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Die Grundlagen der Entwicklung der Neurophysiologie*

Rektoratsrede von Prof. Dr. Alexander von MURALT

«Hochansehnliche Festversammlung!»

«Wir haben hier gerade ein sehr schönes Nordlicht auf unserem Radarschirm», mit diesen Worten wurde ich vor einigen Jahren in Mittel-England, beim Besuch einer radio-astronomischen Großanlage in ein Laboratorium eingeladen —und in der Tat! Auf dem Schirm eines Elektronenstrahloszillographen war das schönste Nordlicht zu sehen, in allen Faltungen seines herrlichen Strahlenvorhanges prachtvoll gezeichnet, für mich so sichtbar, als ob ich irgendwo hoch im Norden auf dem 80. Breitengrad stünde und in den nächtlichen Polarhimmel hinaufblicken könnte —und alles bis in die kleinste Einzelheit erkennbar, in einem 2000 Kilometer vom Objekt entfernt liegenden Laboratorium, morgens um 10 Uhr, bei vollem Tageslicht, im Herzen von Mittel-England! Der Begriff «so weit das Auge reicht» hat heute durch die Kopplung der optischen Sinneswahrnehmung mit der Radar-Technik eine große räumliche Ausdehnung und gleichzeitig eine völlige Unabhängigkeit von den Sichtbedingungen

(Erdkrümmung, Nebel) erhalten. Mit den großen Fernrohren und Spiegelteleskopen können wir wohl in direkter optischer Wahrnehmung sogar über die Galaxie hinaus bis in die extra-galaktischen Räume vordringen, aber wir bleiben abhängig von den terrestrischen atmosphärischen Sichtverhältnissen. Durch die Zwischenschaltung der Radiowelle als Überträgermechanismus wird unser Wahrnehmungsbereich völlig unabhängig von den optischen Bedingungen und Unsichtbares wird plötzlich sichtbar.

Unser Ohr reicht mit seiner Wahrnehmung schon seit einiger Zeit unter Zwischenschaltung des Telephones um die ganze Erde. Mit der Hand können wir warm und kalt recht ordentlich unterscheiden und die Kinderschwester benützt die Wangenhaut, um die Temperatur des Schoppens zu prüfen und wird dabei mit einer Genauigkeit von etwa einem Grad Celsius die bekömmliche oder gefährliche Temperatur erkennen. Durch Zwischenschaltung von elektrischen Thermoelementen aber ist es uns heute möglich, Millionstel Grad Celsius genau zu messen. Die modernen wissenschaftlichen Instrumente haben unsere Wahrnehmungen der Außenwelt verfeinert und erweitert. Sie erschließen uns heute auch Vorgänge, für die unsere Sinnesorgane blind oder stumm sind, indem das Beobachtbare durch Zwischenschaltung und Umwandlung aus dem Nicht-Sinnlichen in etwas sinnlich Wahrnehmbares umgeformt wird. So können wir mit Hilfe des Röntgenstrahles in das Innere des Körpers blicken, oder mit dem Elektrocardiographen die elektrischen Vorgänge der Herztätigkeit optisch faßbar machen. Verallgemeinernd kann man alle, der Umwandlung dienenden Instrumente, durch die unser Wahrnehmungs- oder Perzeptionsbereich in das Gebiet des Nicht-Sinnlichen ausgedehnt wird, als Transformations-Perzeptoren bezeichnen. Die Instrumente, die den Bereich unserer Perzeption räumlich über unsere gewöhnliche

Wahrnehmungsgrenze hinaus ausdehnen, wobei die Welt der makroskopischen, wie auch mikroskopischen Dimensionen erschlossen wird, könnten Tele-Perzeptoren genannt werden, wobei Teleskop und Mikroskop grundsätzlich nach dem gleichen Prinzip arbeiten. Unserer optischen Wahrnehmung ist durch den Bau der Netzhaut eine untere Grenze in bezug auf den Sehwinkel gesetzt, man bezeichnet diese Größe als Sehschärfe; sie liegt bei etwa 30-40 Bogensekunden für das normale Auge des jungen Menschen. Durch Teleskop und Mikroskop werden die Objekte, sowohl der makroskopischen wie auch der mikroskopischen Welt in gleicher Weise durch Abbildung so vergrößert, daß sie unserem Auge unter einem Sehwinkel erscheinen, der über der, durch die Sehschärfe gesetzten unteren Grenze liegt. In der modernen Forschung werden fast immer Instrumente gebraucht, die beide Prinzipien verbinden, d. h. sowohl durch Transformation, wie auch durch Vergrößerung des Sehwinkels, das im erweiterten Wahrnehmungsraum Liegende sichtbar machen. Dazu gehört zum Beispiel die Abbildung des 2000 km entfernten, am Tag unsichtbaren Nordlichtes auf einem Radarschirm, oder die Registrierung der Herztätigkeit eines Vampire-Piloten, dessen Elektrocardiogramm, während er 3000 m über dem Boden fliegt, vom Flugzeug aus auf radioelektrischem Weg auf das Registriergerät in der Bodenstation des Flugplatzes Dübendorf übertragen wird, oder die Sichtbarmachung von Viren im Elektronenmikroskop.

Ist es möglich, mit Instrumenten, die auf den Grundsätzen der Teleperzeption und der Transformationsperzeption aufgebaut sind, unser eigenes Nervensystem zu erforschen, d. h. können wir das Bauprinzip der physico-chemischen Grundlagen unseres eigenen Fühlens, Handelns und Denkens mit solchen Instrumenten erfassen? Können wir diese Vorgänge unseres eigenen Daseins vor den Spiegel der wissenschaftlichen Deduktion und

Analyse stellen und ist ein solches Vorgehen erkenntnis-theoretisch möglich, ja ist es überhaupt gangbar, oder stoßen wir auf eine a priori gesetzte Schranke?

Vierfach ist das Methodengefüge der modernen naturwissenschaftlichen Forschung (Max Hartmann). Induktion und Deduktion beherrschen das Bestreben, die Erscheinungswelt zu rationalisieren und die in der Natur beobachteten Vorgänge in das Gefüge der Kausalität einzufügen. Vergleichung und Experiment sind die Methoden, die uns Kenntnisse vermitteln. Der, auf Aristoteles zurückgehenden reinen oder generalisierenden Induktion, ist durch Galileo Galilei der «metodo risolutivo» als neue analytische Methode, die sogenannte exakte Induktion, gegenüber gestellt worden. Diese Methode hat in der Entwicklung der Naturwissenschaften eine immer größere Bedeutung erlangt, und die Analyse des einzelnen Falles, an Stelle der Vergleichung ist zur Grundlage der Entdeckung neuer Naturgesetze geworden. Verallgemeinerung ist dann die Folge der neuen Erkenntnis und nicht umgekehrt, wie es Aristoteles und auch Bacon aufgefaßt haben! In der Verallgemeinerung spielt aber die generalisierende Induktion doch die entscheidende Rolle, sie hat das Allgemeingültige nicht nur zum Ziel, sondern auch zur Voraussetzung.

Wir leben heute in einem Zeitalter, das als das Zeitalter der Naturwissenschaft und Technik in die Geschichte eingehen wird, und vor zehn Jahren haben wir sogar die Schwelle zu einer sinnlich überhaupt nicht wahrnehmbaren Welt, die Schwelle zur Erschließung der Atomwelt, überschritten. Ungewöhnliche Leistungen des menschlichen Geistes, hoch aus dem Durchschnitt der Menschheitsgeschichte ragend, besondere Epochen über den gleichmäßigen Fluß des Lebens heraushebend, kommen nur selten und dann zeitlich und räumlich immer sprunghaft vor. Die großen Kulturepochen der Sumerer, Ägypter,

Hellenen oder der Menschen der Renaissance sind die zeitlichen Marksteine; Babylon, Ägypten, Griechenland und Nord-Italien sind die Schauplätze ungewöhnlicher Dichtigkeit der Lebensintensität.

