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Zur Armut gehört die Klugheit (Euripides)

Gedanken am Beginn
des hundertsten Jahres der E.T.H.
Rektoratsrede
gehalten am 13. November 1954 an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule von
Professor Dr. Karl Schmid
Polygraphischer Verlag A.-G. Zürich • 1954

Wir sind nunmehr in das hundertste Lebensjahr der Eidgenössischen Technischen Hochschule eingetreten. Im nächsten Herbst werden wir diesen Tag mit einiger Feierlichkeit begehen, mit berechtigter Freude auch, und in ungezählten Reden und Trinksprüchen wird das Lob der Schule ertönen und des Volkes, das sie trägt. Man wird der Gründer gedenken und der anderen Männer, die dieses ihr erstes Jahrhundert bestimmten; das Erreichte gilt es beim Feste zu preisen, und nicht beim Schwierigen und Spannungsvollen zu verweilen.

Und doch ist es so, daß dieses erste Jahrhundert der ETH von allem Anfang an an Problematik reich war. Die Polytechnische Schule sprang nicht so leicht ans Licht wie Athene aus dem Haupte des Zeus. Die konfessionellen Spaltungen des vorangegangenen Jahrzehnts und das leidenschaftliche Mißtrauen der Westschweiz gegen die deutsche Schweiz haben in den eidgenössischen Räten damals zu bösen Tönen geführt. Die Föderalisten witterten das zentralistische Kuckucksei, und gewissen Zürchern machte es Spaß, mit dieser Eidgenössischen Hochschule Berns Erhebung zur Bundeshauptstadt zu parieren. Was im Jahre 1854 in den Räten zu Worte und zum Ausbruch kam, ist mutatis mutandis während dieses ganzen Jahrhunderts immer etwa wieder aufgeflackert. Es ziemt uns demgegenüber keine andere Haltung, als mit vollkommenem Ernste die Tatsache zuzugeben, daß ein so mächtiges und kostspieliges zentrales Bildungsinstitut in unserem kleinen Lande etwas Außerordentliches und nicht etwas Selbstverständliches ist.

Die Darstellung alles dessen, was während hundert Jahren in den Parlamenten und in der Presse der verschiedenen Landesteile für und wider eine eidgenössische Schule technisch-naturwissenschaftlichen Charakters gesagt wurde, ist Sache des Historikers. Hingegen sei es gestattet, an der Schwelle des hundertsten Jahres unserer Schule vor einem Gremium, das nicht die internationale Festgemeinde von 1955 ist, ein paar Gedanken zu entwickeln über die inneren Beziehungen zwischen unserer Nation und denjenigen Bereichen, die an der ETH gepflegt werden.

Der Schweizer und die Technik. Die Polytechnische Schule

Unter den Wesenszügen unseres Volkes, wie wir sie aus der Geschichte ablesen können, ist eine besondere Neigung zur Technik nicht festzustellen, während die Naturwissenschaften sich früh schon hoher Pflege erfreuen. Erst spät lassen sich größere technische Planungen nachweisen, durch welche die Schwierigkeit und Armut der Landesnatur überwunden werden sollten. Der allgemeine Charakter dessen, was sich an technischen Vorkehrungen vom Mittelalter an bis ins 19. Jahrhundert hinein in der Schweiz nachweisen läßt, ist der eines zähen, sozusagen unauffälligen Ringens mit der gewaltigen Natur. So schmiegen sich die Saumpfade den Gebirgsflanken an; man will die Lawinenzüge und die Rüfenen nicht bewältigen, sondern vermeiden. Die Herausforderung der Natur durch gewaltigen und gewaltsamen Eingriff fehlt; der Gebirgsbewohner will sie nicht besiegen, er duckt sich. Genau so wie Widerstand die Grundidee des politischen Lebens ist, ist es eine Technik der Verteidigung, die sich in den Bergen entwickelt, in denen man leben will. Von jener Faszination, die vom technischen Werk ausgehen kann, jenem Genuß am Werk an sich, wie wir ihn in den römischen Aquädukten oder den ägyptischen Pyramiden spüren zu dürfen glauben, läßt sich nichts finden. Bis zum Bau der neuesten Alpenstraßen sind es vornehmlich die Verkehrswege der Römer und Napoleons, aus denen ein kühner, modern technischer Wille zum Sieg über das Gegebene spricht. Noch Goethe wundert sich, daß man die Hänge nördlich des Etzels nicht durch einen Sihl-Durchstich bewässerte. «Rechts des Fußsteiges ist eine Art von natürlichem Wall, hinter dem die Sihl herfließt. Dem ersten Anblicke nach sollte es an einigen Stellen nicht große Mühe und Kosten erfordern, den Hügel mit einem Stollen zu durchfahren und so viel Wasser, als man wollte, zu Wässerung und Werken in die unterhalb liegende Gegend zu leiten; ein Unternehmen, das freilich in einem demokratischen Kantone und bei der Komplikation der Grundstücke, die es betreffen würde, nicht denkbar ist.»

Weshalb fehlen in unserem Lande solche großen technischen Unternehmungen aus früherer Zeit, für welche es an Gelegenheiten ja nicht gemangelt hätte? Einer der Hauptgründe ist sicher in der

politischen Struktur der alten Eidgenossenschaft zu sehen. Den großen Architekturen und technischen Verwirklichungen der Geschichte liegt sozusagen ausnahmslos der Wille eines monarchischen Machthabers zugrunde, der anordnen kann, was ihm aus militärischen oder finanziellen Gründen oder auch zum Zwecke der Repräsentation seiner Macht als dienlich erscheint. In den Bergrepubliken der Schweiz mußte als freiwillig übernommenes Gemeinwerk entstehen, was über die Kräfte des einzelnen hinausging. Auch die militärischen Impulse fehlen. Die Wehrpolitik des Kleinstaates bedurfte keiner großartigen Verkehrswege; für ihn sind Sperren wichtiger als Kommunikationen, wie sie für operative Bewegungen notwendig sind. Dazu kommt, daß die wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht nach großen technischen Vorkehrungen riefen; Erz und Kohle fehlen, wie auch das Meer, das zu den Geburtsstätten der Technik gehört.

