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FORMALISMUS IN DER JURISPRUDENZ UND MATERIALE RECHTSETHIK

UNIVERSITÄTSVERLAG FREIBURG SCHWEIZ

FREIBURGER UNIVERSITÄTSREDEN
NEUE FOLGE Nr.19
1957
UNIVERSITÄTSVERLAG FREIBURG IN DER SCHWEIZ

FORMALISMUS IN DER JURISPRUDENZ UND MATERIALE RECHTSETHIK

FESTREDE DES REKTORS

Prof. Dr. WILHELM OSWALD
GEHALTEN
AM DIES ACADEMICUS
DER UNIVERSITÄT FREIBURG
AM 15. NOVEMBER 1954

Die interessanten Fragen, die durch das Thema zur Diskussion gestellt und in einem Vortrag nur kurz gestreift werden können, würden den Versuch einer Vertiefung auf erweiterter Grundlage sicherlich rechtfertigen, zumal das Bedürfnis nach einer Abklärung dieses Fragenkomplexes allenthalben spürbar ist. Es war daher beabsichtigt, die Festrede vor der Drucklegung nochmals zu überarbeiten und — mit Hinweisen auf das Schrifttum — nach verschiedenen Richtungen zu ergänzen. Die Ueberlastung durch Rektoratsgeschäfte und schmerzliche Ereignisse im Privatleben haben die Ausführung dieses Vorhabens vereitelt. Einem vielseitigen Wunsche nachkommend, erscheint die Rede nun so, wie sie s. Z. ausgearbeitet wurde.

Hochansehnliche Festversammlung!

Was lebt, trägt Spannungen in sich und was sich entwickelt, geht immer durch Kampf und Wagnis hindurch. Wer Spannungen des Lebens demonstrieren will, findet kein geeigneteres Objekt als die Wirklichkeit von Staat und Recht. Beide sind verwickelte, mehrschichtige Gebilde, die in ihrer lebendigen Bewegung und in ihrer Spannung zur Idee verstandesmäßig schwer zu meistern sind. Jede Schicht hat ihre eigenen Prinzipien, ihre eigenen Gesetze und Kategorien. Daraus können sich Konflikte ergeben, die aber bei vernünftiger Einstellung immer erneut fruchtbar geworden sind.

I. Die Wirklichkeit des Rechts

1. Staat und Recht sind Wesen, die mit Hoheit herrschen. Machtentfaltung ist nötig, nicht nur zur Ausübung der staatlichen Herrschaft, sondern vor allem auch zur Rechtssetzung und Rechtsverwirklichung. Ohne Macht wird die Geltung der Rechtsordnung fragwürdig. Nur der utopische Idealist kann sich dieser Tatsache verschließen. Das Recht läßt sich nicht in seiner reinen Idealität verwirklichen, sondern immer nur nach Maßgabe der konkreten Verhältnisse, welche bestimmt sind einerseits durch das Maß der menschlichen Einsicht und des Willens und anderseits durch die vorhandenen Mittel, zu denen auch die Macht gehört. Der Kampf um das Recht ist immer auch ein Kampf um die Macht, welche die organisierte Rechtsgemeinschaft befähigt, die eigene Wertidee und Zielsetzung in den Volksgenossen als dauerndes Motiv zu setzen. Das Recht ist aber nicht lediglich der legalisierte Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse, wie viele Soziologen wahrhaben wollen. Aufgabe des Rechts ist es vielmehr, Gewalt und Willkür in Schranken zu halten.

Das Recht zielt darauf ab, das Verhalten mehrerer

Rechtssubjekte gegeneinander abzugrenzen. Die Hinordnung auf andere (die Alteritas oder Anderseitigkeit) liegt im Wesen des Rechts. Es erfordert zur Erfüllung der Grenzziehungsfunktion und zu seiner stetigen und vollkommenen Verwirklichung die Vermittlung des Zwanges. Rechtsbefugnisse müssen mit Zwang, d. h. mit ordnungsgemäßem Widerstand gegen das Unrecht, geschützt werden; das ergibt sich aus der empirischen Notwendigkeit des Rechtsschutzes und aus dem im Wesen des Rechts begründeten sittlichen Anspruch auf Zwangsausübung. Die Durchsetzung des Gesollten und Geschuldeten ist für die normsetzende soziale Autorität sittliche Pflicht. Die Folge der Ohnmacht des Rechts wäre der Kampf aller gegen alle.

Eine Norm, die ein bloß ideales Dasein führt, ist unfähig die Wirklichkeit zu beherrschen. Irgendeine Gewähr dafür, daß die Befehle der Rechtsordnung befolgt werden, muß gegeben sein. Die Befestigungsmittel des Rechts sind aber mit der Zwangsbefugnis keineswegs erschöpft. Die Erzwingbarkeit des staatlichen Befehls und des sonstwie Angeordneten ist wohl ein proprium des Rechts, aber die Ausübung der Erzwingbarkeit ist nicht wesentlich und primär auch nicht charakteristisch für den Staat. Daher ist die Zwangstheorie des Positivismus abzulehnen. Das Recht darf nicht mit der physischen Gewalt zu seiner Erzwingung gleichgesetzt werden. Das Recht ist erzwingbar, weil es Recht ist, aber es ist etwas nicht deshalb Recht, weil es erzwingbar ist. Die Rechtsnormen besitzen auch ohne staatlichen Zwang ein hohes

Maß von bewegender Kraft. Das im Grunde Entscheidende für das Recht ist seine Anwartschaft auf freiwillige Befolgung. Das ist das unbedingt Bessere, und die für ein geordnetes Zusammenleben und gutes Funktionieren des komplizierten staatlichen Apparates so unerläßliche ungezwungene Normerfüllung ist im Normalfall ja auch zu erwarten; sie erklärt sich aus dem selbstverständlichen Respekt der Menschen vor der Autorität des Staates. Das moralische Problem der Autorität gewinnt gerade in diesem Zusammenhang eine unverkennbare praktische Bedeutung. Auf diesem wesenhaften Moment und nicht in erster Linie auf dem Einsatz von Zwangsmitteln gründet sich letzten Endes die Wirkungsfähigkeit und tatsächliche Wirksamkeit des Staates; er kann sich nur auf ethischer Grundhaltung die allgemeine Achtung verschaffen. Wer den Staat lediglich als einen Apparat gesellschaftlicher Veranstaltungen mit Zwangscharakter versteht, untergräbt ihn damit selber.

Die verpflichtende Kraft der Rechtsordnung kann nur im Zusammenhang mit der sittlichen Ordnung befriedigend erklärt werden. Man hat den ethischen Wert der Rechtsnormen mit guten Gründen als das wichtigste Machtelement des Rechts bezeichnet. Das Recht, zum Unterschied von Willkür und Gewalt, ist nur soweit wahres Recht, als es eine den vernünftigen Willen verpflichtende Kraft in sich trägt. Nur ein Recht, das im Einklang steht mit allgemeingültigen Wertprinzipien, ist dem Menschen adaequat. Er vermag nur in einem ihm wesensgemäßen Recht wahrhaft als Mensch zu leben.

Recht und Macht, die sich in der Hand des Staates begegnen, müssen immer wieder miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden. Es gibt für dieses Problem in der Wirklichkeit keine fertige Patentlösung. Darum gibt es auch eine grundsätzlich berechtigte, in ihrer Absicht und Haltung durchaus positive Kritik am Staate, welche das konkrete Verhältnis von Recht und Macht zum Gegenstande hat.

Die Macht, die nicht im Dienste des Rechts steht, die Macht als Selbstzweck, ist anarchisch und dämonisch; sie zerstört sich letzten Endes selbst. Von ihr gilt dann das Wort von Jakob Burckhardt (bzw. von Schlosser!): «Macht an sich ist böse» und die Mahnung von Blaise Pascal: «II ne faut jamais justifier la force, mais fortifier la justice.» *)

Die skrupellose Machtpolitik, die unheilvolle Preisgabe des Gewissens hat auf christlichem Boden keinen Raum, ganz abgesehen von den furchtbaren Konsequenzen im Völkerleben. Auch die Lenker der Staaten sind an das Gesetz Gottes gebunden. Ein unmoralisches Handeln kann auch politisch niemals richtig sein.

Der Staat ist in unseren Augen nicht lediglich ein

politisches und juridisches Faktum, mit dem wir uns in irrationalem politischen Handeln kurzerhand abzufinden hätten. Eine solche Annahme ist unerträglich und unhaltbar. Oberstes Kriterium staatlichen Handelns muß die Freiheit und Würde der menschlichen Person sein. Das sinnvolle Zusammenleben von Menschen im Staate und in der Völkergemeinschaft erheischt eine rechtliche Ordnung der Freiheit. Die menschliche Existenz und das staatliche Handeln muß auf ein System von Werten ausgerichtet sein, die dem Staate selber vorgegeben sind und an denen er Richtmaß und Schranke findet. Von daher ist jeder Gedanke an einen sich selber absolut setzenden Staatswillen, auch unter der Form der Demokratie, ausgeschlossen. Es geht darum, das abendländische, antik-christliche Welt- und Menschenbild nicht nur als harmonische Grundordnung der Wirklichkeit zu begreifen, sondern auch das ihm zugrunde liegende System von personalen Werten als ein Seinsollendes, d. h. imperativ Verpflichtendes in seiner ganzen Fülle und Eindeutigkeit durchzuführen. Das ist die einzig mögliche Grundlage einer freiheitlichen Demokratie, der notwendige und unverrückbare Richtpunkt alles staatlichen Handelns.

Wir wissen wohl, daß die Machtmenschen ihr frivoles Spiel mit dieser Überzeugung treiben. Den Freiheitsdrang der Menschen und Völker kann man aber mit Gewaltmethoden nicht ausrotten, und die Schmach einer falschen Ideologie und politischen Häresie, die das gesamte menschliche Leben und die Gemeinschaft der Völker

in Frage stellt, ist angesichts des brutalen Geschehens unserer Zeit offenkundig geworden. Der reine Machtstaat, der Gegensatz zum Rechtsstaat, hat sich noch immer als der Widersacher des Geistes und der Kultur erwiesen.

2. Das Recht als Forderung des Lebens ist nicht nur Macht, es ist auch vitales Bedürfnis und darf darum nicht als ein rein abstraktes Ideal verstanden werden. Staat und Recht sind um des Menschen willen da, des sehr konkreten Menschen mit all seinen Vorzügen und Schwächen, mit seiner ganzen Lebenswirklichkeit und der Tradition, in die er eingebettet ist. Wer herrschen will, kann nicht genug realistisch sein. Das Gemeinwohl als Maßstab von Recht und Politik ist nicht in unmittelbarer Anknüpfung an abstrakte Werte, nach irgendeiner schönen Idee oder gar Ideologie im Sinne «interessierter Vorurteile» (Karl Marx) zu verwirklichen. Es ist für den Idealismus immer verhängnisvoll, wenn er den Boden der Realität unter den Füßen verliert und, statt sich nach dem Gegebenen auszurichten, das Recht zu einer bloßen Technik im Dienste einer abstrakten Idee herabsinken läßt.

Das Recht ist freilich nicht ausschließlich an den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft und ihre Sitten gebunden. Durch seine Orientierung an der Idee der Gerechtigkeit weist es immer auch über die Gesellschaft hinaus. Die Dekadenz hat keinen rechtsnormativen Charakter. Der faktisch erstrebte Sozialzweck ist nur soweit Maßstab für Recht und Politik, als in Gesundheit des

Gesellschaftskörpers das wahre soziale Gut zum Durchbruch kommt. Wo die menschliche Wirklichkeit nicht völlig degeneriert ist, strebt sie auf Grund der Sozialnatur des Menschen auf das Gemeinwohl hin; sie ist an sich schon normativ und daher auch die Grundlage, die Quelle und Motivierung der Rechtsordnung.

Von diesem Standpunkte aus ist die Überbetonung der dynamischen Auffassung von Politik, Recht und Staat unter Mißachtung jeglicher Rechtsnormativität der sozialen Wirklichkeit grundsätzlich abzulehnen. Wenn in neuesten Dissertationen behauptet wird, es gehe heute darum, die soziale Ordnung von Grund auf umzugestalten, so läuft das letzten Endes auf eine Verkennung der Sozialnatur des Menschen hinaus. Je lebendiger das Gefühl für die Gemeinschaft ist, umso weniger hat der Staat Veranlassung einzugreifen.

3. Das sozial Notwendige im Recht bedarf sodann, um sinnvoll zu sein, der Ethik. Recht und Staat sind sittliche Grundtatsachen. Das Recht, als das die Beziehungen verschiedener Personen ordnende sittliche Sollen, wurde trefflich als die Wirbelsäule des ethischen Körpers, als das ethische Minimum bezeichnet, weil es all das umfaßt, was für das menschliche Zusammenleben unentbehrlich ist. Daher nehmen die eigentlich tragenden Bestandteile der Ethik die Gestalt des Rechtes an, während die weniger wichtigen in der unbestimmteren Form der Moral verbleiben.

Auch die Politik muß, wenn sie wahrhaft schöpferisch

sein will, sich daran erinnern, daß die christliche Moral jahrhundertelang eine Quelle von Rechtsüberzeugungen und Rechtssätzen war. Unsere Zeit lebt noch — nach einem Ausspruch von Nietzsche — von der Moral der Vergangenheit. Wenn das Ethos aber nur aus Respekt vor der Tradition verteidigt wird, dann kann es bei der Schaffung des Rechts höchstens eine konservierende Rolle spielen. Das genügt nicht. Wenn man sich nicht mehr um die Moral kümmert, dann kümmert sie sich auch ihrerseits nicht mehr um die Beobachtung der Gesetze. Das Gemeinwohl wird zunichte gemacht, wenn es mit unsittlichen Mitteln erstrebt wird. Mit einer bloß indirekten Unterstellung von Recht und Politik unter die ethischen Grundsätze ist auch der dramatische Konflikt zwischen Staatsräson und Moral nicht lösbar.

Die ethische Fundierung des Rechts ist ein unabweisliches Gebot der Stunde und der menschlichen Selbsterhaltung und Gemeinschaftsbeziehungen; denn das Recht ist eine Funktion der Sittlichkeit. Beide, letzten Endes aus der gleichen Quelle, nämlich aus der natürlichen Ordnung stammenden und von einander nicht zu lösenden Begriffe sind zweckverwandt mit parallel laufenden Wertungen des actus humanus; sie durchdringen sich wechselseitig und stehen zueinander in einem Austausch- und Ergänzungsverhältnis.

Kant lehrt, das Recht ziehe den Menschen auf Grund der Legalität nur als physisches Wesen in Betracht (Heteronomität des Rechts); die Moral dagegen sehe ab auf seine geistige Wesenheit (Autonomie der Moral).

Gewiß ist die reine Innerlichkeit dem Rechte, das in erster Linie auf die äußere Gestaltung der Handlungen Bedacht nehmen muß, nicht zugänglich; es handelt sich aber bei beiden Grundwertungen nur um eine Verschiedenheit in der Ausgangslage und in der Gewichtsverteilung. Wer sagt, das Recht sei unabhängig von der Moral, weil unabhängig von der Gesinnung, verkehrt das objektive Verhältnis zu einem rein subjektiven. Es geht aber bei der Frage des Zusammenhanges von Recht und Moral nicht um Gesinnungen, sondern um das Verhältnis der sittlichen zur rechtlichen Ordnung.

Eine Verschiedenheit in der logischen Stellung der beiden Grundbegriffe ergibt sich hingegen aus dem Gesichtspunkt der «Alteritas» und der Grenzziehungsfunktion des Rechts und der damit bedingten objektiven Einordnung der Handlungen einer Mehrzahl von Subjekten.

Das Recht, das manches erlaubt, was die Moral verbietet [«non omne quod licet honestum est»: Paulus (non noster sed alter Paulus) in D 50, 17, 144], hat freilich seine inneren Schranken; es kann nicht den Inbegriff der sozialen Normen in sich aufnehmen und es soll auch nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Das bedeutet indes keineswegs einen Gegensatz zwischen den beiden Wertbereichen; ein solcher läge nur vor, wenn das Recht Verhaltensweisen anordnen würde, welche die Moral ihrerseits unter Verbot stellt. Das aber ist logisch unmöglich und innerlich unhaltbar. Jedermann hat ein Recht auf ethische Pflichterfüllung. Was ethisch notwendig ist, muß auch innerhalb des Rechts zulässig

sein. Das transzendente Grundprinzip der Moral ist absolut und unwandelbar, und es gibt anderseits auch ein entsprechendes Recht, das im Gewissen bindet, auch wenn ihm de facto die Anerkennung versagt bleibt.

Die heutige Tendenz, das ganze Leben in lauter Rechtsbeziehungen überzuführen, übersieht die Wesenstiefen der Schöpfung und hat kein rechtes Verständnis mehr für die natürliche, unbeschwerte Erfüllung des Lebens, in der der Reiz des Daseins liegt. Der Staat, das «kälteste aller Ungeheuer» (Nietzsche), vermag vieles, aber lieben kann er nicht. Die Liebe als persönlicher Antrieb und freie Tat ist kein politisches Organisationsprinzip und dem Institutionellen wesensfremd. Es gibt aber eine schöpferische Verbindung von Liebe und Recht. «Beide ergänzen sich gegenseitig, wirken zusammen, beleben und stützen sich, reichen sich die Hand auf dem Wege zu Eintracht und Frieden» (Pius XII.). Wie die Gerechtigkeit, so ist auch das Sozialethos der helfenden Liebe ein Prinzip der geläuterten Menschennatur, die Zusammenfassung und Krönung aller Forderungen des Dekalogs, die fundamentale Grundhaltung für jeden Christen und die treibende Kraft seines Handelns. Die soziale Verantwortung von Mensch zu Mensch, der Alterismus in all seinen Varianten: Sympathie, Mitleid, das Sich-eins-fühlen mit fremdem Schmerz, die Selbstaufopferung für andere, der Geist der Geselligkeit, kurzum das «alterius delectatione delectari» (Leibniz) sind ursprüngliche Eigenschaften unseres Geistes und dauernde Motive des wahren Menschentums.

4. Das ethische Moment der Gerechtigkeit ist nicht das ausschließliche Wesenselement des Rechts. Normen, die ein Sollen ausdrücken, sind immer auch Ordnungsprinzipien. Die Verwirklichung der mit der Sozialnatur des Menschen begründeten Zwecke der Gesellschaft hängt ab vom Bestehen einer gültigen, für alle verpflichtenden und von allen einzuhaltenden Ordnung, einer geordneten Freiheit, der Freiheit in der Ordnung. Das Recht als Norm des menschlichen Gemeinschaftslebens geht aus einem überindividuellen Willen hervor. Das Recht entstammt einer Verfassung als dem politischen Formungsprinzip und Fundament der innerstaatlichen Rechtsgemeinschaft. Sache des Gesetzgebers ist es dann, die rechtlichen Bedingungen für die Wohlfahrt der einzelnen und der Gemeinschaft zu formulieren und deren Einhaltung zu garantieren. «Der 'soziale Mensch' hat für die Regelhaftigkeit des Rechts gewöhnlich wenig Verständnis, weil das, was der Triumpf der Rechtsordnung ist — die Ausnahmslosigkeit und Unpersönlichkeit ihres Funktionierens — seiner Geistesart entgegengesetzt ist. Die Erfahrung hat aber in Jahrhunderten menschlicher Geschichte gelehrt, daß nur der Wille zur Ordnung, das heißt: zur Regelung der Einflußsphären durch Setzung und nötigenfalls durch Zwangsgewalt, in der Wirklichkeit zu bestehen vermag» (Spranger).