Wegbereiter unseres Zeitalters waren die großen Naturforscher des 17. und 18. Jahrhunderts, die, meist unverstanden von ihren Zeitgenossen, mit mathematischen Analysen, mit einer scharfen Beobachtung bedeutungsvoller Einzelfälle und der generalisierenden Induktion Grundlagen geschaffen haben, auf denen, beginnend mit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung der Naturwissenschaften in die Breite und Tiefe einsetzte, die von diesen Vorläufern niemals hätte erahnt werden können. Edwin Cohn (1946), der verstorbene bedeutende Erforscher der physikalischen Chemie der Eiweiße und Ehrendoktor unserer Universität, hat in einer geistvollen Studie die Wurzeln der modernen Naturforschung und Medizin verfolgt und versucht, Stammbäume der führenden Gedanken aufzustellen. Die Entdeckung der Eigenschaften der Elektrizität und der Radio-Aktivität, die Erforschung der Gasgesetze und der Kinetik und die chemische Strukturforschung in Verbindung mit analytischer Geometrie, höherer Mathematik und Relativitätstheorie werden in dieser Betrachtung zu den Stammes-Eltern der großen Familie der exakten und beschreibenden Naturwissenschaften.

Die Erfassung des Wesens der Elektrizität, die zentral den Anbruch der gewaltigen technischen Entwicklung in unserer Zeit gesteuert hat, hängt in den Anfängen mit Beobachtungen am lebenden Objekt zusammen, einerseits über Galvanis Untersuchungen an Froschschenkeln und andererseits durch das schon im 18. Jahrhundert einsetzende Studium der lebenden Hochspannungsbatterien, wie sie uns in der Form der elektrischen Organe der Zitter-Rochen und Zitter-Aale in so erstaunlicher

Form in der belebten Welt vorgeführt werden. Durch die Entdeckung und Entwicklung der Elektrizität ist aber auch erst die Erweiterung des Beobachtungsraumes durch die Instrumente der Teleperzeption und der Transformationsperzeption möglich geworden. An die Stelle des beobachtenden Auges tritt das messende und registrierende Gerät!

Mit elektrischen Sonden (sogenannten Mikroelektroden von weniger als einem 1/2 ,u Durchmesser * können heute nicht nur einzelne Nerven- und Muskelfasern elektrisch aufgehorcht werden, sondern sogar einzelne Nervenzellen in der Netzhaut des Auges, im Rückenmark und im Gehirn. Der Elektronik, in Verbindung mit einer hochentwickelten Mikrotechnik, verdankt die Neurophysiologie ihre bedeutendsten Fortschritte, gelingt es doch seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, das was wir Erregung, Leitung, Bahnung und Hemmung nennen, an einzelnen nervösen Elementen exakt elektrisch abzuleiten, zu registrieren und im Kathodenstrahl-Oszillographen dem Auge sichtbar und durch die Photographie dauernd reproduzierbar zu machen. Ja, es ist sogar möglich, diese Vorgänge einem großen Auditorium hörbar vorzuführen. Die elektronische Technik spielt in keinem Gebiet der Biologie eine so entscheidende Rolle, wie gerade in der Neurophysiologie, wo sie die eigentliche Plattform ist, von der aus die wissenschaftliche Forschung überhaupt erst erfolgreich ins Unbekannte vorstossen konnte.

Faßt man die mit Hilfe der direkten und indirekten Naturbeobachtung (also mit Hilfe der Teleperzeptoren und Transformationsperzeptoren) gewonnenen «Sinneserfahrungen» in der weitesten Bedeutung zusammen, so bleiben sie gestaltlos, solange sie nicht geordnet werden. Kant hat als Ordnungsprinzip die Kategorien als aprioristische Elemente postuliert. Die

positivistisch eingestellten Erkenntnistheoretiker wie Mach und Verworn haben den Inhalt der sogenannten Kausalurteile über die Sinneserfahrungen auf Funktionsbeziehungen reduziert, d. h. also auf die mathematische Formulierung des Zusammenhanges Ursache —Wirkung. Die Einführung der Quantentheorie durch Max Planck gab zu der Frage Anlass, ob die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Kausalvorstellungen überhaupt noch Gültigkeit haben. Nernst behandelte 1922 in seiner Rektoratsrede diese Frage sehr eingehend und als 1927 Heisenberg durch die Formulierung der Unbestimmtheitsrelation ein neues Prinzip in der Beschränkung der Erfaßbarkeit aufzeigte, gewann die Diskussion über die Kausalität erneute Bedeutung. Sie hängt eng mit der Anschaulichkeit, bzw. mit dem Verlust der Anschaulichkeit der Naturgesetze zusammen, die mit der Wellenmechanik und der Einführung formal mathematischer Verfahren durch Schrödinger und Dirac in die moderne Physik Einzug gehalten hat. Das Prinzip der Voraussagbarheit ist heute an die Stelle der Anschaulichkeit getreten und ist zum Fundament des kausalistischen Denkens geworden. «Wer die Abstraktheit und mathematische Kompliziertheit der modernen Atomistik als einen Mangel hinstellt,... der beweist damit nur, daß ihm das tiefere Verständnis für das Wesen der Probleme, mit denen die moderne Physik zu kämpfen hat, fremd geblieben ist. Wohl ist die heutige Theorie schwierig und unbequem, aber diese unerfreuliche Eigenschaft ist keineswegs von den Theoretikern ersonnen, um ihre mathematischen Akrobatenkünste besser zur Schau tragen zu können, sondern sie hat sich nach vielfachen vergeblichen Versuchen zwangsläufig als ein letzter, gewissermaßen verzweifelter Ausweg erwiesen aus dem Dickicht der Rätsel und scheinbaren Widersprüche, welche gerade die experimentelle Forschung den Theoretikern zu lösen aufgegeben hat. Daß dieser Ausweg ins Freie führt, dafür

haben uns die neuen Erfahrungen Beweis in Hülle und Fülle geliefert, und wir dürfen daher getrost sagen, daß zu keiner Zeit die theoretische Physik wirklichkeitsnäher war als gegenwärtig», schrieb Planck 1937 und heute sind wir mehr denn je auf dem Standpunkt, dass Funktionsbeziehungen das maßgebende Ordnungsprinzip für unsere «Sinneserfahrungen» und die Grundlage für die Voraussagbarkeit neuer Zusammenhänge sind.

Die theoretischen Grundlagen der Neurophysiologie fußen (wie immer in den Naturwissenschaften), auf verhältnismäßig wenigen, dafür klar und scharf gefasten Grundgedanken, die für die großen Ströme wissenschaftlicher Arbeit zum breiten Flußbett wurden, und daher in ihren quellenhaften Anfängen oft nicht ganz leicht erkennbar sind.

Neurophysiologie ist die Lehre von den Lebensvorgängen und den Aufgaben der nervösen Elemente unseres Körpers. Die Bausteine des Nervensystems sind die nervösen Zellen und die peripheren und zentralen Leitungsbahnen. Die nervösen Zellen, je nach Aufgabe vielfach differenziert als Empfänger für Licht, Schall, Wärme, Kälte, Geruch, Geschmack, Getast, innere Spannungen, chemische Zusammensetzung und Druck des Blutes, oder als Zellen der Hirnrinde, der Stammganglien, des Rückenmarkes und des autonomen Nervensystems, kommen in großer Vielfalt und Aufgabenverteilung im Körper vor. Bei messender Untersuchung zeigen diese Zellen aber doch, daß sie alle den gleichen Grundgesetzen folgen und im Prinzip sehr ähnlich gebaut sein müssen. Die nervösen Leitungsbahnen im menschlichen Körper in bezug auf Zahl abzuschätzen ist sehr schwer. Aber allein die aus dem Rückenmark in die Peripherie austretenden sogenannten efferenten Fasern, und die dem Rückenmark zulaufenden afferenten Fasern machen zusammen ungefähr 1,2 Millionen aus. Ebenso viele verschiedene Einzel-Nachrichten

erreichen und verlassen ständig unser zentrales Nervensystem und es erscheint erstaunlich, wie wenig wir von diesem riesigen Nachrichten-Netz, das mindestens so gross ist, wie der gesamte Telephonverkehr der Schweiz, bewußt wahrnehmen. Damit entsteht die wichtige Frage: was ist eine nervöse Nachricht und wie wird sie übermittelt?

