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Neuere Aspekte der Geistesgeschichte

Rektoratsrede
gehalten am 17. November 1956 an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule von
Professor Dr. Karl Schmid
Polygraphischer Verlag A.-G. Zürich • 1957

Die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften ist trotz einer Reihe neuerer Untersuchungen, die, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis des Beobachters zum Beobachteten, auf theoretische Überwindung des alten Gegensatzes zielen, nach wie vor gültig und sinnvoll. Nach ihren Gegenständen bleiben die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften geschieden, auch wenn die Wissenschaftskritik heute mehr Ähnlichkeiten aufweist, als man früher annahm. «Die Natur», sagt Wilhelm Dilthey, «der Gegenstand der Naturwissenschaft, umfaßt die unabhängig vom Wirken des Geistes hervorgebrachte Wirklichkeit. Alles, dem der Mensch sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften.» 1

Insofern «alles, worin der Geist sich objektiviert hat, in den Umkreis der Geisteswissenschaften fällt», wie Dilthey es auch formuliert 2, ist bestimmt, daß die Geisteswissenschaften geschichtliche Wissenschaften sind. Es ist nicht auszumachen, worin der Geist sich objektiviert, sondern nur, worin er sich objektiviert hat. Nicht auf Gesetze und Prognosen, sondern auf das Verstehen geht die geisteswissenschaftliche Bemühung.

Geistesgeschichte ist keine Disziplin der Geisteswissenschaften, welche es mit besonderen Ausprägungen des objektiven Geistes zu tun hätte, sondern das geistesgeschichtliche Verstehen-Wollen und die geistesgeschichtliche Darstellung sind durch eine besondere Art des Fragens gekennzeichnet, durch ein besonderes Bedürfnis des Fragenden. Aller geistesgeschichtlichen Betätigung gehen zwei Intuitionen voraus:

— die Intuition, daß alle Objektivierungen des Geistes in einer gewissen Epoche einen inneren Zusammenhang zueinander besitzen müssen, der offenbar in der Identität des sich objektivierenden Geistes verbürgt ist,

— und die Intuition, welche in dem Begriffe der Epoche an sich liegt, die wir nicht als willkürlichen, nur arithmetischen Aus. schnitt aus der Folge der Jahre verstehen können. 3 Als ungegliedertes,

akzentloses Kontinuum ist die Geschichte für uns nur stofflich wiederzugeben, nicht aber zu verstehen. Unser Verstehen ist ein sprunghaftes; es springt von einem wahrgenommenen oder intuierten Wirkungszusammenhang (Dilthey)4 auf einen anderen über. Die Gliederungen, die sich aus dieser Notwendigkeit unseres Erkennens ergeben, sind verschiedener Art. Im engsten Sinne geistesgeschichtlich ist eine Gliederung nach den Akten des sich objektivierenden Geistes, wie sie in modellhafter Klarheit in Hegels Geschichtsbetrachtung vorliegt. Die Epochen erscheinen dann nicht nur in sich als Sinnzusammenhänge, sondern auch in sinnvollem, logischem Zusammenhang unter sich. Wie sich die Epochen folgen, ist auch folge-richtig.

In dieser Tatsache, daß die geistesgeschichtliche Intuition auf den logischen Zusammenhang der Epoche in sich (ihre organisch-logische Identität) und auf den logischen Zusammenhang der Epochen unter sich (ihre geschichtlich-logische Abfolge) geht, ist eine fundamentale Gefahr der Geistesgeschichte enthalten. Sie kann sich dem Gefälle kaum entziehen, das auf Ideendialektik geht. Je stärker das logische Bedürfnis des Geistesgeschichtlers ist, um so mehr ist er der Versuchung ausgesetzt, die geschichtlichen Abläufe nicht mehr in der alogischen Vielfalt zu erfassen, als welche das Leben und die Lebenszusammenhänge immer erscheinen, sondern sich nur noch an ihre ideellen Exponenten zu halten. In einer großartigen Geodäsie vermißt er die höchsten Punkte der Geistesgeschichte; eine ebenso imponierende wie schlackenlose Konstruktion von Dreiecken aus These, Antithese und Synthese legt sich über den geschichtlichen Raum, aber — um im Bilde zu bleiben — die geologischen und topographischen Elemente, die Flüsse und Täler, die Erosions- und die Schwemmgebiete kümmern ihn so wenig wie die Wirkungen des Klimas, wie Versandung und Versteppung, wie Bebauung und Verödung. Er idealisiert die Geschichte, indem er sie nur als Bewußtseinsgeschichte versteht, und er begeht wissentlich oder unwissentlich einen folgenschweren Akt der Auswahl, indem er logischerweise die Philosophen und ihre Systeme als Exponenten des jeweiligen epochalen Bewußtseins begreift.