Das Normative muß (wie alles Erkennbare) notwendig in Formungsprinzipien in Erscheinung treten. Das Recht ist auch Form. «Selbst der Machtwille eines Despoten ist

unvermeidlicherweise Regelwille, der die Machtansprüche auf allgemeine Normen des Verhaltens bringt» (Spranger). Der Staat selber ist eine bestimmte Form von Gemeinschaft und Entfaltung des menschlichen Daseins in einen umfassenderen Lebenszusammenhang hinein. Der Staat existiert nur in dieser oder jener Form. Die Staatsform als konstituierte rechtliche Organisationsform eines Volkes ist Ausdruck und Ergebnis seines politischen Willens und seines geschichtlichen Grunderlebnisses.

Ohne Form gibt es überhaupt keine sinnvolle Lebensgestaltung, kein menschenwürdiges Dasein, keine ersprießliche Kulturarbeit und vor allem keine Gerechtigkeit. Wo Leben ist, sucht es seine Form. Unsere Zeit vermag das rechte Verständnis für Sinn und Notwendigkeit der Formen nicht mehr aufzubringen. Der ungeprägte und darum auch haltlose Massenmensch verabscheut alle Formen; er bekämpft altüberlieferte Lebensformen als überholte Vorurteile. Gewiß soll man hohle Formen nicht hüten. Die absolute Formlosigkeit des Lebens aber bedeutet dämonische, zuchtlose Betriebsamkeit ohne Maß und Ziel. Nicht geistloser Drill, wohl aber erneuerte Formerziehung im Sinne einer tiefen Besinnung auf saubere innere Haltung als Vorbedingung echter äußerer Formen und einer verantwortungsbewußten Persönlichkeitsbildung tut unserer Zeit, die keine Form mehr hat oder noch nicht hat, not.

Der Ausdruck «Form» wird in der Rechtslehre vieldeutig gebraucht.

a) Formalisiert ist vor allem das Verfahrensrecht. Der Prozeß muß in Bahnen gelenkt werden, die den besonderen Zielen gemäß sind. Jedes Prozeßverfahren, insbesondere der Zivilprozeß, bedarf einer Regelung durch gewisse Formvorschriften, woran der Richter wie die Parteien gebunden sind. Nur über das Maß der Formenstrenge und die Folgen der Verletzung von Formvorschriften gehen die Ansichten auseinander.

Es liegt in der Natur der Sache begründet, daß der Zivilprozeß der ältesten Zeitepochen, wo nur wenige Personen des Lesens und Schreibens kundig waren, wo es auch noch keinen ausgebildeten Anwaltsstand gab, sich formlos abwickelte. Die Parteien traten persönlich vor den Richter und trugen ihm ihre meist einfachen Streitigkeiten vor. In dem Maße, wie das wirtschaftliche Leben komplizierter wurde, zeigte sich auch das Bedürfnis nach Formvorschriften. Die Formenstrenge erreichte ihren Höhepunkt im sog. gemeinen Prozeß, wie er sich im Anschluß an kanonische und italienische Vorbilder in Deutschland entwickelt hatte und der für manche unserer schweiz. Zivilprozeßordnungen maßgebend gewesen ist. Noch heute, wo man ihn weitgehend als überlebt betrachten muß, bilden die Abhandlungen über den gemeinen Prozeß, so vor allem diejenige von Bayer, ausgezeichnete Lehrmittel für das Studium des Prozeßrechtes. Der Anfänger wird in ein geschlossenes System von Formvorschriften eingeführt, das ihm so recht klar macht, was die Form im Zivilprozeß bedeutet.

Eine besonders wichtige Frage geht dahin, in welcher

Gestalt die Parteien dem Richter ihre tatsächlichen und rechtlichen Anbringen vorzutragen und ihre Anträge zu stellen haben. Der Streit über die Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit des Verfahrens ist schon alt, und es ist kaum möglich eine allgemeine Lösung zu treffen, die in jedem Falle befriedigt. Für einfachere Streitigkeiten, die eventuell von den Parteien selbst geführt werden können, eignet sich die Mündlichkeit. Schwierige Fälle, vor allem Rechnungsprozesse, können wohl nur in schriftlichem Verfahren durchgeführt werden. Dazwischen liegt aber eine große Zahl von Prozessen, bei denen eine Kombination beider Systeme das Richtige treffen dürfte: Schriftlichkeit nur der Klage und Antwort, eventuell noch der Widerklage; Mündlichkeit des weiteren Behauptungsverfahrens. Der gemeine Prozeß war ausgesprochen schriftlich, und die von ihm übernommene Schriftlichkeit hat im Prozeßverfahren mancher Kantone ein außerordentlich zähes Leben: sie ist durch keine gesetzlichen Vorschriften auszurotten, wenn nicht eine energische Prozeßleitung für deren Einhaltung sorgt. Das zeigt sich z. B. im Kanton Aargau, wo bisher alle Versuche zur Eindämmung der Schriftlichkeit am Widerstand der Gerichte und Anwälte gescheitert sind, wo der Gesetzgeber von 1941 beim Erlaß der Zivilprozeßnovelle vor den eingerissenen Gepflogenheiten kapituliert hat und wo selbst das Verfahren vor dem Einzelrichter in der Mehrheit der Fälle wiederum schriftlich durchgeführt wird. Verschleppung und Verteuerung der Prozesse sind die notwendigen Folgen dieses Mißbrauchs der Schriftform.

Eine andere nicht minderwichtige Frage betrifft die Gliederung des Verfahrens. Auch hier war der gemeine Prozeß maßgebend. Er beruhte auf der strengen Scheidung des Behauptungsverfahrens und des Beweisverfahrens und auf dem Grundsatz, daß die Beweise durch ein selbständig weiterziehbares Zwischenurteil, das sog. Beweisinterlokut, angeordnet wurden. In den neueren Prozeßordnungen ist dieses allerdings durch den nichtselbständig weiterziehbaren, durch das Gericht jederzeit abänderlichen Beweisbeschluß ersetzt worden. Die Beweistrennung aber ist geblieben, und dagegen wird man im Interesse einer straffen Ordnung des Verfahrens kaum etwas einwenden können.

Eine sehr wesentliche Institution des gemeinen Prozeßrechtes war sodann die Eventualmaxime. Danach mußten alle Angriffs- und Verteidigungsmittel, bei Strafe des Ausschlusses, gleichzeitig angebracht werden. Man versprach sich davon eine straffe Regelung des Verfahrens. Die stets über den Parteien lastende Furcht, mit wichtigen Anbringen ausgeschlossen zu werden, war aber geeignet, den Prozeß schwerfällig zu machen, und die Eventualmaxime zeitigte gelegentlich merkwürdige Auswüchse. Sie ist darum in den neueren Gesetzgebungen meist wesentlich gemildert worden, so z. B. in dem Sinn, daß neue Tatsachen und Beweisanträge auch noch in Replik und Duplik angebracht werden können. Über die Frage, ob das auch in der Appellationsinstanz noch zulässig sein solle, herrscht allerdings immer noch Streit. Man sollte aber doch solche Nova zulassen, wenn sie vor

erster Instanz im Behauptungsverfahren nicht vorgebracht werden konnten; denn es ist nicht zweckmäßig, die Parteien diesbezüglich auf den Weg der Revision gegen ein rechtskräftiges Urteil zu verweisen.

Das gemeine Prozeßrecht stellte in Bezug auf die Beweismittel eine streng formale Beweistheorie auf. So konnte der Zeugenbeweis nur durch übereinstimmende Aussage zweier nach Gesetz einwandfreier Zeugen erbracht werden. Es bestand eine ganze Musterkarte von Arten des Eides; dieser war für den Richter verbindlich, solange er nicht durch strafrechtliche Verurteilung der Partei, die den Eid geleistet hatte, entkräftet war. Gegen diese formale Theorie lehnte sich das Rechtsempfinden weiter Volkskreise mit der Zeit auf, und die neueren Prozeßordnungen sind durchweg zum System der freien Beweiswürdigung durch den Richter übergegangen. Seine Aufgabe ist dadurch bedeutend schwieriger geworden. Die von gewissen Unglückspropheten vorhergesagten Mißbräuche, richterliche Willkür usw., sind nicht eingetreten. Die öffentliche Urkunde bildet allerdings nach Art. 9 ZGB auch heute noch vollen Beweis. Der Gegenbeweis ist jedoch heute an keine Form mehr gebunden. Er kann also nicht bloß auf dem Wege des Strafverfahrens erbracht werden, wie das früher der Fall war. Das neuere Prozeßrecht anerkennt durchweg den Grundsatz der Notorietät, wonach für das Gericht offenkundige Tatsachen keines Beweises bedürfen.

Auch im Säumnisverfahren haben sich die Ansichten im Laufe der Zeit gründlich geändert. Ursprünglich erblickte

man in der Säumnis (contumacia) eine Art Trotz gegen den Richter und bestrafte den Säumigen mit dem unweigerlichen Verlust seines Prozesses. Später wurden bloß die tatsächlichen Anbringen der nichtsäumigen Partei als erwiesen betrachtet, während die Rechtsfrage vom Richter von Amtes wegen geprüft werden mußte. In den neueren Prozeßordnungen ist aber auch dieses System noch weiter gelockert worden.

Ein besonders strenger Formalismus herrschte von jeher mit Bezug auf die Einlage von Rechtsmitteln, und hiegegen wird grundsätzlich nichts einzuwenden sein. Die Rechtsmittelfristen sind Fatalfristen, und gegen die Versäumung kann nur ausnahmsweise Restitution erteilt werden. Immerhin ging es viel zu weit, wenn wegen untergeordneter Mängel einer Rechtsverkehr das Rechtsmittel als verwirkt erklärt wurde, weil z. B. versehentlich die Rechtsschrift nicht unterzeichnet war, weil die Vorlage einer Vollmacht vergessen wurde, weil der Anwalt es unterlassen hatte, innerhalb der Rechtsmittelfrist die Zulassung in dem betreffenden Kanton nachzusuchen, weil das Rechtsmittel irrtümlicherweise bei der oberen statt bei der unteren Instanz eingelegt worden war usw. Die neuere Gesetzgebung und Rechtssprechung haben hier vielfach Wandel geschaffen und die Verbesserung solcher formeller Fehler binnen kurzer Frist zugelassen. Nach dem Inkrafttreten des bundesgerichtlichen Organisationsgesetzes vom 16. Dezember 1943, am 1. Januar 1945, setzte namentlich mit Bezug auf die Formalien der Berufung eine äußerst strenge

Praxis des Bundesgerichts ein, die zu zahlreichen Nichteintretensentscheiden führte. Sie begegnete naturgemäß dem Widerspruch der beteiligten Kreise, und in der neuesten Zeit ist diese Praxis denn auch wieder gemildert worden.

Zusammenfassend muß anerkannt werden, daß im Zivilprozeß ein gewisser Formalismus nötig ist, um in das Verfahren Ordnung zu bringen und der böswilligen oder fahrlässigen Prozeßverschleppung Einhalt zu gebieten. Dieser Formalismus darf aber niemals dazuführen, daß systematisch das materielle Recht erwürgt wird, nur um die Geschäftslast der Gerichte herabzusetzen und dem Richter die Denkarbeit zu erleichtern. Die moderne Tendenz in der Gesetzgebung und vielfach auch in der Rechtssprechung anerkennt offensichtlich diese Grundsätze.

b) Im privatrechtlichen Verkehr sind von alters her vielfach Formvorschriften zur Anwendung gelangt, von deren Erfüllung die Gültigkeit gewisser Rechtsgeschäfte abhängig gemacht wurde. Der Grund zum Erlaß dieser Vorschriften war und ist jedoch auch heute noch nicht immer derselbe. Bald steht die Sorge für die Rechtssicherheit, vor allem für die Sicherheit des Beweises, im Vordergrund; bald handelt es sich darum, die Parteien, oder wenigstens eine von ihnen, vor Übereilung oder Übervorteilung zu schützen.

Bei der Eheschließung z. B. haben die Ansichten über die Notwendigkeit von Formvorschriften je nach Völkern und Zeitepochen stark gewechselt. Während im altrömischen

Recht die Eheschließung noch an strenge Formen gebunden war, wurden diese mit der Zeit aufgehoben, ja selbst die formlose Wiederauflösung der Ehe zugelassen. Die moderne Form der Eheschließung, vor einem Geistlichen und zwei Zeugen, bzw. vor dem staatlichen Zivilstandsbeamten und zwei Zeugen wurde erst in der Zeit der Reformation eingeführt. Vorher herrschte oft eine große Unsicherheit darüber, ob zwischen zwei Personen überhaupt eine Eheschließung zustande gekommen sei.

Als man im ehelichen Güterrecht den Eheleuten die Wahl zwischen mehreren Güterständen gestattete, wurde es notwendig, namentlich mit Rücksicht auf die Interessen der Gläubiger, gewisse Rechtsformen, öffentliche Beurkundung und Eintragung im Güterrechtsregister, zu beobachten.

Eine wichtige und kaum mehr weg zu denkende Bedeutung spielt heute auch das Zivilstandsregister, durch welches der Beweis für mannigfaltige Tatsachen des Familienrechts gesichert werden soll.

Von jeher waren auch im Erbrecht strenge Formen im Gebrauch, vor allem für Testamente und Erbverträge. Daran hält auch das heutige Recht noch fest, wennschon mit Bezug auf die eigenhändige letztwillige Verfügung der Formalismus stark gelockert worden ist, so insbesondere durch den Verzicht auf die Hinterlegung des Testamentes bei Lebzeiten des Erblassers. Äußerst formell ist dagegen die bundesgerichtliche Praxis mit Bezug auf das mündliche Testament, das sog. Nottestament.

Dabei steht offensichtlich die Befürchtung im Vordergrund, daß der Erblasser, der sich dieser außerordentlichen Form bedient, nicht mehr voll zurechnungsfähig gewesen oder daß er dem Einfluß von Erbschleichern erlegen sei.

Eigenartig ist die Entwicklung, welche die Begründung und Abänderung von Rechten an unbeweglicher Sache im Lauf der Zeiten durchgemacht hat. Das altrömische Recht kannte für die Eigentumsübertragung das komplizierte Institut der «mancipatio». Sie wurde mit der fortschreitenden Entwicklung des Verkehrs aufgegeben, leider jedoch nicht durch etwas Besseres ersetzt, der Verkehr mit Liegenschaften vielmehr demjenigen mit beweglichen Sachen gleichgestellt. Daraus ergab sich große Unsicherheit mit Bezug auf den Rechtsbestand an Liegenschaften, namentlich auch was die Dienstbarkeiten und das Grundpfandrecht anbelangte. Das römische Grundpfand, das zudem noch Generalhypotheken kannte, muß ein für den Kredit untaugliches Rechtsinstitut gewesen sein.

Anders vollzog sich die Rechtsentwicklung im germanischen Recht, wo die Formen der früheren Zeit durch die Eintragung in öffentliche Bücher abgelöst wurden, aus denen mit der Zeit das moderne Grundbuch entstanden ist. Dessen Notwendigkeit für die Sicherung des Rechtsbestands an unbeweglicher Sache kann heute wohl im Ernst nicht mehr mit dem Hinweis auf die großen Kosten seiner Anlage bestritten werden.

Auch über die Form der die Eintragung im Grundbuch

vorbereitenden Rechtsgeschäfte über Liegenschaften haben sich die Auffassungen stark geändert. In gewissen kantonalen Rechten herrschte absolute Form - freiheit: Kauf verträge über Liegenschaften konnten rein mündlich abgeschlossen werden. Zahlreiche Streitigkeiten wegen Übervorteilung und Täuschung waren die notwendige Folge, und es ist ein Glück, daß das ZGB die öffentliche Beurkundung für Kauf- und Pfandverträge vorgeschrieben hat.

Das Obligationenrecht huldigt im Ganzen dem Grundsatz der Formfreiheit. Indessen wird doch für gewisse Rechtsgeschäfte, z.B. die Abtretung, die einfache Schriftlichkeit, für andere die sog. Eigenschriftlichkeit oder sogar die öffentliche Beurkundung vorgeschrieben. Besonders interessant ist die Entwicklung mit Bezug auf die Bürgschaft, bei welcher sich der Gesetzgeber im Jahr 1942 bemüht hat, deren Eingehung weitgehend zu erschweren. Es scheint, daß insbesondere durch das Erfordernis der Zustimmung des Ehegatten dieser Zweck in manchen Fällen erreicht worden ist.

Besonders strenge Formerfordernisse müssen beim Wechsel erfüllt werden, der dann auch strenge Rechtswirkungen äußert.

Die Eintragung im Handelsregister kann als bloße Formvorschrift vorgesehen sein, wie z. B. bei der kaufmännischen Kollektiv- und Kommanditgesellschaft, oftmals aber auch als Vorbedingung für das Zustandekommen einer juristischen Person, z. B. bei der AG. und Genossenschaft.

Es liegt auf der Hand, daß im heutigen Rechtsverkehr die Aufstellung gewisser Formvorschriften unumgänglich notwendig ist, zum Schutze der Rechtssicherheit, wie des Einzelnen. Allerdings ist in dieser Beziehung Maß zu halten, damit nicht die Abwicklung des normalen Geschäftsverkehrs beeinträchtigt und bösgläubigen Leuten die Möglichkeit gewährt werde, sich nachträglich zum Schaden des materiellen Rechts hinter die Nichtbeachtung von Formvorschriften zu verschanzen.

c) Im öffentlichen Recht spielt die Form noch eine größere Rolle als im Privatrecht. Es gibt hier wesentliche Formen, die konstitutiv wirken, d. h. vor ihrer Erfüllung existiert ein Verwaltungsakt noch gar nicht. Verfügungen müssen in der vom Gesetze vorgesehenen Form erfolgen. In gewissen Fällen kann sogar die Gesetzesform vorgeschrieben sein. Soweit nichts anderes bestimmt wird, gilt im übrigen auch im öffentlichen Recht der Grundsatz der Formlosigkeit.

Besonders wichtige rechtsgestaltende Formalakte, wie der Heimatschein, der einen unwiderlegbaren Nachweis der Staatsangehörigkeit erbringt, sind in der Regel stark formalisiert und solennisiert; sie haben einen entsprechend qualifizierten Geltungsanspruch. Eine Einbürgerungsurkunde z. B. kann auf Irrtum beruhen, trotzdem ist sie gültig, abgesehen von der Nichtigerklärung wegen Erschleichung, die aber nur innert fünf Jahren möglich ist (vgl. Art. 41 des Bundesgesetzes über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts vom 29. September 1952). In dieser «Selbstbezeugung» staatlicher Akte

zeigt sich die gesteigerte Bedeutung ihres formalen Bestandes.

Wer sich durch eine Verfügung beschwert erachtet, kann dagegen Beschwerde erheben. Die Unsicherheit des Schwebezustandes muß aber schließlich aufhören. Diesen Sinn hat die Befristung der ordentlichen Rechtsmittel und die gesetzliche Beschränkung des Rechtsschutzanspruchs. Nach Eintritt der formellen Rechtskraft muß der Betroffene die Verfügung gegen sich gelten lassen; er kann sich der Vollziehung nicht mehr widersetzen.