Wesentlich für deren Entwicklung war bei uns die wirtschaftlich bedingte Industrie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Mit ihren gut anderthalb Millionen Einwohnern um 1800 hatte die Schweiz das Maximum der Bevölkerung erreicht, die nach den alten Produktionsarten ernährt werden konnte. Der nicht zu unterschätzende Export eines Überschusses an Arbeitskraft, den das Söldnerwesen seit der Wende des Mittelalters ermöglichte, schrumpfte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen. Die Armut stand vor der Tür. Die Hände, die das Schwert geführt hatten, mußten nach der Maschine greifen; nicht mehr der Arbeiter, sondern sein Produkt war zu exportieren. Im gleichen Zeitraum, da die Textilindustrie diese Schritte tat, beginnt die schweizerische Maschinenindustrie einzusetzen, und andere industrielle Zweige folgen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Melioration der Linth stellt ein erstes größeres technisches Vorhaben dar, die Bahnen folgen, der Durchstich des Gotthards, aber noch dieser war ganz wesentlich eine Sache des ausländischen Interesses und Kapitals.

Heute aber gehört die Technik zu denjenigen Mächten, die das Antlitz unseres Landes am stärksten mitgestalten; eine halbe Million Menschen arbeitet in der Industrie. Die Schweiz ist nicht mehr das idyllisch-romantische Land, als welches den ausländischen Feriengästen zu erscheinen sie sich noch immer bemüht. Albrecht von Hallers

Mythos des Alpenvolkes ist überholt, und auch Gotthelfs und Kellers Welt sind nicht mehr die unsrige. Aber wiewohl die Schweiz heute, genau besehen, eines der höchstindustrialisierten Gebiete der Welt darstellt, zeigt doch der Vergleich mit den Italienern, den Deutschen, den Russen oder gar den Nordamerikanern, daß von einer Faszination durch die Technik bei unserem Volke nicht zu sprechen ist. Noch immer liegt die höhere Rechtfertigung des technischen Werkes vornehmlich in der Verteidigung gegen die Natur, in der Notwendigkeit, aus dem Gegebenen klug das Äußerste herauszuholen, im Kampf ums tägliche Brot. Der freie technische Spieltrieb, die Lust an der Steigerung des technischen Könnens um dessen selbst willen, der technische Machtrausch gar, sind kaum zu belegen. Und wenn Picasso den Turm des Fernheizkraftwerkes als das schönste Bauwerk von Zürich bezeichnete, so schüttelte man selbst in diesem unserem Hause den Kopf, wo doch beifälliges Nicken am ehesten zu erwarten war.

Es wird nur einem Fanatiker des technischen Fortschrittes einfallen, sich über diese vergleichsweise konservative Haltung unseres Volkes ärgerlich aufzuhalten. Ganz ohne Zweifel ist dieser allen Neuerungen gegenüber zu Skepsis neigende Wesenszug unserer Nation an einer ganzen Reihe politischer Entscheidungen und kultureller Schöpfungen mitbeteiligt, die wir zum Wertvollsten zählen, was sie in der Geschichte verwirklicht hat. Dieser zähe Konservativismus ist vielleicht überhaupt der wesentlichste Zug im Profil der Nation.

Sicher hat uns überdies das 20. Jahrhundert eine ganze Reihe schwerster Bedenken gegenüber dem Fortschritt der exakten Wissenschaften und der sie anwendenden Technik nahegelegt. Es ist dem Bergbauern, dem Geistlichen, dem Lehrer nicht zu verdenken, wenn sie fragen: «Wohin führt denn diese ganze Wissenschaft und Technik? Wir haben es gesehen: Bomber, Atomgeschosse, bakteriologischer Krieg, aber auch das Elend der Großstädte, das kommunistische Industrie-Proletariat, Unzufriedenheit, Streben nach Luxus — das sind die sichtbarsten Folgen!» Diese ganzen Vorwürfe an die Adresse «der Technik», «der Wissenschaft» sind zu bekannt, als daß wir bei ihnen verweilen wollten; nicht die Argumente der Klage sind dabei in Frage zu stellen, vielleicht aber die Richtung der Anklage. Auch

mischen sich, wo kulturphilosophischer Pessimismus sich dieser Dinge bemächtigt, in die echte humanistische Sorge oder in die christliche Sorge um den Menschen, dem es nichts hülfe, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele, oft Affekte des Ressentiments hinein, der Blick wird verengt, und leicht, ja leichtfertig wird über die Tatsache hinweggegangen, daß wir alle nicht leben würden, wie wir leben, und auch viele von uns überhaupt nicht am Leben wären, wenn es nicht diese selbe Wissenschaft und Technik gäbe. Doch davon später.

Angesichts dieser kritischen Zurückhaltung unserer Nation gegenüber technischen Neuerungen, die in anderen Staaten vergleichsweise selbstverständlich eingeführt und ausgebaut worden sind — es seien an jüngsten, einfachen Beispielen die Hochhäuser, die Autobahnen, das Fernsehen genannt —, mag man sich verwundern, daß dennoch vor hundert Jahren schon der Grundstein zu einer höheren technischen Schule gelegt wurde. Die Gründungsgeschichte, und in ihr namentlich auch die parlamentarischen Diskussionen, lassen erkennen, daß es durchaus nicht der Gedanke des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts war, was das Polytechnikum hat entstehen lassen. Das im ersten Reglement von 1854 umrissene Institut war ein Bündel ganz deutlich und fast ausschließlich auf die praktischen Ausbildungsbedürfnisse ausgerichteter Fachschulen; sie hießen Bauschule, Ingenieurschule, mechanisch-technische Schule, chemisch-technische Schule und Forstschule. Nur an der sechsten Abteilung sollte die reine Wissenschaft gelehrt werden: Mathematik, Naturwissenschaften, Literatur, Geschichte, Nationalökonomie, Recht. Es war viel weniger der Glaube an die Notwendigkeit technischer und naturwissenschaftlicher Studien an sich und ein Bekenntnis zu diesen Wissenschaftszweigen, was zum Polytechnikum führte, als die allgemeine Schulfreudigkeit jener Jahrzehnte und die Überzeugung des Parlamentes von der Notwendigkeit und Wünschbarkeit, die Baumeister, Architekten, Ingenieure, Chemiker und Förster im eigenen Lande gut ausbilden zu können. Das entsprach durchaus einem geradezu gesetzmäßigen Wesenszug der Nation: man plante keinen Vorstoß, keine Investition von Bundesgeldern in eine abenteuerliche Forschung; man wollte durch bessere Ausbildung das Bisherige besser machen.