Das Element jeder Nachrichtenübermittlung ist das Signal. In den Anfängen der Schweizerischen Eidgenossenschaft wurden Nachrichten durch das Entzünden von Höhenfeuern bis in die entferntesten Bergtäler hinausgetragen; Nelsons letzter Befehl bei Trafalgar «England expects that every man will do his duty» wurde durch das Aufziehen von 12 Flaggenzeichen, die durch Kombination von zehn verschiedenen Signalflaggen in Gruppen von zwei und drei zusammengesetzt waren, der ganzen englischen Flotte übermittelt; telegraphisch werden Nachrichten mit Morsezeichen unter Verwendung von zwei Signalen «Punkt» und «Strich» übermittelt. Wesentlich für die Nachrichtenübermittlung ist die Übermittlung eines oder mehrerer Signale und die «Verabredung» zwischen Aufgeber und Empfänger, das heisst die Kenntnis dessen, was bestimmte Folgen von Signalen zu bedeuten haben. Beim Aufgeber erfolgt zunächst die Verschlüsselung oder Chiffrierung, d. h. die Umformung der Nachricht in die Signalsprache, dann die Übermittlung und beim Empfänger die Entzifferung oder Dechiffrierung. Im Nervensystem wird die Chiffrierung von den sogenannten nervösen Rezeptoren besorgt. Sie wandeln, je nach ihrer besonderen Aufgabe, Licht, Schall, Wärme, Kälte, Geruch, Geschmack, Druck und Zug usw. in eine entsprechende, aus Signalen zusammengesetzte Nachricht um. Ja es gibt sogar Rezeptoren, die entgegengesetzt arbeiten und nicht etwa das Vorhandensein eines Reizes melden, sondern das Gegenteil: sein Fehlen. Die sogenannten «off»-Rezeptoren der Netzhaut des Auges reagieren zum Beispiel

auf das Aufhören von Licht, und verstummen bei Belichtung! —Erstaunlicherweise bedient sich das Nervensystem für die Nachrichten-Übermittlung, soweit wir bis heute wissen, nur eines einzigen Signales. Dieses wichtige Signal ist der Erregungsimpuls, der je nach der besonderen Art der Nervenfaser mit Geschwindigkeiten von 0,1 m/sec. bis zu 160 m/sec. fortgeleitet wird und auf den Nervenfasern eine räumliche Ausbreitung von einigen Zentimetern hat. Wir sehen mit Erstaunen, daß das Prinzip der Transformationsperception gar nichts Neues ist und in den nervösen Rezeptoren schon so lange realisiert war, als es Leben auf dieser Erde gab.

Der amerikanische Physiologe H. P. Bowditch hat im Laboratorium von Carl Ludwig (1870) bei der Untersuchung der künstlich durch Reiz ausgelösten Kontraktion des Herzens ein Gesetz gefunden, das als «Alles oder Nichts Gesetz» berühmt geworden ist. Es besagt, daß die Zustandsveränderung auf einen Reiz entweder ganz oder gar nicht eintritt, daß sich also ein quantenhafter Vorgang abspielt, der bei Vorliegen verschiedener Elemente mit unterschiedlicher Reizwelle zwar abstufbar ist, aber immer nur in festgelegten Quanten einzelner «Alles oder Nichts»-Antworten. Lange Zeit schien es so, als ob dieses Gesetz nur für das Herz als Besonderheit gelte. 1902 stellte aber Gotch fest, daß die Fortpflanzung und die Dauer des Erregungsimpulses in Nervenfasern unabhängig von der Reizstärke ist und er beobachtete richtig, dass die, bei immer schwächer werdenden Reizen, beobachtete Verminderung des Reizerfolges (submaximales Gebiet) auf das sukzessive Ausfallen der Fasern mit hoher Reizschwelle und die allmähliche selektive Aussonderung der empfindlichsten Fasern zurückzuführen sein müsse. Symes &Veley (1911) beobachteten, daß ein Erregungsimpuls eine blockierte Faserpartie entweder passieren kann oder nicht, daß aber die Stärke des Reizes ohne jeden Einfluss auf den Vorgang

ist. Dieses Verhalten wurde von Verworn (1913) und seiner Schule (besonders Lodholtz, 1913) genauer untersucht, die fanden, daß bei Narkose die Leitung durch eine narkotisierte Strecke immer im gleichen Zeitpunkt ausfiel, unabhängig davon, wie stark der gesetzte Reiz war. Adrian (1913) hat dies in besonders überzeugenden Versuchen bestätigt. Das war zu einer Zeit, als noch keine elektronischen Geräte zur Verfügung standen! Der endgültige Beweis, dass die Nervenfasern dem «Alles oder Nichts Gesetz» folgen, wurde durch eine Pionierarbeit von Adrian und Yngve Zotterman 1926 erbracht, als sie zum erstenmal das elektrische Aktionspotential von einer einzelnen Nervenfaser ableiten konnten und fanden, daß seine Höhe völlig unabhängig vom Reiz ist und streng dem «Alles oder Nichts Gesetzt» folgt. Adrian und Zotterman hatten mit der experimentellen Methode und in exakter Induktion an einem Einzelobjekt ein Gesetz gefunden und schlossen durch generalisierende Induktion auf Allgemeingültigkeit, eine Folgerung, die sich bis heute in Tausenden von verschiedenen Untersuchungen für alle nervösen Elemente immer wieder experimentell bestätigt hat.

Der Erregungsimpuls kann in seinem «Alles oder Nichts»-Verhalten mit einem kippbaren, mit Wasser gefüllten Gefäß verglichen werden, das nach dem Kippvorgang leer ist und wieder aufgefüllt werden muss, so daß der nächste Kippvorgang erst nach Ablauf einer Refraktärzeit eintreten kann. Die Refraktärzeit, die nach dem Erregungsimpuls im Nerven auftritt ist sehr kurz (von der Größenordnung einer halben Millisekunde) aber durchaus meßbar. Valli (1793) war wohl der Erste, der am Muskel das sogenannte Unerregbarkeitsstadium entdeckt hat, und zwar wurde er zu diesen Untersuchungen durch Zweifel an der Richtigkeit der Theorie Hallers über die Ursache der Kontraktion und Wiedererschlaffung des arbeitenden Herzens angeregt. Haller glaubte die Blutfüllung als Reiz verantwortlich machen

zu können und sah in der Erschlaffung des Herzens die Folge der Austreibung und somit Beseitigung des Blutreizes. Felice Fontana hatte aber 1760 und in den folgenden Jahren schon gezeigt, dass das Herz auch mit einem Nadelstich gereizt werden kann, daß somit Hallers Blutreiztheorie falsch ist, und daß es dann für kurze Zeit ganz unerregbar bleibt, womit die Refraktärphase am Herzen deutlich erkannt war. Am Nerven konnte die Refraktärphase erst verhältnismäßig spät gemessen werden, weil für diese Untersuchung elektronische Geräte notwendig sind (Adrian, 1921).