Diese Hinweise auf die Bedeutung der Form im Recht, die mit Beispielen aus allen Gebieten der Rechtsordnung beliebig vermehrt werden könnten, werden zur Genüge den Sinn und die Notwendigkeit derartiger Vorschriften dargetan haben.

5. Zu diesen verschiedenen Momenten der Rechtswirklichkeit kommt noch die Organisation hinzu, nicht nur zur Setzung (Objektivierung) eines Rechtsgehaltes, sondern zur Durchsetzung des Rechts. Die Institutionen sind in ihrer Funktionsfähigkeit von der Wirklichkeit abhängig; sie sollen die Wirklichkeit aber auch gestalten.

6. Das Recht ist, wie diese Ausführungen gezeigt haben, ein verwickeltes, mehrschichtiges Gebilde. Der Rationalismus spaltet die heterogenen Elemente in starre Antinomien auf und verschärft damit die Problematik der Gegensätze. Die Jurisprudenz als Wirklichkeitslehre des Rechts muß indes den ganzen umfassenden Sachverhalt

in seiner lebendigen Bewegung wie in seinen Konstanten aufnehmen, in der Einheit eines vorgegebenen Seins mit dem normativen Sollen. Eine sinnvolle Erklärung dieses komplizierten geistigen Problems ist nicht möglich ohne Einbezug des Gesamtzusammenhanges. Die eigentümliche Kategorie des Normativen, des Seinsollenden, des ethischen und rechtlichen Postulates muß dialektisch (ganzheitlich) erarbeitet, d. h. auf eine höhere Einheit emporgetragen werden.

Im Verständnis dieser Betrachtungen kann nicht überraschen, daß wir Juristen Mühe haben, die ganze Wirklichkeit des Rechts in einer knappen Definition unterzubringen, zumal mit dem Ausdruck «Recht» ganz verschiedene Sachverhalte bezeichnet werden. Das Recht als Norm ist etwas anderes als das subjektive Recht, d. h. die Befugnis auf Grund der Norm. Das Wort Recht kann auch die Bedeutung von Gericht haben: Rechtshängigkeit z. B. besagt : Hängigkeit einer Streitsache vor Gericht.

Es macht einen Unterschied, ob man als «Feld-, Wald- und Wiesenadvokat» nur Kenntnisse oder auch Erkenntnisse hat, das heißt: geistige Einsicht in den wahren Sachverhalt, der auf das Ganze der Wirklichkeit geht. Mit rein formalen Redewendungen ohne bestimmten Inhalt, wie etwa die Definition des Rechts als «die Form der durch die Zwangsgewalt des Staates beschafften Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft» (Ihering), kann man sich keinen rechten Begriff vom Wesen des Rechts machen, und man denkt an Goethe:

«Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein». Und doch ist der Rechtsbegriff für eine geisteswissenschaftliche Durchdringung des Gemeinschaftslebens und für den Gesamtbereich der Kultur von tiefgreifender Bedeutung. Eine vollständige und eindeutige Erfassung des Gegenstandes, die unerläßliche Vorbedingung einer fruchtbaren Betrachtungsweise und Auseinandersetzung, ist nur mit einer inhaltlichen, allgemeingültigen Wesensbestimmung, unter Zugrundelegung eines in der Natur der Dinge gründenden Sollens, möglich. Es muß auch für das Recht einen objektiven Maßstab geben außerhalb dessen, was sich geschichtlich als Recht ausgegeben hat oder noch ausgibt.

II. Spannung zwischen Form und Inhalt in der Rechtswirklichkeit

Überblickt man die Wirklichkeit des Rechts mit offenem Auge, so fällt durch alle Gestaltungen hindurch die scharfe Polarität zwischen den materialen und den formalen Momenten auf.

Ein Beispiel mag das dartun: Eine Gemeinde erläßt mit staatlicher Genehmigung für ein Quartier einen Alignementsplan, also Vorschriften generell-abstrakter Natur, die Gebote und Verbote an die Adresse der Grundeigentümer enthalten. Rein formell gesehen, sind alle gleich betroffen, praktisch aber sind diese Rechtssätze n geographischer Form besonders für einen Schreiner von einschneidender Wirkung. Die projektierte Straße durchschneidet in zwei Meter Entfernung von der Werkstatt den Vorplatz derart, daß der ganze Betrieb in Mitleidenschaft gezogen wird und der Schreiner genötigt ist, seine Werkstatt in eine andere Gegend zu verlegen. Der Mann beruft sich auf die Eigentumsgarantie, die Gemeinde ihrerseits auf das öffentliche Interesse und auf Art. 641 ZGB, wonach, wer Eigentümer einer Sache ist,

nur in den Schranken der Rechtsordnung über sie verfügen kann. Die rechtssatzmäßige Umschreibung des Eigentumsinhaltes und ihre Folgen muß man sich, in der Tat, ohne Anspruch auf Entschädigung gefallen lassen. Materiell aber, im Sinne der Gerechtigkeit und der Schutzwürdigkeit, befriedigt diese Lösung in concreto nicht. Nicht der Form, wohl aber der Sache nach, liegt eine Expropriation vor.

Insbesondere im öffentlichen Recht haben wir uns sehr oft mit der Diskrepanz von Form und Inhalt auseinanderzusetzen, so z. B. beim Problem der materiellen Rechtskraft von Verwaltungsverfügungen, bei der Steuerumgehung oder etwa der Condictio indebiti, dem Erstattungsanspruch im öffentlichen Recht.

Eine Güterverschiebung, die unmittelbar auf Rechtssatz beruht, aber des rechtfertigenden Grundes ermangelt, muß prinzipiell der Wiederausgleichung unterliegen. «Nam hoc natura aequum est neminem cum alterius detrimento fieri locupletiorem» (D 12, 6, 14). Die Condictio kennzeichnet sich als sieghafter Durchbruch des Aequitätsgedankens und der materialen Gerechtigkeit gegenüber dem strengen Recht und seinem Ordnungsgedanken. Summum jus summa injuria! Gegenüber dem Fiat jus, pereat mundus. — Die römische Jurisprudenz hat damit ein großes Wort gesprochen.

Für das Zivilrecht sind diese Grundsätze anerkannt (OR Art. 62 ff.), leider aber noch nicht durchwegs im öffentlichen Recht. Es mag, mutatis mutandis, auch hier gelten, was Reichel bezüglich der Rechtskraft so schön

gesagt hat: «Ist im einzelnen Falle der Verstoß gegen Gerechtigkeit und soziale Sicherheit ein so klarer und starker, daß die bedingungslose Durchhaltung des rechtskräftigen Urteils eine augenfällige Verkürzung überwiegender sozialer Werte bedeuten würde, so wäre es Baalsdienst, den Gedanken der formalen Ordnung auch hier noch festzuhalten. Hier zu helfen, ist vielmehr die unerbittliche Pflicht des Juristen. Seine heilige Pflicht nicht nur um der Gerechtigkeit willen, die ihm im Gewissen wohnt, sondern auch um des Rechts willen, dessen Diener er ist. Denn schreiende Ungerechtigkeit zu fördern, wäre nicht nur den höheren Zwecken des Rechts stracks zuwider, es würde auch seine Autorität unterwühlen und damit seine Selbsterhaltung gefährden. Lebt doch ein Recht immer nur solange, als es gilt; ein handgreiflich ungerechtes Recht aber verliert den festen Boden seiner Geltungskraft unter den Füßen. Nicht Roß, noch Reisige sichern die steile Höh': justitia fundamentum regnorum» (Festgabe für Adolf Wach, 102).

Es ist nicht allzu schwer, für die Rechtsanwendung saubere Formalkriterien herauszuarbeiten; sie führen aber oft zu unbefriedigenden Lösungen. Die materialen Kriterien anderseits weisen verschwommene Konturen auf und gefährden unter Umständen die Rechtssicherheit, deren hoher Wert nicht verkannt werden darf. Ein Recht ohne Form öffnet jeder vermessenen Willkür Tür und Tor.

Es gibt Formalaspekte, die eben so wichtig sind wie das Gegenständliche im Recht. Unserer rechtsstaatlichen

Demokratie liegt ein formeller Verfassungs- und Gesetzesbegriff zugrunde, demgegenüber man nicht kurzerhand die kalte Schulter zeigen darf, insbesondere deshalb nicht, weil hinter dieser Form wichtige politische Grundentscheidungen unseres Volkes stehen. Es geht bei der Verfassungstreue aber um mehr als bloße Form.

Form und Stoff sind korrelate Begriffe. Die Ordnung ist immer um eines bestimmten Inhalts willen da. Die Gerechtigkeit stellt uns eine sachliche Aufgabe. Der Sinn des Rechts liegt insofern nicht im Formalen, sondern auf der objektiven Seite.

III. Formalismus als Maxime

1. Form ist Gestalt des Stoffes, das Bleibende in der Erscheinungen Flucht. Alles Wirkliche ist Form. Sie ist den Dingen inhärent (innewohnend) und gestaltet den Stoff zur Wirklichkeit; sie wird als Zweck in ihm wirksam. Die Form ist der Grund der arteigenen Wesenheit der Dinge, das letzte reale Fundament unserer Allgemeinbegriffe; sie ist Wesensform, d. h. inneres Gestaltungsgesetz des Einzeldings, dessen bewegende, finale Ursache und damit Grund der zielstrebigen Tätigkeit (Aristoteles). Im gleichen Sinne spricht Thomas von Aquin von dem in die geschaffenen Dinge hineingelegten Kunstplan Gottes. Durch die Form erst ist ein Ding das, was es ist. Der Leib ist nicht das «Grab der Seele» (Plato), sondern die Seele ist die zur Materie hinzutretende Form. Die Wesensform oder Natur eines Dinges ist das objektiv Planvolle, das absolut in sich Vernünftige und Zweckvolle (omne agens agit propter finem); das ergibt sich nicht aus unserer subjektiven Relation, sondern aus der objektiven Absolutheit des Seins.

Kant verlegt die Form in das Subjekt selbst: erst die eingeborene Form gestaltet den Erfahrungsstoff zur Erkenntnis. Die Anschauungsformen (Raum und Zeit) und die Kategorien (Denkformen) gelten unabhängig von der Erfahrung (a priori), aber nur im Hinblick auf diese, nicht für die Dinge an sich. Der menschliche Verstand kann das «Ding an sich» nicht erkennen. Eine Antwort auf die Urfragen des Lebens dürfen wir von unserem Verstande nicht erwarten. Der Einklang von Denken und Sein ist damit zerstört. Kant selber war nicht imstande, nach dieser Konzeption zu leben. «Kant mußte Gott durch die Hintertür der praktischen Vernunft wieder hereinlassen, nachdem er ihn feierlich zur Vordertür der reinen Vernunft hinauskomplementiert hatte» (Schopenhauer). (Lit. dazu: E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, 1923; DERS., Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit I-III, 1922²; E. SPRANGER, Lebensformen, 1950 8).

Wird die Form einseitig gegen den Inhalt bewertet oder von allem Inhalt losgelöst, so spricht man von Formalismus. Je nachdem sich diese Geisteshaltung auf das Sein, das Denken, das Anschauen oder das Handeln bezieht, ist der Formalismus ontologisch, logisch, ästhetisch oder ethisch bzw. rechtlich ausgerichtet (vgl. dazu BRUHN, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., II 633).

Wir Juristen sind oft die Zielscheibe dieses negativen Werturteils, mit dem sich freilich nicht immer ein bestimmter

Sinn verbindet. Eine unterlegene Partei bezeichnet etwa den Richter oder die Verwaltungsbehörde als formalistisch, in der Meinung, ihre Interessen seien nicht gebührend berücksichtigt worden. Unter diesem Gesichtswinkel interessiert uns der Formalismus hier nicht, wohl aber insofern, als er als Maxime in Erscheinung tritt.

2. Der kategorische Imperativ Kants lautet: «Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.» Entsprechend definiert Kant das Recht als den «Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann» (Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797).

Diese Definition, welche die Freiheit und nicht die Gerechtigkeit als höchsten rechtsethischen Wert betont, enthält nur ein formal-negatives, aber kein materiales Prinzip. Das Recht ist übrigens seiner Idee nach nur Teilnorm, nur eine der Bedingungen zum Bestand des Gemeinwesens, nicht ihr Inbegriff.

Schopenhauer meint: Kant lasse das Recht zwischen Himmel und Erde schweben! In der Tat! Es fehlen der theoretischen Lebensform des kategorischen Imperativs, diesem «Kulturdämon der Erkenntnis» (eine Wortprägung von Nietzsche), diesem Sollen ohne Richtung und Inhalt, alle Prinzipien, welche die sittliche oder rechtliche Ordnung sinnvoll gestalten sollen. Der Sinn

ist immer wertbezogen. Die rigorose Gesinnungs- und Freiheitsethik Kants antwortet nur auf die logische Frage, wie zu handeln ist; sie versagt aber bei der einfachen Frage, was man tun und welchen Wert man zur allgemeinen Maxime des Handelns nehmen soll. Was soll der Mensch und der Gesetzgeber zum Maßstab nehmen für individuelle und soziale Ziele und Zweckverfolgungen, wenn nur die leere, unfruchtbare Form des Handelns übrigbleibt, die jeden denkbaren Willensinhalt annehmen kann?

Kant führt das Gute auf die Idee eines gesetzmäßigen Wollens zurück, wobei aber die Ratio aufgefaßt wird als Sittengesetz einer Selbstbestimmung der autonomen Vernunft, also nicht im Sinne einer teleologischen Metaphysik, als Formprinzip des Menschen, zu dem er von Natur hinstrebt. Aus diesem Formalismus ist die Idee des Guten und Gerechten unmöglich zu gewinnen. Das Gute des Menschen liegt vielmehr darin, daß seine Vernunft vollendet sei in der Erkenntnis objektiver Werte. In dieser Erkenntnis der Wertidee, die jenseits aller lehrhaften Axiologie in ihrem Grundgehalt von selbst einleuchtet, läßt sich auch der Widerstreit von Heteronomie und Autonomie dialektisch überwinden, sofern man sich einmal über das Verhältnis von Sein und Wert, Ontologie und Deontologie, klar geworden ist. Die sittliche Erkenntnis, der wahrhaft «normative Geist» bedeutet kulturelle Ausrichtung auf das objektiv Wertvolle und Naturgemäße, mit bejahender Antwort auf den «heiligen Sollensruf der Werte» als einer objektiven

Forderung, im Einklang mit der Schöpfungsordnung und im Bewußtsein der Verantwortlichkeit gegenüber dem Sittlich-Guten als der Erfüllung des menschlichen Strebens.

Auch die Leistungen von Staat und Recht müssen an der Wertordnung im Sinne ewiger Vernunftwahrheiten gemessen werden. Im subjektivistischen Staatsbewußtsein wird die Freiheit des Menschen verloren gehen und letzten Endes nur die Kraft des klugen Egoismus übrigbleiben. Die Existenzphilosophie unserer Zeit, die mit dem Recht überhaupt nichts mehr anzufangen weiß, hat den Subjektivismus ins äußerste gesteigert. Je mehr Wille, desto mehr Existenz. Diese «vollzieht» sich durch die Entscheidungen, die der Mensch jeweils in den Situationen, aus denen sein Leben besteht, zu treffen hat: die Humanitätsidee wird in das «Vielfache je eigenen Daseins» aufgelöst. Damit wandelt sich auch der Wahrheitsbegriff, und Recht und Staat müssen zu bloß technischen Organisationsformen des Massendaseins und der Daseinsfürsorge herabsinken.

Auf dieser Grundlage und mit einem immanenten Formalgesetz von lediglich symbolhafter Allgemeingültigkeit, Folgerichtigkeit und Widerspruchslosigkeit des Handelns ist das Problem der materialen Rechtsethik nicht lösbar.

Typisch für alle Neukantianer in der Rechtsphilosophie (Siegfried Mach, Rudolf Stammler, Walter Burckhardt u. a.) ist der Scharfblick für erkenntnistheoretische Probleme; sie schälen die möglichen Fragen sauber heraus,

geben aber darauf materiell keine oder nur ausweichende Antworten. Die Folge davon ist eine Wirklichkeitsauffassung im Sinne eines rationalistisch verengten und abstrakten Denkens. Wer die Odyssee der neukantischen Rechtsphilosophie verfolgt, wird bald gewahr, wie sehr der Kampf um die metaphysische Grundhaltung, die immer das hervorstechende Merkmal aller ungebrochenen Zeitalter war, eine große Schicksalsfrage für die Rechts- und Staatslehre wie überhaupt für den Gesamtbereich der menschlichen Kultur ist. Der Staatsmann und Jurist muß auch Synthetiker sein und eine gute Wesensschau über die Dinge und Lebensverhältnisse besitzen, die zu normieren sind, sonst werden die Gesetze obsolet, bevor sie recht in Kraft getreten sind. Die reine Analyse kann mit der Zeit niemals Schritt halten und den mannigfaltigen Bedürfnissen des ständig sich entwickelnden sozialen und politischen Lebens gerecht werden. Die richtige Methode des Denkens ist empirisch und spekulativ zugleich, und die Wahrheit liegt nur im analytisch-synthetischen Urteil. Das Metaphysische, die übersinnliche Realität als wirklicher Wert aus geistigem Prinzip, darf aber nicht verwechselt werden mit bloßer Spekulation ohne realen Boden.

3. Es bestehen nahe Beziehungen zwischen dem Formalismus und dem pessimistischen Menschenbild des Voluntarismus. Er verzichtet darauf, dem Leben objektive Handlungsziele zu weisen und ist in dem Wahn befangen, man könne die Rechtsdinge nach Belieben in

den luftleeren Raum hineinstellen. Der Wille wird zur letzten Quelle des Rechts gemacht. Die Entscheidung des Gesetzgebers ist letzte Wahrheit, der man sich blindlings unterwerfen soll. Ob die Ordnung gerecht oder ungerecht sei, bleibt dahingestellt. Nichts ist aus der Natur der Sache gerecht: damit ist das Naturrecht zerstört.

Die Erfahrungen des Totalitarismus haben gezeigt, wohin diese Auffassung führt. Das Gesetz kann nicht vom Willen her bestimmt werden, sonst käme man mehr zum Unrecht als zum Recht. Was aus sich selbst in Widerspruch steht zum natürlichen Recht, kann durch menschlichen Willen nicht gerecht werden.

Normerlebnisse haben immer auch eine psychologische Seite, aber es ist verfehlt, die Normen selbst und ihre Geltung zum Gegenstand psychologischer Erörterungen zu machen.

Tragbar und innerlich gerechtfertigt ist nur eine Rechtsgestaltung, die im Einklang steht mit vorgegebenen Ordnungszusammenhängen und mit dem den Dingen innewohnenden Sachverhalt. Nur unter dieser Voraussetzung schafft die Gesetzgebung ein Recht, das den kontinuierlichen Fortschritt der Rechtsordnung gewährleistet. Eine Gesetzgebung, die nur auf die momentanen Verhältnisse ihrer Zeit Rücksicht nimmt, verfällt dem Utilitarismus und untergräbt sich früher oder später selber.

Die Auseinandersetzung zwischen dem Willensethos und dem Naturrecht, die schon in der mittelalterlichen Theologie entbrannte (Duns Skotus als Gegenspieler von Thomas von Aquin), durchzieht bis heute die Lehre vom

Ursprung der Sittlichkeit und des Rechts (vgl. dazu Hanz WELZEL, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, 1951, 72 ff.; 89ff.; 117 ff.).