Es ist fraglich, ob für die große Menge unseres Volkes sich an dieser Grundauffassung der technischen Hochschule und ihres Nutzens viel geändert hat; wir wagen es zu bezweifeln. Daß eine Reihe wesentlicher schweizerischer National-Eigenschaften, die alle an sich weder gut noch schlecht sind, in diese Richtung wirken, darf uns aber nicht daran hindern, einige Fragen aufzuwerfen, so die, ob die Bedeutung der Technik für unser Land im allgemeinen wirklich richtig erkannt werde, und dann die andere und für uns wichtigere Frage: ob Wesen und Aufgabe der technischen Hochschule tatsächlich immer noch jener Konzeption entsprechen können, der die einstige polytechnische Berufsschule ihre Entstehung verdankte. Wenn wir dabei zu einer von der allgemeinen etwas abweichenden Auffassung gelangen, so sei sie doch ohne jede Undankbarkeit gegenüber dem Volke und ohne jede Besserwisserei vorgebracht.

Die Bedeutung der Technik für die Schweiz. Die Rolle der Qualität. Die Technische Hochschule

In den teilweise sehr begründeten, teilweise aber auch etwas romantisch-wehleidigen Auslassungen über die immer noch wachsende Bedeutung der Technik und der Industrie in unserem Lande fehlt, wie schon angedeutet, sehr oft die ganz nüchterne Erkenntnis einiger unumstößlicher Grundtatsachen. Es ist zwar allgemein bekannt, daß wir fast keine Erze, fast keine Kohle und kein Petrol finden in der Schweiz und daß ein Viertel der Landesoberfläche unkultivierbarer Boden ist. Selten aber gibt man sich Rechenschaft über die Bedeutung des zahlenmäßigen Wachstums der Bevölkerung. 1800 waren es 1,6 Millionen; 1850: 2,4 Millionen; 1900: 3,3 Millionen; 1925: 4,0 Millionen, und heute sind es 4,9 Millionen Menschen. Die Erwähnung der Steigerung der Bevölkerungszahl ist aber noch ungenügend; sie bedarf der Ergänzung durch den Hinweis auf das, was man den Lebensstandard des Volkes zu nennen pflegt. Es leben heute nicht nur dreimal so viele Menschen in der Schweiz als zu Beginn des industriellen Zeitalters; sie leben im Durchschnitt, was die Ernährung, die Bekleidung, die Wohnverhältnisse, die Möglichkeiten der Bildung und der Erholung anbetrifft, auch ganz bedeutend besser als damals,

ja noch als vor hundert oder vor fünfzig Jahren. Der Konsum an Gütern ist, anders gesagt, ohne Zweifel bedeutend stärker angestiegen als die Zahl der Einwohner und auch stärker als in den meisten andern europäischen Ländern um uns herum.

Wie konnte das geschehen? Es ist aus den verständlichsten Gründen nicht möglich und es ist auch nicht nötig, hier jene umwälzenden Veränderungen der Produktion und der Produktivität nachzuzeichnen, wie sie die sogenannte Industrialisierung und die Verwandlung des Verkehrswesens seit dem 18. Jahrhundert allgemein mit sich gebracht haben. Das ist bekannt genug; und es erweist sich auch, wenn wir über die schweizerischen Verhältnisse hinaussehen, als unspezifisch. Die ganze europäische und amerikanische Welt hat diesen Prozeß durchgemacht, wenn er auch nicht überall gleich einschneidende Folgen nach sich zog. Wohl aber ist es angezeigt, eindrücklich daran zu erinnern, daß es nicht angeht, den hohen wirtschaftlich-zivilisatorischen und kulturellen Standard der Schweiz selbstgefällig zu preisen und als selbstverständlich hinzunehmen, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, daß er, sei es einem lieb oder leid, an die Technik und an die Industrialisierung gebunden ist. In den verschiedensten Hinsichten, direkt und indirekt.

Dieses bis zur Verachtung gehende Mißtrauen gegenüber der Technik, ja die Angst vor ihr äußern sich in unserem Lande neuerdings in jenen Bestrebungen, die auf den Schutz der Natur — im weitesten Sinne —gehen, der auch ein Schutz der Seele gegenüber der Dominanz der kalten Rationalität und des Profites sein soll. Und das ist gut so. Aber unsere Lage ist dadurch gekennzeichnet, daß es auch eine Angst vor diesem Wachstum der Bevölkerung geben muß, eine ebenso tiefberechtigte Angst —und aus ihr heraus sind wir nun offenbar dazu gezwungen, unsere Hoffnungen gerade und fast ausschließlich auf diese Naturwissenschaften und die Technik zu setzen.

