oder Kunst für den Mann vom Fach durchaus die Kennzeichen des Fortschrittes, der berechtigten und tief notwendigen Aufgebung überholter Voraussetzungen und Formen besitzen. Für die große Menge hingegen trifft das nicht zu. Für das Existenzgefühl unserer Zeit sind nun aber nicht so sehr die Geisteshaltungen der einzelnen Wissenschaften und Künste maßgeblich; das Existenzgefühl der Massen ist durchaus nicht mit der Summe der zeitgenössischen wissenschaftlichen Theoreme und der stilistischen Intentionen der einzelnen Künste in Verbindung zu bringen. Die Fundamentalgefühle der Unsicherheit und der Angst eignen sich mit selektiver Gewalt aus allen Lebensbereichen an, was ihnen entspricht. Und je unbestimmter und vorstellungsärmer die Schlagwörter sind, die wie stumme große Vögel den dunkeln Himmel über unserer Zeit durchziehen, um so stärker werden sie affektivisch verstanden und nähren die Angst. Als

Beispiel diene «Akausalität» oder «Verwandlung von Masse in Energie» oder, aus einem ganz anderen Bereich, «das Unbewußte» — Wörter ohne bestimmten Sinn, Fremdwörter all dies für neunundneunzig von hundert Zeitgenossen, und daher Angstwörter.

Wie immer, ist auch in diesem Falle die Angst begleitet von ihrer seelischen Gegengestalt, der Faszination. Wenn die eine dieser Schwestern vor den Rissen zurückschrickt, die den Boden zu durchziehen beginnen, so beugt sich die andere über die sich öffnenden Abgründe und vermag das Auge nicht davon zu lösen. Die Blickrichtung des europäischen Gebildeten geht heute nicht mehr in dem Maße wie bis 1914 nach vorwärts, über die Horizontale sozusagen, über das Feld, in dem man fortschreitet. Der beglückende Ausblick nach dem «vor uns», nach künftigen, lockenden Zielen ist nicht an der Zeit; der Einblick, die Standortbestimmung sind es viel mehr. Mag sein, (laß eine Unterscheidung zwischen der Haltung des europäischen Intellektuellen einerseits, des amerikanischen oder russischen andrerseits sich hier aufdrängt, daß für diese die Faszination noch immer von der Ebene der Horizontalität, als dem Felde des Fortschritts und des Habhaftwerdens ausgeht, von der Verheißung immer größerer Gewinne an diskursiver Erkenntnis und Bemächtigung des Kosmos.

Demgegenüber läßt sich feststellen — und es dürfte dies zu den von keiner Einzelgeschichte leicht zu erfassenden Kennzeichen unserer Zeit gehören —, daß in den letzten Jahrzehnten die andere Richtung, die Vertikalität, in erstaunlichem Ausmaße zur Bedeutungsrichtung der unbewußten und der gesteuerten Fragen geworden ist. Zur Bedeutungs- und Verstehensrichtung, die so für die Innen- wie für die Außenwelt gilt. Denn das Verhältnis zwischen diesen ist, und das gehört zum selben Strukturwandel, ebenfalls in Wandlung begriffen. Die Grenzsteine, die Kant setzte, werden bezweifelt; die Epoche des intellektuellen Angriffs auf die Außenwelt, den diese mit der gewaltigsten Bedrohung der Innenwelt beantwortete, neigt sich ihrem Ende entgegen. 1 Hier sind Integrierungen im Gange, die, wenn wir im Bilde sprechen wollen, die Horizontale der intellektuellen

Extensität durch die Vertikale der seelischen Intensität zu neuen Zeichen zu ergänzen beginnen. Nicht: Was erobern wir? Wohin schreiten wir vor? fragen wir, sondern: Worauf ruhen wir auf? Was liegt zugrunde? — das mag den entscheidenden Wechsel der Intentionsrichtung bezeichnen. In die Hunderte, die Tausende gingen die Beispiele, mit denen sich das an den nervösesten Seismographen der Literatur und der anderen Künste belegen ließe. Nicht zufällig ist, um ein einziges Beispiel zu nennen, Kafka zur Zeit einer der auf der ganzen Welt bekanntesten Autoren.