4. Rein formal, ohne Geltungsgrund in einer dem positiven Recht vorgegebenen Wertordnung, und monistisch in dem Sinne, daß als Recht nur Normen anerkannt werden, die von einem bestimmten Rechtssetzer aufgestellt wurden und faktisch erzwingbar sind (Identifizierung von Recht und Zwang mit Einschluß sogar der Willkür), ist auch der Rechtsbegriff des modernen Rechtspositivismus. Er hält, wie der Voluntarismus, den staatlichen Gesetzgeber für schlechthin allmächtig. Er nimmt das Recht als einfaches Faktum der wirtschaftlichen und sozialen Situation hin und betont zulasten der Gerechtigkeit die Rechtssicherheit. Damit ist nur der elementarste Rechtswert erreicht. Die Sicherheit des Rechts ist nicht nur eine Frage der Formulierung der Rechtssätze und ihres logischen Aufbaus zu einem widerspruchslosen und in sich möglichst geschlossenen System; die Sicherheit des Rechts hängt in erster Linie ab von seiner sachlichen Richtigkeit und logischen Werthaftigkeit und nicht zuletzt von der Energie des nationalen Rechtsbewußtseins.

Im System des extremen Rechtspositivismus hat der Begriff der Normgeltung den inneren Zusammenhang mit Werthaftigkeiten und mit sachhaltigen normativen Ideen völlig eingebüßt. Dementsprechend verliert auch der Begriff der Verbindlichkeit und Verpflichtungsfähigkeit

die ihm zugrunde liegende natürliche Beziehung zur sittlichen Ordnung.

Eine Norm, die nur wegen ihrer «Positivität», d. h. wegen des faktischen Umstandes der Gesetztheit durch einen obersten Machtwillen gelten soll, kann gar nicht dem wahren Rechtsbegriff genügen; denn es kommt dabei ja nicht mehr auf sachgemäße Ordnungsfunktion und Berechtigung an, sondern lediglich auf die nackte, aber rechtsphilosophisch unerhebliche Tatsache, daß etwas von einem Machthaber gewollt ist und als gewollt promulgiert wurde. Solche Willkürnormen verpflichten auch den Urheber derselben zu gar nichts; je nach Belieben wird er sie anwenden oder nicht anwenden oder auch andere abweichende Normen setzen; denn er fühlt sich souverän und kann angeblich nicht «Unrecht» im positivistischen Sinne tun. Er fühlt sich wie ein Gott, dessen Befugnis auf sich selbst beruht.

Dieses korrupte Rechtsbewußtsein zersetzt letzten Endes auch den Staat als Rechtserscheinung und zerstört den Begriff und die Aufgabe der Staatsautorität; denn es fehlt der prinzipielle Wille und die Einsicht, dem immanenten Staatszweck zu genügen. Der Staat ist schließlich nicht mehr Sache eines einheitlichen Volksganzen und wird leicht die Beute eigensüchtiger Gruppen, die vorgeben, Allgemeininteressen zu vertreten. Wenn die Ordnung mehr interessiert als die Gerechtigkeit, wenn Recht und Politik zu einer bloßen Technik herabgewürdigt werden, soll man sich dann auch nicht über das Schwinden der Legalität beklagen.

Die Normfeindlichkeit dieses Denkens kommt besonders radikal bei KELSEN und seiner sogenannten «Reinen Rechtslehre» zum Ausdruck. Darnach ist das Recht überhaupt nur Form.

5. Kelsen leugnet rundweg die Gerechtigkeit; er verzweifelt grundsätzlich an der Möglichkeit und damit an der Erlaubtheit wissenschaftlicher Stellungnahme zum Wertgehalt des Lebens und der Politik. Er scheute sich nicht, in der Festgabe für Giacometti zu schreiben: es sei sinnlos zu sagen, jemand sei unschuldig verurteilt worden. Der Richter habe eben neues Recht geschaffen.

Das Naturrecht oder die Seinsgerechtigkeit ist in seinen Augen eine irrationale Metaphysik, die sich der Logik nicht unterwirft. Er fordert eine scharfe Trennung der Rechtswissenschaft von der Politik und hält den Ausschluß aller materialer Gehalte für eine Steigerung der Objektivität.

Das ist eine Selbsttäuschung. Die Vogelstraußpolitik, die bloß theoretisch zusammengeklügelte Anschauung und die damit zusammenhängende Ziellosigkeit vertieft nur die Problematik des Lebens. Die Urfragen des Daseins beschäftigen den Geist fortwährend, mag er sich zu ihnen einstellen wie er will.

Diese normlogische Theorie und insbesondere auch die Gleichsetzung des Staates mit der Rechtsordnung macht Halt vor den wichtigsten Fragen der Jurisprudenz; sie steht in schärfstem Gegensatz zu dem, was ich

für richtig halte und hier seit Jahren doziere. Ein Staatsrechtslehrer kann unmöglich auf die ewige Kulturkritik des Geistes, auf die Herausarbeitung der geschichtlichen und geisteswissenschaftlichen Zusammenhänge verzichten und sich mit der satten Bejahung der staatlichen Verhältnisse der Zeit begnügen. Man verlange von ihm Loyalität, eine nüchterne und sachliche Gesamthaltung, aber keine unmögliche Entpersönlichung. Nicht nur die Darstellung des Gegebenen, auch dessen kritische Wertung aus überstaatlichen Höhen ist eine Aufgabe der staatsrechtlichen Forschung und Lehre.

Wir können, bei allem Respekt vor der Tradition, die jungen Juristen nicht unbedingt an das Gewordene binden. (Man hat z. B. Mühe, den Jungen den Sinn unserer Neutralität verständlich zu machen!) Jede Generation tritt mit neuen Forderungen an den Staat heran. Man bewahre die bestehende Ordnung, soweit sie für uns noch Werte enthält; man hebe sie zu einer neuen Bedeutung empor, soweit sie uns nicht mehr paßt, immer unter Zugrundelegung der großen geschichtlichen Konstanten und der Kraftströme der Nation, die die Jahrhunderte durchqueren.

Die Juristen galten noch zur Zeit der Renaissance als die Repräsentanten der Geisteswissenschaft. Es ist heute nicht mehr möglich, ihnen diese Stellung zurückzuerobern, aber die Jurisprudenz muß die geisteswissenschaftliche Isolierung aufgeben und durch Neuüberprüfung ihrer Grundlagen versuchen, den Anschluß an das allgemeine Geistesleben wiederzugewinnen. Was nottut,

ist die Schulung für Kulturaufgaben auf möglichst breiter wissenschaftlicher Grundlage.

Kelsen meint, die Demokratie gehe Hand in Hand mit dem philosophischen Relativismus; ihr Gerechtigkeitsprinzip sei die Toleranz.

Die Einheit der Weltanschauung ist hoffnungslos in die Brüche gegangen und doch muß man mit Andersgesinnten die Gemeinschaft halten. Die Bereitschaft dazu und das sich Abfinden mit einer unvollkommenen Lösung, weil es nun einmal nicht anders geht, ist nicht Relativismus und Preisgabe von Werten um eines momentanen Vorteils willen. Gleichsetzung aller Werte aber bedeutet, wie Kaegi mit Recht betont, gleiche Sinnlosigkeit. Damit läßt sich kein Staat begründen.

IV. Die Überwindung des Formalismus

Die heutige Welt und vor allem die akademische Jugend ist des ethischen Formalismus müde. Erfüllt von einem neuen Werterlebnis als «rupture de l'indifférence» (Lavelle), sehnt sie sich nach allgemeingültigen Werten, nach einem schlechthin verpflichtenden Prinzip. Die Tatsachen haben eine Neuorientierung aufgezwungen zur Rettung der höchsten Güter der abendländischen, das heißt: christlichen Kultur.

Die Philosophen (Max Scheler, Nicolai Hartmann u. a.) haben beachtliche Anstrengungen gemacht, um aus dem Chaos, aus der Leere und Verzweiflung des Daseins herauszukommen und ein besseres Verständnis der Werte, auf die das Leben und die Politik ausgerichtet sein müssen, anzubahnen. Anknüpfend an eine große metaphysische Tradition und im Bestreben, auf der Grundlage einer erneuerten Erkenntnistheorie mit ontologischem Hintergrund eine objektive Rangordnung konkreter materialer Werte aufzuweisen, ist insbesondere auch die Rechtsphilosophie in eine neue Phase der Entwicklung im Sinne der ewigen Wiederkehr des Naturrechts eingetreten.

Der Formalismus in der Jurisprudenz ist freilich noch nicht ganz überwunden, wiewohl heute auch die Positivisten, sofern sie sich nicht kurzerhand als willfähriges Werkzeug der Machthaber gebrauchen lassen wollen, sich gerne von naturrechtlichen Wertvorstellungen leiten lassen; aber mit metaphysisch verankerten und darum wirklich geltenden Rechtsprinzipien im Sinne überpositiver Sollenssätze haben diese schönen, mitunter als Naturrecht etikettierten «Ideen» von Gerechtigkeit und «richtigem Recht» (Rudolf Stammler), nach denen sich das positive Recht ausrichten soll, nichts zu tun [Giacometti (Bundesstaatsrecht, 244 und 706) spricht von «leitenden» oder «ewigen Ideen der Bundesverfassung»]. Eine bloß formallogische, regulative Idee im Sinne von Kant ist auch die von Walter Burckhardt in seinem Referat für den Juristenverein [L'Etat et le droit, ZSR n. F. 50 (1931), 137a ff.] verfochtene «idée du juste, antérieure à sa réalisation». Was er aber als «raison» oder als «obligation morale» bezeichnet, kommt (wie A. Heini in seiner Studie «Gibt es überpositives Verfassungsrecht?» hervorhebt) grundsätzlich dem Naturrecht ziemlich nahe. Das Naturrecht als Pflichtgebot ist aber mehr als irgendein sozialethisches Postulat ohne Verbindlichkeit für den Gesetzgeber. Wir stehen heute immerhin mit unserem Anliegen, echte Staatsautorität zu begründen und zugleich gegen die latent immer bestehende und bei jeder Staatsform mögliche Gefahr der Staatsomnipotenz die unübersteiglichen Schranken zu errichten, nicht mehr allein da. Menschenwürde

und soziale Gerechtigkeit, nicht mehr bloß formelles Freiheitspathos, sind die Werte, auf die man sich weitgehend geeinigt hat und die sich in besonderer Weise auf dem Recht aufbauen. Zur Verwirklichung dieser Forderungen braucht es aber eine wertende Rechtslehre und eine wertvolle Anthropologie.

V. Humanitiitsidee und Frage nach dem Ursprung des Rechts

1. Man kann kein Recht und keine persönliche Freiheit begründen, ohne auf den Menschen und die natura humana als Rechtsquelle zurückzugehen. Damit steht in engstem Zusammenhang die Frage nach dem Ursprung des Rechts überhaupt. Das ist das Kernproblem des Naturrechts und eines der fundamentalsten Probleme des juristischen Denkens, das nur in Rücksicht auf letzte Zusammenhänge, in weltanschaulicher Tiefe und Weite zu einer sinnvollen Lösung gebracht werden kann. Nicht nur der Einzelne, sondern auch die Gemeinschaftsordnungen sind naturrechtlich fundierte Gegebenheiten. Man kann aus dem Menschen und der Gesellschaft nicht etwas anderes machen, als was sie von Natur aus sind. Die Gesetze der Menschennatur sind metaphysisch und daher ewig. Die an sich schon tiefe und rätselhafte Natur des Menschen kann mit bloßer Biologie nicht erfaßt werden.

Der naturalistische Evolutionismus und der Historismus haben leider das moderne Denken von der Humanität

entfremdet, zu der der Mensch bestimmt ist und in welcher er erst sein wahres Wesen und seine Einheit findet. Die Idee der Humanität wurde preisgegeben, ja sie fiel der Verachtung anheim und diente nur noch als Instrument, im rücksichtslosen Kampf ums Dasein den Starken zu überlisten. Die Menschheitsidee wurde zur Ideologie.

Die metaphysische Neubegründung der Humanitätsidee gehört zu den ernstesten Anliegen unserer abendländischen Kultur. Trotz allem Mißtrauen gegen Lösungsversuche, die im Namen des Humanismus auftreten und in vollem Bewußtsein der erbsündlichen Verdunkelung des Geistes und der Beeinträchtigung des Willens, die bei der Untersuchung des menschlichen Wesens und der Gesellschaftsordnungen nicht übersehen werden dürfen, muß die Wiedergeburt einer geläuterten Humanitas geistig vorbereitet werden. Es geht um einen Humanismus, der in naturbegründetem Denken den Menschen in der Tiefe seiner Idee, aber auch mit dem ganzen Reichtum seiner historischen Entwicklung erfaßt und das menschliche Leben nach objektiv gültigen Normen ausrichtet, nach Maßgabe einer teleologischen Metaphysik. Nur so kann der Mensch unter allen seinen wesensgemäßen Aspekten (Leib-Geist-Seelewesen) begriffen und zu einer umfassenden Kultur- und Wertverwirklichung geführt werden.

Der Schlüssel zur Natur des Menschen ist seine Vernunft, das Bewußtsein der Pflicht und der Verantwortung. Schopenhauer meint zwar ironisch: werdet nie

müde die Vernunftnatur des Menschen zu betonen, erwartet in concreto aber nicht, daß er sich vernünftig benimmt. Mag der Mensch manchmal auch sehr unvernünftig handeln, so bringt er doch seine Vernunftnatur dadurch zum Ausdruck, daß er seine Handlungen beurteilt und bewertet.

Die rationalistische Auffassung des Menschen freilich, der Glaube an die Selbstgenügsamkeit und Autonomie der menschlichen Vernunft zur Erfassung und Gestaltung der Welt, der Glaube an das Alleinvermögen der Wissenschaft, der Glaube an den unbeschränkten Fortschritt auf allen Gebieten der menschlichen und kulturellen Werte —dieses Dogma hat sich vor der Geschichte als ein völliger Irrtum erwiesen. Ein vollkommenes Wert- und Gesellschaftssystem läßt sich nicht verwirklichen. Der Mensch ist zwar geschaffen ad imaginern Dei; er ist aber sehr oft ein hinlänglicher Grund zur Traurigkeit. Ein erhabenes wie ein niedriges Prinzip berühren sich im menschlichen Sein. Der Segen der Welt ist gebildete Menschlichkeit. Die rohe Kraft des menschlichen Willens muß vorerst geformt werden, bis er zur Verwirklichung des Sittlich-Guten und zu einer sinnhaften Erfüllung des Lebens dienen kann. Darin besteht ja gerade die wahre, durch geistige Ideen gestaltete Daseinsform, daß der Mensch durch die Pflege der Nächstenliebe und der Solidaritätsgefühle sich von den Instinkten der Brutalität befreit und sein Gewissen bildet. Darin liegt vorab der Sinngehalt des Naturrechts, das dem Streben nach dem guten Menschen entspricht.

Der richtige Begriff des Menschen setzt auch das religiöse Bewußtsein voraus, und Nietzsche sieht richtig mit der Behauptung, daß eine realistische Erkenntnistheorie überhaupt nur in einer theistischen Weltschau und der ihr entsprechenden Hierarchie der Werte möglich sei. Das Vernunftrecht der Aufklärung, die das Naturrecht als rationalistisches Diktat der auf sich selbst gestellten Vernunft auffaßt, ist utopisch und überhaupt kein objektives Recht, sondern eine subjektive Menschenphantasie.

Zum Vollmenschentum gelangt der Mensch aber nur durch die Vernunft. Wenn wir am menschlichen Erkenntnisvermögen nicht irre werden wollen, müssen wir daran festhalten, daß es dem Menschen möglich ist, wahre Werte und Scheinwerte zu unterscheiden. Der Wert an sich ist nie bestritten, wohl aber die Rangordnung der Werte im Spielraum zwischen bloßer Zweckmäßigkeit und Absolutheit sowie der Maßstab, mit dem sie gemessen werden. Der Maßstab ist in dem Sein der Güter zu suchen und zu finden. Der Ansatzpunkt zum Messen im Wesen des Menschen (so trefflich formuliert von B. Weissenrieder: «Die Schulhoheit. Grundlagen und Ausgestaltungsformen des staatlichen Schulrechts», Diss. Freiburg, 1953).

Das Ethos des Rechts, nämlich die Gerechtigkeit, ist Wille zur reinen Objektivität. Der objektive Wert drängt sich dem Bewußtsein auf durch seinen normativen Charakter. Das psychologische und sittliche Bewußtsein des Menschen, sein Wissen um Gut und Bös, ist eine Grundtatsache

der Ethik. Das natürliche Rechtsbewußtsein gehört auch zur Vernunftanlage des Menschen. Die ihm innewohnende und daher für jeden Menschen wenigstens in den obersten Prinzipien einsehbare und unbedingt verpflichtende Vernunftordnung des natürlichen Gesetzes ist als «Wahrspruch des Urgewissens» über Recht und Unrecht so gut in Geltung wie das positive, vom Staate selber gesetzte Recht, das seine eigentliche Geltungsgrundlage nur im Naturrecht finden kann. Die aus der Natura humana «per modum declarationis et conclusionis» abgeleiteten Naturrechtsprinzipien (primäres Naturrecht) sind, weil durch das metaphysisch verankerte und deshalb unveränderliche Wesen des Menschen bedingt, ewig und unwandelbar. Rechtssätze dagegen, die sich «per modum determinationis» zur Regelung einer bestimmten, durch die natürliche Wandelbarkeit der Gesellschaft bedingten und empirisch gegebenen Interessenlage aufdrängen (sekundäres Naturrecht), sind dynamisch und anpassungsfähig; sie müssen aber mit dem primären Naturrecht im Einklang stehen.

Die Frage nach der letzten Grundlage des Rechts und der staatlichen Autorität kann befriedigend nur beantwortet werden, wenn man auf die Idee der Gottheit zurückgreift, die von Ewigkeit her die Grundsätze des Guten und des Gerechten festgelegt hat. Das Recht hat einen heiligen Wesensgehalt und kann aus sich selbst restlos nicht erklärt werden. Der Glaube an die Existenz einer göttlichen Weltordnung, die Gewissensbindung an ein im göttlichen Gesetz selbst verwurzeltes jus naturale,

im Sinne einer letzten Gültigkeit und Normhaftigkeit für alles irdische Geschehen, stellt einen gemeinsamen Wesenszug aller Religionen dar. Die große Idee des Naturrechts hat die ganze Geschichte der Menschheit begleitet.

Durch die Teilnahme am Weltplan der göttlichen Schöpfervernunft (lex aeterna), worin die ganze Ideen- und Güterwelt ihren Urgrund besitzt, wird der Mensch fähig, Werte, insbesondere Kulturwerte zu verwirklichen. Bei Mißachtung dieser auf Einheit und Ganzheit des Lebens bezogenen Grundnormen des gerechten Handelns hingegen verfehlt die menschliche Kultur ihr Ziel und übt Verrat an den ihr gebotenen möglichst großen Entfaltungsmöglichkeiten. Der Mensch geht seiner existenziellen Glückseligkeit verlustig und wird bestraft mit dem Fernsein vom ewigen Endzweck seiner Natur (Messner). Es kann für die Weltordnung kein Ziel geben ohne Hinordnung auf Gott. Man vermag dem Leben den rechten Inhalt eben nur zu geben im Rahmen der sittlichen Gesamtordnung und mit Bestimmung von einem höheren Prinzip her. Wenn die letzten Ziele der Schöpfung verkannt werden, kann auch keine sinnvolle und feste Ordnung und Rechtswertgestaltung aufkommen. Das wertleugnende Denken, «der Mensch ohne Wirklichkeit, ist der größte Fluch unserer Zeit» (Piccard).

