reden.arpa-docs.ch Rektorats Reden © Prof. Schwinges
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

DIE FREIHEITSRECHTSKATALOGE ALS KODIFIKATION DER FREIHEIT

JAHRESBERICHT 1954/55

Druck: Art. Institut Orell Füssli AG, Zürich

INHALTSVERZEICHNIS Seite
I. Rektoratsrede 3
II. Ständige Ehrengäste der Universität 25
III. Jahresbericht 26
a) Dozentenschaft 26
b) Organisation und Unterricht 32
e) Feierlichkeiten und Konferenzen 42
d) Ehrendoktoren und Ständige Ehrengäste ... 44
e) Studierende 45
f) Prüfungen 47
g) Preisaufgaben 48
h) Stiftungen, Fonds und Stipendien 50
i) Kranken- und Unfallkasse der Universität . . . . 54
k) Witwen-, Waisen- und Pensionskasse der Professoren
der Universität 54
l) Stiftung zur Förderung der Fürsorgeeinrichtungen
für die Professoren der Universität Zürich (SFF). . 56
m) Zürcher Hochschul-Verein 56
n) Stiftung für wissenschaftliche Forschung an der
Universität Zürich 60
o) Jubiläumsspende für die Universität Zürich . . 64
p) Julius-Klaus-Stiftung 67
IV. Schenkungen 71
V. Nekrologe 75

I.

FESTREDE

DES REKTORS PROF. DR. ZACCARIA GIACOMETTI

gehalten an der 122. Stiftungsfeier der Universität Zürich

am 29. April 1955

Die Freiheitsrechtskataloge als Kodifikation der Freiheit

I.

Die schweizerische Staatsidee, wie sie in der Bundesverfassung und in den Kantonsverfassungen ihr rechtliches Abbild findet, ist vorab eine freiheitliche und föderalistische. Sie verlangt die Anerkennung der Persönlichkeit des Individuums im Staate, und zwar sowohl im Sinne der Gewährleistung einer staatsgewaltsfreien Sphäre der Menschen wie der Heranziehung der Einzelnen zur staatlichen Willensbildung. Die föderalistische Idee ihrerseits fordert einen genossenschaftlichen Aufbau des Staates. Dementsprechend garantieren Bundesverfassung und Kantonsverfassungen eine gleiche individuelle Freiheit durch Gewährleistung von Freiheitsrechten; sie garantieren eine gleiche politische Freiheit in der Gestalt von politischen Rechten, und zwar im Sinne des Ausbaues des Staates zur Referendumsdemokratie; sie garantieren eine genossenschaftliche Freiheit auf Grund der territorialen Gliederung des Landes in die historisch überkommenen kantonalen und Gemeindegebilde. Ergänzt wird dieser in den Verfassungen verkörperte freiheitliche und föderalistische schweizerische Staatsgedanke durch die Idee der politischen Nation, indem die Bundesverfassung und die Verfassungen der mehrsprachigen Kantone die Vielsprachigkeit des Landes anerkennen und gewährleisten.

Tragende Säule dieses freiheitlichen und föderativen Aufbaues des schweizerischen Staates ist nun zweifellos das verfassungsrechtliche

Abbild der individuellen Freiheit, der Katalog der Freiheitsrechte. Als solchen bezeichnet man den Normenkomplex der Verfassung, der die Freiheitsrechte garantiert und in der Regel einen besonderen Abschnitt in der Verfassungsurkunde bildet. Dieser Katalog erscheint als die Seele des Ganzen. Denn die Freiheitsrechte stellen bekanntlich sowohl die ideelle als die funktionelle Grundlage der Demokratie sowie auch eine Stütze des Föderalismus dar; zeigt ja der Zentralismus außer autoritären auch totalitäre Tendenzen. Umgekehrt erscheinen Demokratie und Föderalismus als Instrumente der individuellen Freiheit, indem sie eine Verteilung der staatlichen Macht bewirken und damit eine weitere Schranke gegen die Staatsallmacht errichten und auf diese Weise die Freiheitsrechte schützen. Demokratie und Föderalismus sind also zugleich Geschöpfe und Helfer der Freiheitsrechte. Ebenso wird die Vielsprachigkeit des Landes durch den Katalog der Freiheitsrechte im Sinne der Sprachenfreiheit sichergestellt. Aber auch die Trennung der Gewalten als Prinzip einer freiheitlichen Organisation der staatlichen Behörden hat ihre geistige Wurzel in der Idee der individuellen Freiheit und bildet eine sehr wichtige Sicherung der Freiheitsrechte.

Eine solche tragende Säule ist aber der Katalog der Freiheitsrechte aus dem Grunde, weil er gewissermaßen den Staatsethos des Landes als einen auf den Menschen ausgerichteten Ethos versinnbildlicht. Die Freiheitsrechte der Verfassung sollen nämlich den Eigenwert und die Würde des Menschen als vernunftbegabtes Wesen in der staatlichen Kollektivität sicherstellen und damit die Staatsgewalt rechtlich beschränken. Darum heißen die Freiheitsrechte auch Menschenrechte. Das ist gewissermaßen das Axiom des Freiheitsrechtskataloges. Die Freiheitsrechte sind also der juristische Ausdruck eines freiheitlichen politischen Wertsystems, dahingehend, daß der Staat um der Einzelnen willen da ist und nicht der Einzelne um des Staates willen; der Sinn des Staates soll mit andern Worten darin bestehen, die Entfaltung des Individuums als des Schöpfers der geistigen, kulturellen, wirtschaftlichen Werte in der Staatsgemeinschaft zu ermöglichen und den Einzelnen zu fördern. Restlos verwirklicht

erscheint dieses durch den Katalog der Freiheitsrechte konstituierte freiheitliche politische Wertsystem jedoch erst dann, wenn die Freiheitsrechte nicht nur nach Maßgabe der Gesetze garantiert, sondern auch für den Gesetzgeber absolut verbindlich sind, und wenn überdies der Menschenrechtskatalog durch die Legislative unabänderbar ist. Diese Voraussetzungen sind im allgemeinen in der Schweiz erfüllt, während andererseits die Freiheitsrechte noch vergeblich eines Schutzes gegenüber dem Bundesgesetzgeber durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit harren. Allerdings ist die Begrenzung der Staatswirksamkeit durch den Katalog der Freiheitsrechte nur in dem Falle sinnvoll, daß die Freiheitsidee in der Vorstellung der Einzelnen lebt und das politische Bewußtsein des Volkes beherrscht. Wenn die Freiheitsrechte nicht von einer freiheitlichen politischen Tradition und einer freiheitlichen politischen Atmosphäre getragen sind, werden sie vom nächsten Windstoß weggefegt werden oder bilden nur eine Attrappe.