Die Gefahr ist offenbar groß, daß wir hier einer höchst, einer unverantwortlich unbestimmten synaesthetischen Intuition nachgeben, die im Worte von der «Vertikalität» bloß scheinbar begriffliche Festigung gewinnt. Dazu ist zu sagen: es handelt sich, wenn wir von strukturierender Mächtigkeit der Vertikale sprechen, tatsächlich nicht um einen Begriff. Die Steuerung des Suchens, Fragens, Intuierens, Denkens, Forschens, die wir hier meinen, geschieht keineswegs aus einer Schicht heraus, die durch Begrifflichkeit gekennzeichnet wäre. Vertikalität ist ein Bild, aber nicht ein Bild für irgend etwas anderes, was ich ebenso gut und präziser auch begrifflich sagen könnte. Begriffe sind manipulierbare Instrumente unseres Denkens. Vertikalität als Bedeutungs- und Denkrichtung aber ist, wie andere solche Inbilder archetypischen Rangs, wirkend und in Kraft schon in dem Augenblicke, in dein ich zu fragen und zu denken beginne. Solche Strukturen setzen uns die Ziele, wo wir uns nur der Wege bewußt werden. Gerade weil Vertikalität als Denkrichtung durchaus nicht mit irgendeiner wissenschaftlichen Methode oder einem künstlerischen Stil gleichzusetzen ist, erlaubt sie vielleicht, eine Verstehensbrücke zu schlagen über die Aufgeteiltheit einer Zeit hinweg, der Universitas schon lange abhanden gekommen ist.

Es sei auf ein paar wenige Bereiche und Vorgänge hingedeutet, in denen sich solche Vertikalität als Kennzeichen des Denkens unserer Zeit feststellen läßt. Einmal muß jene teilweise auf philosophische Anstöße zurückzuführende literarische, dann aber weit über die Literatur hinauswirkende Denkweise, die wir als Existenzialismus bezeichnen, hier genannt werden. Einem Komplex von Vorstellungen

und affektivem Verhalten, der durch Wörter wie Geworfenheit, condition humaine, dann aber auch durch die scharfe Gegnerschaft gegenüber jeglicher Ideologie gekennzeichnet ist, liegt ein Verständnis des Menschen zugrunde, das mit alten Vorstellungen des stehenden, schreitenden, fortschreitenden, bildsamen und gehaltenen Geschöpfes wenig mehr gemeinsam hat. Wo die spezifische Existenz des Menschen, wie es die anthropologischen Ansätze in den ontologischen Bemühungen Heideggers und Sartres zeigen, schlechthin daran gebunden erscheint, daß er ein über den Abgrund gehaltenes Wesen ist und das Nichts zu erfahren hat, bricht die Grundstruktur der Vertikalität durch; ob dabei Freiheitspathos oder Angst das Bild tönen, ist sekundär.

Viel umfassender in seiner Auswirkung auf das Lebensgefühl unserer Zeit ist ein psychologisch-anthropologischer Vorstellungskomplex, der von der Freudschen Entdeckung der Mächtigkeit des Unbewußten, vom Unbewußten als Fundament der Seele ausgeht. Hier ist im Worte Unter-Bewußtsein, wie es in der Umgangssprache gilt, wie im Begriffe der Tiefenpsychologie die örtliche Richtung schon aufs deutlichste bezeichnet. Wie stark diese Vorstellung vorn «Unteren», die in ihm bedrängend eingeschlossen ist, unser Selbstverstehen, aber auch unser Verhältnis zum Geiste schlechthin und zu den Phänomenen der sogenannten objektiven Kultur bestimmt, ist von uns nur schwer zu erraten. An Inhalte des bewußten Denkens ist das schon nicht mehr geknüpft. Nur ein Mensch des 19., gar des 18. Jahrhunderts nähme die Veränderung sogleich in ihrem ganzen Gewichte wahr. Es ist ein Wandel, der bildlich gesprochen dem Übergang von der Topographie zur Geologie entspricht. Anders entstandene und anderswo beheimatete Theorien, die in vergleichbarer Weise «reduzierend» waren, d. h. auf Unteres und Älteres zurückführten, wie die marxistische Geschichtsphilosophie, mit ihrem Rückweis auf die ökonomischen Verhältnisse, oder der Häckelsche Positivismus sind von den bürgerlichen Generationen um die Jahrhundertwende, die wohl nicht «idealistischer», aber unangefochtener und geistig hochmütiger waren als wir, als Materialismus von der Hand gewiesen worden, als etwas nicht eigentlich Gesellschaftsfähiges. Mit der Tiefenpsychologie ging es einige Jahrzehnte nicht anders. Die