Die Autonomie und Selbstherrlichkeit eines Humanismus, der als Ersatz für die religiöse Begründung des Gewissens- und Gemeinschaftslebens gelten soll, ist nicht imstande, eine allgemeine Besserung der Lage der Menschheit

herbeizuführen. Die geistesgeschichtliche Lage der Gegenwart enthüllt die innere Brüchigkeit eines Humanismus, der auf die Fundierung des Menschlichen im Göttlichen verzichtet hat. Der heutige Mensch ist bedroht nicht nur in seinem sozialen Leben, sondern vor allem auch im seelischen Innenraum und in seiner transzendentalen Beziehung. Angesichts dieser Situation wird es dem bloß formalen Rechts- und Kulturstaat ohne geistige Stellungnahme und ohne Rückbesinnung auf die letzten Grundlagen des Rechts und der staatlichen Autorität nicht gelingen, aus eigener Machtvollkommenheit das Problem von Mensch und staatlicher Gemeinschaft befriedigend zu lösen: eines der höchsten und schwersten Probleme des kulturellen Lebens überhaupt.

Es handelt sich bei all diesen Fragen nicht bloß um ein Erkenntnisproblem, sondern auch um eine Frage des Glaubens. Es braucht Glaube an das ideale Recht und Hoffnung auf den Sieg der Vernunft, als bleibender Richtschnur für das positive Recht, das nur von einem überstaatlichen Recht seinen wahren Geltungsgrund erhalten kann.

2. Es ist das Wahrzeichen der katholischen Sozialethik, daß sie eine Philosophie der Zwecke ist. Die Rechtslehre ist mit der Teleologie, die eine Funktion des Wertbegriffes ist, eng verbunden. Norm, Zweck und Wert: diese Aufeinanderfolge ist mit dem Formprinzip des Menschen innerlich verknüpft. Die klare Erkenntnis dieser Relation ist für uns Juristen von allergrößter Bedeutung;

denn wir leben in einer Welt der Zwecke und der Werte und stehen damit im Dienste eines praktischen Ideals. Die Erforschung der Rechtstatsachen ist leider ein stark vernachlässigtes Gebiet im akademischen Lehrbetrieb.

Der Zweck ist der eigentliche Schöpfer des Rechts (Rudolf v. Ihering). Die Rechtsbegriffe, die nicht naturwissenschaftliche, sondern psychologische Begriffe sind, entstehen erst durch die Inbeziehungsetzung der Außenwelt mit menschlichen Zwecken. Erst durch den Zweck werden uns die Sachen in ihrer rechtlichen Relevanz verständlich; nur durch die Zwecke können sie auch definiert werden (G. Jellinek). Das Recht hat Dasein nur soweit, als es dazu dient, die zur Erreichung des Zweckes erforderlichen Bedingungen zu erhalten und zu fördern. Wo der Zweck auf den Kopf gestellt wird, kann von einem Rechtsverhältnis keine Rede mehr sein. Es sei in diesem Zusammenhang auf die Freiburger Rektoratsrede von Alfred SIEGWART verwiesen, gehalten am 15. November 1935 zur Eröffnung des Studienjahres, über die «zweckwidrige Verwendung von Rechtsinstituten». Nicht alle Zwecke sind gleich notwendig für die Erfüllung der Menschennatur. Der Kinobesuch z. B. ist ein an sich sittlich indifferenter Zweck; solche Zwecke zu verfolgen kann aber unter Umständen zur Pflicht werden (z. B. im Falle von Berufs- oder Ausbildungszwecken). Das Recht hat seinen Ursprung in den existenziellen (durch die Menschennatur vorgegebenen) Zwecken; sie begründen Verantwortlichkeiten und Anspruch auf

Achtung vonseiten der Rechtsgenossen. «Die Verwirklichung der wesentlichen Zwecke des einen Individuums ist durch jene der andern bedingt. Es ergibt sich daraus eine gegenseitige Abhängigkeit der Menschen in ihrem Aufstieg zum Vollmenschentum und zur Kultur ... Die gesellschaftliche Kooperation ist in der menschlichen Natur selbst vorgezeichnet» (Messner). Auf der befruchtenden Wechselwirkung der Kräfte beruht überhaupt das Geheimnis der Natur, und jeder soll darnach trachten, dem Begriff der Menschheit in seiner Person, durch die Spuren seines lebendigen Wirkens, einen so großen Inhalt als möglich zu schaffen. Die Menschheit kann nur gesellschaftlich ihre Vollendung erreichen; sie bedarf der Vereinigung Vieler: «nicht bloß um durch die Vermehrung der Kräfte größere und dauerhaftere Werke hervorzubringen, sondern auch vorzüglich um durch größere Mannigfaltigkeit der Anlagen die menschliche Natur in ihrem wahren Reichtum und in ihrer ganzen Ausdehnung zu zeigen» (Wilhelm v. Humboldt).

Es handelt sich beim Rechte immer darum, die Lebens- und Güterverhältnisse in ihrer eigenen sittlichen, d. h. in der ihrer Natur zugrunde liegenden Absicht zu begreifen. Erhaben über dem Wandel der Begierden und der Willkür der Parteiwillen ist das Recht in seinem sittlichen Zweck immer dasselbe und bleibt sich insofern zu allen Zeiten gleich und mit sich übereinstimmend. Es äußert sich aber verschieden nach den Kulturstufen und den Umweltsfaktoren, in welchen es zur Geltung kommt (Trendelenburg).

Die Bestimmung des Rechts aus dem Zweck, d. h. die Konkretisierung oder Relativierung des Rechts aus der Rechtsidee, ist umso größeren Schwierigkeiten und Kontroversen unterworfen, je weiter ein Gegenstand vom ursprünglichen sittlichen Zweck entfernt liegt. Daher das öftere Auseinandergehen der menschlichen Gesetzgebungen.

Hält sich das Recht, dessen hohes Ziel die Durchgeistigung des Menschen in Wahrheit und Freiheit ist, an die in der Schöpfungsordnung wurzelnden inneren Zwecke der zu normierenden Verhältnisse, dann wird es trotz seiner autoritativen Auferlegung zum Panzer der Freiheit. Das Recht als Ordnungsprinzip begrenzt und behütet die Freiheit. Der Wert der Freiheit liegt nicht in der Möglichkeit der Normübertretung, sondern im Gegenteil in der Möglichkeit, die Erfüllung der Norm zu der eigenen verdienstlichen Tat des vernünftigen Willens zu machen. Nur gebundene Freiheit kann sinnvoll sein. Für den Christen besteht die Freiheit darin, in sittlicher Lebensgestaltung nach seinem Gewissen zu leben.

Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die äußeren Bedingungen des Lebens so zu ordnen, daß es den inneren Zwecken entsprechend, welche der Natur der Sache angehören, sich voll entfalten kann. Die bleibenden Ziele und Zwecke der staatlichen Gemeinschaft unter den gegebenen und in ständiger Entwicklung begriffenen geschichtlichen Bedingungen mittels der Gesetzgebung fortschreitend gerecht und sinnvoll zu verwirklichen, ist immer ein großes Wagnis. Das setzt eine Erkenntnis der

allgemeinen Aufgaben aller staatlichen Gemeinschaft und ein Fingerspitzengefühl für gegebene Verhältnisse und Kräfte voraus. Der bloße Verstandesmensch wird damit nicht fertig. Eine bloße Veränderung des Rechts nach dem jeweiligen Kräfteverhältnis der Vertreter einseitiger Interessen vermag nicht eine vernunftgeordnete soziale Ordnung zu wahren. Die Interessen müssen vielmehr mit dem Rechtszweck in engster Beziehung bleiben.

Eine Wissenschaft, die uns gute Gesetze fertig anbieten könnte, gibt es leider nicht. Der zeitgemäße Ausbau der Rechts- und Wirtschaftsordnung, die lebensnahe und wohlabgewogene Gestaltung im Verhältnis des Gemeinwohls zur sozialen Realität, die Konkretisierung des abstrakten, aus der menschlichen Natur erworbenen Sozialgutes setzt eine fruchtbare praktische Zusammenarbeit der Jurisprudenz mit den andern Zweigen der Gesellschaftswissenschaft voraus. Wertvolle Gedanken blieben manchmal ungenutzt, weil diese Zusammenarbeit zu wünschen übrig ließ. Der Jurist übersieht gern die soziologischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, und dem Sozialpolitiker fehlt mitunter das tiefere Verständnis für die Ordnungsfunktion des Rechts und die formalen Anforderungen, denen die Rechtsordnung im Interesse der Rechtssicherheit und um der Gerechtigkeit willen genügen muß. Den Stoff müssen die Sozialwissenschaften liefern. Aufgabe des Juristen ist es dann, diesen Stoff in die richtige Form zu gießen und in folgerichtigem Denken zu einem widerspruchslosen, geschlossenen Ganzen aufzubauen. Die juristische Form als «eingehüllte

Rationalität» (Spranger) gehört auch zum Inhalt eines Gesetzes; sie ist im Grunde genommen mehr als bloße «Form». Mit jeder neuen Form ändert sich auch der Inhalt des Gesetzes (Walter Burckhardt).

3. Können die durch die menschliche Natur vorgegebenen Inhalte als gültige Norm angesprochen werden? Kelsen, der keine überstaatliche Rechtsgrundlage anerkennt, meint, Normen könnten eine bindende Kraft nur haben durch Bezugnahme (Delegation) auf eine letzte Rechtsquelle, eine letzte Autorität mit einem fordernden und ordnenden Willen. Dieser sei nicht identisch mit der Kausalität.

«Ohne Hinordnung der Wirkung auf ein Ziel, bleibt indes das Kausalitätsprinzip in seinen letzten Konsequenzen unverständlich», wie Cagianut («Die obersten Grundsätze des Rechts», Diss. Zürich 1951, S. 26) trefflich bemerkt. Durch die naturhafte Veranlagung der menschlichen Vernunft, die ihren Inhalt nicht nur erkennt, sondern als praktische Vernunft zur Norm gestaltet, wird die natura humana zur Norm in uns selbst, und zwar immer in gleicher Weise (vgl. dazu das Kapitel «Ausweg aus der Rechtsunsicherheit» in dem Buche «Freiheit und Bindung des Eigentums», von A.-F. UTZ, Heidelberg 1948). Auf dieser Basis vermag die Naturrechtslehre, für welche die Idee der Delegation immer grundlegend war, in der Tat die menschliche Natur, auf Grund des in ihren Seinsstrebungen enthaltenen Finalitätsprinzips, als normgebenden Faktor vor aller staatlichen Gesetzgebung nachzuweisen. Es gibt nicht nur

die causa efficiens, sondern auch die eigentümliche Kategorie der Zweckkausalität (causa finalis).

Naturrecht als derjenige Teil des natürlichen Sittengesetzes und damit des in der Natur des menschlichen Seins gründenden ethischen Sollens, der die zwischenmenschlichen Beziehungen auf Grund der Gerechtigkeit regelt, bedeutet Einheit von Sein und Sollen, die Verankerung der deontologischen Ordnung in der Ontologie. Der Urheber alles geschaffenen Seins bekundet auch in der Rechtsnorm seinen Willen. Zwei Gegebenheiten in der Wirklichkeit der menschlichen Natur sind, wie Messner betont, grundlegend für den Charakter des traditionellen Naturrechts: das Bewußtsein des Menschen von Prinzipien, die ein Sollen für ihn einschließen, und sodann das Bewußtsein von der Wesenhaftigkeit dieser Prinzipien für das spezifisch menschliche Verhalten. Das Christentum hat von jeher den Anspruch erhoben, dem Menschen, der nach sicherem Halt in der Gestaltung seines Daseins sucht, auch für den Bereich der Sittlichkeit und des Rechts oberste Maßstäbe des Denkens und des Handelns darzubieten (Messner). Es war sich dabei bewußt, daß die letzte und eigentliche Quelle des Rechts weder beim Staate noch beim Menschen, sondern jenseits von Staat und Mensch zu suchen und zu finden ist.

VI. Die Begründung der Menschenrechte

Die persönlichen Freiheitsrechte —wie Glaubens- und Gewissensfreiheit, Vereinsfreiheit, Recht der freien Meinungsäußerung, Eigentumsgarantie usw. — sind primäre Naturrechte, die unmittelbar die menschliche Person in ihrer Einheit und Ganzheit betreffen. Ihre Geschichte reicht weit zurück und beginnt nicht erst mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom Jahre 1776 und der nach diesem Beispiel erfolgten französischen «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte» von 1789. Die Menschenrechte gehören seither zum Grundbestand des neuzeitlichen Verfassungs- und Rechtsstaates, und es stellt zweifellos ein großes Ereignis in der Geschichte der Menschheit dar, daß die Vereinten Nationen in der am 10. Dezember 1948 feierlich proklamierten «Déclaration universelle des droits de l'homme» erstmals in einer internationalen Urkunde (charte) menschliche Grundrechte formuliert und aufeinander abgestimmt haben. Die gegenseitige Abgrenzung dieser Rechte ist eine anerkennenswerte Leistung der UNO. Die bis jetzt nicht sehr verheißungsvollen Bemühungen

der von ihr eingesetzten «Commission des droits de l'homme» um die Bereinigung der beiden internationalen Ausführungsverträge (Projets de pactes internationaux relatifs aux droits de l'homme et mesures de mise en oeuvre) haben indes gezeigt, wie schwer es hält, die schönen und feierlichen Erklärungen auf internationaler Ebene in die Tat umzusetzen. Die Meinungen gehen bei der Frage, wie man sich die Grundlegung und Verwirklichung der Menschenrechte vorstellen soll, weit auseinander, was angesichts der diametral entgegengesetzten Geistesströmungen, die hier vorhanden sind, und der Rechtfertigungsversuche unter verschiedenen weltanschaulichen und philosophischen Voraussetzungen nicht überraschen kann (vgl. darüber die unter dem Patronat der Unesco vom Europa-Verlag, Zürich 1951, herausgegebene Schrift «Um die Erklärung der Menschenrechte». Mit einer Einführung von Jacques Maritain. 388 S.).

Die Dogmengeschichte der Menschenrechte ist aufschlußreich für die in praktischer Hinsicht anscheinend belanglose, in Wirklichkeit aber höchst bedeutsame Wandlung, welche die Begründung dieser Rechte im allgemeinen Säkularisierungsprozeß der Neuzeit erfahren hat. An der Wiege der Freiheitsrechte stand unverkennbar die Metaphysik des Naturrechts mit der Auffassung, daß die menschliche Person auf Grund ihres Wesens gewisse fundamentale Rechte besitze, die vom Schöpfer verliehen seien und die folglich der Staat weder geben noch entziehen könne. Die Amerikaner haben sich in

ihren Verfassungen noch deutlich darauf berufen. Im Vertrauen auf die Stärke des abendländischen Rechts- und Kulturbewußtseins und in der Überzeugung, daß der Respekt vor der menschlichen Person sich eigentlich von selbst verstehe, glaubte das liberale Staatsdenken auf jede metaphysische Begründung dieser Rechte verzichten zu dürfen und ohne Besinnung auf ein höheres, überstaatliches Recht auskommen zu können. Die ihres tieferen, religiös-sittlichen Gehalts entledigten Freiheitsrechte wurden in rein bürgerliche Kategorien umgeprägt, in der Meinung, für ihre Geltung und Anerkennung sei allein die Verankerung in Verfassung und Gesetz entscheidend. Es ist gewiß von größter Bedeutung, daß der Staat als Ordnungsgarant die unveräußerlichen Grundrechte der menschlichen Person für den staatlichen Bereich als verbindlich anerkennt und ihnen, soweit es in seiner Macht liegt, eine möglichst umfassende Nachachtung sichert. Die groben Verletzungen elementarster Menschenrechte durch den Totalitarismus unseres Jahrhunderts haben aber mit aller Schärfe gezeigt, daß auf weltanschaulich neutralem Boden die immerwährenden Schicksalsfragen der staatlichen und rechtlichen Ordnung sich nicht so mühelos lösen lassen. Alle bisherigen positivrechtlichen Sicherungen haben sich in der Krisis des Staatslebens als unzulänglich erwiesen. Ohne Rückhalt an einer außerstaatlichen Macht von moralischer Autorität, ohne Berufung auf den christlichen Schöpfungsglauben, ohne die Überzeugung von der Geltung des natürlichen Sittengesetzes und ohne den Willen, es zu

achten, sind die Menschenrechte gefährdet trotz aller schönen Worte. Angesichts der Erfahrungen der Geschichte, die zeigt, daß bloß profane Erklärungs- und Handlungsprinzipien für sich allein nicht genügen, um die Völker im Glauben an die Menschenrechte zu bestärken, ist die Indifferenz einer Geisteshaltung, die in dem Weltanschauungsproblem eine für den Staat unverbindliche und unerhebliche Privatangelegenheit glaubte erblicken zu dürfen, innerlich unhaltbar und unverantwortbar geworden.

Die Menschenrechte sind nicht lediglich eine Folge der historischen Entwicklung der Gesellschaft. Mit diesem Verständnis können sie in ihrem vollen Umfange und in ihrer ganzen Tiefe bei weitem nicht ausgeschöpft werden. Die Freiheitsrechte sind vielmehr Ausstrahlungen der menschlichen Person und mit dem Sein des Menschen unlösbar verbunden. Der Mensch hat unabdingbare, vor- und überstaatliche Rechte auch gegenüber dem sozialen Ganzen, weil er durch göttliche Setzung als Person geschaffen ist: das ist christliche Auffassung. Das Christentum ist heute zur Zufluchtsstätte jener Persönlichkeitswerte geworden, die in diesseitigen Weltanschauungen untergehen müssen. Nur in einer theistischen Weltschau und der ihr entsprechenden Hierarchie der Werte sind die geistigen Voraussetzungen gegeben für die Verteidigung der menschlichen Person als eines unantastbaren Wertes gegenüber totalitären Lehren und Anforderungen.

Die menschliche Person ist eine metaphysische Tatsache

und keine Schöpfung des Staates; sie kann ihre Freiheit, ihre Würde, ihre Selbstbestimmung und ihre Selbstverantwortung nicht an den Staat abtreten, um sie hinterher in der Form von staatlich verliehenen Persönlichkeitsrechten zurückzuempfangen. Nur wenn wir eine sowohl unableitbare als auch unverlierbare Rechtsfähigkeit aller Menschen anerkennen und an dem Gedanken der Ursprunghaftigkeit der menschlichen Person festhalten, geben wir den Freiheitsrechten ein unerschütterliches rechtliches Fundament. Nur in diesem Zeichen, in der metaphysischen Dimension, gewinnt die Besinnung auf die Menschenrechte, zu der die Unesco jeweils zum Gedenken an den Jahrestag der «Déclaration universelle des droits de l'homme» auch die Universitäten aufruft, die volle Überzeugungs- und Durchschlagskraft. [Zur Erweiterung dieser Ausführungen über die Grundlegung der Menschenrechte sei verwiesen auf die Abhandlungen in der Festgabe der Juristischen Fakultäten der schweizerischen Universitäten zur Hundertjahrfeier der Bundesverfassung, 1948: «Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht», sowie auf die Beiträge von Pierre Aeby («Notre personne humaine») und Antoine Favre («Notes sur la condition de l'homme libre dans l'Etat fort») in der Festgabe der Juristischen Fakultät Freiburg zur 77. Jahresversammlung des Schweizerischen Juristenvereins, 1943.]