Haben aber die Menschenrechte als freiheitliches politisches Wertsystem die Würde und den Eigenwert des Einzelnen und die Entfaltung des Individuums in der staatlichen Gemeinschaft sicherzustellen, so kann andrerseits deren Ausübung von der Verfassung sinnvollerweise auch nicht schrankenlos gewährleistet sein; denn das würde ein geordnetes menschliches Zusammenleben verunmöglichen und damit zum Untergang des freiheitlichen Staates und infolgedessen auch der Freiheitsrechte führen. Der Einzelne genießt vielmehr den Schutz der Verfassung bei der Ausübung der Menschenrechte nur in dem Maße, als diese Ausübung nicht entweder die Interessen anderer verletzt, wie schon die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sagt, und damit mittelbar das öffentliche Wohl beeinträchtigt oder unmittelbar der staatlichen Gemeinschaft schädlich ist. Die Ausübung der Freiheitsrechte ist mit anderen Worten, wie die Verfassung bestimmt und das Bundesgericht näher definiert hat, allein unter dem Vorbehalt der gesetzlichen Beschränkungen, die den Anforderungen der öffentlichen Ordnung im weiteren Sinne, im Sinne der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ruhe,

der öffentlichen Gesundheit und Sittlichkeit sowie von Treu und Glauben im Verkehr entsprechen, verfassungsrechtlich geschüzt. Unter diesem Gesichtspunkte erscheinen auch Maßnahmen gegen Störungen der Freiheit durch Private in Ausübung dieser Freiheit, wie zum Beispiel Beschränkungen der Vertragsfreiheit zum Schutze der Wirtschaftsfreiheit gegen private Monopole oder der Informationsfreiheit, als zulässig; denn die Freiheit des Einzelnen findet eben ihre Grenze an der Freiheit der anderen. Außerdem können noch aus weiteren Gründen des allgemeinen Wohls verfassungsrechtliche Schranken der Freiheitsrechtsausübung in Frage kommen, so unter dem Gesichtspunkte des Schulwesens, Militärwesens und des Staatsschutzes. Alle diese Beschränkungen der Freiheitsrechtsbetätigung bedürfen aber im Rechtsstaate selbstverständlich einer präzisen Rechtsgrundlage und haben sich innerhalb der freiheitlichen Zone zu bewegen; diese Beschränkungen müssen sich mit anderen Worten unter dem Gesichtspunkte der Freiheitsidee, die dem betreffenden Freiheitsrechte zugrunde liegt, und nicht allein nach Maßgabe des Willkürverbotes der Verfassung rechtfertigen lassen. Daher bilden die Freiheitsrechte Spezialbestimmungen zum Willkürverbot und gehen diesem vor. Manche Freiheitsbeschränkungen können eben, ohne willkürlich zu sein, vor den Freiheitsrechten nicht Bestand haben. Alle Freiheitsbeschränkungen, die sich im Rahmen der freiheitlichen Zone halten, sind unechte, alle anderen echte Freiheitsbeschränkungen. Unter dem gleichen Vorbehalt widerspricht auch der moderne Wohlfahrtsstaat nicht dem freiheitlichen Staate, dessen Sinn ja, wie gesehen, im Schutze und in der Förderung der Persönlichkeit des Einzelnen in der Staatsgemeinschaft liegt. Freiheitsrechte und positive Leistungen des Staates stehen solange im Einklang miteinander, als die öffentlichen Interessen, die mit diesen Leistungen verfolgt werden, auch nach freiheitlicher Auffassung schutzwürdig erscheinen.

II.

Die den freiheitlichen Staat kennzeichnenden Kataloge der Menschenrechte garantieren nun aber ihrem Wortlaute nach nur ganz bestimmte Freiheitsrechte. So gewährleistet beispielsweise die schweizerische Bundesverfassung lediglich die Religionsfreiheit, Preßfreiheit, Vereinsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, Handels- und Gewerbefreiheit nebst einzelnen Seiten der persönlichen Freiheit im Sinne des Verbotes von körperlichen Strafen und des Schuldverhaftes sowie im Sinne des Post- und Telegraphengeheimnisses. Es drängt sich deshalb die für den Einzelnen wichtige, ja vitale Frage auf, ob es dabei sein Bewenden habe. Garantiert also die Verfassung lediglich diejenigen Freiheitsrechte, die sie ausdrücklich erwähnt, so daß der Katalog der Freiheitsrechte sich als freiheitliches politisches Wertsystem in der Gewährleistung dieser Menschenrechte erschöpft, analog der demokratischen Ordnung der schweizerischen Verfassungen, die die politischen Rechte der Bürger auf eidgenössischem und kantonalem Boden in abschließender Weise festlegen? Oder schützen etwa die Kataloge der Freiheitsrechte neben den ausdrücklich garantierten Freiheiten auch jede weitere Seite der individuellen Freiheit, das heißt der natürlichen Freiheit des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt (im Gegensatz zur metaphysischen Freiheit, zur Willensfreiheit), die praktische Bedeutung erlangt? Garantieren sie also jede weitere Einzelfreiheit, die durch den Staat gefährdet wird? — Es ist dasselbe, ob man von Richtungen der individuellen Freiheit als einer allgemeinen Freiheit gegenüber dem Staate oder von Einzelfreiheiten spricht. Hat, wie vorher ausgeführt, der Freiheitsrechtskatalog die Bedeutung einer verfassungsrechtlichen Beschränkung der staatlichen Macht zugunsten der individuellen Freiheit, so können eben neue Arten der staatlichen Machtäußerung für den Einzelnen Eingriffe in solche Freiheiten darstellen, die bisher nicht praktisch waren und daher in der Verfassung auch nicht ausdrücklich garantiert wurden. Das ist um so mehr der Fall, als der Aufgabenbereich des modernen Staates immer größer wird und als die