Es ist gut, daß es die Kämpfe gibt, wie wir sie heute erfahren. Es ist gut, daß mitten in die zielbewußte Technisierung hinein die Frage einbricht: «Wofür wollen wir denn leben?» Und es ist notwendig, daß die Gegenseite die Gegenfrage stellt: «Und woraus sollen wir denn leben?» Die Sorge um den Sinn des Lebens begegnet der Sorge um seine Ermöglichung. Große technische Entwürfe werden sich zurecht

mehr und mehr jene Sinnfrage gefallen lassen müssen, und um so radikaler, je näher der Verdacht liegt, hinter der Darlegung der technischen Notwendigkeit für die Gesamtheit stecke als eigentliche Triebkraft der finanzielle Profit für die Gruppe. Diese Sinnfrage aber wird ihre vollkommene Ernsthaftigkeit und ihren Verantwortungswillen darin zu beweisen haben, daß sie die ganze Spannweite zwischen den kleinen Gegebenheiten des Landes und den großen Lebensforderungen des Volkes in ihre Überlegung aufnimmt. Man muß sich Rechenschaft geben, daß die Antwort auf die Fragen: Wie wurde es möglich, nun fast fünf Millionen in diesem Lande zu ernähren? Wie konnte der Ertrag unserer Volkswirtschaft so gesteigert werden? heißt: Es war möglich dank diesem Komplex von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, technischem Fortschritt und industrieller Produktion, den man so leicht nur als Sündenbock für alles Übel der modernen Welt betrachtet. Die Meliorationen sind daran schuld —die Unzahl kleiner Meliorationen, die gesamthaft wichtiger sind als die wenigen größeren —; die Änderungen in der landwirtschaftlichen Produktion durch Verbesserung der Böden, des Saatgutes und des Anbaus; die Steigerung des forstlichen Ertrags; die Erhöhung der Produktionskraft des Gewerbes und die Verbesserung der Marktlage durch die Verkehrsmittel, die die Landesteile einander nähergerückt haben. Aber das Land und seine Wirtschaft dürfen nicht für sich, als autarker Bereich, gesehen werden. Der Fremdenverkehr, in guten Zeiten ein wichtiger Aktivposten der Zahlungsbilanz, ist heute gebunden an die verkehrsmäßige Erschließung des Landes, die, was die Bahnen anbetrifft, wohl ihrem Sättigungsgrade nahe ist, während unser Straßennetz noch eine Reihe großer technischer Aufgaben stellt. Doch auch dies würde noch nicht genügen, um dem Lande jenen Import zu erlauben, von dem der erwähnte Lebensstandard der Schweiz heute vor allem abhängt. Die technische und finanzielle Ermöglichung der Einfuhr durch Ausfuhr ist tatsächlich die Schlüsselstelle unserer heutigen Wirtschaftspolitik, und hier wie nirgends sonst zeigt sich die entscheidende Bedeutung der Industrie und Technik für unser Land. Die besorgte Zwischenfrage, ob ein solcher Import und damit eine solche Abhängigkeit unseres Landes von der wirtschaftlichen und politischen Weltlage überhaupt wünschbar seien,

ist mit der Gegenfrage zu beantworten, auf welch andere Weise denn der jetzige Standard aufrechterhalten und für die jährlich zunehmende Bevölkerung gesichert werden sollte. Was die Industrialisierung anbetrifft, hat unser Land den «point of no return» schon seit mehr als hundert Jahren hinter sich gelassen. Die während des Zweiten Weltkrieges notwendig gewordenen restriktiven Maßnahmen, durch welche die Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgenommen und eine relative wirtschaftliche Autarkie des Landes wiederhergestellt werden sollte — als Idee und Plan übrigens ohne die Wissenschaft wiederum nicht denkbar —, haben die Schwierigkeit solcher Notlösungen zur Genüge erwiesen.

So sehr man bei uns geneigt ist, sich der Besonderheit und Einmaligkeit des schweizerischen Staatswesens bewußt zu sein, der mehrsprachigen Staatsnation, die dem nationalistischen Dogma der neuesten Zeit durchaus nicht entspricht, und vom «Wunder der Eidgenossenschaft» redet, so selten denken wir daran, daß es auch jeglicher Regel und Erwartung zuwiderläuft, wenn ein von Natur aus armes und kleines Land mit einem beschränkten Inlandsmarkt eine Industrie aufbaut, die buchstäblich Weltruhm genießt und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig ist. Und dies, wiewohl der soziale Standard der Arbeiterschaft hoch ist. Wie ist dieser Export möglich aus einem Lande, in dem es keinen Überschuß gibt an irgendwelchen zur Hand liegenden Gütern, es sei denn ein solcher an Arbeitskraft und Arbeitswillen?

Die Antwort lautet meistens: Es ist dies möglich dank der Qualität dessen, was die Schweiz produziert. Das scheint eine ganz klare Aussage zu sein, die keiner Erläuterung bedarf; sie wird auch von keiner Seite bestritten. Und doch erweist sich die Diskussion über das, was unter dieser Qualität zu verstehen sei, als nicht ganz leicht. Es werden da plötzlich Perspektiven sichtbar, die für das Schicksal unserer Schule entscheidend sein können, wie anderseits auch der Gedanke sehr nahe liegt, die Schweiz habe in ihrem bisherigen wirtschaftlichen und industriellen Weg den künftigen wirtschaftlichen Weg Europas modellhaft vorweggenommen. Denn Europa befindet sich heute zwischen Asien und Amerika in einer ähnlichen Lage wie die Schweiz zwischen den sie umgebenden Mächten: auch dort geht es nun darum,

daß Qualität ein Gegengewicht schaffe gegen den Druck der größeren Mittel und Zahlen.