Eng verknüpft mit dem «Alles oder Nichts Gesetz» ist der Begriff der Reizschwelle, wobei die erste kritische Größe diejenige Reizintensität ist, die eben gerade den Kippvorgang der Auslösung des Erregungsimpulses bedingt. Pflüger (1859) hat für die allgemein übliche elektrische Reizung die wichtige Tatsache entdeckt, daß nur die Kathode als Reiz einwirkt. Wir sagen heute, daß nur ein Auswärtsstrom reizend einwirken kann (im Elektrolyt, und als solchen darf man die Nerven für diese Betrachtung auffassen, ist es die Wanderungsrichtung der Kationen, die den Stromsinn bestimmt), wobei die von Pflüger schon beobachtete Tatsache, daß bei Stromunterbruch an der Stelle, an der vorher die Anode lag, ein Reiz wirksam ist, heute im gleichen Sinn gedeutet wird. Durch den Stromfluß kommt es zu einer zusätzlichen Polarisation des Nerven und im Augenblick des Wegfallens der äußeren elektromotorischen Kraft zu einem Ausgleich, bei dem sich die Stromrichtung umkehrt und der Auswärtsstrom jetzt dort fließt, wo die Anode lag (Stämpfli, 1952). Ist der Reiz so schwach, dass der Kippvorgang nicht ausgelöst wird, so ist er trotzdem wirksam, denn er hinterläßt eine Zustandsänderung, die zwar nicht zum Kippen ausreichend war, aber doch eine Millisekunde nach dem Reiz noch nachweisbar ist, die unterschwellige Erregung (Stämpfli, 1952), früher «lokale

Erregung» oder «lokale Antwort» genannt. Von Kries & Sewall (1881), Gildemeister (1908) und Keith Lucas (1910) waren die Ersten, die sich mit dieser Erscheinung eingehend beschäftigt haben. Der zeitliche Abfall der unterschwelligen Erregung ist charakteristisch für das erregbare Objekt und unabhängig von der Art des Reizes, so lange er nur sehr kurz dauert.

Neben der Intensität ist die Zeit die zweite kritische Größe für die Bestimmung der Reizschwelle. Je kürzer die Reizdauer oder Flußzeit des Stromes ist, umso größer mur die Reizintensität sein, und die Flußzeit-Intensitätskurve, die für jeden entsprechenden Schwellenwert erhalten wird, ist angenähert eine Hyperbel und wird als Reizzeitspannungskurve bezeichnet. J. Hoorweg (1892), G. Weiss (1901), L. und M. Lapicque (1903), K. Lucas (1906) und Gildemeister &O. Weiss (1909) waren die Pioniere in der Erforschung dieser zeitlichen Zusammenhänge.

Merkwürdigerweise war ein dritter kritischer Faktor den Physiologen schon vor der Erfassung der Bedeutung der Zeit aufgefallen, und das ist die Form des Reizes. (Unter Form verstehen wir hier die, in der graphischen Darstellung mit der Intensität als Ordinate und der Zeit als Abszisse sichtbar werdende Reizform.) Rechteckige Reize sind sehr viel stärker wirksam bei gleicher Intensität und Flußdauer als exponentiell abfallende oder dreieckig ansteigende Reize. Die Steilheit des Reiz-Anstieges ist ein bestimmender Faktor, eine Entdeckung, die auf von Kries (1884), Gildemeister (1904), K. Lucas (1907, 1908) und Lapicque (1908) zurückgeht. Der Grund für den maßgebenden Einfluss der Steilheit ist die Akkommodation (Nernst, 1908), oder das «Ausweichen der Reizschwelle» bei langsam ansteigendem Reiz. Ist die Anstiegssteilheit geringer als die Akkommodation, dann gelingt es, mit dem elektrischen Strom ohne Reizung bis zu sehr großen Intensitäten «einzuschleichen». Periphere Rezeptoren zeigen ein ähnliches Abklingen

ihrer Ansprechbarkeit auf einen Dauerreiz, ein Verhalten, das man mit Adaptation bezeichnet. Die Adaptation der peripheren Rezeptoren und die Akkommodation des Nerven sind Äußerungen des gleichen Grundprozesses (Adrian, 1928).

Zwei Zeitfaktoren sind somit für die Erreichung der Reizschwelle und für die Auslösung des Erregungsimpulses massgebend Dieser Gedanke ist zum Ausgangspunkt von drei, im Wesen ähnlichen Reiztheorien gemacht worden, die unabhängig je von Rashevsky (1933), Monnier (1934) und Hill (1936) entwickelt worden sind. Alle drei Theorien beschreiben mathematisch-formal, von der Annahme ausgehend, daß im Nerven zwei entgegengesetzte, exponentiell abklingende Prozesse für das Zustandekommen der Erregung und bei der Erregung ablaufen, die zu erwartenden Reizgesetze und ordnen so, das in fünfzig Jahren der Forschung angesammelte experimentelle Material. Wenn man mit Gösta Mittag-Leffler annimmt, dass exaktes Denken und Mathematik identisch sind,

«Die Zahl ist Anfang und Ende des Denkens.
Mit dem Gedanken wird die Zahl geboren.
Über die Zahl hinaus reicht der Gedanke nicht.»

dann hat mit diesen Reiztheorien das exakte Denken in der Neurophysiologie Einzug gehalten. Eine tiefere Einsicht und ein kausales Verstehen des Wesens des Erregungsvorganges können und wollen diese Reiztheorien aber gar nicht bieten, hier musste eine ganz neue Auffassung der experimentellen Forschung die Türe zum weiteren Vordringen öffnen.

Dieser entscheidende Schritt ist (nach meiner Meinung) durch drei grundlegende und neuartige Arbeiten in den Jahren 1939, 1940 und 1947 gemacht worden. Hodgkin &Huxley haben 1939 zum ersten Mal mit einer intracellulären Elektrode das Ruhe- und Aktionspotential einer Riesen-Nervenfaser gemessen und sahen, daß das Ruhepotential in der Erregung nicht, wie

es die Bernsteinsche Membran- und Depolarisationstheorie forderte, auf Null depolarisiert wird, sondern dass es sogar darüber hinaus zu einer Umkehr der Ladung an der erregbaren Membran kommt («overshoot»). Curtis & Cole, in den Vereinigten Staaten, fanden 1940 das Gleiche, haben aber merkwürdigerweise den zwingenden Schluß aus dieser Beobachtung nicht gezogen, sondern die Konzeption des entscheidenden neuen Gedankens Hodgkin &Katz überlassen, die ihn in einem, für alle Anwesenden unvergessenen (aber leider nicht publizierten) Vortrag im Jahr 1947 auf dem internationalen Physiologenkongreß in Oxford in ganz klarer Formulierung erstmals vorgetragen haben. Zwei Jahre später (Hodgkin &Katz 1949) folgte die klassisch abgefaßte Arbeit. Damit war die neue Ionen-Theorie des Erregungsimpulses begründet. Ich betone diese zeitlichen Zusammenhänge absichtlich deswegen, weil heute versucht wird, die Originalität dieser Pionierleistung zu verwischen. Nachträglich hat es sich dann herausgestellt, daß wesentliche Ansätze für die neue Theorie schon zu Beginn des Jahrhunderts vorlagen und nur wegen mangelndem Verständnis und der Unmöglichkeit in der damaligen Zeit, die erforderlichen experimentellen Prüfungen vorzunehmen, der Vergessenheit anheimfielen. Einerseits hat im Jahre 1902 Overton eine klassische Arbeitsreihe veröffentlicht, in der er auf die entscheidende Bedeutung der Natrium-Ionen für den Erregungsprozeß hinwies, und andererseits hat Julius Bernstein (1902) im gleichen Band von Pflügers Archiv eine ebenso bemerkenswerte Studie publiziert, in der er den Erregungsvorgang auf das Verhalten der Plasmamembran bezog (Membrantheorie von Bernstein), und auf die selektive Permeabilität der erregbaren Membran für Kalium-Ionen und ihre Impermeabilität für andere Ionen im Ruhezustand hinwies. Die Erregung erklärte er als einen plötzlichen Zusammenbruch der selektiven Permeabilität und damit als eine zeitlich

beschränkte Depolarisation der Membran, indem er annahm, dass anderen Ionen der Durchtritt durch die Membran gestattet werde, wobei er vermutete, daß es die Anionen seien, die damit zu einem kurzzeitigen Verschwinden der Doppelschicht Anlass geben.