Freiheitsrechtskataloge vielfach summarisch gehalten sind und etwas antiquiert anmuten, wie zum Beispiel die schweizerischen, die aus der Regenerationszeit stammen. Da erhebt sich dann die Frage, ob auch diese neuen Seiten der individuellen Freiheit, die aktuelle Bedeutung erlangt haben, den Schutz der Verfassung genießen oder nicht. Steht also mit anderen Worten das Individuum auf Grund des Freiheitsrechtskatalogs allseitig unantastbar da in seiner Freiheit gegenüber der staatlichen Kollektivität? Diese Frage ist für uns Zeitgenossen, die wir einen Höhepunkt im säkularen Kampfe zwischen Freiheit und Unfreiheit erleben, auch von großem aktuellem Interesse. Das uns hier beschäftigende Problem ist aber, wie es sich schon aus der Formulierung der Fragestellung ergibt, was jedoch noch präzisiert werden soll, ein schlicht positivrechtliches und nicht etwa ein politisches oder metaphysisches; es frägt sich lediglich, ob die modernen Verfassungen, die einen Katalog der Freiheitsrechte enthalten, damit auch jede neue Einzelfreiheit, die aktuell wird, garantieren, und nicht, ob sie solche neue Einzelfreiheiten in Hinblick auf ein politisches Dogma oder wegen bestimmter ethischer oder religiöser Überzeugungen garantieren sollen.

Für die Schweiz erhebt sich diese Frage in allererster Linie im Zusammenhang mit der Bundesstaatlichkeit des Landes. Gibt es ja 26 schweizerische Verfassungsurkunden und dementsprechend 26 Freiheitsrechtskataloge. Diese Kataloge weichen aber bekanntlich hinsichtlich der Zahl und des Umfanges der darin ausdrücklich geschützten Freiheitsrechte voneinander ab —wobei allerdings die Gewährleistungen der Kantonsverfassungen angesichts der derogatorischen Kraft des Bundesrechtes in dem Falle keine rechtliche Bedeutung mehr besitzen, daß die betreffenden Freiheitsrechte zugleich namentlich in der Bundesverfassung garantiert sind. Infolgedessen erhebt sich die Frage, ob die schweizerischen Verfassungen die Freiheitsrechte in verschiedenem Umfange gewährleisten.

So geht die Bundesverfassung in der ausdrücklichen Gewährleistung von Freiheitsrechten weniger weit als die Kantonsverfassungen. Sie garantiert, im Gegensatz zu den meisten Kantonsverfassungen,

ihrem Wortlaute nach weder die Meinungsäußerungsfreiheit noch die persönliche Freiheit in umfassender Weise und ebensowenig die Unverletzlichkeit der Wohnung sowie die Versammlungsfreiheit. Ist es somit die Meinung der Bundesverfassung, daß zum Beispiel zwei grundlegende, umfassende Freiheitsrechte, die manche andere einschließen, wie sie die Meinungsäußerungsfreiheit und die persönliche Freiheit darstellen, gegenüber der Eidgenossenschaft nur in beschränktem Maße geschützt sein sollen? Gewährleistet mit anderen Worten die Bundesverfassung die Meinungsäußerungsfreiheit lediglich in der Gestalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit, Preß- und Vereinsfreiheit? Garantiert sie die persönliche Freiheit, das ist im Sinne der Kantonsverfassungen die Garantie gegen ungesetzliche Verhaftung sowie das Recht auf Ausschluß von körperlichen Strafen und von Zwangsmitteln zur Erzielung von Geständnissen, allein in der Gestalt des Verbotes körperlicher Strafen und des Schuldverhaftes? Oder sind nicht vielmehr alle Ausstrahlungen der Denkfreiheit und der Freiheit des künstlerischen Erlebens, die ja ihrem Wesen nach rechtlich nicht erfaßbar sind, also alle Seiten der Meinungsäußerungsfreiheit in der Bundesverfassung geschützt? Hat also der Einzelne nicht auch das Recht gegenüber dem Bunde, seine Meinung außer durch die Presse auch durch das geschriebene oder das gesprochene Wort in der Gestalt zum Beispiel einer Rede, einer Theateraufführung, der Vorführung eines Filmes bzw. durch das Mittel des Radios oder des Fernsehens zu äußern, oder seine künstlerischen Empfindungen außer in literarischen Erzeugnissen auch in Werken der bildenden Kunst oder in musikalischen Aufführungen kundzutun? Oder besitzt das Individuum gemäß der Bundesverfassung nicht auch die Garantie gegen ungesetzliche Festnahme durch Bundesorgans? Ferner stellt sich die Frage, ob die Bundesverfassung die Eigentumsfreiheit nicht schütze, so daß der Bundesgesetzgeber die Eigentumsordnung des Zivilgesetzbuches abschaffen dürfte, oder ob die wichtige institutionelle Garantie der Demokratie in der Gestalt der Versammlungsfreiheit in der Eidgenossenschaft nicht verfassungsrechtlich sichergestellt sei. Das sind schwerwiegende

Probleme, deren praktische Bedeutung proportional wächst mit der Ausdehnung der Bundeskompetenzen. Hat ja der Bund unter dem Vollmachtenregime des letzten Krieges weitgehend in diese Freiheiten eingegriffen.

Dieselbe Problematik erhebt sich auch im Verhältnis zwischen den Kantonen, indem die Kantonsverfassungen nicht im selben Umfange Freiheitsrechte garantieren. So gewährleistet eine ganze Reihe von Kantonsverfassungen die Versammlungsfreiheit und Unterrichtsfreiheit nicht, und einzelne von ihnen ebensowenig die persönliche Freiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung sowie die Eigentumsfreiheit.