Es ist eine eigentümliche Tatsache, daß solch idealistische Vorstellungen der Geschichte überdauern und in Anwendung bleiben auch in Zeiten und bei Menschen, die den legitimen Zusammenhang mit dem Idealismus Hegelscher Prägung nicht mehr besitzen. Wenn die Gegenstände der Geisteswissenschaft dadurch gekennzeichnet sind, daß ihre Entstehung auf den Menschen zurückgeführt werden muß, muß auch gelten, daß jede Veränderung des Menschenbildes — ob es sich um eine anthropologische oder um eine psychologische Revision handelt, darf zunächst außer Acht gelassen werden — auch die Fundamente der Geisteswissenschaften und insbesondere der Geistesgeschichte verändert. Schon 1910 sagte Wilhelm Dilthey: «Die Voraussetzungen, auf die Hegel diesen Begriff [des objektiven Geistes] gestellt hat, können heute nicht mehr festgehalten werden. Er konstruierte die Gemeinschaften aus dem allgemeinen vernünftigen Willen. Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen; im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhangs wirksam. Hegel konstruierte metaphysisch; wir analysieren das Gegebene. Und die heutige Analyse der menschlichen Existenz erfüllt uns alle mit dem Gefühl der Gebrechlichkeit, der Macht des dunklen Triebes, des Leidens an den Dunkelheiten und den Illusionen, der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen.» 5 So bestimmte Dilthey die Schwerpunkte der Epochen nicht mehr in ihrem Grund-Gedanken, sondern im Begriffe des jeweiligen «Wirkungszusammenhanges», der sich sowohl von der logischen Idee des objektiven Geistes wie von dem Kausalzusammenhang der Natur unterscheidet.

Was Dilthey zu seiner Ablehnung einer rationalisierten, logisierten Geschichte bestimmte, gilt für unsere Generation in noch höhe. rem Ausmaße. Einmal hat sich das Bild des von der Zeit bestimmten und schaffend auch die Zeit bestimmenden Menschen im 20. Jahrhundert von der Seite der Psychologie, wie auch von der Seite der philosophischen Anthropologie her tief verändert. Und sodann hat unsere Generation einen Abschnitt der Weltgeschichte mitgemacht, der wie selten einer geeignet war, die Grenzen der Ideendialektik und der Theorie von der Entfaltung des objektiven Geistes sichtbar zu machen.