Meistens versteht man unter dieser Qualität des schweizerischen Produkts die Sorgfalt und Genauigkeit der Ausführung, und denkt also an den Techniker und an den Arbeiter, an Feinmechanik, Uhren- und Textilindustrie. Der Wirtschaftsführer aber versteht darunter Einzelfabrikation statt Serienfabrikation, Elastizität der Produktion statt Starrheit der Massenfertigung, und hat dabei also offensichtlich Qualitäten vor Augen, die eher bei der wissenschaftlichen, technischen und kaufmännischen Führung der Betriebe vorhanden sein müssen. Es ist, wenn man so will, ein demokratischer Zug unseres Denkens im Spiele, wenn man für gewöhnlich diese Qualität ganz offensichtlich mit den moralischen und charakterlichen Eigenschaften der großen Menge des arbeitenden Volkes in Zusammenhang bringt und sie vor allem als Qualität der Arbeit versteht. Der Anteil des Schöpferischen, die höhere, abstrakte Qualität der Planung, die Klugheit wird leicht übersehen, wie auch der Irrtum verbreitet ist, Sorgfalt der Ausführung sei ein Privileg schweizerischen Arbeitens. Diese landläufige Auffassung von der Qualität der Arbeit ist der ETH einerseits zugute gekommen; sie birgt aber auch eine Gefahr in sich. Zur Armut gehört nicht nur die haushälterische Sorgfalt; zur Armut gehört die Klugheit.

So wie diese technische Schule 1854 die Zustimmung der eidgenössischen Räte gefunden hat, ist sie als Schule mit praktischer Zielsetzung seither kaum angefochten worden. Daß, auf allen Stufen, der Schule gegeben wird, wessen die Schule bedarf, ist gute eidgenössische Tradition. Aber jedesmal, wenn ihre Institute erweitert oder neue Tätigkeitsgebiete ihr angegliedert werden mußten, ging das nicht ganz ohne Schwierigkeiten. Die Vorstellung, es genüge, wenn man die jungen Leute sorgfältig so ausbilde, daß sie, die Fleißigen und Sorgfältigen, in den hochqualifizierten industriellen Apparat hineingefügt werden könnten, ist recht verbreitet —selbst in diesem Hause, in dem zahlreiche Studenten wesentlich nichts anderes holen wollen, als ihre möglichst zielbewußte und rasche Fertigung auf die Praxis hin. So neigen weite Kreise unseres Landes dazu, die Bedeutung der ETH in dieser Belieferung der schweizerischen Wirtschaft mit guten Arbeitern höherer Stufe zu sehen. Seit 1855 haben über 16000 junge

Männer hier diplomiert, der größte Teil von ihnen hat sich in der schweizerischen Industrie und in technischen und landwirtschaftlichen Berufen bewährt: die ETH hat als Berufsschule ihre Pflicht getan, das wirtschaftliche Leben blüht; es besteht offenbar kein Anlaß, etwas zu ändern.

Eine nur nach dieser konservativen Konzeption gestaltete technische Schule wäre in der Lage, die Qualität der schweizerischen Produktion aufrecht zu erhalten, wenn man unter ihr nur die Perfektionierung des Bisherigen versteht. Der Sorgfalt, dem Fleiß, der Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit müßte an einer solchen Unterrichtsanstalt höchstes Gewicht zukommen. Gegen eine solche Konzeption ist die Idee der Hochschule ins Feld zu führen. Auch wenn diese Idee, wie sie den Universitäten des 19. und 20. Jahrhunderts zugrundeliegt, nicht ohne weiteres auch auf die technische Hochschule zu übertragen ist, so gilt doch auch für diese, daß praktische Zwecke und Rücksichten sie nicht allein bestimmen dürfen; von irgendeiner Berufsschule ist sie unterschieden durch das Unverfestigte, Undidaktische, Offene der Wissenschaft an sich, wofür sie lebt und wessen sie bedarf. Doch ist mit dieser Idee des Akademischen im schweizerischen Gespräch nicht sehr gut fechten. Von größerer Bedeutung und ganz spezifisch die technische Hochschule angehend sind die präzisen Erfahrungen, die uns die Industrie selber vermittelt und die auf überraschende Weise, indem sie den Mythos der perfektionistischen Qualität zerstören, geeignet sind, von der technischen Hochschule andere Qualitäten zu fordern. Diese Erfahrungen sind etwa wie folgt zusammenzufassen: Sicher genügt es für die zahlenmäßige Mehrheit unserer Studierenden, wenn sie einen seriösen fachlichen Unterricht genossen haben, eine qualifizierte Ausbildung, die sie für die Aufgaben und Methoden vorbereitet, welche die Technik und Industrie heute bestimmen. Aber diese wissenschaftlichen und industriellen Methoden und Ziele von heute genügen nicht für morgen. Letztlich steht und fällt jede einzelne Industrie und unsere Industrie als Ganzes damit, ob sie es bei der Aufrechterhaltung ihrer noch so qualifizierten Produktion von heute bewenden läßt oder ob sie sich zu neuen Lösungen entschließt und in neue Gebiete vorstößt. So war es seit 150 Jahren, und so wird es wohl auch in Zukunft sein.

Diesen schwierigeren Aufgaben, wie sie der industrielle Fortschritt, der Kampf um den internationalen Vorsprung stellt, wäre die Fachschule nicht gewachsen; auf sie könnte die ETH, wäre sie nur Fachschule, nicht vorbereiten. Hier ist auch mit der äußersten pädagogischen und didaktischen Qualität des Unterrichts nichts zu erreichen. Auf militärischem Gebiete ist die Erkenntnis allgemeinverbreitet, daß die Kampfkraft und der Wert einer Armee nur zu einem Teil von dem abhangen, was man dem Soldaten an Ausrüstung an den Buckel hängt und an Waffen zur Bedienung übergibt; denn diese sind immer das Ergebnis des Krieges von gestern. Entscheidend ist die formale Ausbildung des Führers, die sich in Klarheit der Lagebeurteilung und Kühnheit des Entschlusses vor Situationen zu bewahren hat, die durchaus neu sind. Was die Ausbildung der Ingenieure anbetrifft, wird mit großer Entschiedenheit darauf hingewiesen, daß eine analoge geistige Formation es nicht nur möglich machen soll, erreichte Positionen zu halten, sondern neue Ziele in Angriff zu nehmen. Diese Einsicht hat dazu geführt, daß die Polytechnische Schule zur technischen Hochschule wurde, und sie muß nun erkennen lassen, daß der Rang der Hochschule von ihrem Rang als Forschungsstätte maßgeblich abhängt. Innerhalb der Hochschulen und in den führenden Kreisen der Industrie ist man sich über diese Zusammenhänge zwischen naturwissenschaftlich-technischer Forschung, industrieller Produktion, Volkswirtschaft und Volkswohlfahrt seit vielen Jahrzehnten im klaren. Die Industrie hat für ihre zweckgebundenen Forschungsstätten große Mittel mobilisiert; sie trägt heute das finanzielle Hauptgewicht jener Forschung, aus deren zahllosen Versuchen sich schließlich herausschält, was in die Produktion von morgen aufgenommen werden kann. Die Forschung an der ETH selbst ist nur zu einem Drittel aus den Schulkrediten heraus möglich. Aber die Forschung darf nicht alleinige Sache der Industrie werden; die freie Grundlagenforschung an der Hochschule darf nicht untergehen. Zu den alten akademischen Freiheiten des Lernens und der Lehre tritt als jüngste Schwester die Freiheit der Forschung; sie soll kein Aschenbrödel-Dasein fristen. Wo, wie in diesen Dingen, ein unmittelbarer und augenblicklicher praktischer Gewinn nicht sichtbar ist, muß bei den Verantwortlichen an