In dieser Frage nach dem Umfang der schweizerischen Freiheitsrechtskataloge ist aber zugleich auch die Frage mitenthalten, ob diese Kataloge alle praktisch werdenden Einzelfreiheiten schützen. Mag man das Problem zunächst auch nur mit Hinblick auf ein bestimmtes Freiheitsrecht stellen und zum Beispiel fragen, ob die Bundesverfassung die in vielen Kantonsverfassungen geschützte Meinungsäußerungsfreiheit ebenfalls gewährleiste oder nicht, so ist damit eben das Problem gestellt, ob die Bundesverfassung auch andere Freiheitsrechte als diejenigen, die sie ausdrücklich enthält, garantiere, und infolgedessen zugleich auch gefragt, ob sie überhaupt jede aktuell werdende Freiheit schütze. Das Problem der sachlichen Gleichheit der Freiheitsrechtsverbürgungen ist identisch mit demjenigen der Unbegrenztheit der Freiheitsrechtskataloge.

Die eminent wichtige Frage, ob sich die Menschenrechtskataloge in der Gewährleistung der von ihnen ausdrücklich anerkannten Freiheitsrechte erschöpfen, erhebt sich jedoch selbstverständlich nicht allein mit Hinblick auf die Bundesstaatlichkeit des Landes, also nicht lediglich im Sinne des Problems des Umfanges der Freiheitsrechtsverbürgungen in der Bundesverfassung und in den Kantonsverfassungen. Diese Frage ist vielmehr von allgemeinster Bedeutung und stellt sich damit ebensosehr im Einheitsstaate. Es wäre auch eine gar zu provinzielle Problemstellung, wenn man diese Dinge nur unter dem schweizerischen bundesstaatlichen Aspekte, also unter dem Gesichtspunkte

betrachten wollte, ob die schweizerischen Verfassungen die sogenannten klassischen Freiheitsrechte nach dem Vorbild der nordamerikanischen und französischen Erklärungen der Menschenrechte in gleicher Weise gewährleisten.

Höchste Aktualität hat das Problem der rechtlichen Tragweite der Menschenrechtskataloge angesichts der verschiedenen Arten totalitärer Tyrannis, die unsere Zeit heimgesucht haben, erhalten. Die Erniedrigung der Menschenwürde durch die vielen Unmenschlichkeiten der modernen totalitären Staaten hat die Frage nach den Grenzen der staatlichen Macht und damit aber auch die Problematik der rechtlichen Tragweite der Freiheitsrechtskataloge wieder grell in die volle Helle des Bewußtseins gerückt. Und zwar drängt sich überall naturgemäß die Frage auf, ob die Freiheiten, die in den Schrecknissen unserer Tage gefährdet und mit Füßen getreten wurden und werden, auch beim Schweigen der Verfassungsrechtskataloge gewährleistet seien. So erhebt sich zunächst die Kardinalfrage, gibt es ein Recht auf Leben, oder können die staatlichen Machthaber über das menschliche Leben verfügen? Gibt es ein Recht auf sonstige körperliche Unversehrtheit, so ein Recht gegen die Anwendung körperlicher Strafen, gegen zwangsweise Unfruchtbarmachung, gegen die Anwendung der Tortur oder noch raffinierterer Methoden zur Erzwingung falscher Geständnisse, wie zum Beispiel gegen seelische Gewaltanwendung, wie sich die neue italienische Verfassungsurkunde ausdrückt; gibt es ein Recht gegen die Anwendung der Narkoanalyse oder des Lügendetektors? Gibt es, mit andern Worten, eine Freiheit gegen den auf körperlichen Eingriffen beruhenden staatlichen Geistesdirigismus? Existiert auch ohne ausdrückliche Gewährleistung im Menschenrechtskatalog eine Bewegungsfreiheit gegenüber dem Staate im Sinne zum Beispiel eines Rechtes gegen administrative Internierung, gegen zwangsweise Anweisung eines Wohnsitzes, gegen Zwangsarbeit und andere Formen der modernen Sklaverei? Man kann alle diese Rechte als persönliche Freiheit im weiteren Sinne des Wortes bezeichnen. Insofern eine solche persönliche Freiheit in der Verfassung ausdrücklich garantiert sein sollte, würde diese Frage zusammenfallen

mit derjenigen, ob sich derartige staatliche Maßnahmen unter freiheitlichen Gesichtspunkten noch rechtfertigen lassen. Besteht eine Auswanderungsfreiheit? Praktisch ist das identisch mit dem Anspruch auf Aushändigung eines Passes und damit letzten Endes auf Nichtentzug der Staatsangehörigkeit. Gibt es eine Radioempfangsfreiheit? Existiert eine gleiche Freiheit für alle, so zum Beispiel ohne Rücksicht auf die Rasse und damit eine Rassengleichheit? Aktuell ist zum Beispiel heute auch die Frage der Informationsfreiheit, die eine Voraussetzung und Ergänzung der Preßfreiheit, und zwar im Sinne einer Freiheit zur Beschaffung, Übermittlung und Verbreitung von Nachrichten bildet. Angesichts des Zusammenbruchs, den die individuelle Freiheit im totalitären Staat erlitten hat, ist neuerdings in einzelnen Ländern eine Sichtung der Menschenrechtskataloge erfolgt. Dementsprechend haben verschiedene moderne Verfassungsurkunden, wie die westdeutsche und italienische sowie auch die Erklärung der Menschenrechte der Vereinigten Nationen neue Einzelfreiheiten, die Aktualität erlangt haben, ausdrücklich garantiert.

Auch in der Schweiz sind schon vereinzelt als Reaktion gegen staatliche Eingriffe in die Persönlichkeit des Einzelnen Freiheiten zur Geltung gebracht worden, die, weil nicht zu den klassischen Freiheitsrechten gehörend, in keiner Verfassungsurkunde ausdrücklich stehen. Diese Fälle muten allerdings im Vergleich zu dem, was sich die staatliche Kollektivität in anderen Ländern gegenüber dem Individuum zuschulden kommen ließ, recht idyllisch an. So wurde zum Beispiel im Jahre 1930 eine staatsrechtliche Beschwerde gegen ein Verbot des Gemeinschaftsbadens in Appenzell Innerrhoden erhoben und damit implizite eine Badefreiheit beansprucht 1. So machte man gegen ein Verbot des Regierungsrates von Luzern von 1919 auf Einführung der fakultativen Feuerbestattung in der Stadt Luzern ein Recht des Einzelnen geltend, über das Schicksal seiner sterblichen Hülle frei verfügen zu können 2. So wurde in der Referendumskampagne

von 1949 gegen das neue eidgenössische Tuberkulosegesetz, das die periodische Zwangsdurchleuchtung der gesamten Bevölkerung vorschrieb, die Existenz eines Rechtes des Individuums gegenüber dem Bund auf freie Verfügung über den eigenen Körper angenommen 1. Solche Beispiele ließen sich vermehren.