herrschende Schicht des Denkens und der konventionellen Affekte war nicht gesonnen, Spartakusaufstände des Unteren zuzulassen; dem moralischen Bürger-Dekalog des «Das tut man nicht» entsprach ein «Das denkt man nicht, das läßt man nicht zu». Das geht nun aber nicht mehr. Wenn der eigentliche Columbus, Sigmund Freud, noch moralisch bemäkelt werden konnte, so hat sich, was er als Kontinent zu entdecken glaubte, der nur vom einen Element der abscheulichen Libido geprägt gewesen wäre, seither, wie Peru, als ein Bereich erwiesen, in dem uralte Strukturen von emotionaler Kraft zu erfühlen sind — aber dieses Amerika liegt nicht neben, sondern unter uns; unsere Träume nicht nur, sondern auch unser Fühlen und selbst unser Denken ruhen ihm auf.

Die Frage ist, ob dieses Strukturgesetz der Vertikalität nur außerhalb der Wissenschaft das Lebensgefühl regiere und höchstens vielleicht noch innerhalb der sogenannten Geisteswissenschaften sich auswirke, die nicht voraussetzungslos und deren Methoden zugestandenermaßen Funktionen des subjektiven Standortes und Erkenntniswillens sind. 2 Zu dieser Frage mögen sich die Fachleute äußern. Auf den sogenannten «Holismus» und die von ihm angestrebte Vertikalverbindung zwischen den verschiedenen Stufen, bzw. Schichten sei hier, als auf einen Sonderfall, bloß am Rande verwiesen. 3 Ohne Zweifel ist der praktische Gang der wissenschaftlichen Forschung auf den Gebieten der mathematisch-physikalischen und der Naturwissenschaften von bewußten subjektiven Intentionen wenig beeinflußt. Aber auch hier lassen sich, wie es scheint, Frage-Richtungen und geistige Bedürfnisse erkennen, die begründeterweise unter Vertikalität subsumiert werden dürfen. Wir denken etwa an die Bedeutung der sogenannten «Grundlagen». Grundlagenforschung verhält sich offenbar zur üblichen, traditionellen Forschung auf einem Gebiete nicht wie das jüngst in Angriff genommene Straßenstück zu den längst gebauten. Sondern äußere, erkenntnistechnische (Heisenberg) und innere, erkenntnistheoretische Gründe und Bedürfnisse

führen dazu, daß Voraussetzungen auf ihre apriorische Qualität hin kritisch überprüft werden. Es ist doch immerhin von höchstem Interesse, wenn Wolfgang Pauli in seiner Studie über den «Einfluß archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler» ganz allgemein formuliert: «Im Gegensatz zur rein empiristischen Auffassung, wonach die Naturgesetze aus dem Erfahrungsmaterial allein praktisch mit Sicherheit entnommen werden können, ist von vielen Physikern neuerdings wieder die Rolle der Richtung der Aufmerksamkeit und der Intuition bei den im allgemeinen über die bloße Erfahrung weit hinausgehenden, zur Aufstellung eines Systems von Naturgesetzen (d. h. einer wissenschaftlichen Theorie) nötigen Begriffen und Ideen betont werden.» 4

Wo die Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnisse in solcher Art aus der Tiefe des Subjekts heraus verstanden wird, ist es um die unangefochtene Geltung der transzendentalen Erkenntniskritik Kants offenbar geschehen. Jene fest montierten Schlagbäume zwischen der Innen, und der Außenwelt sind, wie es scheint, zu ersetzen durch ein System von Schleusen oder Stockwerken des Übergangs, deren Struktur die sogenannten Natur- wie die sogenannten Geisteswissenschaften heute gleicherweise beschäftigt.