VII. Die Spannung zwischen Positivität und Idealität des Rechts

In diesem Spannungsfeld, in der möglichen Diskrepanz von Wertidee und sittlichem Sollen auf objektiv einsichtiger Grundlage einerseits und dem Normativitätsanspruch der faktischen Macht anderseits, liegt zu einem guten Teil die Problematik von Recht und Staat. Es geht dabei um die grundsätzliche und entscheidende Stellungnahme zur Frage, ob der Staat die höchste und einzige Quelle des Rechts sei und ob folglich nur das positive, das vom Staate selber gesetzte Recht verbindlich sei. Bei dieser für das Zeitalter des Liberalismus charakteristischen Annahme kann es ein Problem von Staat und Recht überhaupt nicht geben; denn alles positive Recht ist voraussetzungsgemäß auch richtiges Recht, und es kommt praktisch nur darauf an, daß die Rechtsordnung in Übereinstimmung gebracht werde mit dem allgemeinen Kulturbewußtsein der Nation und der Zeit. Wenn Recht gleichbedeutend ist mit Rechtsverwirklichung, kann nur der Staat der Schöpfer des Rechts sein.

Nach den schlechten Erfahrungen, die wir mit dem säkularisierten Staate gemacht haben, wissen wir nun, wohin diese metaphysikscheue Auffassung führt und welche völlig absurden Konsequenzen sich daraus ergeben können. Wenn der Staat oder das Volk die höchste und letzte Instanz der Rechtsschöpfung ist, dann wird auch die totalitäre Lehre von Mensch und Gemeinschaft unanfechtbar. Wer sich zur menschlichen Person als einer natürlichen Rechtsnorm durchgerungen hat, wird sich durch die scheinbar spielende Lösung der Probleme auf der Ebene des Rechtspositivismus nicht täuschen lassen. Das Recht als geregelte Wirklichkeit aus geistiger Sicht besitzt niemals bloße Positivität, bloß wirklichkeitsgestaltende Kraft, sondern auch Idealität und Wertcharakter in Verbindung von Sein und Sollen.

Der Rechtsdualismus im Sinne der Abspaltung eines bloß formal konzipierten Rechtsbegriffs von der Gerechtigkeitsidee als dem Ideal des Rechts ist letzten Endes sinnlos, da von diesem Standpunkte aus kein gültiges Urteil möglich ist. Das Normensystem muß widerspruchslos sein. Man kann den Menschen nicht kontradiktorischen Verhaltensmaßregeln unterstellen. «Sowohl das rein begriffliche wie auch das praktische Denken zwingt zum Schluß auf die Einheit des Rechts: das begriffliche Denken, insofern «Recht» als solches nicht zwei gegensätzliche Inhalte in gleicher Weise qualifizieren kann, sondern den einen als Recht, den andern als Unrecht bezeichnen muß; auch das praktische Denken, insofern wir mit einer Doppelspurigkeit des Rechts niemals zur

Ruhe kämen» ... «Was die Positivisten noch Recht nennen, weil es tatsächlich bei den Menschen in Geltung ist, das nennt Thomas von Aquin, wenn es den ewigen Normen innerlich widerspricht, Unrecht im Sinne von nichtigem Gesetz, von Nicht-Recht, reine Gewalt» (A.-F. UTZ, Die Krise im modernen Naturrechtsdenken, in der Zeitschrift «Die neue Ordnung», Köln 1951, 201 ff.; DERS., Naturrecht im Widerstreit zum positiven Gesetz, a. a. O. 313 ff.; vgl. ferner seinen Kommentar zu Band 18 (Recht und Gerechtigkeit) der deutschen Thomas-Ausgabe, 1953).

Das Schlagwort von der Alleingeltung des positiven Rechts lenkt ab «von der Seele und der Substanz des Rechts» (Weissenrieder). Wer bei der Untersuchung des positiven Rechts Halt macht und der Frage nach dem Gerechten und damit nach dem letzten Grunde des Rechts ausweicht, kommt dazu, das Gewissen zu verleugnen und es seiner Autorität zu berauben. Das Naturrecht als überstaatliches Recht und unabdingbare Voraussetzung für die Geltung und richtige Gestaltung des positiven Rechts spricht das aus, was sein sollte, auch wenn es tatsächlich nicht ist. Wird das Naturrecht bloß als juristisch irrelevantes ethisches Postulat und nicht als deontologischer Grundsatz mit idealer Geltung aufgefaßt, so könnte es nie im eigentlichen Sinne verbindlich werden. Man soll nicht leichterhand und selbstverständlich nicht vor Erschöpfung aller Rechtsmittel dem Naturrecht den Vorzug geben. Es gefährdet sich übrigens selbst, wenn es allzu deduktiv wird und in ein bloß subjektivistisches

Vernunftrecht ausartet. Es gibt aber ein Widerstandsrecht bei offensichtlicher und freventlicher Verletzung der elementarsten Menschenrechte durch eine tyrannisch entartete Staatsgewalt. Wenn der Staat sich nicht mehr durch die ihm überlegene sittliche Gesamtordnung gebunden erachtet, so bereitet er sich seinen Niedergang und Untergang; er verliert damit zugleich die höchste Rechtfertigung seines Daseins und gegenüber dem Untertan die sittliche Vollmacht zum Handeln.

Das Recht stellt in seinem Ursprung eine metaphysische Größe dar, zu welcher der Staat als Hüter und Organisator der Rechtsgemeinschaft im Verhältnis des Mittlers steht. Es ist freilich ein schweres Problem, die materialen Prinzipien des rechtlichen sozialen Handelns eindeutig zu bestimmen und die Seinsordnung mit der Sollensordnung in Einklang zu bringen. Nach der Meinung der Relativisten nimmt die Menschennatur die Gestalt an, die jeder sich wünscht. Es sind aus ihr in der wechselvollen Geschichte des Naturrechts auch die verschiedensten Folgerungen gezogen worden. Hans WELZEL hat in seinem bereits angezogenen Buche «Naturrecht und materiale Gerechtigkeit» die Irrfahrten des menschlichen Geistes auf der Suche nach den obersten Handlungsprinzipien des Rechts reizvoll aufgezeigt und ist dabei in nüchterner Skepsis gegenüber den «idealen Wertwesenheiten» des Naturrechts zur Schlußfolgerung gelangt, daß in der ewigen Spannung zwischen Geist und geschichtlicher Wirklichkeit die positivistische Machtfülle des Gesetzgebers nur durch die «ontologischen

Grundgegebenheiten» und «sachlogischen Strukturen» gebunden sei. «Gott hätte wohl den Judas selig machen können, nicht aber einen Stein» (Duns Scotus). Gewiß sind schon die logischen Seinsprinzipien geeignet, das Unrecht abzuwehren. Die contadictio in adjecto, der Widerspruch mit sich selbst, ist das sicherste Kennzeichen der Willkür. Das sachliche Anliegen des Naturrechts geht aber darüber hinaus und unternimmt es, auf Grund des ontologischen Gesetzes und der metaphysischen Seinsweisen eine verpflichtende Sollensordnung abzuleiten, «weil die menschliche Vernunft von Natur darauf angelegt ist, die objektiv vorliegenden Sachverhalte in ihrem Normgehalt zu erkennen und als Norm auszusprechen» (A.-F. UTZ, Kommentar, 444). Gewiß läßt sich das Naturrecht als geistig zu erarbeitendes Prinzip nicht empirisch erfassen, aber das bedeutet keineswegs, daß die Naturrechtsprinzipien unfaßbar oder unklar und aus diesem Grunde praktisch belanglos seien. Das in der Natur des Menschen und der Dinge gründende Sollen und die darauf gestützten Wertvorstellungen besitzen so viel Evidenz, daß in ihrem Lichte und geleitet von einem geläuterten Rechtsbewußtsein und immanenten Rechtsgefühl die grundlegenden Probleme des Rechtes und des Staates getrost in Angriff genommen werden können, nicht im Sinne einer Entgegensetzung, sondern einer lebensvollen Synthese von überstaatlichem und positivem Recht. [Vgl. dazu auch Helmut COING, Die obersten Grundsätze des Rechts, Heidelberg 1947. — Dieser Autor betrachtet die Naturrechtsprinzipien

als Leit- und Grenzsätze des positiven Rechts: Leitsätze insofern, als das positive Recht bei der konkreten Rechtswertgestaltung jene Grundsätze als Richtschnur nehmen muß; Grenzsätze insofern, als ein Recht, das sich mit ihnen in Widerspruch setzt und nicht nach den obersten Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit ausgerichtet ist, nicht mehr als echtes, sittlich begründetes Recht anerkannt werden kann (S. 57).]

VIII. Durchbruch zu einer materialen Rechtsbetrachtungsweise

Dieser bedeutungsvolle Wandel, den wir heute erleben, zeichnet sich besonders auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts ab. Es geht dabei um existenzielle Grundfragen unserer Zivilisation.

1. Die Wertbezogenheit der rechtsstaatlichen Demokratie

Die Frage nach ihrem Sinngehalt wird selten gestellt, und doch kann man, wenn man darüber nicht im Bilde ist, nicht einmal die Bundesverfassung vernünftig interpretieren; denn jede Interpretation ist wertbezogen. Darüber sind wir Juristen uns heute klar geworden. Die Demokratie ist überhaupt nur möglich, wo bestimmte geistige und moralische Grundbedingungen erfüllt sind. In einer Zeit, wo die Völker mit Warnungen und Enttäuschungen überhäuft sind und durch die Erfahrung belehrt werden, daß sie auch von Ideen leben, die ihnen erst Kraft und Würde verleihen, hat auch die schweizerische Demokratie allen Anlaß, sich auf die wahren geistigen

Grundlagen ihres staatlichen Daseins zu besinnen und die entscheidenden Lebensfragen von grundsätzlichen Gesichtspunkten aus zu betrachten. Der Staat beansprucht für sich die überlieferte Autorität; er verpflichtet die seiner Herrschaft unterstellten Menschen auf die Teilnahme an seinem Gesamtschicksal. Für die staatsbürgerliche Erziehung zum pflichtgetreuen Dienst am staatlichen Ganzen ist aber ein bloßer Pragmatismus, der nur zu leicht an den Wesenszusammenhängen und den Grundtatsachen unseres staatlichen Lebens vorbeiredet, keine ausreichende Grundlage. Utilitarismus und Kompromiß, die die staatlichen und gesellschaftlichen Belange entscheidend beeinflussen, sind keine obersten Staatsmaximen. Mit bloßem Wohlbehagen läßt sich keine ethische Verpflichtungskraft begründen. Das moralische und rechtliche Bewußtsein zwingt uns, einen Unterschied zu machen zwischen dem, was unseren materiellen Vorteilen dient, und dem, was durch die Pflicht befohlen wird. Die menschlichen Handlungen müssen nach wahren Bewertungsprinzipien beurteilt werden. «Das einseitig wirtschaftlich-materialistische Streben schwächt den Sinn für geistige Werte; es erhärtet Herz und Gemüt und läßt die Seele verarmen» (Bundespräsident M. Feldmann). Das Christentum ist nie müde geworden, den Primat des Geistigen über das Materielle zu verkünden und die Seele aus der Abhängigkeit vom Nutzen zu befreien. Nur unter dieser Voraussetzung kann es der vielgestaltigen schweizerischen Nation gelingen, immer mehr Eigenwert und gehobene Bildung in sich aufzunehmen.

Ihre Krise ist, soweit sie besteht, in erster Linie eine Krise ihrer Werte.

Jeder Staat ist das Produkt einer besonderen historischen, kulturellen, politischen und geographischen Situation. Die Ausprägung einer Staatsidee ist daher kein willkürlicher Akt. Die Staatsidee entspricht vielmehr einem konkreten Vorstellungsinhalt von höchster geschichtlicher Potenz unter Zugrundelegung von Wertvorstellungen, zu deren Verwirklichung der staatliche Verband kraft seiner spezifischen Eigenschaften berufen ist und über die er sich nicht hinwegsetzen kann, ohne sein Wesen und seine Eigengesetzlichkeit zu verlieren.

Die Theorie bedient sich gerne gewisser aprioristischer Kategorien, um die so einzigartige Wirklichkeit des schweizerischen Staates hineinzugießen. Der starre Doktrinarismus ist aber inoperant und bedeutet nur die Verschleierung der Ohnmacht. Das vielberufene «Wunder» der Eidgenossenschaft ist nur von ihr selbst her und nicht von einer ideologischen Leitlinie oder abstrakten Doktrin her zu begreifen. Im Grunde bleiben die theoretischen Auseinandersetzungen sehr oft am Rande des Geschehens. Es wurzelt tiefer, und das staatliche Bewußtsein wird aus ganz anderen Quellen gespiesen.

Unsere Generation, deren geistige Grundlagen unsicher und schwankend geworden sind, ist organisationsgläubig und im Wahn befangen, mit einer Flut von Paragraphen und sogenannten Maßnahmen das Verblassen der kulturellen Grundideen ausgleichen zu können. Organisation ist aber von Ordnung grundverschieden.

Es ist ein Irrtum anzunehmen, die Organisation als solche trage schon die Gewähr einer richtigen Sachordnung in sich. Organisation ist nur da wirksam und sinnvoll, wo sie sich auf eine vorgeformte tiefere Ordnung stützen kann.

Der institutionelle Ausbau unserer Demokratie ist an sich und für sich allein noch kein Gradmesser ihrer Vollkommenheit. Die Theoretiker des modernen Rechtsstaates haben die Dinge allzulange nur durch die Brille des Formellen gesehen. Das genügt nicht. Nur die Bindung an materiale Rechtsätze kann die Ansprüche auf individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit miteinander ins Gleichgewicht bringen. Wo man sich mit dem bloßen Formalismus der Legalität zufrieden gibt, da ist das Staatsethos und damit die Kraft der Gemeinschaftsbindung im Erlöschen begriffen. Mit einer bloß formellen Bereinigung des Gesetzesbegriffes und der Verbesserung des Rechtssetzungsverfahrens sind nicht alle Probleme gelöst. Der Formalaspekt der Demokratie fällt für die Erhaltung des schweizerischen Staatswillens nicht so entscheidend ins Gewicht; man muß kritische Zurückhaltung üben gegenüber der Überschätzung bloß rationalistischer Methoden zur staatlichen Willensbildung. Es genügt auch nicht, daß im Staate vermöge der psychologischen Wirkung der Macht entartete tatsächliche Verhältnisse allmählich den Charakter des Normativen annehmen. Die Regeneration eines Staates ist zur Hauptsache nicht ein technisches und juristisches, sondern vielmehr ein vitales, politisches und moralisches Problem.

Jede Staatsform ist in einem gewissen Sinne eine komplementäre Ordnung; sie muß mit der Wirkung anderer, außerrechtlicher Kräfte rechnen, die mit dem Rechte zusammen den für die Gemeinschaft besten Zustand herbeiführen sollen (vgl. dazu Dietrich SCHINDLER, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 1944²). Der heutige, das soziale Leben weithin gestaltende Staat wird im Vollsinn des Wortes erst dann zum sozialen Rechtsstaat, wenn er alle staatsbegründenden Faktoren, insbesondere die drei Elemente der Autorität, der Legitimität und der Legalität tatsächlich in sich vereinigt. Der soziale Körper bedarf daneben, wenn er gesund sein soll, auch der gleichzeitigen Verwirklichung der Grundsätze der Freiheit und Gleichheit.

a) Autorität und Demokratie. Ohne wahre politische Autorität aus göttlichem Ursprung kann auf die Dauer auch die Demokratie nicht auskommen. «Non est enim potestas nisi a Deo» (Röm. 13, 1-7). «Die (bestehende) Gewalt ist Gottes Dienerin zu deinem Besten», Rächerin für den, der Böses tut; «denn sie trägt nicht umsonst das Schwert». Der Rationalismus vermag für dieses außerordentlich nachdrückliche Pauluswort im Brief an die Römer kein rechtes Verständnis aufzubringen, und doch wurde es vom Historiker Ranke als eines der wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte gewürdigt; denn damit erhielt die Staatsgewalt, wie sie — ungeachtet aller Entstellung in der geschichtlichen Wirklichkeit — in der Idee und nach dem Schöpfungsplan besteht, die

innere Weihe ihres göttlichen Ursprungs und wurde das staatsrechtlich so bedeutsame und durchgreifende Prinzip der Legitimität verkündet.

Das Bedürfnis, sich einer Autorität unterzuordnen, liegt tief in der Menschennatur begründet. Der Mensch kann ohne Autorität nicht leben. Das gilt nicht nur für leitungsbedürftige fromme Seelen und das schlichte Volk, sondern für jedermann. Der Staat als Träger von Macht, Ordnung und Kultur drängt sich zunächst äußerlich auf und setzt sich durch. Soll aber die Autorität den Menschen wirklich ansprechen, dann muß sie immer auch innerlich sein, sonst bleibt es bei der Setzung, beim Nomos, statt des Logos (so A. MEYER in RGG, S. 683). Es gibt umgekehrt keinen inneren Menschen ohne notwendige Wechselwirkung zum äußern. Es war stets christliches Überzeugungsgut, daß ein Höheres, Göttliches, die Staatsgewalt gesetzt habe und ihr fortwährend Stärke und ihren Verfügungen die Sanktion verleihe. (Das christliche Autoritätsprinzip ist von Leo XIII. in der Enzyklika «Diuturnum illud» vom 29. Juni 1881 über den Ursprung der staatlichen Gewalt eingehend dargelegt worden gegenüber allen Theorien, welche die Revolution rechtfertigen wollen.)

Die Möglichkeit, andere zu verpflichten, kann nur begründet sein in der sittlichen Weltordnung, die bestimmt ist durch den göttlichen Weisheits- und Heiligkeitswillen, den ewigen Urgrund aller sittlichen Wortbestimmung, Gesetzgebung und Verpflichtung. Auf dem Boden des Atheismus ist die Begründung einer verpflichtenden

Autorität gar nicht möglich; denn ohne Gott als Ursprung alles Seins und Lebens fehlt ein letzter Stützpunkt. Die Autorität, das eigentliche Kernproblem des öffentlichen Rechts, bildet den schwächsten Punkt im modernen religionslosen Staatsrecht. Es geht dabei weniger um ein Anliegen der Politik, als vielmehr um eine Urfrage der Kultur und der Lebensanschauung.