III.

Das wäre die Problemstellung. Und nun die Problemlösung, insofern eine solche überhaupt möglich ist. Es soll, wenn auch nur andeutungsweise, versucht werden, zu einer positiven Beantwortung unserer Frage zu gelangen. Ein solcher Versuch, das ist die Lösung des verfassungsrechtlichen Problems, ob die Freiheitsrechtskataloge nicht nur die ausdrücklich aufgezählten Einzelfreiheiten, sondern auch jede andere Freiheit, die praktisch wird, garantieren, hat naturgemäß mit den Mitteln der juristischen Hermeneutik, das ist auf dem Wege der Auslegung oder der Ausfüllung echter Lücken der Verfassung zu erfolgen. Dabei frägt es sich, ob man zu einem positiven Ergebnis schon auf Grund der Interpretation einzelner Verfassungsartikel oder aber allein des Katalogs der Freiheitsrechte als Ganzen gelangen könnte, oder ob dieser Katalog echte Lücken enthalte, die somit der Ausfüllung bedürfen.

So ließe sich die Frage aufwerfen, ob neue Einzelfreiheiten, die durch staatliche Maßnahmen praktisch werden, nicht bereits nach Maßgabe des im Gleichheitssatz der Verfassung enthaltenen Willkürverbotes geschützt seien. So hat das Bundesgericht wiederholt Beschwerden wegen Verletzung der individuellen Freiheit unter dem Gesichtspunkte der Willkür beurteilt, so zum Beispiel die Frage der Zulässigkeit des Verbotes einer öffentlichen Versammlung in einem Kanton, dessen Verfassung die Versammlungsfreiheit nicht ausdrücklich garantiert 2, und ebenso auch das

Kremationsverbot von Luzern 1. Das Willkürverbot vermag aber naturgemäß nicht in allen Fällen der Verletzung neuer individueller Freiheiten zu helfen; denn die Beschränkungen von Einzelfreiheiten, die die Verfassung nicht ausdrücklich gewährleistet, lassen sich auf Grund des Willkürverbotes, wie bereits angetönt, sehr oft auch unter solchen Gesichtspunkten rechtfertigen, die vor der ratio der individuellen Freiheit keinen Bestand haben. Die echte Freiheitsbeschränkung ist eben nicht immer identisch mit dem Willkürakt, mit dem ungesetzlichen Zwang; es gibt vielmehr auch freiheitswidrigen gesetzlichen Zwang. So hätte sich meines Erachtens zum Beispiel auch das Luzerner Kremationsverbot vom Standpunkt der Willkür wohl rechtfertigen lassen; bei diesem Verbot spielten nämlich nach der Annahme des Bundesgerichtes Rücksichten auf die Lehre der katholischen Kirche eine Rolle, so Rücksichten auf can. 1203 des Codex juris canonici, wonach die Pflicht besteht, die Leichen der verstorbenen Gläubigen zu begraben und die Leichenverbrennung verworfen wird; unter diesem Gesichtspunkte ließe sich aber das genannte Verbot in einer katholischen Landesgegend offensichtlich begründen; unzulässig war das freiheitswidrige Verbot hingegen schon mit Hinblick auf die Vorschrift des Art. 49 Abs. 4 der Bundesverfassung, dahingehend, daß die Ausübung bürgerlicher oder politischer Rechte durch keinerlei Vorschriften oder Bedingungen kirchlicher oder religiöser Natur beschränkt werden darf.

Ferner ließe sich fragen, ob man die Einzelfreiheiten, die praktische Bedeutung erlangen und nicht ausdrücklich verfassungsrechtlich garantiert sind, nicht etwa als Freiheitsrechte auf dem Interpretationswege oder im Sinne einer Lückenausfüllung aus bestimmten ausdrücklichen Freiheitsrechten des Katalogs ableiten könnte. Das ist in beschränktem Maße zweifellos möglich. So kann man zum Beispiel sagen, daß die Preßfreiheit eine bestimmte Richtung, ja das Kernstück der Meinungsäußerungsfreiheit

sei, und daß der Presseartikel der Bundesverfassung infolgedessen auch die übrigen Bestandteile der Meinungsäußerungsfreiheit im Sinne der Wortfreiheit, der Brieffreiheit, der Freiheit der bildenden Darstellung, der Informationsfreiheit, der Radiofreiheit im Sinne der Freiheit des Programmbetriebes gewährleiste 1; es wäre kaum sinnvoll, daß die Bundesverfassung dem Einzelnen nur die Freiheit garantieren sollte, seine Meinung durch das Mittel der Presse und nicht auch in anderer Art und Weise zu äußern und zu verbreiten. Die bundesgerichtliche Judikatur hat allerdings diese Auffassung bisher nicht geteilt und meines Wissens sogar die Frage offengelassen, ob die Preßfreiheit auch jede andere Form der mechanischen Gedankenwiedergabe, als diejenige durch das Mittel der Presse, wie durch Grammophonplatten und Film schütze. Das ist insbesondere angesichts der rechtsschöpferischen Art, in der das Bundesgericht den Gleichheitssatz der Bundesverfassung handhabt, auffallend. Die Judikatur in den Vereinigten Staaten nimmt zum Beispiel an, daß die Freiheit der Meinungsäußerung durch den Film den Schutz der Preßfreiheit genieße 2. Ebenso erscheint die Ableitung der Auswanderungsfreiheit aus der Niederlassungsfreiheit möglich. So kann man weiter fragen, ob sich in der Eidgenossenschaft einzelne Freiheiten wie die Eigentumsfreiheit oder die persönliche Freiheit im umfassenden Sinne eines Rechtes auf körperliche Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit nicht auf dem Wege der Ausfüllung echter Lücken der Bundesverfassung als Freiheitsrechte nachweisen ließen; diese Freiheiten sind eben die notwendige Voraussetzung für die Betätigung bestimmter ausdrücklicher Freiheits - rechte der Bundesverfassung, wie der Handels- und Gewerbefreiheit und der Preßfreiheit, und erscheinen daher für die Anwendung der diese Freiheitsrechte garantierenden Verfassungsnormen unbedingt erforderlich. Wenn auch der Richterstuhl kein Lehrstuhl ist, so könnte eine Jurisprudenz, die nicht zu sehr