Ein wesentliches Glied in der Formulierung der modernen Ionentheorie sind die Untersuchungen von Conway (Boyle & Conway, 1941; Conway, 1946, 1947), der die Unhaltbarkeit einer der Bernsteinschen Annahmen bewies, indem er zeigte, daß die erregbare Membran sowohl für Kalium, als auch für das Chlorid-Anion frei passierbar ist und dass die ungleiche Verteilung dieser beiden Ionen und das messbare Membranpotential einem Donnan-Gleichgewicht an der Membran zugeschrieben werden darf. Damit war der Weg frei für die Entwicklung der neuen Ionen-Theorie, die sowohl das Ruhepotential, wie auch das Aktionspotential mit den ionalen Gleichgewichten und Verschiebungen erklärt und damit die Bernsteinsche Membrantheorie ablöst. Hodgkin & Katz haben diese Theorie so zwingend und kritisch formuliert, daß sie bis heute nicht nur unbestritten das Denken aller Neurophysiologen beherrscht hat, sondern richtungsweisend für die große Zahl von neurophysiologischen Arbeiten der letzten Jahre geworden ist.

Die Ionen-Theorie kann kurz wie folgt umschrieben werden: die ruhende Membran, die «Außen» von «Innen» trennt (Nervenmembran, Nervenzellmembran, Muskelmembran) und die vermutlich eine Dicke von ungefähr 100 Å hat, ist permeabel für Kalium und Chlorid-Ionen, aber so gut wie impermeabel für Natrium-Ionen. Soweit diese eindringen, werden sie durch eine stoffwechselbetriebene Natriumpumpe sofort wieder nach Außen befördert. Im «Innern» herrscht daher eine sehr niedrige Natrium-Konzentration, dafür eine Ansammlung von Anionen, für die die Membran impermeabel ist (Anionen der Glutaminsäure,

Asparaginsäure usw.), so daß eine ungleiche Verteilung der Konzentrationen der Kalium- und Chlorid-Ionen unter den Bedingungen des Donnan-Gleichgewichtes entsteht. Es gilt: [K]i [Cl]A = =20-50 je nach Nervenart variiert der Wert, [K]A [Cl]i ist aber innerhalb einer Spezies konstant, wobei [K]i, [K]A die Konzentrationen an Kalium «Innen» und «Außen», [Cl]A, [Cl]i dasselbe für Chlor-Anionen bedeutet. Das Membranpotential Vr ist dann

R·T [K]i R ·T [Cl]A
V r = F [K]A F [Cl]i

worin r die Gaskonstante, T die absolute Temperatur und F das Faraday-Äquivalent sind. Es gilt die Annahme, daß die Aktivitäten der Ionen «Innen» und «Aussen» gleich gross sind und es bestehen Gründe dafür, diese Annahme bestehe zu Recht, wie Hodgkin &Keynes (1950) in sehr schönen Versuchen zeigen konnten.

Wird dieses Membranpotential Vr durch Depolarisation (Auswärtsstrom!) erniedrigt, dann nimmt die Permeabilität der Membran für Natrium-Ionen sehr stark zu, der Einstrom dieser Ionen vergrößert die Depolarisation weiter, dadurch wird die Permeabilität noch stärker erhöht usf., d. h. ein Kippvorgang wird dann ausgelöst, wenn die Schwelle überschritten ist und er verläuft unaufhaltbar nach dem «Alles oder Nichts Gesetz», bis die Ladung der Membran sich so weit umgekehrt hat (Aktionspotential), daß beinahe das für die ungleiche Verteilung der Natrium-Ionen berechnete Membranpotential erreicht ist. Inzwischen hat auch die Kalium-Permeabilität zugenommen, im Vergleich zur Natrium-Permeabilität allerdings nur langsam, und strebt einem Maximum zu, während die Natrium-Permeabilität wieder auf Null abfällt. In einer Millisekunde wird dadurch das ursprüngliche Membranpotential wieder erreicht

und der Prozess passiver Ionentransporte (als passive Ionentransporte definiert man Transporte in der Richtung des fallenden elektro-chemischen Gradienten, auch kurz «bergab» genannt. Als aktive Transporte bezeichnet man solche gegen den Gradienten, kurz ausgedrückt «bergauf».) ist beendet; jetzt setzt die Kalium-Natriumpumpe ein und «pumpt» aktiv Kalium-Ionen nach «Innen», Natrium-Ionen nach «Aussen» bis die ursprünglichen Konzentrationen wiederhergestellt sind. Diese einfache Theorie hat mit einem Schlag das «Alles oder Nichts Gesetz», die Erscheinung der unterschwelligen Erregung und die Refraktärphase der Nervenerregung einem vertieften Verständnis zugänglich gemacht und gleichzeitig zahlreichen experimentellen Prüfungen gerufen, die bis heute die Theorie alle bestätigt haben.

Es war ein glücklicher Zufall, daß die Entwicklung der Ionentheorie mit dem Anbruch der Atom-Ära zusammengefallen ist, denn die Atom-Reaktoren erlauben es heute, diese Ionenbewegungen mit einer Genauigkeit zu verfolgen, wie sie bis dahin nie erreicht werden konnte. Zwei Anwendungen sind es, von denen Gebrauch gemacht wurde. Im Reaktor können Radio-Isotopen des Natriums (Na 24) und des Kaliums (K 42) hergestellt werden, die dann an die Stelle der gewöhnlichen Natrium- und Kalium-Ionen in das biologische Geschehen eingeführt werden und mit Hilfe ihrer Radioaktivität nicht nur in bezug auf ihre Konzentration, sondern auch hinsichtlich ihrer Wanderung durch die Membran mit höchster Präzision gemessen werden können. Es ist aber auch möglich geworden, noch einen Schritt weiterzugehen und im Nerven selbst eine Aktivierungs-Analyse durchzuführen, wie das Keynes & Lewis 1951, Lewis 1952 im Laboratorium von A. Hodgkin in Cambridge durchgeführt haben. Die zu untersuchenden Nerven wurden nach Durchführung bestimmter Reizversuche in den Atom-Reaktor

von Harwell versenkt und dort dem Neutronen-Bombardement ausgesetzt. Das natürliche Natrium und Kalium im Nerven wird in radioaktives verwandelt, und es konnten so, qualitativ und quantitativ änderst exakt die Verteilungen und Verschiebungen der Ionen durch die Membran gemessen werden, wobei die Theorie im vollen Umfang bestätigt wurde. Im Billionstel Gramm kann heute die Menge der bei einem Erregungsimpuls durch die Nervenmembran einströmenden Natrium- und die Menge der ausströmenden Kalium-Ionen genau gemessen werden! Wie dankbar dürfen wir allein schon im Hinblick auf ähnliche und kommende wissenschaftliche Ausbeuten den beiden Männern sein, die alle Hindernisse in unserem Land auf die Seite räumen konnten und den Bau eines schweizerischen Atomreaktors nicht nur geplant, sondern auch auf eine finanziell tragfähige Basis gestellt haben, Walter Boveri und Paul Scherrer in Zürich. Allein auf dem Gebiet der Neurophysiologie hat der Reaktor von Harwell in England Erkenntnisse erschlossen, die seinen Bau rechtfertigen würden, ganz zu schweigen von den vielen tausend anderen Anwendungen in Wissenschaft und Industrie.