Denkt man an den Gang der europäischen Geistesgeschichte zurück, so kann man sich der Vermutung nicht verschließen, daß diese wieder einmal aus dem Zeichen des Aristoteles in dasjenige Platons hinüberwechsle. Die ungeheuerste materielle Aneignung der Welt, eine unvergleichliche Diastole strebt nach Ergänzung durch eine überfällige Systole, durch einen Akt der Gründung, der die lebensgefährliche Dominanz der Außenwelt zu brechen im Begriffe und willens ist. 5

Zwei bisher noch nicht genannte Symptome lassen ebenfalls mit großer Sicherheit auf diesen Richtungsumschlag aus dem «Felde» in

die «Tiefe» schließen. Eine der unvermeidlichen Folgen der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung der Neuzeit ist die sogenannte Spezialisierung. Das Gefühl der Individuation, der schmerzlichen Vereinzelung, phylo- und ontogenetisch eines der Urgefühle der Menschheit, verbindet sich heute mit dieser konkreten Erfahrung der Spezialisierung und steigert sie bis zum Leiden. Die Gründe hierfür liegen nicht so sehr und auf alle Fälle nicht allein in dem bekannten objektiven Umstand, daß die berufliche Spezialisierung heute weiter getrieben ist als früher. Die subjektive, innenweltliche Tatsache, daß der mittelalterliche Mensch, als religiöser Mensch, im Mythos der Ausstoßung aus dem Paradies, in der Gotteskindschaft und in der Heilsgewißheit des Glaubens die Korrektive gegen die Angst der Individuation besaß, ist von größerem Belang. Wo diese religiöse Gehaltenheit fehlt, wird der Schmerz frei; aus seiner Not heraus kommt es zu der Suche nach neuen Integrierungen. (Integrierung ist heute geradezu ein Modewort.) Zu den Kennzeichen unserer Zeit gehört nun, daß solche Integrierung von einer Menschheit, die transzendente Bindungen nicht mehr erblicken kann, durch Bindung nach unten gesucht wird. Für den Humanismus alter Observanz, wie er unsern Schulprogrammen noch immer zugrundeliegt und seiner Herkunft nach auf den Beginn des 19. Jahrhunderts zurückgeht, galten idealistische Voraussetzungen, über die er sich ausschweigen durfte. Wo, wie es für ihn der Fall war, der Ort des Menschen zwischen dem göttlichen Geiste und der Kreaturhaftigkeit unzweifelhaft war, durfte Universalität der Bildung als Ziel angegeben werden. Das Geäst dieser allgemeinen Bildung bat nun seine selbstverständliche Tragkraft verloren. Da der Stamm der Transzendenz, dem es entwuchs, morsch wurde, geht der Blick auf neue Wurzelung; nicht Universalität seiner Bildung, sondern Totalität seines Wesens scheint dem Menschen heute not zu tun. Zu den Symptomen unserer Generation gehört, daß der Mensch die Not seiner metaphysischen Vereinzelung und physischen Gebrechlichkeit zu überwinden sucht durch die Bemühung um seine Struktur, um das Zugrundeliegende, durch den Gang in die Tiefe. Der Psychiater löst den Priester ab, und Renaissancen des Archaischen die eschatologische Hoffnung. Ein Humanismus, der keine Abgründe zu integrieren sich scheut und

jede Tiefe bejaht, glaubt an die unteren Weihen der Ganzheit. Er leugnet Gott nicht, weil er seinem Bilde auch in der Tiefe begegnet.