auf dem Buchstaben der Verfassungsbestimmungen des Menschenrechtskatalogs beharrt, sondern mehr nach dem Sinngehalt dieser Verfassungsnormen forscht, aus den ausdrücklich garantierten Freiheitsrechten manches herausholen. Zu einer allseitigen positiven Beantwortung der Frage nach der verfassungsrechtlichen Fundierung aller aktuell werdenden Freiheiten durch die Menschenrechtskataloge käme man jedoch auch auf diese Weise wohl nicht. Die Zahl der ausdrücklich gewährleisteten Freiheiten ist eben naturgemäß begrenzt, während die Einzelfreiheiten, die praktische Bedeutung erhalten können, entsprechend den unbegrenzten Möglichkeiten der sie aktualisierenden staatlichen Machtäußerungen unerschöpflich sind. Darum läßt sich nicht jedes Freiheitsrecht, auf das man Anspruch erhebt, aus anderen, von der Verfassung ausdrücklich garantierten Freiheitsrechten ableiten. So schließt zum Beispiel die Vereinsfreiheit der Bundesverfassung kaum eine allgemeine Versammlungsfreiheit in sich, und ebensowenig könnte offensichtlich die Gewährleistung der Unverletzlichkeit der Wohnung in bestimmten Vorschriften der Bundesverfassung erblickt werden.

Eine allseitige positive Lösung unserer Frage erscheint meines Erachtens nur dann vorstellbar, wenn man die garantierten Freiheitsrechte nicht isoliert, sondern in ihrem geistigen Zusammenhange im Sinne einer Gesamtschau betrachtet, wenn man, mit anderen Worten, auf den Wesensgehalt des Freiheitsrechtskatalogs als Ganzes zurückgeht und die darin gewährleisteten Freiheitsrechte als Einzeläußerungen des freiheitlichen politischen Wertsystems, das der Menschenrechtskatalog normiert, auffaßt 1. Wenn die Freiheitsrechtsverbürgungen, wie gesehen, als freiheitliches politisches Wertsystem die menschliche Würde und den Einzelwert des Individuums in der Staatsgemeinschaft sicherstellen und infolgedessen die Funktion einer rechtlichen Beschränkung der Staatswirksamkeit haben sollen, so muß dementsprechend auch jede neue Gefährdung der menschlichen Würde und des Eigenwertes des Einzelnen durch den Staat eine Schranke am Freiheitsrechtskatalog finden. Mit anderen Worten,

jede neue Seite der individuellen Freiheit, die als Gegensatz solcher neuer Eingriffe in die menschliche Würde oder Persönlichkeit des Einzelnen konkrete Gestalt erlangt, muß sinnvollerweise ebenfalls im Menschenrechtskatalog gewährleistet sein. Da aber, wie gesehen, die Möglichkeit neuer staatlicher Einbrüche in die individuelle Freiheit faktisch unbegrenzt erscheint, so muß dementsprechend auch der Katalog der Freiheitsrechte in der Gewährleistung von Freiheiten gegenüber dem Staate unbegrenzt sein; sonst wäre diese durch den Menschenrechtskatalog gebildete verfassungsrechtliche Schranke der staatlichen Macht entgegen ihrem Sinne beschränkt. Die Zerlegung der individuellen Freiheit in einzelne Freiheitsrechte in den Freiheitsrechtskatalogen der Staatsverfassungen kann daher nicht endgültig sein; sie ist vielmehr historisch zu erklären, indem die Verfassungen nach dem Vorbild der nordamerikanischen und französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte diejenigen Freiheiten, die damals aktuell waren, das heißt durch den Staat gefährdet erschienen, gewährleisteten. Die Aufzählung einzelner Freiheitsrechte in den modernen Menschenrechtskatalogen ist also nur beispielhaft. Das liegt in der Logik der freiheitlichen Verfassung. Praktisch erscheint ja auch keine andere Art der Gewährleistung der individuellen Freiheit möglich; denn das Leben ist stets im Flusse, und der Verfassungsgesetzgeber vermag infolgedessen nicht alle Einzelfreiheiten, die einmal Aktualität erlangen können, vorauszusehen und daher von vorneherein ausdrücklich zu garantieren. Es wäre aber unvorstellbar, daß der Freiheitsrechtskatalog einzelne bestimmte Freiheiten garantiere, andere ebenso wichtige aber ohne Gewährleistung ließe; es wäre zum Beispiel undenkbar, daß die Bundesverfassung zwar die Preßfreiheit, aber nicht die übrigen Komponenten der Meinungsfreiheit, die einmal praktische Bedeutung erlangen können, gesamthaft gewährleiste, ja daß sie die persönliche Freiheit in weiterem Sinne, die die Bedingung für die Wirksamkeit vieler anderer Freiheiten bildet, ungeschützt lassen sollte, so daß Bund und Kantone nicht in gleichem Maße freiheitliche Gemeinwesen sein würden. Auch die Demokratie könnte nur unvollständig funktionieren,