Für die Nachrichten-Übermittlung im Nervensystem ist neben der Erzeugung des Signales die rasche Weiterleitung maßgebend für die Leistungsfähigkeit. Der Wunderglaube, nervöse Impulse würden in den Nerven unendlich schnell geleitet, wurde 1850 durch Hermann von Helmholtz zerstört, der zum ersten Mal an einem Froschnerven die Leitungsgeschwindigkeit des Erregungsimpulses gemessen hat und bei Zimmertemperatur etwa 20-30 m/sec fand. Von da an sind in unzähligen Arbeiten die Geschwindigkeiten in allen Nerven gemessen und miteinander verglichen worden. Auch hier hat die Einführung elektronischer Methoden in der Hand von Herbert Gasser (1935) und seiner Mitarbeiter mit einem Schlag Klarheit geschaffen,

indem es sich zeigte, dass in markhaltigen Nerven die Geschwindigkeit linear mit dem Durchmesser der leitenden Nervenfaser zunimmt, und dass in einem gemischten Nerven, der 2-3000 Einzelfasern enthält, nicht etwa eine statistische Verteilung der Faserquerschnitte vorherrscht, sondern daß ganz bestimmt Fasergruppen mit relativ einheitlichen Durchmessers vorliegen. Die großen Gruppen werden mit A, B, C, die Untergruppen mit α, β, γ, ,δ bei den A-Fasern, 1 und 2 bei den B-Fasern bezeichnet. In diesen bestimmten Fasergruppen ist somit auch die Leitungsgeschwindigkeit relativ einheitlich und die Nervenimpulse wandern in einem gemischten Nerven in Gruppen von ganz verschiedener «Reise»-Geschwindigkeit.

Über den Mechanismus der Fortleitung der Erregungsimpulse ist sehr viel spekuliert worden, seit Du Bois-Reymond (1843) die elektrische Natur des Aktionspotentiales als Erster beweisen konnte. Langsam hat sich aber eine physikalisch-chemische Theorie herausgeschält, die als die Kernleitertheorie bezeichnet werden kann und mit den Arbeiten von Hermann (1872-1905) verknüpft bleiben wird. Nach dieser Theorie sind es die Stromschleifen, die von der erregten Stelle aus in die Nachbarschaft sich ausbreiten und dort als «Auswärtsstrom» depolarisierend auf die ruhende Membran einwirken und bei genügender Stärke zum Erreichen der Reizschwelle führen und so ein neues Aktionspotential auslösen, das wiederum in gleicher Weise auf benachbarte noch ruhende Membran-Abschnitte einwirkt. Sehr überzeugend wurde diese Theorie, als Lillie (1917 bis 1922) aus einem Eisendraht in Salpetersäure ein physikalisch-chemisches Modell konstruierte, das in allen Punkten (Reizschwelle, «Alles oder Nichts Gesetz», Refraktärphase, Akkommodation, zwei Zeitkonstanten der Reizwirkung usw.) dem Verhalten des Nerven entsprach. Bonhoeffer und seine Schüler haben diese Modelle weiter ausgebaut und sind zu Anordnungen

gekommen, die sogar die Funktion kleiner nervöser Zentren darstellen und Aktionsströme liefern, wie sie vom Gehirn abgeleitet werden können. Die Analogie geht heute so weit, dass sogar das Bild der Aktionsströme beim epileptischen Anfall von solchen Modellen geliefert werden kann.

Der markhaltige Nerv hat eine ganz besondere Struktur, indem er aus regelmäßig sich wiederholenden Segmenten, den sogenannten Internodien besteht, die durch die Ranvierschen Knoten voneinander getrennt sind. Ist der marklose Nerv nur ein glatter Protoplasmazylinder, so zeigt der markhaltige Nerv eine Segmentation der regelmäßig angeordneten Myelinhüllen, die als chemische und elektrische Isolatoren wirksam sind. Schon Lilie hat vermutet, daß diese strukturelle Eigentümlichkeit mit einer besonderen Funktionsweise zusammenhängen könnte und Blair &Erlanger (1934) haben diese Vermutung wieder aufgegriffen und von ihren Versuchen geschrieben, es sähe so aus, als ob die Erregung saltatorisch von einem Knoten zum nächsten springen würde. Tasaki (1939 u. ff.) hat experimentelles Material an einzelnen, isolierten Nervenfasern erbracht, das nur in diesem Sinn gedeutet werden konnte, ohne aber den direkten Beweis erbringen zu können, der Stämpfli & Huxley (1948 u. ff.) geglückt ist, bestätigt von Frankenhäuser und Rushton. Damit ist die Theorie durch Versuche so erhärtet worden, daß sie heute als gut begründeter experimenteller Befund angesehen werden darf. Die Erregung breitet sich in allen markhaltigen Nerven (und das ist bei den Säugetieren und beim Menschen die große Mehrzahl) saltatorisch und nicht kontinuierlich aus, d. h. sie springt von Knoten zu Knoten und das Internodium ist nur ein Leitungselement für die Stromschleifen, die an benachbarten Knoten als «Auswärtsstrom» die erregbare (nodale) Membran reizen. Mit der Entdeckung der saltatorischen Fortpflanzung des Erregungsimpulses ist ein wichtiges

Ökonomieprinzip in der Neurobiologie aufgedeckt worden. Markhaltige Nerven leiten mit diesem Mechanismus den Nervenimpuls nicht nur viel schneller als marklose, sie benötigen dazu sehr viel weniger Nervensubstanz und haben pro Gramm Gewicht einen etwa zehnmal geringeren Stoffwechsel. Diese Einsparung hat zweifellos in der Evolution eine entscheidende Rolle gespielt und vor allem die Ausbreitung der Tierformen auf dem Land ermöglicht.

Bis jetzt war nur die Rede von dem Erregungsimpuls und seiner Leitung, d. h. von der Natur des Signales und seiner Übermittlung. Über die Umwandlung der Nachricht durch Chiffrierung beim Sender und die Dechiffrierung im Zentralnervensystem ist bis jetzt noch nichts gesagt worden. Für die dem Zentralnervensystem zulaufenden Nachrichten sind Sender die sogenannten Rezeptoren und freien Nervenendigungen. Es sind dies spezialisierte Zellen, die selektiv auf Licht, Schall, Kalte, Wärme, Druck, Geruch, chemische Reize usw. ansprechen. Wir unterscheiden Exterozeptoren und Interozeptoren. Exterozeptoren sprechen auf Reize der Außenwelt an und dienen der Orientierung des Individuums in bezug auf seine Umwelt. Die Interozeptoren bestehen aus zwei Untergruppen, den Propriozeptoren, die Meldungen über den Spannungszustand von Muskeln und Sehnen, über die Füllung der Lunge bei der Atmung u. a. m. erstatten und die Viscerozeptoren, die Meldungen über den Zustand der Eingeweide (Darm, Herz, Blutgefäße, Blase) dem Zentrum zutragen. Alle diese Rezeptoren zeigen eine äußerst feine Abstufung bezüglich der Intensität des Reizes und mehr oder weniger starke Adaptation an den Reiz bei Dauereinwirkung. Wie ist das aber möglich, wenn das «Alles oder Nichts Gesetz» gilt? Adrian und seine Mitarbeiter (Adrian, Bronk, Matthews, Stella, Zottermann) haben die Lösung gefunden. Je starker ein Reiz ist, desto höher ist die Frequenz der gebildeten

Erregungsimpulse; je schwächer der Reiz, desto spärlicher die Erregungsimpulse. Es findet also eine Intensitäts-Frequenz-Transformation statt, und wir sehen zu unserem Erstaunen, daß das beim Bau wissenschaftlicher Instrumente angewandte Prinzip der Transformations-Perzeption, nur eine Kopie dessen ist, was als Bauplan alle unsere Rezeptoren beherrscht. In der Technik nennt man die im nervösen Rezeptor sich abspielende Transformation Frequenzmodulation. Wäre das «Alles oder Nichts Gesetz» nicht gültig, dann könnten wechselnde Intensitäten auch durch verschiedene Amplitude der Erregungsimpulse übermittelt werden (Amplitudenmodulation). Jede geringste Störung auf der Leitungsstrecke würde dann aber zu einer Veränderung der Nachricht führen, wie es zum Beispiel beim «fading» den amplituden-modulierten Radiowellen widerfährt. Aus diesem Grund geht die Technik heute zum Verfahren der Frequenzmodulation über, ein Prinzip, das in der nervösen Nachrichtenübermittlung schon so lange realisiert ist, als es Lebewesen gibt.