Mit der Idee des Politischen an sich und der Eigengesetzlichkeit im staatlichen Bereich, ein Grundgedanke der modernen Staatslehre, ist die Staatsgewalt im tiefsten Grunde noch nicht gerechtfertigt. Die für das Staatsleben so notwendige obrigkeitliche Gewalt ist etwas anderes als der Ausdruck des angeblichen Gesamtwillens im Sinne der Volkssouveränität Rousseau's. Wenn nach dieser Lehre das «pouvoir constituant», die Souveränität, die Quelle der Staatsgewalt im Volke ruht, also bei den Menschen, welche den Staat bilden, so kann diese Quelle nicht erst vom Staate hervorgebracht sein. Die Demokratie und die Lehre von der Volkssouveränität setzen den Menschen als ursprüngliches Rechtssubjekt auch im Staatsrecht voraus. Der Staat kann nicht selber die Gewalt schaffen, die ihn begründet. Das Volk als Rechtsbegriff entsteht erst, wenn die Menge zu einer politischen Einheit organisiert ist. Das organisierte Volk ist aber bereits Staat, zu dessen Wesenselement die obrigkeitliche Gewalt gehört. Nur durch einen Circulus vitiosus kann also die letzte Quelle der Staatsgewalt im Volke gefunden werden. Auch in der Demokratie werden die Träger der obrigkeitlichen Gewalt nur bezeichnet,

aber nicht das Volk oder die Mehrheit der Stimmenden ist Quelle der staatlichen Autorität. Die verfassunggebende Gewalt, die als Ausfluß des politischen Urwillens Legitimität besitzt, bestimmt nur, wie der Staat aufgebaut werden soll. Der Staat selber aber ist keine willkürliche Veranstaltung, sondern eine in der Sozialnatur des Menschen begründete natürliche Gemeinschaft. Die ursprünglichen, unableitbaren Befugnisse zur Lenkung dieser Gemeinschaft können zwar durch Verfassung und Gesetz normiert, aber nicht kreiert werden; sie besitzen sittliche Notwendigkeit.

Es gibt daher nicht eine absolute, von jeder Rechtsmetaphysik, Sittlichkeit und Religion losgelöste Volkssouveränität. Der wirklichkeitsfremde Konstitutionalismus hat mitunter Mühe, die omnipotente Volonté générale des radikalen Demokratismus an irgendeine rechtliche Ordnung zu binden. Indes kann auch das Volk Unrecht tun. Rousseau selbst gesteht: «Die herben Gesetze der Freiheit sind manchmal strenger als das harte Joch der Tyrannen». Das christliche Autoritätsprinzip ist aber unvereinbar mit einer Schrankenlosigkeit der Staatsgewalt und einem kollektiven Subjektivismus, der keine Grundwerte anerkennt. Damit ist das richtige Recht nicht gesichert. Die juristische Allmacht und Allzuständigkeit einer rein zahlenmäßigen Mehrheit ist ohne Bezugnahme auf das innere Autoritätsprinzip ethisch sinnlos, meint auch Werner Kägi. Die öffentliche Autorität darf nur zum Wohle des Staates und zum Nutzen des sozialen Gesamtkörpers ausgeübt werden. Die Herrschaft

ist nicht Willkür, der Gehorsam nicht Knechtschaft. Das Christentum war stets ein Hort der Freiheit gegen alle geschichtlich bekannten Formen des Absolutismus und der Staatsvergötterung. Das «Gottesgnadentum» der obrigkeitlichen Gewalt bedeutet beileibe nicht, wie manche es darzustellen beliebten, einen Freibrief für hemmungslose Gewaltmenschen, sondern fordert im Gegenteil den verantwortungsbewußten Dienst an der öffentlichen Wohlfahrt des Volkes, der allein die treue Erfüllung der Bürgerpflichten und die gewissenhafte Ausübung der politischen Rechte sichert und den Untergebenen eine Garantie bietet für eine gerechte und milde Herrschaft ihrer Obrigkeit.

Darin liegt ja last, not least der Sinngehalt unserer Demokratie, wie er tiefsinnig im Worte «Eidgenossenschaft» zum Ausdruck kommt. Das Hoheitszeichen unseres Staates ist das Kreuz. Die Bundesverfassung beginnt mit den Worten: «Im Namen Gottes des Allmächtigen». Das sind markante Hinweise auf den geheiligten Charakter der Eidgenossenschaft und auf den Urgrund, aus dem unsere Demokratie erwachsen ist. Der christliche Staatsgedanke, das Bekenntnis zu den wahren geistigen Grundlagen des Staates, ist die tiefste konstitutive Idee der Schweiz, und sie bietet ihr die sicherste Gewähr für einen gedeihlichen Fortbestand. Damit soll nicht gesagt sein, die Schweiz müsse im formaljuristischen Sinne ein christlicher Staat sein oder bleiben. «Der christliche Staat war ein großes Ideal, ein noch größeres aber ist ein Staat von Christen» (Philipp A. v. Segesser). Die

moderne Demokratie ist eine sehr weltliche Angelegenheit, und am Mark unseres Volkes nagt auch der Wurm des Materialismus und «einer egoistischen Diesseitigkeit» (Max Gutzwiller). Christlich ist die Schweiz jedenfalls in ihrem Ursprung. Schon die Urkantone, die das Werk begannen, haben die res publica unter den Segen Gottes gestellt und damit zum Ausdruck gebracht, daß sie Recht und Freiheit im Sinne der christlichen Wertordnung verstanden wissen wollten und nicht in einem bloß formalistischen Sinne. Ohne Rückbesinnung auf die christlichen Grundlagen, auf denen sie beruht, könnte auch unsere Eidgenossenschaft Gefahr laufen, zu entarten und zu verkümmern. Unser Kleinstaat muß heute eine moralische Macht sein, wenn er das Recht zum Fortbestand sichern will. Je tiefer dabei sein Schwerpunkt liegt, desto fester und dauerhafter wird er sein. In einer subjektivistischen Staatsauffassung sind alle Ideale der Menschheit dem materialistischen Zuge des Verderbens preisgegeben.

b) Freiheit und Gleichheit als politische Organisationsprinzipien. Wie bei allen Menschen und Völkern, so ist namentlich auch in uns Schweizern der Freiheitsdrang (der freilich oft nicht weiß, wo er hinaus will) eine stets lebendig wirkende Kraft. Der Wille zur Freiheit ist uns angeboren; wir ertragen den Zwang willig nur, wenn wir von dessen Notwendigkeit überzeugt sind. Es ist für unser Bewußtsein eine selbstverständliche Wahrheit, daß der Staat für den Menschen da ist (und nicht umgekehrt:

der Mensch für den Staat). In christlicher Schau verkörpert der Staat nicht die Erfüllung des menschlichen Wesens. Die bürgerliche Freiheit, der Respekt vor der Würde und Eigenständigkeit der menschlichen Person im Sinne der abendländischen Tradition und nach göttlicher Bestimmung, ist ein Lebensgesetz unserer Demokratie und soll es bleiben.

Der Freiheitsdrang kann sich schöpferisch nur auswirken, wenn er anerkennt, was er an echten Werten schon vorfindet. Die Eidgenossenschaft ist eine Schicksals- und Gesinnungsgemeinschaft von Gleichberechtigten und Gleichverpflichteten, mit Selbstbestimmungsrecht, auf der Grundlage unverbrüchlicher Treue, der Treue auch zu dem geschichtlichen und geistigen Erbgut an politischen und kulturellen Werten. Darin liegt der Gedanke einer Verpflichtung. Ein Volk, das seine Tradition aufgibt, gibt seine Zukunft auf. Die Treue gegenüber der Geschichte ist eine erste Tugend des Bürgers und vorab des schweizerischen Staatsmannes, der mit der Geschicklichkeit zum Verbessern die Kraft zum Erhalten verbinden muß.

«Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß» (Goethe). Man muß sich bewußt bleiben, daß in der Demokratie ein jeder seine Freiheit nur besitzen kann durch Einfügung, Unterordnung und Anteilnahme am Gesamtschicksal der Nation. Die Freiheit besteht nur, wenn sie einem Sinn und Zweck verhaftet ist. Es kann sich nur um eine Freiheit von der Zwangsordnung handeln, die über das in der Gemeinschaft

nun einmal unumgängliche Maß hinausgeht. Die Ordnung, die ein Höchstmaß an Freiheit garantieren will, ist dem Mißbrauch der Freiheit ausgesetzt, wenn sie nicht durch die Verantwortungsbereitschaft des einzelnen aufgewogen wird.

Bei aller Gleichberechtigung und Gleichverpflichtung darf auch nie übersehen werden, daß unter der demokratischen Staatsform die falsche Übertragung von Freiheit und Gleichheit auf Lebensgebiete, wo nur die Qualität entscheiden sollte, besonders nahe liegt. Der Gleichheitsfanatismus, der schematisch unterschiedslose Egalitarismus ist gefährlich und schädigt indirekt den Staat selber. Im übrigen verdient Oskar BAUHOFER vollen Beifall, wenn er in meisterhafter Formulierung schreibt: «In der ewigen Dialektik von Freiheit und Unfreiheit, welche die abendländische Welt bewegt, ist letzten Endes entscheidend der Wille zur Freiheit. Für den aber gibt es nicht Sicherungen, wohl aber verbindliche Kriterien des Handelns» ... «Das rein formale Prinzip der ,Herrschaft des Gesetzes', das dem Rechtspositivismus alleiniges Kriterium ist, bietet in seiner juristischen Logik keinerlei evidente Einspruchsmöglichkeiten gegen eine Deviation in den Totalitarismus, der noch immer als Rechtsstaat aufzutreten vermag. Anderseits aber läßt das an sich berechtigte Vertrauen in die Wirksamkeit der rechtlich fundierten Institutionen einer Demokratie allzuleicht die hochbedeutsame Tatsache verkennen, daß die menschliche Freiheit nicht primär auf sachhaften Institutionen ruht, sondern auf dem von der menschlichen

Person, von einem Volke verantworteten politischen Urwillen. Diesem Urwillen aber korrespondiert ein politisches Leitbild, das Leitbild der Freiheit.»

c) Freiheit und soziale Sicherung. Wie alle staatlichen Belange, ist auch die polare Spannung zwischen Freiheit und sozialer Sicherung nur auf Grund eines wertenden Ethos zu lösen. Ohne eine anerkannte Wertordnung mit sittlichem Beurteilungsmaßstab läßt sich keine wirkliche soziale Sicherheit erreichen. Das Ethos ist anfechtbar, das nur auf den einzelnen Menschen oder nur auf die Gemeinschaft schaut. Extreme Lösungen haben keine wirklichkeitgestaltende Kraft; sie stehen auch nicht im Einklang mit den obersten Staatsgrundsätzen unserer Demokratie, die auf das Maßvolle, auf Einschränkung und Zusammenspiel ausgerichtet ist und Verständnis hat für die Polarität des Lebens.

Der Typus des heutigen «Versorgungsmenschen» neigt dazu, die Freiheit für die Sicherung preiszugeben. Es ist die wichtige Aufgabe einer verantwortungsbewußten Erziehung, den Blick zu schärfen für den höheren Wert der Freiheit. Sie darf nicht um den Preis überspannter Anforderungen an die Sicherheit verkauft, umgekehrt aber auch nicht durch ein zu geringes Maß von sozialer Sicherheit untergraben werden. Es fordert zur Kritik heraus, wenn die Freiheit bei minimaler Sicherung gewahrt werden soll und nur mit heroischen Tugenden aufrechterhalten werden kann. Dem verwöhnten Referendumsbürger unseres Kleinstaates, der dazu bestimmt

ist, auf beschränktem Raume ein Maximum an Leben zu entfalten, darf immerhin ein gutes Maß an Opfern zugemutet werden. Ohne diesen Opfersinn hätte es nie eine schweizerische Eidgenossenschaft gegeben.

Der Ausgleich der widerstreitenden Interessen war von jeher der Gegenstand der Rechtsordnung. Der Staat als kulturschaffende Macht und Treuhänder des Gemeinwohls hat gewaltige Aufgaben; es wird aber immer streitig sein, wie weit seine Funktionen reichen. Grundsätzlich ist die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung im Sinne des christlichen Rechts- und Wohlfahrtsstaates so zu gestalten, daß die Glieder der Gesellschaft das höhere und geistige Gut der Freiheit tatsächlich und unter normalen Bedingungen zu verwirklichen vermögen. Die Gemeinschaft soll auch jene Sozialgüter zu beschaffen helfen, zu deren Realisierung ein einheitliches Zusammenwirken aller in der Gesellschaft vorhandenen Sozialkräfte erforderlich ist. Dies alles im Geiste und in der Prägung des christlichen Wertsystems, wie es die Päpste in den sozialen Enzykliken, unter nachdrücklicher Betonung des naturrechtlich begründeten Subsidiaritätsprinzips, dargelegt haben.

Dieses umfassende Programm stellt die rechtsstaatliche Demokratie vor schwere Probleme. Es geht dabei darum, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, Rechts- und Wohlfahrtsfunktion des Staates, gegeneinander auszuwägen, unter tunlichster Vermeidung jeder Bürokratisierung des Lebens. Das Ideal kann nicht darin bestehen, daß bald jeder der Angestellte oder doch die Marionette

eines allmächtigen und unförmlichen Ungeheurs «Staat» wird. Die übertriebene Verwirtschaftung des staatlichen Lebens ist verhängnisvoll und ruht auf unmöglichen weltanschaulichen Voraussetzungen. Was uns indes nottut, das ist vor allen Dingen die Erziehung und der Wille zur Iustitia distributiva, zur austeilenden Gerechtigkeit, deren erstes Erfordernis die Sachlichkeit und Unparteilichkeit ist. Der Gesetzgeber soll nach dieser Richtschnur den sozialen Fortschritt realisieren, aber sich davor hüten, das ganze Geschehen selber zu dirigieren, alles selber machen zu wollen und alles besser zu wissen. Eine solche Geisteshaltung führt zum Staatssozialismus, zur Herrschaft der Bürokratie, zur Vernichtung der Freiheit und nebenbei zum Ruin der Staatsfinanzen und des Staatskredites. Der Staat muß auch bestrebt sein, die individuelle und kollektive Selbshilfe zu fördern; er soll sich dabei auf die natürlichen Gemeinschaften, wie Familie und Berufsstand, stützen, die zugleich die natürlichen Zellen des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens sind. Nur so kann es dem Staate gelingen, die einzelnen und die kollektiven Gruppen instand zu setzen, die lebensnotwendigen materiellen und geistigen Güter zu erwerben und den fortschreitenden Prozeß der Bürokratisierung des Lebens in einem erträglichen Rahmen zu halten. (Zur Ergänzung dieser Ausführungen sei verwiesen auf meinen Beitrag «Gedanken zum Spannungsverhältnis von Recht und sozialer Sicherheit» in der Festgabe der Universität Freiburg an die Schweizerkatholiken, 1954, S. 227 ff.)

2. Interessenvertretung und Gemeinwohl

Mit dieser heiklen Frage hat sich der Schweizerische Juristenverein an der Generalversammlung in Schwyz, im Herbst 1954, auseinandergesetzt. Der Referent, Dr. Kurt Eichenberger, äußerte schwere Bedenken gegen den zunehmenden und überbordenden Einfluß der Wirtschaftsverbände auf das staatliche Leben, vor allem die Tätigkeit des Gesetzgebers und die praktische Ausführung der Gesetze. Diese Auffassung ist natürlich nicht ohne Widerspruch geblieben. Ganz im Sinne Rousseau's mit seiner fiktiven Lehre der Identität von Einzel- und Gesamtwille, wurde behauptet, gerade die Vertretung widersprechender Interessen durch die Verbände sei geeignet, einen Ausgleich zu schaffen und so das Gemeinwohl zu fördern. Diese Auffassung ist viel zu einfach, um richtig sein zu können; sie übersieht, daß durchaus nicht das ganze Volk in Verbänden organisiert ist, die in der Lage wären, gleichmäßig alle auseinanderstrebenden Interessen zu vertreten. Auch sind nicht alle Verbände gleich mächtig, weder an Zahl der Mitglieder noch an Finanzkraft. Und daß dabei Kompromisse mit anderen Interessengruppen zustande kommen, macht die Sache nicht besser, im Gegenteil. Es sei nur das ständige Ansteigen der Löhne und Preise erwähnt, wodurch die Lebenshaltung unaufhaltsam verteuert wird, zum Schaden von Bevölkerungskreisen, die dieser Entwicklung machtlos gegenüberstehen.

Auf den politischen Parteien lastet manchmal ein

schwerer Druck von Interessengruppen, die sich im Parlament ihre Vertretung zu sichern wissen. Die Fachleute, auf die man sich beruft, stehen, sofern sie ebenfalls Gruppeninteressen vertreten, der Sache auch nicht völlig unabhängig gegenüber. Bei dieser Lage der Dinge ist nicht ohne weiteres zu erwarten, daß das Gesamtinteresse in der Politik und insbesondere bei der Schaffung der Gesetze sowie bei ihrem Vollzug immer zu seinem Rechte komme.

Im Spiel der Gruppeninteressen sind namentlich die Intellektuellen, die sich noch einen gewissen Idealismus bewahrt haben, nicht zu beneiden. Die Verbände der freien Berufe haben praktisch wenig zu sagen. Im belgischen Parlament besteht seit alters ein besonderer, aus der geistigen Elite aller Parteien gebildeter Ausschuß, der als Sachverständigenkammer in allen zur Beratung stehenden kulturellen und geistigen Belangen zu Rate gezogen wird. Es wäre, wie mich dünkt, sicherlich begrüßenswert, wenn dieses Beispiel unsere National- und Ständeräte zur Nacheiferung reizen und dazu beitragen könnte, den übermäßigen Einfluß des wirtschaftlichen Gruppenegoismus durch eine nachdrücklichere Förderung der wissenschaftlichen Forschung und überhaupt aller Kulturinteressen in etwas auszugleichen.

Auffallende Unterschiede bestehen auch bei den Beamten und den andern öffentlichen Dienstnehmern. Während die Bundesbeamten, vor allem das Personal der SBB, über einen sehr erheblichen politischen Einfluß verfügen, ist das bei den Beamten der Kantone kaum spürbar.

Der Einfluß der Interessenpolitik zeitigt manchmal sonderbare Wirkungen und erzeugt mitunter einen unerwünschten gesetzgeberischen Leerlauf. Anderseits können auch Gesetzeslücken ungerecht sein. Die Überbeanspruchung des Gesetzgebers in der Interessendemokratie bewirkt zwangsläufig, daß berechtigte gesetzgeberische Postulate nicht oder nur mit großer Verspätung erfüllt werden, weil eben keine mächtige Interessenvertretung hinter ihnen steht. Es sei in diesem Zusammenhang an die längst fällige Revision des Bundesgesetzes über die Verantwortlichkeit der eidgenössischen Behörden und Beamten (vom 9. Dezember 1850) erinnert oder etwa auch an die im Nationalrat begründete Motion des Stadtpräsidenten von Freiburg, Dr. Jean Bourgknecht, wodurch er eine gesetzliche Regelung des Verbotes der interkantonalen Doppelbesteuerung verlangte: neben anderen Gründen vor allem mit dem Hinweis darauf, daß — zufolge der veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse — die gegenwärtige Praxis des Bundesgerichts die wirtschaftlich schwächeren Kantone benachteilige. Der Interessenkonflikt ist hier derart, daß ich — bei rückhaltloser Unterstützung des Motionärs —den Optimismus nicht recht aufbringe, überhaupt an das Zustandekommen dieses Gesetzes zu glauben.

Die übermäßige Vertretung von Sonderinteressen macht sich überhaupt und vor allem auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung geltend. Es liegt entschieden nicht im Interesse des Gemeinwohls, wenn Steuern nur noch von einer Minderheit des Volkes entrichtet werden, was

sich durch Erhöhung des Mindestvermögens und Mindesteinkommens sowie übertriebener Sozialabzüge leicht bewerkstelligen läßt.