die Stelle kurzatmiger realistischer «Klugheit» wirkliche Klugheit treten, Einsicht und Weitsicht.

Denn bei der großen Menge ist die Einsicht in die hier vorliegenden Zusammenhänge nicht verbreitet. Dabei stehen nicht nur logische Argumente hindernd im Spiele; wir haben es offenbar mit seelischen Schichten zu tun, die zum Teil affektiver und emotioneller Art sind. Wie sehr dies der Fall ist, hat unlängst wieder die Diskussion um das Centre Européen pour la Recherche Nucléaire (CERN) in Genf drastisch gezeigt. Vergleicht man die unglaubliche Raschheit und Entschlußfreudigkeit, mit der zwischen 1850 und 1854, gegen gewaltige politische Widerstände, die Polytechnische Schule als notwendig erkannt, im Grundriß skizziert und verwirklicht wurde, und die Klarheit, mit der man ihre Entwicklung zur technischen Hochschule förderte, mit dem mühseligen Kampf, der hundert Jahre später geführt werden mußte, um zum Beispiel die Einsicht in die Notwendigkeit der nationalen Förderung der Forschung wachsen zu lassen, so ist es nicht ganz leicht, sich des Gedankens zu erwehren, die Elemente eines Realismus auf kurze Distanz hätten sich seit 1854 bedeutend verstärkt und es fehle unserer Generation an jener Einsicht und Weitsicht, die derjenigen von 1854 eigen war.

Beharrung und Mut. Perfektionismus und Forschung

Aber das wäre wohl ein unzutreffendes und ungerechtes Urteil. Es ist angezeigt, sich darüber klar zu werden, daß die Förderung der Forschung und gar ein Bekenntnis zur Forschung sich von den andern Manifestationen unserer Nation eben ganz grundsätzlich unterscheiden, ja ihnen zum Teil geradezu widersprechen. Seit vielen hundert Jahren hat sich der schweizerische Nationalcharakter in der Richtung auf das Bewahren hin ausgebildet. Ein gewisses haushälterisches Wachen über das Überkommene herrscht vor; die Nationaltugenden sind Sparsamkeit, hohe Regelmäßigkeit, Fleiß und Sorgfalt. Helvetia non facit saltus. Es braucht dieses Bewahren nicht ängstlich und kleinlich zu sein, es kann sich da um einen großartig seiner selbst sicheren konservativen Willen handeln wie bei Jeremias Gotthelf; er war einer der erbittertsten Gegner der

eidgenössischen Hochschule. Er liebte die Zeit nicht, er mißtraute ihr und ihrem Fortschritt in jeder Hinsicht. «Zeitgeist und Bernergeist» heißt sein kritischstes Manifest; jener, der fortschritts- und wissensgläubige, ist das Böse schlechthin; dieser ist durch Beharrung und Treue zum Alten- Guten gekennzeichnet. In diesen Tagen hat ein Lebender, Meinrad Inglin, einen ähnlichen Roman, «Urwang», veröffentlicht, in dem er sich mit erschütterndem Ernste gegen einen technischen Messianismus wendet. Er ist nicht so einseitig wie Gotthelf; er weiß nüchtern und genau um die Notwendigkeit der Technik für unser Land. Aber mit Leidenschaft weist er darauf hin, es müsse jener Logik, die die Technisierung fordert, die ebenso strenge Einsicht an die Seite treten, daß wir «in einem kleinen Lande leben, das in einem tieferen Sinn auf seine Natur angewiesen war und ist, als man mit wirtschaftlichen Berechnungen jemals wird erfassen können.» Die Zurückhaltung gegenüber Neuerungen und das Mißtrauen gegenüber allen progressiven Fanfaren haben unser Land vor politischen Experimenten bewahrt. Der Begriff der machtmäßigen Expansion nach außen ist uns gänzlich fremd. Die Innenpolitik hat, wie man zurecht zu sagen pflegt, den Primat vor der Außenpolitik. Der Ausbau des Sozial- und Rechtsstaates, die Verbesserung der Volkszustände in einem ganz allgemeinen Sinne — auch hier liegt das Wort Perfektionierung nahe — sind die Gegenstände unseres heutigen politischen Denkens, welches seinerseits für unser Volk das eigentlich nationbildende, wesentliche Denken ist.