Der Stoffwechsel und damit verbunden die Kenntnis der chemischen Vorgänge, die die Energie für die besondere Leistung eines Organes liefern, ist ein Grundproblem, das beim Muskel durch die Forschungen der letzten Jahrzehnte (Fletcher &Hopkins, Hill, Meyerhof, Embden, Lundsgaard) zu einer sehr vertieften Einsicht und Durchdringung geführt hat. Der Nerv ist für eine ähnliche Erforschung aber denkbar ungünstig, denn die zur Analyse zur Verfügung stehenden Mengen sind sehr klein, die Umsätze in der Größenordnung von Billionstel Gramm und die Geschwindigkeit der Reaktionen sehr gross, d. h. sie sind nach einer bis mehreren Millisekunden schon beendet. Meisterhaft war die Bestimmung der Nervenwärme durch Hill und seine Mitarbeiter und die ganz moderne Messung der Sauerstoffatmung des Nerven durch Brink, Bronk, Carlson & Connelly

(1955). Darüber hinaus liegen aber sehr wenige Anhaltspunkte über die Art des Eingreifens des Stoffwechsels in den Erregungsprozeß und die Natur der chemischen Prozesse vor. Etwas hoffnungsvoller scheint die Forschung an den nervösen Zentren, besonders beim Gehirn zu sein (vgl. Gerard, 1955)., Es wäre aber unwissenschaftlich nicht zuzugeben, daß wir auf diesem Gebiet so gut wie nichts wissen und daß die wenigen Kenntnisse, die vorliegen, erst noch sehr umstritten sind.

O. Loewi hat, mit einer im Jahr 1921 beginnenden Reihe von glänzenden Arbeiten gezeigt, daß am Herzen die ankommenden nervösen Nachrichten, durch Vermittlung von zwei chemischen «Mittlern» vom Nerven auf die Herzmuskeln überspringen wobei an den Vagus-Enden Acetylcholin und an den Sympathicus-Enden Nor-Adrenalin (wie wir heute wissen!) freigesetzt wird. Damit wurde das Denken in elektrischen Grössen das besonders um die Jahrhundertwende die Neurophysiologie beherrscht hat, durch das wichtige Prinzip der chemischen Übertragung für die Übermittlung an allen den Stellen, wo die celluläre Kontinuität endet, erweitert. Schon 1904 hatte Elliott die Vermutung geäussert, an den Enden sympathischer Nerven werde jedesmal, wenn ein Erregungsimpuls ankomme, Adrenalin frei. Diese prophetische Äußerung ist erst sehr viel später verstanden und bewertet worden, als durch die Arbeiten der Schule von Dale in England und Cannon in Boston die Allgemeingültigkeit des Prinzipes der chemischen Nachrichtenvermittlung zwischen Nerv und Erfolgsorgan und an allen Synapsen erwiesen wurde. Wie steht es nun aber mit den Enden der Nerven in den Zentren. Feldberg und Schriever (1936) haben wohl als Erste Acetylcholin im Liquor cerebrospinalis und eine Zunahme nach Reizung der peripheren Nerven gefunden und seit dieser Zeit vermehren sich die Befunde, die auch für die nervösen Übertragungen zwischen den cellulären Elementen

des Gehirns Acetylcholin und andere chemische Faktoren als wesentliche Elemente postulieren. Heute ist es möglich (Feldberg, 1954) mit Dauerkanülen bei Tieren Proben ihres Liquors direkt aus dem Gehirn zu entnehmen und Einspritzungen durchzuführen.

Wie steht es nun aber mit den Meldungen, wenn sie das Rückenmark erreichen? Der norwegische Forscher Fridtjof Nassen (1886) scheint der Erste gewesen zu sein, der erkannte, daß sich die Leitungsbahnen beim Eintritt in das Rückenmark in aufsteigende und absteigende Äste aufteilen und durch Kollaterale sich ausbreitend mit anderen Segmenten des Rückenmarks in Verbindung stehen. Der weitere Verlauf bis zur zentralen Projektionsstelle der Körpernerven im Thalamus ist begreiflicherweise kompliziert, dafür ist er relativ einfach zu verfolgen bei den Kopfnerven. Fluorens hat zum Beispiel 1823 festgestellt, daß die contra-laterale Hirnrinde für das Sehen des Auges der anderen Seite die Projektionsstelle ist und Panizza (1855) lokalisierte die Sehfunktion im Okzipitallappen. Damit war die Erforschung des Gehirns als Zentrum der Empfindung und Motorik angebahnt. Die Untersuchung der Lokalisationen im Grosshirn, die mit dem Namen von Monakow verbunden bleiben wird, gehört weniger in das Gebiet der Neurophysiologie als in dasjenige der morphologischen Neuroarchitektonik.

Die elektrische Untersuchung des Rückenmarkes und des Gehirnes dagegen, die durch Hans Berger (1934) zum Ausgangspunkt für eine ganz neue Methode, die sogenannte Elektroencephalographie gemacht wurde, ist schon im 19. Jahrhundert, wenn auch mit ganz ungenügenden technischen Mitteln in Angriff genommen worden. Beck hat 1890 gezeigt, daß von der Sehrinde eines Hundes relativ große elektrische Schwankungen abgeleitet werden können, wenn die Netzhaut belichtet wird und daß auch bei Fehlen eines optischen Reizes elektrische Wellen,

aber von geringerer Größe auftreten, die mit der Gehirntätigkeit und nicht etwa mit den Pulswellen oder respiratorischen Schwankungen etwas zu tun haben. Diese Mitteilung von Beck veranlasste die Wiener Akademie ein Geheimdokument zu eröffnen, welches Fleischl von Marxow 1883 mit der Weisung eingereicht hatte, es dürfe erst eröffnet und gelesen werden, wenn eine Publikation über die elektrische Aktivität des Gehirnes erscheine. Was ihn zu diesem eigenartigen Vorgehen veranlaßt hatte, bleibt unklar, aber auf jeden Fall stellt sich heraus, daß er wohl der Erste gewesen ist, der elektrische Potentiale vom Gehirn, nicht nur vom eröffneten Organ, sondern auch durch den intakten Schädel hindurch abgegriffen hat und auch bewies, daß sie durch Chloroform-Narkose zum Verschwinden gebracht werden können. Gotch &Horsley (1892) berichteten Ähnliches von der ganzen Hirnrinde und sprachen die Auffassung aus, das bestimmte periphere Reizungen zu lokalisierten elektrischen Potentialen in der Hirnrinde, je nach dem Verlauf der Bahnen, führen müssen. Danilewsky (1891), Larionow (1898) und Trivus (1900) setzten solche Lokalisations-Untersuchungen fort. Aber auch hier war die mangelhafte technische Ausrüstung schuld an einem sehr unsicheren und langsamen Vordringen. Mit der Erfindung des Saitengalvanometers durch Einthoven zu Beginn des Jahrhunderts (1906) änderte sich die Sachlage plötzlich. Neminski (1913) berichtete, daß corticale Potentiale auftreten, wenn der nervus ischiadicus beim Hund gereizt. wird Cybulski &Macieszyna (1919) wiederholten mit dem Saitengalvanometer die Versuche und bestätigten die Befunde von Beck. Die bemerkenswerteste der früheren Arbeiten ist wohl diejenige von Neminski aus dem Jahr 1925, in der zum ersten Mal der Begriff Electrocerebrogramm geprägt wird. Er unterscheidet Wellen 1. Ordnung mit einer Frequenz von 10 bis 15 pro Sekunde und solche 2. Ordnung von 20-32 pro Sekunde