wenn nicht alle Freiheiten, die für das richtige Spielen der demokratischen Einrichtungen erforderlich sind, verfassungsrechtlich garantiert wären. Eine solche partielle Gewährleistung der individuellen Freiheit ließe sich unter dem Gesichtspunkte der Freiheitsidee, die dem Katalog der Freiheitsrechte zugrunde liegt, nicht begründen; damit wäre ja entgegen dem Sinne der Menschenrechtskataloge auch die menschliche Würde und der Eigenwert der Persönlichkeit des Einzelnen, die mit der Garantie von Freiheitsrechten geschützt werden sollen, gegenüber der Staatsgewalt nur partiell gesichert. Soll jedoch der Freiheitsrechtskatalog die menschliche Würde und den Eigenwert des Individuums sicherstellen, was ja sein Wesensgehalt, sein axiomatisches Prinzip ist, so müssen sinnvollerweise menschliche Würde und Eigenwert des Einzelnen auch umfassend, allseitig geschützt sein. Entweder enthält eben der Freiheitsrechtskatalog ein freiheitliches politisches Wertsystem oder nicht. Tertium non datur. Muß man das aber annehmen, so ist dann in der ausdrücklichen Gewährleistung einzelner Freiheiten durch den Menschenrechtskatalog der Verfassung zugleich die Garantie aller in Zukunft aktuell werdenden Freiheiten mitenthalten. Auch hier steckt im Besonderen das Allgemeine. Der Freiheitsrechtskatalog schließt mit anderen Worten grundsätzlich, das heißt seiner Idee nach, die innerstaatliche Koexistenz von Freiheit und Unfreiheit aus. In diesem Sinne einer prinzipiellen Unmöglichkeit der Paarung von Freiheit und Unfreiheit auf Grund des Wesensgehaltes der Freiheitsrechtskataloge kann man auch von einer Unteilbarkeit der Freiheit sprechen, welchem Begriff man heute in der politischen Literatur und in der Presse öfters begegnet. In unserem Zusammenhange kann die Unteilbarkeit der Freiheit jedenfalls nur diese Bedeutung haben. Denn das Recht kann die Freiheit teilen. Das ist im freiheitlichen Staate dann der Fall, wenn die Freiheitsrechtskataloge aus bestimmten Gründen der Staatsräson einzelne Freiheiten von der Gewährleistung besonders ausschließen oder den Wesensgehalt von Freiheitsrechten, die sie ausdrücklich garantieren, begrenzen, also echte Freiheitsbeschränkungen vorsehen oder zulassen. So

hat zum Beispiel die Bundesverfassung die Unterrichtsfreiheit mit Rücksicht auf die kantonale Schulhoheit nicht garantieren wollen; so wird die Handels- und Gewerbefreiheit in den neuen Wirtschaftsartikeln der Bundesverfassung nur noch unter dem Vorbehalte weitgehender Abweichungsmöglichkeiten geschützt; ebenso ist die Niederlassungsfreiheit der Bundesverfassung aus föderalistischen Motiven lediglich im Rahmen gewisser systemwidriger Schranken gewährleistet, indem die Niederlassung unter bestimmten Voraussetzungen verweigert oder entzogen werden kann. Desgleichen stehen einzelne Freiheitsrechte der Bundesverfassung, wie die Niederlassungsfreiheit, nur dem Schweizerbürger zu. Hieher gehören ferner die seinerzeit im Interesse der Erhaltung des religiösen Friedens erlassenen konfessionellen Ausnahmebestimmungen der Bundesverfassung. Dementsprechend muß man ergänzend sagen, daß die Freiheitsrechtskataloge zwar alle aktuell werdenden Freiheiten gewährleisten, aber nur unter dem Vorbehalte ausdrücklicher Ausnahmen 1.

Die Auffassung, wonach die Freiheitsrechtskataloge alle Seiten der individuellen Freiheit garantieren, wird auch ideenhistorisch erhärtet. Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, die den späteren Menschenrechtskatalogen als Vorbild diente, sagt in ihrem Artikel 2, daß der Zweck jedes Gemeinwesens die Erhaltung der natürlichen und unverlierbaren Rechte des Menschen sei, und zählt zu diesen Rechten neben dem Eigentum, der Sicherheit und dem Widerstandsrecht in erster Linie die Freiheit schlechthin. Diese wird dann im Artikel 4 näher definiert als die Freiheit, alles tun zu dürfen, was den anderen nicht schadet, während in den nachfolgenden Artikeln der Erklärung einzelne typische Freiheiten, die damals aktuell

waren und die heute noch die klassischen Menschenrechte bilden, proklamiert werden. Daraus läßt sich schließen, daß die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte jegliche individuelle Freiheit erfassen wollte. Auf diesem Standpunkte stehen offensichtlich die französischen Publizisten Duguit und Hauriou, wenn sie sagen, daß diese Erklärung der Menschenrechte der genaue Ausdruck «de la doctrine individualiste» sei 1, bzw. daß der Staat durch diese Erklärung zur Gewährleistung des «ordre individualiste» verpflichtet sei 2.

Dementsprechend verneint Hauriou die Frage, ob die Aufzählung der Freiheitsrechte in der französischen Menschenrechtserklärung abschließend sei; das gilt dann auch für das gegenwärtige französische Verfassungsrecht, da diese Erklärung von 1789 in Frankreich noch immer in Kraft steht; so verweist auch die französische Verfassung von 1946 in ihrer Präambel auf diese Proklamation 3. Auch sonst begegnet man in der älteren Literatur vereinzelt Aussagen oder Andeutungen nach der Richtung, daß die Freiheitsrechtskataloge alle praktisch werdenden Freiheiten gegenüber dem Staate garantieren 4.

Ebenfalls in der Rechtspraxis werden vielfach solche Freiheiten anerkannt, die nicht ausdrücklich in der Rechtsordnung verankert sind. So kann in England der Richter gegen jede Freiheitsbeschränkung angerufen werden 1, wobei allerdings die Freiheitsrechte nicht katalogisiert sind, sondern dem Gewohnheitsrecht angehören, so daß sie auf dem Wege der Gewohnheitsrechtsbildung ergänzt werden können 2. Auch in der schweizerischen Praxis finden sich, wie schon bemerkt, einzelne Ansätze in diesem Sinne, so wenn das Bundesgericht ein Recht auf Verfügung über den eigenen Körper nach dem Tode annimmt oder sonst in seiner Judikatur mit der individuellen Freiheit operiert 3, oder wenn es offensichtlich die Auffassung vertritt, daß die Eigentumsfreiheit auch in denjenigen Kantonsverfassungen garantiert sei, die sie nicht ausdrücklich schützen 4, wie das bei der Tessiner Verfassung der Fall ist. Ebenso halten sich die Kantone im allgemeinen auch an diejenigen klassischen Freiheitsrechte, die sie nicht ausdrücklich gewährleisten und die ebenfalls nicht in der Bundesverfassung stehen. Das gilt zum Beispiel für die Versammlungsfreiheit und die Unterrichtsfreiheit, die faktisch auch in den Kantonen geschützt werden, deren Verfassungen sie nicht formell garantieren.