Da die Neutralität uns ein vergleichsweise autonomes politisches Leben erlaubt, sind solche Bescheidung und bewahrende Ruhe nicht bedenklich. Auf Gebieten aber, wo es diese Autonomie nicht gibt und wo es letztlich immer die anderen sind, die über Erfolg oder Mißerfolg unserer Bemühungen entscheiden, auf den Feldern der militärischen Landesverteidigung und des wirtschaftlichen Exports zum Beispiel, kann eine Denkweise, die zu stark vom Willen zur Perfektionierung des Überkommenen bestimmt ist, gefährlich werden. Die rein ausführungsmäßig verstandene Qualität der schweizerischen Arbeit ist kein Kapital, aus dessen Zinsen auch unsere Kinder leben könnten. Keine Sorgfalt in der Handhabung und Ausführung des Bisherigen, keine noch so einmalige Qualität des Heutigen kann die morgige Niederlage

verhindern selbst in Sektoren, die man heute beherrscht. Es gibt Augenblicke also, da die Mentalität des Haushälterischen und Getreulichen ergänzt werden sollte durch den Mut und durch eine Klugheit, die auch unpopuläre Investitionen nicht scheut. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß die Landesverteidigung ähnliche Probleme kennt. Der Vergleich ist freilich nur teilweise zutreffend; er stimmt in der Hinsicht nicht, als die Bereitschaft des Volkes, für die Landesverteidigung finanzielle Opfer zu bringen, ohne Zweifel viel größer ist als die Einsicht in die Notwendigkeit der naturwissenschaftlich-technischen Forschungen. Wohl aber läßt sich auch auf dem militärischen Gebiete diese selbe Neigung feststellen, es bei der Perfektionierung des Bisherigen bewenden zu lassen. Gefühlsmäßige Bindungen und das gute Gewissen, die Schießausbildung — um dieses Beispiel zu nennen — mit der äußersten Sorgfalt gepflegt zu haben, erschweren die Einsicht, daß es doch vor allem die automatischen Waffen und die Motoren sind, und nicht die «Qualitätsarbeit» des Einzelschusses, was in der Zukunft entscheidet und womit die anderen aufrücken werden.

Ähnliche gefühlsmäßige Bindungen und ein ähnlich gutes Gewissen im Hinblick auf die Qualität des bisher Geleisteten sind sicher, namentlich in Zeiten höchster Beschäftigung, im Spiele, wenn eine breitete Öffentlichkeit der wissenschaftlichen Forschung kein großes Verständnis entgegenbringt. Nur in der Industrie selbst und an der Hochschule ist es anders, aus nicht ganz den gleichen, aber aus sich ergänzenden Gründen.

Es wäre ein Zeugnis übler Undankbarkeit, wollte man nicht ausdrücklich anerkennen, daß die Arbeitsbeschaffungskredite des Bundes und, seit drei Jahren, seine Leistungen an den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung einen hochbedeutenden Fortschritt gegenüber früher darstellen. Allen, die sich als Wissenschafter oder Politiker darum verdient gemacht haben, gebührt unser Dank. Aber die Anerkennung solch erfreulicher Vorstöße darf uns nicht dazu bringen, daß wir die Gefahren jener Grundeinstellung der Nation gegenüber allem Wagnis, auch gegenüber dem Wagnis der Forschung, unterschätzen. Wir reden keinen Abenteuern das Wort, nur der Erkenntnis dessen, wozu unser Land fähig ist. Wir

sind in diesem so schulfreudigen Lande vielleicht geneigt, die Betragens- und Fleißnoten etwas zu überschätzen; die «Promotion» unseres Volkes in die Zukunft wird aber nicht von ihnen abhangen, sondern von den Zensuren, die unsere Leistungen bekommen. In der vertrauensvollen Förderung der Forschung auf allen Gebieten, nicht zuletzt auf denjenigen der Naturwissenschaften und der Technik, sehen wir einen Beweis des Lebenswillens einer Nation, die allen anderen, fragwürdigen Eroberungen längst abgeschworen hat. Es ist unsere Überzeugung, daß solche Akte des Mutes auch Akte der Klugheit sind.

Abschluß

Es schien uns erlaubt, am Vorabend jenes Festes, das dem hundertsten Geburtstag der bedeutendsten kulturellen Schöpfung nicht der Nation, aber des Bundesstaates gelten wird, diese eidgenössische Hochschule als Teil der Physiognomie unserer Nation zu sehen. Nicht zufällig schob sich dabei das Schlüsselwort «Qualität» in den Vordergrund, und nicht zufällig wurde dieser Begriff der Qualität nicht so ausschließlich wie üblich als Ergebnis der Sorgfalt verstanden, sondern mit den ganz anderen Kräften des schöpferischen Geistes und des Willens zum Vorstoße in Verbindung gebracht. Nicht zuletzt bewegte uns bei diesen Überlegungen die immer wiederkehrende, immer etwas deprimierende Erfahrung, daß ein erheblicher Teil gerade unserer allerbesten Absolventen, sowie sie ihr Studium bei uns abgeschlossen haben, im Ausland zu arbeiten beginnen. Nicht, wie man etwa denken möchte, als wissenschaftliche Reisläufer, die dem Gelde folgen, sondern weil sie dort Arbeitsmöglichkeiten finden wie bei uns nicht. Und dies nicht nur, weil jene Staaten größer sind. Nach dem Urteil von Fachleuten ist dieser Substanzverlust unserer Nation vielmehr mindestens teilweise eine Folge der Tatsache, daß in unserem Lande sowohl auf dem Gebiete der technischen Forschung als der Industrie neue Möglichkeiten nur sehr zögernd und dann oft zu spät als solche erkannt und in Angriff genommen werden können. Man hat in diesem Zusammenhang schon von «lähmenden Vorurteilen» hinsichtlich unserer Möglichkeiten gesprochen.

Die Schaffung des Polytechnikums vor neunundneunzig Jahren war eine kühne und kluge Tat des ganz jungen Bundesstaates. Das seitherige Jahrhundert schweizerischer Geschichte, das uns keine Krisen von jener Art brachte, wie alle vier uns umgebenden Staaten sie, zum Teil mehrfach, erlebten, hat die Wohlfahrt der Nation in hohem Maße gefördert. Wenn das zur Folge hatte, daß der flüchtige Genius des schöpferischen Wagnisses hinter die nationalen Standbilder der Sorgfalt und der Vorsicht zurückgescheucht wurde, so ist es Pflicht der Hochschulen und aller um den Anteil des Schöpferischen am Gesamtwesen Wissenden, Keime der Unruhe zu sein im ruhigen Garten der Nation. Es ist immer noch besser, man werfe der Wissenschaft Unbotmäßigkeit vor als Sattheit.