und weist auch wieder auf die Möglichkeit der Ableitung von der äusseren Schädeldecke hin. Hans Berger aber verdanken wir die Synthese, die dieser neuen Methode erst zum Durchbruch verholfen hat und sie zu einem klinisch brauchbaren Instrument machte. Erstaunlich mutet es heute an, daß seine 1929 veröffentlichten Berichte über die Registrierung der elektrischen Aktivität des menschlichen Gehirns allgemein zuerst auf Skepsis, ja sogar Ablehnung stießen. Unbeirrt setzte er aber die Arbeit fort und konnte bis zum Jahr 1934 so überzeugende Messungen vorlegen, daß die Tatsache der elektrischen Potentialwellen des menschlichen Gehirnes, ihres Zusammenhanges mit der Tätigkeit der Neuronen und ihrer Abhängigkeit vom Alter des Individuums, vom Grad der geistigen Tätigkeit, von sensorischer Reizung und vom Allgemeinzustand des Körpers allgemein anerkannt wurde, besonders nachdem Adrian an sich selbst diese Wellen der englischen physiologischen Gesellschaft vordemonstriert hatte. («Womit», wie Sir Henry Dale in einer Ansprache bei seinem 80. Geburtstag witzig sagte, «alle Anwesenden den greifbaren Beweis erhielten, daß der jetzige Lord Adrian wirklich ein Gehirn besitzt.») Berger nannte die Schwankungen mit ungefähr 8-12/sec α-Wellen und zeigte, daß sie bei Erweckung der Aufmerksamkeit des Patienten die Tendenz zum Verschwinden haben. Die Schwankungen mit dem breiten Spektrum von 16-28/see bezeichnete er als ß-Wellen und die Methode taufte er neu mit dem Namen Electroencephalographie (E. E. G.), ein Begriff, der heute international anerkanntes Gemeingut geworden ist und für die Kurven verwendet wird, die außen vom Schädel abgeleitet werden, während man mit Elektrocorticographie die Ableitung von der freigelegten Hirnrinde bezeichnet. Die Methode ist technisch mit großem Aufwand ausgebaut worden und leistet heute in der Klinik und der Forschung Wesentliches. Daß ihr aber auch Grenzen gesetzt sind, geht aus

einer Registrierung hervor, in der einmal das Electrocorticogramm eines Wasserkäfers in Dunkelheit und bei Belichtung registriert wurde, das andere Mal das Elektroencephalogramm von Lord Adrian bei Dunkelheit und Belichtung. Die beiden Kurven sind so ähnlich, daß sie sich nicht unterscheiden lassen!

Ganz andere Wege der Erforschung der zentralen nervösen Funktionen hat der große russische Physiologe J. P. Pawlow beschritten. Durch Übung, so konnte er zeigen, lassen sich bestimmte Beziehungen zwischen afferenten und efferenten Nervenimpulsen über das Zentralnervensystem herstellen (bedingte Reflexe), so zum Beispiel, wenn durch Verbindung der Nahrungaufnahme mit einem ganz bestimmten Glockenzeichen, bei häufiger Wiederholung, das Glockenzeichen allein schon zum Speichelfluß führt. Das Studium der bedingten Reflexe hat die grundlegende Bedeutung des «Erlernens» für unser ganzes Verhalten bewiesen und zusammen mit den neuen Untersuchungen der Verhaltensforschung (Lorenz, von Holst) relativ klare Vorstellungen über Bahnung und Hemmung und den Aufbau der «Erfahrung» geliefert.

Eine ganz gezielte Richtung der Hirnforschung hat W. R. Hess durch seine Untersuchungen über Reizung bestimmter, eng umschriebener Abschnitte des Zentralnervensystems eingeleitet. Seine Versuche haben besonders Aufsehen erregt, als es ihm erstmals gelang, bei Katzen durch elektrische Reizung mit feinen, in das Gehirn eingeführten Elektroden Schlaf auszulösen und von diesen Versuchen sind zahllose Arbeiten über lokalisierte Reizung im Gehirn befruchtet worden.

Im raschen Fluss der Entwicklung einer Wissenschaft, unter dem Eindruck täglich neuer Entdeckungen und Fortschritte einmal anzuhalten und sich der Herkunft und des Standortes zu besinnen, hat etwas ungemein Befriedigendes. Haben wir doch alle das erschreckte Gefühl, durch Technik und Forschung aus

der Beschaulichkeit herausgerissen worden zu sein und mit einer stets zunehmenden Geschwindigkeit einem unbekannten Ziel entgegengepreßt zu werden. Galt zu Beginn des Jahrhunderts dem Fortschritt noch der Glaube und die freudige Zustimmung, so sind es eher bange Gedanken, mit denen wir heute diesen Fortschritt in allen Zweigen der Wissenschaft und Technik verfolgen. Die Neurophysiologie macht, im Gegensatz zu anderen Forschungen, unsere eigene Wahrnehmung und unser Denken zum Objekt der Forschung und führt uns vielleicht gerade auf diesem Weg zu einer ruhigeren Besinnung. Ist es doch, als ob wir zum Orakel von Delphi wanderten, über dessen Eingang «Erkenne Dich selbst» geschrieben war. Die Tatsache, daß alle unsere wissenschaftlichen Instrumente und Methoden nichts anderes sind, als dem Bauplan unseres Nervensystemes im Prinzip nachgebildete äussre Beobachtungshilfsmittel, entkleidet die mit ihnen gewonnenen Forschungsergebnisse ihrer Unheimlichkeit und lässt selbst die Welt der Atome und extragalaktischen Räume als etwas Natürliches erscheinen. Wir sind vielleicht heute nur noch selbst über die Erweiterung unserer Naturwahrnehmung, die wir uns mit Hilfe der Transformations- und Telerezeptoren selbst geschaffen haben, erschreckt und vergessen, daß alle Forschung im Kern nur eine verfeinerte und vertiefte Schau der natürlichen Umwelt mit erweiterten Sinnesorganen ist.

Die zu Beginn aufgeworfene Frage, ob es möglich sei, das menschliche Fühlen, Wollen und Denken in den physikalischchemischen Grundlagen vor den Spiegel analytischer, naturwissenschaftlicher Methoden zu stellen, ist teilweise beantwortet worden. Die Darstellung der Grundlagen der Neurophysiologie hat schon gezeigt, daß eine Analyse und Synthese der nervösen Prozesse möglich ist und daß unsere Kenntnisse in rascher Entwicklung begriffen sind. Solange die an einzelnen, ausgewählten

Objekten entdeckten Gesetzmäßigkeiten zu voraussagbaren Versuchsresultaten an komplizierteren Systemen und zu positiv verlaufenden experimenta crucis führen, steht die generalisierend induktive Erfassung des Wesens der neurophysiologischen Nachrichtenübermittlung und Nachrichtenverwertung im Nervensystem auf exakter Grundlage. Allzuviel wollen wir uns allerdings nicht auf unsere Kenntnisse zu gute halten. Über die Vorgänge der Transformation in den Rezeptoren wissen wir fast gar nichts, über die Entstehung der Erregung wenig und das Gleiche gilt auch für die Leitung der Signale. Was Gedächtnis und Willensbildung, Erfahrung, Urteil und Entschluß bedeuten, ist noch ganz dunkel und selbst die kompliziertesten elektronischen Rechenmaschinen der Technik haben, als Modelle des Nervensystems betrachtet, erst etwa den Organisationsgrad des Zentral-Nervensystems eines Regenwurms erreicht. Langsam durchschreiten wir aber mit unserer natürlichen Sinneswahrnehmung, erweitert und verschärft mit wissenschaftlichen Instrumenten den Wundergarten der belebten Welt und nur ganz allmählich werden uns einzelne Zusammenhänge klar. Daß wir eines Tages (in ferner Zukunft) die Grundprozesse des Lebens verstehen werden, mit denen das Leben in einer Welt, in der die Entropie zunimmt, gegen die starke Tendenz zur Nivellierung und Unordnung sich behaupten kann, wird, das erwarten wir alle von der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung, vielleicht Wahrheit. Ob wir mit dieser Kenntnis dann aber das Wunder des Lebens durchdringen werden, ist nicht eine Frage der Naturwissenschaft, sondern eine Frage des Glaubens. Vergessen wir doch nie, dass unsere Erde im Weltall nur ein winziges Staubkorn und unsere 5000jährige Weltgeschichte im Strom des Lebens auf dieser Erde nur eine Sekunde ist!