Und auf etwas Letztes sei hingewiesen; es biegt die Gedanken an unseren Beginn zurück. Gemeinsam ist all diesen vertikalen Denkstrebungen, daß sie auf Schichten stoßen, zu deren verstehendem Erfassen eine durch Begriffe geprägte und auf Begriffe zielende Sprache nicht ausreicht. Die daher rührende Aporie Heideggers und seine Versuche einer Bedeutungsaufwertung der deutschen Sprache aus ihren etymologischen Gründen heraus sind bekannt. Die archetypischen Verhaltens-Strukturen, auf die C. G. Jung im Kollektiven Unbewußten stößt, gehören einer Kategorie sui generis an und sind rationalistisch-statisch nicht faßbar. Auch die moderne Physik greift zum Symbol. Der Zeitgenosse, der keinem dieser Gebiete besonders verhaftet ist, der aber von diesen Entwicklungen dies und jenes willentlich oder zufällig auffängt, empfindet als Gemeinsam-Wesentliches die Tendenz, eine hemmende Begrifflichkeit aufzubrechen, und die Neigung, nach dem Brot der Bilder zu langen, da die überkommenen Speisen schal geworden sind. Energetische Kraft scheint Begriffen nun nicht mehr innezuwohnen; in dieser Hinsicht liegt ein Abgrund zwischen der Aufklärung und uns. Wir sind heute anzuerkennen bereit, daß es Räume und Bereiche gibt, vor deren Betreten man die Waffen ablegt, auch die Waffen der Begriffe; ihr Klirren verträgt sich nicht nut der Stille, in der wir dem nicht von uns Geschaffenen begegnen wollen. Der Gang zu den Müttern, auch zu den Müttern der Erkenntnis, ist angetreten; das Alphabet der Erkenntnis wird zurückbuchstabiert; unter den Begriffen erscheinen die Ideen Platons als die eigentlichen «Insichtbringerinnen des Seienden», wie Leopold Ziegler sie nennt 6, und unter diesen, in der Frühe der Menschheit, einer Frühe, die uns nicht verschlossen sein muß, die unsterblichen Bilder von überzeitlicher Gültigkeit. So wie die Energetik der Seele eine Energetik aus ihrer Tiefe heraus ist, aus der Tiefe der Zeit heraus, und aus der sozusagen örtlichen Tiefe, in der sie dem Kreatürlich-Leiblichen noch eingeschlungen ist, so ist zeitgenössisches Denken stets willens, auch die Phänomene des Geistes

und der Kultur nur dann als verstanden zu bezeichnen, wenn es gelingt, sie aus der Tiefe ihrer Energetik und Energetik des ihnen Zugrundeliegenden heraus zu verstehen. Zwei anscheinend apriorische Grenzen des bewußten Denkens werden dabei in Zweifel gezogen und durchlässig: seine Grenze gegenüber dem Unbewußten und die andere gegenüber der sogenannten Außenwelt.

Das tönt gefährlich nach einer Wiederherstellung vorsokratischer, ja magischer Denkstufen. Aber die Tatsache, daß uns überkommene Prämissen fragwürdig werden, heißt in keiner Weise, daß wir einem unkritischen Archaismus verfallen müßten. «Ein Rückgriff auf den archaischen Standpunkt», sagt W. Pauli, «dessen Einheit und Geschlossenheit mit einer naiven Unwissenheit über die Natur erkauft war, ist für den Modernen offenbar ausgeschlossen. Dennoch veranlaßt ihn gerade sein starker Wunsch nach einer größeren Einheitlichkeit seines Weltbildes, der erwähnten Bedeutung der vorwissenschaftlichen Stufe der Erkenntnis für das Werden der wissenschaftlichen Ideen dadurch Rechnung zu tragen, daß der Untersuchung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nach außen eine Untersuchung dieser Erkenntnisse nach innen an die Seite gestellt wird. Während erstere die Anpassung unserer Kenntnisse an die äußeren Objekte zum Gegenstand hat, sollte letztere die bei der Entstehung unserer wissenschaftlichen Begriffe benützten archetypischen Bilder ans Licht bringen. Nur durch beide Untersuchungsrichtungen zusammengenommen dürfte sich nämlich eine Vollständigkeit des Verstehens erreichen lassen» 7 Das erinnert, auf der Stufe völliger Objekts- und Subjektsbewußtheit, an die intuitiven Sätze Franz von Baaders: «Denn jeder Geist forschet nur seine eigene Tiefe, und dasjenige, darinnen er sich entzündet (darin sein Lebensfeuer brennt); und wiewohl es ist, daß er in seiner Entzündung auch außer sie forschet, so findet er doch nicht mehr, als des Dinges Vorbild (Figur) gleich einem Schatten oder Traum; das Wesen mag er nicht schauen, denn so er das Wesen schauen will, so muß er in dem Wesen seyn, auf daß er dessen fähig in ihm, dem Wesen, selber sehe.» 8

So hat sich die Frage nach den Gründen der Erkenntnis und nach den Gründen des geistigen Schaffens verwandelt; Gründe übersetzt nicht mehr nur «causae», sondern «fundamenta»: das Zugrundeliegende, das aus dem Grunde sich Regende, aus den Gründen Wirkende