Aber, um zu unserer Schule zurückzukehren, wir wollen und wir dürfen hoffen, daß sich auch Gegenwart und Zukunft des kühnen Gedankens unserer Urgroßväter würdig erweisen werden. Man möge es uns nicht als Anmaßung auslegen, wenn wir sagen: Es geht, wenn es um die Eidgenössische Technische Hochschule geht, immer auch um mehr als um die Eidgenössische Technische Hochschule. Es geht dabei um die Wissenschaft an sich, wie bei jeder andern Hochschule, und es geht, mehr und anders als bei den Universitäten, auf die Dauer um die Wahrung jenes Grundverhältnisses von Arbeit und Intelligenz, welches die Formel ist für das Wunder unseres wirtschaftlichen Bestehenkönnens.

Wir wollen die Naturwissenschaften und die Technik sicher nicht überschätzen. Es sind dies zweischneidige Schwerter. Aber was man die Gefahren der Technik nennt, das Zerstörerische und Lebensfeindliche, das sind ja nicht Eigenschaften der Technik, sondern des Menschen, in dessen Hand sie liegt. Wir haben Beispiele vor uns, daß Völker, die erst am Beginn der Industrialisierung stehen, seelisch und kulturell ein viel fragwürdigeres Bild bieten als altindustrialisierte Nationen, wie etwa Großbritannien.

Wir wollen die Naturwissenschaften und die Technik aber auch nicht unterschätzen. Gewiß stellen sie nicht letzte Lebensziele dar. So sicher wir die Notwendigkeit der Technik und ihre Bedeutung für unsere Existenz anerkennen, so glauben wir doch, daß ihre höchste Würde dann erst erstrahlen wird, wenn ihre großartige Rationalität

sich selber Schranken setzt in Ehrfurcht vor dem Leben —im weitesten Betracht. Ihre Würde heißt Dienst am Leben. Die Naturwissenschaften und die Technik sind keine letzten Lebensziele. Aber sie ermöglichen es einer Nation wie der unsrigen, jene höheren Ziele der Kultur in materieller Freiheit überhaupt erst ins Auge zu fassen. Noch Jacob Burckhardt zählte die Wirtschaft nicht zu den Potenzen der Weltgeschichte. Wir haben anders denken gelernt. «Auf dem Ertrag der Wirtschaft beruht alles übrige: Staat, Heer und Kultur». Dieser Satz ist nicht materialistisch und einseitig, sondern realistisch und klug; er stammt nicht von Karl Marx, sondern von Max Huber, dem niemand das Wissen um die wirklichen Ziele unseres Landes wird absprechen wollen.

Die Aufgabe der wirtschaftlichen Selbstbehauptung unseres Landes wird immer schwieriger, weil das Volk wächst, die materiellen Gegebenheiten des Kleinstaates aber konstant sind. Hier liegt, über allem Schulungs- und Wissenschafts-Auftrag, die nationale Aufgabe und die Verpflichtung der Eidgenössischen Technischen Hochschule: sie muß mithelfen, aus diesen unveränderlichen Gegebenheiten der Nation auch in Zukunft das Beste zu machen. In einem Fragmente des Euripides heißt es: Zu deutsch: «Zur Armut gehört die Klugheit; sie sind eines Stammes.»

Dieses Wort bestimmt das Grundverhältnis zwischen einem armen Lande und jenen Wissenschaften und Techniken, die das Spärliche zu mehren imstande sind. Es ist kein schlechtes Leitwort für die Technische Hochschule der Schweiz.

Literatur

Der Verfasser ist namentlich den folgenden Quellen zu Dank verpflichtet:

W. Bickel: Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungspolitik der Schweiz. Zürich 1947.

W. Boveri: Zukunftsaufgaben der schweizerischen Exportindustrie. Zürich 1945 (Kultur- und Staatswissenschaftliche Schriften der ETH, Nr. 48).

M. Huber: Heimat und Tradition, Ges. Aufsätze, Zürich 1947.

P. Niggli: Vom Nutzen der wissenschaftlichen Forschung. Zürich 1947 (Schriften der ETH, Nr. 58).

H. Pallmann: Aufgaben und Projekte der ETH, in der Neuen Zürcher Zeitung Nr. 664 und 721, 26. März und 2. April 1952.

W. Oechsli: Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Eidg. Polytechnikums, I. Teil. Frauenfeld 1905.

A. Rohn: Ausgewählte Schriften. Erlenbach-Zürich 1948.

A. Rohn: Ecole Polytechnique Fédérale, ses buts et son enseignement. Zürich 1946 (Schriften der ETH, Nr. 57).

M. Schießer: Die Wünsche der Wirtschaft an die jungen Akademiker, in: Schweiz. Hochschulzeitung, 18. Jahrgang, 1944, S. 7-13.

O. Zipfel: Erster Zwischenbericht über die Ergebnisse der Aktion zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung durch Arbeitsbeschaffungskredite des Bundes (Vervielfältigter Bericht vom 10. Juni 1954).

Schweizer Archiv für angewandte Wissenschaft und Technik, Solothurn:

— Sonderheft über Arbeitsbeschaffung, 1937.

— Sonderheft Die ETH im Dienste der industriellen Forschung, 1947.

Schweizerische Hochschulzeitung, Zürich, insbesondere die folgenden Hefte

— Arbeitsbeschaffung und wissenschaftliche Forschung, 19. Jahrgang, 1945, Nr. 4.

— Wissenschaft und Demokratie, 24. Jahrgang, 1951, Nr. 4.

— Sonderheft Forschung, Industrie, Wirtschaft, 26. Jahrgang, 1953.