Augenscheinlich ist der Einfluß der Interessenpolitik auch auf dem Gebiete der Subventionen und der dadurch herbeigeführten Ungleichheiten, ja Mißstände.

Die Schweiz darf nicht zum technischen Apparat einer sturen Interessenpolitik herabsinken. Bloße Bereitschaft zur Interessenverrechnung genügt nicht als Grundlegung der Demokratie. Damit kann auch das «Malaise helvétique», von dem so viel gesprochen wird, nicht behoben werden. Nur mit einer sachlichen Grundlegung der Politik kann man, über alle einseitigen Parteiinteressen hinaus, zum überparteiischen Staatsgedanken gelangen. Die politischen Parteien, die eher als die Wirtschaftsverbände in der Lage sind, allgemeine Interessen zu vertreten, müssen darauf halten, daß sie nicht zu bloßen Handlangern von Interessengruppen degradiert werden.

Die Wirtschaftsverbände müssen im öffentlichen Leben, vor allem bei der Schaffung der Gesetze, selbstverständlich angehört und ihre Interessen berücksichtigt werden, soweit das mit dem Gemeinwohl verträglich ist. Es darf ihnen aber nicht eine politische Machtstellung eingeräumt werden, die sie zu unbeschränkten Herren über das Geschehen auf staatlichem Gebiet machen würde. Der Staat ist nicht eine polizeiliche Wohltätigkeitsanstalt; er ist nicht dazu da, um das Wohlergehen bloß Einzelner oder einzelner Gruppen, unter Ausschluß der übrigen, zu fördern. Das richtig verstandene Gemeinwohl,

die Sorge für Rechtssicherheit und zeitliche Güter, um deretwillen die Gemeinschaft besteht, ist kein bloßes Mittel zum persönlichen Wohlergehen.

Wenn Lösungen durchgezwängt werden wollen, die nicht im Gesamtinteresse liegen, wird jeweils das Stimmvolk und die politische Reife des schweizerischen Referendumsbürgers auf eine schwere und verantwortungsvolle Probe gestellt. Auf's große Ganze gesehen, hat das Schweizervolk diese Probe sicherlich nicht schlecht bestanden und wir können mit Stolz auf seine Bewährung in der Vergangenheit hinweisen. Das Volk schafft aber den Inhalt der Gesetze nicht selber, es sagt nur ja oder nein dazu. Im reichlich verworrenen Kampf der Interessengegensätze und der Strukturlosigkeit der heutigen Gesellschaft ist nicht zu verkennen, daß das komplizierte Gebiet des modernen Wirtschaftsrechts das Volk vor sachgemäße Schwierigkeiten stellt, die seiner Allzuständigkeit bestimmte Grenzen setzen.

3. Bundesstaat und Sinngehalt des Föderalismus

Als für uns verpflichtende Ordnung ist auch der Föderalismus auf grundlegende Werte bezogen. Der Bundesgedanke ist ein tragendes Prinzip unserer Geschichte und Staatsidee. Es ist bezeichnend, daß die formalistische Normlogik unseren Bundesstaat bald nur noch als Durchgangsstadium zum Einheitsstaat und die Kantone als bloße Selbstverwaltungskörper des Bundes zu begreifen

vermag. Und doch beruht der schweizerische Föderalismus auf tieferen Rechtsüberzeugungen von schicksalshafter Bedeutung. Die «Suisse une et diverse» würde sich selber aufgeben, wenn sie sich in einen Einheitsstaat verwandeln oder durch eine extreme Zentralisation die Gliedstaaten in der Verwirklichung ihres eigenen Gestaltungswillens allzu sehr hemmen würde. Das wäre der gerade Schritt zur Vernichtung unserer angestammten Freiheit. Der Hauptakzent einer besonnenen Bundesstaatspolitik liegt noch immer auf dem Bestand der Kantone; ihrer staatsrechtlichen Stellung kommt entscheidende Bedeutung zu.

Die bündisch-genossenschaftliche Ausgliederungsordnung der Eidgenossenschaft ist eine wesenhafte, in ihrem Ursprung christliche Konstante der schweizerischen Demokratie und zugleich der Hauptgrund ihrer politischen Ausgeglichenheit. Nur auf dieser Grundlage ist es gelungen, die Gegensätze von Sprache, Rasse und Konfession zu überbrücken. Wie immer man den bündischen Gedanken motivieren mag, ob geschichtlich, politisch oder staatsphilosophisch, jedenfalls darf dabei die schöpferische, bestimmende Kraft des weltanschaulich ausgerichteten politischen Willens nicht übersehen werden. Der Kern aller Bundesbriefe ist der Rütlischwur.

Hans Stadler hat in seiner vorzüglichen, aus dem juristischen Seminar der Universität Freiburg hervorgegangenen Doktordissertation über «Subsidiaritätsprinzip und Föderalismus» (1951) die innere Verbundenheit und Gestaltungskraft unseres politischen Daseins mit der

großen Idee einer Stufenordnung der Gemeinschaft und der ihr zugrunde liegenden Hierarchie der Zwecke und Ziele aufgezeigt. Ausgangspunkt dieser Staatskonzeption ist die menschliche Person. Die Gemeinschaft ist nicht Selbstzweck, sondern Dienerin der Person insofern, als Gemeinwohl und persönliche Entfaltung voneinander abhängen. Die scharfe Unterscheidung zwischen dem Menschen als Person und dem Menschen als soziales Wesen ist theoretisch zwar möglich, aber in der Wirklichkeit nicht vollziehbar. Für den schweizerischen Föderalismus bietet das naturrechtlich fundierte Subsidiaritätsprinzip eine Stütze und zugleich eine Bereicherung. Die dabei auftretende Spannung zwischen dem naturrechtlichen und geschichtlichen Denken hat schon öfters den Gegenstand interessanter Überlegungen gebildet.

Im pluralistisch aufgebauten Staat kann eine gesunde Demokratie am besten gedeihen. Die kleinere Gemeinschaft bringt den Staat dem Bürger näher; sie gibt ihm eine bessere Übersicht über die zu entscheidenden Fragen; sie schärft seinen Sinn für persönliche Verantwortung. Daher liegt uns, neben der Wahrung der Selbständigkeit der Kantone, auch die Gemeindeautonomie sehr am Herzen. Die Demokratie ist auf ein starkes Eigenleben in den Gemeinden angewiesen. Die Gemeinden sind eine ausgezeichnete Bürgerschule, die unentbehrliche Bewährungsstätte demokratischer Verantwortung und Mitarbeit. Die Schweiz ist das klassische Land der Ortsbürgergemeinde. Unsere Gemeinden sind natürlich gewachsen; sie haben dem Staate gegenüber

auch heute noch einen natürlichen Anspruch auf Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten.

Die Vaterlandsliebe setzt ein lebendiges Heimatgefühl voraus. Der Staatsbürger muß geistig beheimatet sein, und wo ein Volk lebt, da ist seine Heimat. Die in Jahrhunderten herangewachsene Gemeinde birgt Lebens- und Kulturwerte in sich, die den Menschen von innen her zu formen und zu tragen vermögen. Sie ist der natürliche Nährboden zur Heranbildung eines gegenwartstauglichen Menschen und einer wertbestimmten Persönlichkeitsgestaltung. Das wirtschaftliche und kulturelle Leben muß gesund sein in der Gemeinde, sonst leidet das Ganze.

4. Das Postulat eines materialen Verfassungsbegriffes

Werterkenntnis und Wertentscheid im politischen Lebensraum sind in erster Linie auf die Verfassung gerichtet; sie ist im Grunde nicht lediglich ein positiver Begriff soziologischer und rechtlicher Ordnung. Als organisatorische Grundnorm des Staates geht sie, durch alle Wesenszusammenhänge hindurch, über in eine geistige Ordnung, die den Gedanken einer moralischen Verpflichtung in sich trägt. Mit einer bloß formalen Durchdringung, ohne Zurückversetzung auch der Verfassung in die richtige Ordnung zur Metaphysik und damit zur Wirklichkeit, kommt man nicht zu einem sinnvollen Verfassungsbegriff. Professor Kägi (Zürich) und mit ihm

manche zeitaufgeschlossene Staatstheoretiker auch im Ausland (es sei namentlich erinnert an den tiefgründigen Vortrag über die Idee der Verfassung, den Professor Duynstee von der katholischen Universität Nymwegen in Freiburg gehalten hat) rufen heute nach einer materialen Verfassungslehre. Sie stellt ausgesprochen naturrechtliche Postulate von großer Tragweite. Es geht auch in diesem Zusammenhang um die Wiederherstellung eines Rechtsbegriffes, der mit der Schöpfungsordnung und der menschlichen Wirklichkeit verbunden ist.

In der Verfassung, dem immerwährenden Spannungsfeld lebendiger Kräfte im Sinne einer Grundlage für das Handeln im Bereiche der sozialen und politischen Lebenswirklichkeit, begegnen sich Statik und Dynamik, wobei weder die eine noch die andere Seite im Übermaß betont werden darf. «Ohne Beharren keine Wahrheit, keine Treue, keine Gerechtigkeit» (Emil Brunner). Die Verfassung ist grundsätzlich für die Dauer bestimmt, aber es ist falsch, in ihr nur das Statische erblicken zu wollen. Wenn die Verfassung an Vertrauen verloren hat, so hängt das auch zusammen mit der formalen Aushöhlung des Verfassungsbegriffes in der liberalen Staatsrechtslehre.

Ständerat Joseph Piller sei., mit allem Grund der zweite Begründer dieser Universität genannt, hat 1952 in einem vielbeachteten Vortrag in Lausanne das Problem der «Pluralität der Letztinstanzen» zur Diskussion gestellt. Er sagte mir noch wenige Monate vor seinem Tode, er beabsichtige, durch das Medium des Ständerates

die schweizerischen Rechtsfakultäten zu einer Stellungnahme zu diesem Problem aufzufordern, das heißt zur schwerwiegenden Frage: Wollen wir die Konzentration aller Gewalt in einer einzigen öffentlichen Macht, im Staate, beibehalten — das ist ja der Sinn des modernen, nur mühsam aufgekommenen Verfassungsbegriffes —oder sollen wir uns dazu entschließen, noch andere konstitutionelle und demnach an der Souveränität mitbeteiligte Gewaltorgane ins Leben zu rufen, selbstverständlich unter Beibehaltung der Staatseinrichtung?

Ich habe mich lange gesträubt, diesen letzteren Weg zu gehen, halte nun aber — auf Grund tieferer Überlegungen und in Anbetracht der Rechtsnot unserer Zeit -— auch dafür, daß wir langsam, aber unaufhaltsam genötigt werden, diesen Weg einzuschlagen. Der Begriff der «latenten Souveränität», der Jahrhunderte hindurch im scholastischen Denken eine zentrale Stellung eingenommen hat, ist uns Juristen gänzlich abhanden gekommen. Es ist an der Zeit, daß wir ihn wieder ausgraben und daraus die nötigen Folgerungen ziehen. Es stellt sich nämlich die Frage, wie weit der heutige Staat dem normativen Anspruch, Hort des Rechts zu sein, tatsächlich noch entspricht. Auf manchen Gebieten ist ein Mangel an Ordnung und Gewalt festzustellen. Der Staat — die einzige Instanz, welche nach der Souveränitätslehre des Rationalismus politische Gewalt besitzt — nimmt die totale Verwirklichung der Rechtsordnung wie eine Selbstverständlichkeit in Beschlag, ohne sie indes vollauf zu gewährleisten. Der Staat wird immer mehr

aufgefaßt als das «Mädchen für alles», als die «institutionelle Einkleidung der sozialen Idee schlechthin» (Duynstee). Die Gewaltkonzentration kommt immer stärker zur Geltung. Bei dieser Ausgangslage kann es nicht wundernehmen, wenn die soziale Idee immer mehr ein verworrenes Aussehen bekommt.

Es könnte auch für den schweizerischen Sozialstaat eines Tages notwendig werden, allmählich wieder zu einer Teilung der aktiven Souveränität zu gelangen und sich von einem rein formell bestimmten und positivistischen Verfassungsbegriff loszusagen. Der überlastete Staat von heute hat alle Veranlassung, sich auf seine Rolle als subsidiärer Ordnungsgarant zu beschränken und dem naturrechtlich verankerten Postulat der berufsständischen Ordnung alle Aufmerksamkeit zu schenken. Der Staat muß überhaupt bestrebt sein, bei der Verwirklichung des Gemeinwohls, bei der Sorge für Rechtssicherheit und zeitliche Güter, sich auf die natürlichen Gemeinschaftskreise zu stützen, welche auch die natürlichen Herde des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens sind. Das Recht steht zur Verfügung aller, nicht nur des Staates. Ubi societas ibi ius! Die Einheit der Staatsgewalt wird durch die rechtliche Autonomie solcher Selbstverwaltungskörper nicht gesprengt oder gefährdet. Das staatliche Kontrollrecht hat dafür zu sorgen, daß die Interessen der Gesamtheit nicht beeinträchtigt werden. Der freiheitliche, körperschaftlich organisierte Staat verträgt sich ohne Schwierigkeiten mit dem Vorhandensein dieser Selbstverwaltungskörperschaften.

Nur der rein herrschaftliche oder doktrinärrationalistische Staat kann sie nicht dulden. Ich meine also: Den Berufs- und andern wirtschaftlichen oder kulturellen Genossenschaften sollte in Zukunft eine erhöhte staatsrechtliche Bedeutung zukommen, wenn wir nicht auf der Bahn des Etatismus und des Staatssozialismus weiterschreiten wollen.

IX. Allgemeines Staatsrecht und Weltanschauung

Bei der Fülle der Probleme konnten im Rahmen eines Vortrages nur die hauptsächlichsten Aspekte der materialen Rechtsethik aufgezeigt werden. Doch «wer den Sinn aufs Ganze hält gerichtet, dem ist der Streit in seiner Brust geschlichtet» (Goethe).

Das Rechtsleben eines so komplizierten Organismus, wie ihn der schweizerische Bundesstaat darstellt, muß auf historische und politische Gegebenheiten Rücksicht nehmen, sonst birgt das rein zahlenmäßige demokratische Prinzip, insbesondere in seiner abstrakt ideologischen Verbrämung, ernste Gefahren in sich. Die Klärung der grundlegenden Erscheinungen des staatlichen Lebens erfordert immer wieder eine kritische Prüfung, nicht bloß im Lichte der Geschichte, sondern auch des allgemeinen Staatsrechts. Als umfassende, über die formaljuristische Struktur hinausgehende Wirklichkeitslehre des Staates hat es eine eminent normative Aufgabe.

Uns Juristen sind die sozialethischen menschlichen Werte anvertraut; es geht dabei um Schicksalsfragen

des Abendlandes. Es ist mir eine Genugtuung, wenn die Ausführungen wenigstens gezeigt haben, wie schwierig die uns zugedachte Aufgabe ist. Das Leben ist mehrschichtig; es kann mit starren Antinomien nicht erklärt werden. Eine lebensnahe Forschung sucht in der Wirklichkeit die Synthese, die Wertbezogenheit von Staat und Recht, Persönlichkeit und Gemeinschaft. Nur so besteht Hoffnung auf eine Erneuerung des juristischen Denkens. Gegenstände, die an ethische und rechtliche Normsetzung, an religiöse Überzeugungen, an das Totalerlebnis des Daseins, heranstreifen, müssen anders durchdacht werden als technische Fragen. «Der Mensch kann ohne irgendeinen Lebenssinn nicht einmal einen Tag lang leben» (Eduard Spranger). Über den Gehalt des Lebens kann man aber produktiv nur philosophieren, wenn man ihm in innerster Seele verpflichtet ist. Um den echten Sinn der Wissenschaft, um ihr Verhältnis zur geoffenbarten oder metaphysisch fundierten Wahrheit wird die Menschheit immer von neuem ringen müssen. «Alle Gesetze und Sittenregeln lassen sich auf eine zurückführen, auf die Wahrheit» (Goethe). Aller Wert auf Erden kann allein an der Transzendenz orientiert werden und auf dem Ewigkeitshintergrund des christlichen Glaubens mit seiner Einstufung der Werte nach ihrem Rang. Das Christentum ist auf das Absolute und Göttliche ausgerichtet. Es ist die wichtige Aufgabe unserer Universität, in dieser orientierungslosen Zeit einzutreten für das Transzendente gegen das Immanente, das Ewige gegen das Unzulängliche.

INHALTSÜBERSICHT I. Wirklichkeit des Rechts 7 1. Recht als Macht — Zwangstheorie 7 2. Recht als vitales Bedürfnis 12 3. Recht als Ethos 13 4. Recht als Norm und Form 17 a) im Zivilprozeß 19 b) im privatrechtlichen Verkehr 24 c) im öffentlichen Recht 28 5. Recht als Organisation 29 6. Dialektische Erfassung des Gesamtzusammenhanges — Nominaldefinition und Wesensbestimmung 29 II. Spannung zwischen Form und Inhalt 32 III. Formalismus als Maxime 36 1. Form als Gestalt des Stoffes —Überbewertung der Form 36 2. Kategorischer Imperativ Kants 38 3. Voluntarismus 41 4. Rechtspositivismus 43 5. Die «Reine Rechtslehre» Kelsens — Stellung der Jurisprudenz im System der Geisteswissenschaften 45 IV. Ueberwindung des Formalismus 48

V. Humanitätsidee und Frage nach dem Ursprung des Rechts 51 1. Die Menschennatur als Rechtsquelle . . . . 51 2. Die Teleologie als Funktion des Wertbegriffes 57 3. Kausalitätsprinzip und Finalität 62 VI. Begründung der Menschenrechte 64 VII. Spannungsfeld zwischen Positivität und Idealität des Rechts 69 VIII. Durchbruch zu einer materialen Rechtsbetrachtungsweise 75 1. Die Wertbezogenheit der rechtsstaatlichen Demokratie 75 a) Autorität und Demokratie 79 b) Freiheit und Gleichheit als politische Organisationsprinzipien 84 c) Freiheit und soziale Sicherung 87 2. Interessenvertretung und Gemeinwohl. . . . 90 3. Bundesstaat und Sinngehalt des Föderalismus 94 4. Das Postulat eines materialen Verfassungsbegriffes 97 IX. Allgemeines Staatsrecht und Weltanschauung . . 102

LITERATURANGABEN

Aus dem beigezogenen Schrifttum seien u. a. erwähnt:

BÄUMLIN, RICHARD: «Die rechtsstaatliche Demokratie», Diss. Bern, 1954.

BAUHOFER, OSKAR: «Eidgenossenschaft, Selbstbehauptung und Bewährung», 1939.

BRUNNER, EMIL: «Gerechtigkeit, eine Lehre von den Grundgesetzen der gesellschaftlichen Ordnung», 1943.

EUCKEN, RUDOLF: «Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit» (1888), 1925².

— — «Die Lebensanschauungen der großen Denker» (1890), 1924.

— — «Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt» (1896), 1924.

HARTMANN, NICOLAI: «Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis», 1925².

— — «Ethik», 1926.

— — «Aristoteles und Hegel» (Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus III), 1923.

— — «Diesseits vom Idealismus und Realismus», 1924.

HUBER, EUGEN: «Über die Realien der Gesetzgebung» (Zeitschrift f. Rechtsphilosophie, Bd. I), 1914.

— — «Recht und Rechtsverwirklichung». Probleme der Gesetzgebung und der Rechtsphilosophie, 1921.

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— — «Vom Ewigen im Menschen», 1924².

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