Weiter kann hier nicht gegangen werden. Mehr als ein Bild ist Vertikalität nicht, aber, so sind wir zu sagen berechtigt, auch nicht weniger. Der Versuch, den Nenner unserer Zeit zu finden, indem wir irgendeinen bestimmten Begriff aus einer Einzelwissenschaft zu ihm stempeln — etwa die «Akausalität», oder die «Überwindung von Zeit und Raum» — geht nicht ohne Systemzwang ab. Kein Begriff keines Sonderbereichs kann unbesehen auf irgendein anderes Gebiet übertragen werden. Man kann nicht Zähler um einer utopischen Ganzheit der Zeit willen zu Nennern machen. Der Nenner muß, soll er nicht nur die denkerische Situation einer kleinen Minderheit bezeichnen, tiefer gesucht werden, durchaus unter der begrifflichen Schicht, die sich im Tagbau abtragen läßt. Vertikalität als unbewußt-bewußte Intention unserer Zeit mag der Versuch eines Schlüssels sein. Noch stehen mehr Fragen offen, als Aussagen unternommen wurden. So die zweifellos begründete Frage, ob die Herausrückung des Denkens aus der Ebene der fortschreitenden Habhaftwerdung der Weh in die Vertikalität der Frage nach dem Grunde nicht auch einen neuen Ansatzpunkt für den religiösen Glauben enthalte. Tatsächlich war in unserer Skizze nur von der einen Richtung der vertikalen Dimension, derjenigen nach unten, die Rede. Nicht zufällig; Gefahr des Falls und Neu-Fundierung des Fragwürdigen «von unten her» beschäftigen das zeitgenössische Denken entscheidend. Was C. G. Jung vor mehr als zwanzig Jahren formulierte, entspricht weithin einer allgemeinen Intuition unserer Zeit: «Große Erneuerungen kommen nie von oben, sondern stets von unten, wie die Bäume nie aus dem Himmel herunter, sondern stets aus der Erde herauf wachsen, wenn schon ihre Samen einst von oben herunterfielen.» 9 Daß der Umschlag von der Theologie des religiösen Liberalismus zum Positivismus Barths und Brunners seinerseits

ebenfalls unter dem Bilde vom Richtungswandel erblickt werden kann, leuchtet ein; Kierkegaard ist es, der das Rad dreht.

Die Tatsache, daß die Dimension der Vertikalität außer der Richtung nach dem Grunde, der Frage nach dem «Worauf?», ja auch die metaphysische Richtung, die Frage «Worunter?» in sich schließt, «Schwerkraft und Gnade» (Simone Weil), darf uns freilich, darf vor allem auch den Religiösen und den weltanschaulichen Idealisten nicht dazu verführen, in dem, wovon hier die Rede war, etwa nur einen neu aufgegossenen Materialismus zu sehen. Das Begriffspaar von Idealismus und Materialismus, etwas ältliche Schwestern, erweist sich als schlechtes Instrument, wenn wir eine existenzielle Situation verstehen wollen, die ihrem Wesen nach und wo sie ernstlich und in in der Not erfahren wird, durchaus die Züge irgendeiner Restauration eines alten Weltbildes nicht zeigt. Die Definition der Materie selber, die schließlich dem Worte Materialismus voranzugehen hat, ist heute in einem Wandel begriffen, der es nahelegt, das Tochterwort Materialismus klugerweise nur auf geschichtliche Erscheinungen anzuwenden.

In «Wilhelm Meisters Wanderjahren» steht das Wort von den drei Ehrfurchten, die dem Menschen innewohnen müßten, der Ehrfurcht vor dem, was über uns, vor dem, was uns gleich, und vor dem, was unter uns ist. Vertikalität als Denkrichtung ist an sich weder ehrfürchtig noch unehrfürchtig, weder gut noch böse. Sie kann, als Richtung des verstehenden Willens, sich auswirken im Geiste jenes unbedachten Ausbeutertums, das nicht rasch und nicht gänzlich genug aus den Schächten ans Licht zerrt und der Verwendung zuführt, was an Schätzen in der Tiefe schlummert. Wenn sie aber mit der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, gepaart erscheint — einer neuen Ehrfurcht, die nun nicht allein das meint, woran Goethe dachte —, dann mag sie einem Geschlecht, dem keine anderen Räume mehr von Geheimnis erfüllt sind, zu den Schauern verhelfen, ohne die es in Hybris verkäme.