In der gleichen Richtung wie diese Ansätze der Praxis weist auch eine bestimmte Vorschrift von zwei Verfassungsurkunden hin. So statuiert der Zusatzartikel 9 der Verfassung der Vereinigten Staaten, daß die Aufzählung gewisser Rechte in der Verfassung nicht als Versagung oder Kürzung anderer dem Volke zukommender Rechte ausgelegt werden solle. So bestimmt die Verfassung von Appenzell Innerrhoden in ihrem Artikel 2, daß durch die Verfassung grundsätzlich volle Freiheit anerkannt sei

und daß folgende Rechte von selbst gewährleistet seien, worauf eine Aufzählung der klassischen Freiheitsrechte folgt.

Auf Grund der Auslegung des Normenkomplexes der Freiheitsrechtskataloge nach Maßgabe seines Wesensgehaltes, seines axiomatischen Prinzipes läßt sich somit die These vertreten, daß die Menschenrechtskataloge der modernen Verfassungsurkunden nicht nur die einzelnen Freiheiten, die sie aufzählen oder die sich aus den einzelnen, namentlich geschützten Freiheitsrechten ergeben, garantieren, sondern daß sie vielmehr unter dem Vorbehalt ausdrücklicher Vorbehalte jede individuelle Freiheit, die rechtlich relevant wird, gewährleisten 1. Genauer gesagt, neben den bereits aktuellen und in den Freiheitskatalogen ausdrücklich geschützten Freiheiten werden auch die potentiellen Freiheiten im Moment ihrer Aktualisierung von Verfassungsrechts wegen gewährleistet und damit zu ungeschriebenen Freiheitsrechten. Die ausdrückliche Aufnahme eines solchen Freiheitsrechtes in die Verfassungsurkunde, zum Beispiel der Informationsfreiheit in den geplanten neuen Presseartikel der Bundesverfassung, bedeutet dann nichts anderes als die Umwandlung von ungeschriebenem in geschriebenes Verfassungsrecht.

Als Verfassungsrecht teilen aber die ungeschriebenen Freiheitsrechte das rechtliche Schicksal der geschriebenen. So sind selbstverständlich die ungeschriebenen Freiheitsrechte gleich den geschriebenen allein im Rahmen der öffentlichen Ordnung im vorher

erwähnten Sinne garantiert. Dementsprechend sind aber umgekehrt auch staatliche Eingriffe in ungeschriebene Freiheitsrechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Wohles nur in dem Falle zulässig und damit unechte Freiheitsbeschränkungen, daß sie sich innert der Schranken der freiheitlichen Zone halten, und nicht schon dann erlaubt, wenn solche Einbrüche unter dem Gesichtspunkte der Willkür oder der Freiheit von ungesetzlichem Zwang gerechtfertigt werden können. Damit sind auch alle ungeschriebenen Freiheitsrechte Spezialbestimmungen zum Willkürverbot der Bundesverfassung und gestalten dieses allseitig freiheitlich. Ferner sind wie die geschriebenen auch die ungeschriebenen Freiheitsrechte in der Schweiz verfassungsmäßige Rechte gemäß Artikel 113 der Bundesverfassung und genießen daher den Schutz des Bundesgerichtes. Als verfassungsmäßige Rechte stehen jedoch auch die ungeschriebenen gleich den geschriebenen Freiheitsrechten der Kantonsverfassungen angesichts des Vorranges des Bundesrechtes vor dem kantonalen Recht nur soweit in Geltung, als sie nicht zugleich in der Bundesverfassung garantiert sind. Da aber nach der vorher entwickelten Auffassung die Freiheitsrechtskataloge und damit auch die Bundesverfassung alle Freiheiten garantieren, so haben die Menschenrechtskataloge der Kantonsverfassungen keine rechtliche Bedeutung mehr, sondern sind lediglich noch historische Größen. Diese zentralistische Auswirkung der Freiheitsrechtsverbürgungen der Bundesverfassung steht aber nur scheinbar im Gegensatz zum föderalistischen Prinzip, da ja auch diesem die Freiheitsidee zugrunde liegt. Allein eine allseitig freiheitliche Eidgenossenschaft vermag die Kantone zu sichern.

Zusammenfassend läßt sich auf Grund der vorhergehenden Ausführungen sagen, daß die Freiheitsrechtskataloge eine lückenhafte Aufzählung, aber, unter dem Vorbehalte ausdrücklicher Ausnahmen, eine lückenlose Gewährleistung der individuellen Freiheiten enthalten, so daß man von einer formalen Lückenhaftigkeit, aber sachlichen Lückenlosigkeit dieser Freiheitsrechtsverbürgungen reden kann, im Gegensatz zur bundesstaatlichen oder demokratischen Kompetenzordnung, die formal lückenlos, aber sachlich

als Machtverteilung notwendigerweise lückenhaft sein müssen 1. Die sachliche Lückenlosigkeit des Freiheitsrechtskataloges ergibt sich aus dessen Wesenheit als freiheitliches Wertsystem, die formale Lückenhaftigkeit des Menschenrechtskatalogs aus der Unbegrenztheit der Möglichkeiten staatlicher Eingriffe in die Persönlichkeit des Einzelnen und damit aus der Unbegrenztheit der Freiheit. Wenn jedoch der Freiheitsrechtskatalog sachlich lückenlos erscheint, also alle Freiheiten zu einer abschließenden rechtlichen Ordnung zusammenfaßt, so stellt er gleichsam eine Kodifikation der individuellen Freiheit dar.