Es sind vor allem die Ergebnisse der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der analytischen Psychologie Cari Gustav Jungs, was uns die Erscheinungen der Geschichte, insbesondere der Kulturgeschichte, heute anders erblicken läßt. Die Wirklichkeit und alogische Wirksamkeit des Unbewußten kann nicht mehr in Frage gestellt werden. Wir haben nunmehr zu wählen zwischen einer idealistisch-logischen Auffassung der Geschichte, die die Einflüsse des Unbewußten ganz dem Bereich der individuellen psychischen Energetik zuweist und als geschichtliche Elemente ausklammert, und dem Versuch, diese neueren Aspekte der Psychologie und der Kultur in unser Geschichtsverständnis einzubauen. Der erste Weg, der Weg der Ausklammerung des Unbewußten, erlaubt uns, den Begriff des objektiven Geistes und seiner fortschreitenden Verwirklichung in der Geschichte beizubehalten, aber die Harmonie des Glasperlenspiels (es kann ein idealistisch-dialektisches oder ein marxistisch-dialektisches Glasperlenspiel sein) und die ungestörte Logik des Systems müssen durch den Verzicht auf die objektiv-realistische Wahrnehmung des geschichtlichen Lebens in seinem Sosein erkauft werden. Beschreiten wir den zweiten Weg, so werden uns jene Umschläge und Paradoxien, wie sie uns z. B. in der Spätantike, oder im Spätmittelalter, oder im 16. Jahrhundert oder um 1800 oder in den jüngsten Jahrzehnten besonders deutlich entgegentreten, keine grundsätzlichen Rätsel aufgeben. Aber die Erinnyen der Pathologie oder der Dämonologie heften sich an die Fersen desjenigen, der die Geschichte sub specie der Einflüsse des Unbewußten nachzuzeichnen versucht; ihr objektives Kontinuum, ihre Gestalt, läuft Gefahr, sich in eine unzusammenhängende Folge von individuellen oder kollektiven psychischen Reaktionen aufzulösen. Was in der herkömmlichen Geistesgeschichte dominiert: die objektiven Zusammenhänge, die bewußte Tradition, die bewußte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die bewußten Zwecke und Werte, bleibt unbelichtet, und die Epochen verlieren ihre ideellen Schwerpunkte. Der Prozeß der Geschichte, ihr Fluß, das große Gefälle, das trotz aller Windungen und Wendungen für den Historiker das Entscheidende bleibt, geht über der Betrachtung der individuellen Schwellen und Wirbel verloren. Psychologische Kasuistik,

auch wenn sie in sich noch so scharfsinnig ist, ersetzt jene einfachen Perspektiven nicht, welche das geschichtliche Bewußtsein bestimmen, und sie gefährdet die Wahrnehmung jener Gestaltungen, in denen die seelischen Spannungen bewältigt erscheinen. Es darf der Scylla einer logisierten, idealisierten Geschichte offenbar nicht so weit ausgewichen werden, daß man in den Sog der Charybdis, den Sog einer psychologisierten, anti-ideellen Geschichtsschreibung gerät.

So spricht Entscheidendes gegen Versuche, die etwa auf eine Ersetzung der Geistesgeschichte durch eine Seelengeschichte der Menschheit gingen. Dilthey hat vollkommen recht, wenn er fest. stellt: «Im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhangs wirksam.» Nur verstehen wir unter dieser Totalität etwas anderes, als was Dilthey dabei vorschwebte; vor allem gehört für uns auch das Unbewußte dazu. Die Schwierigkeiten, die sich bei der geschichtlichen Erfassung dieser auch das Unbewußte einschließenden Totalität erheben, sind beträchtlich. Das Unbewußte findet sich in der Geschichte nicht direkt objektiviert. Es erscheint nur in indirekten Wirkungen; es muß aus Symptomen und Symbolen erschlossen werden. Und wir wissen dabei zunächst nicht, ob wir es mit dem jeweiligen Unbewußten der Epoche zu tun haben oder mit jenem kollektiven Unbewußten, das wesensmäßig keinen Bezug zu irgendeinem Jahrhundert besitzt und durchaus ungeschichtlich ist. Es besteht mithin die Gefahr, daß die um des geschichtlichen Verständnisses willen unternommene psychologische Interpretation der Geschichte uns zu einem Verstehen verleitet, das nun eben gerade nicht mehr geschichtlich, sondern nur noch psychologisch ist. Die Gefahr, daß die Geistesgeschichte sich uns unter der Hand in Kulturpsychologie verwandelt.

Auch wenn man die psychologische Interpretation der Geschichte als dringend empfindet, wird man infolgedessen von vorneherein wissen müssen, daß die Geistesgeschichte und ihr auf die Erkenntnis und das Verständnis des das Leben übersteigenden, sich objektivierenden Geistes gerichteter Wille durch einen psychologischen Erkenntniswillen nicht abgelöst und ersetzt werden kann, in erster Fassung wäre man zu sagen geneigt, daß das psychologische Verständnis

den bewußtseinspsychologischen und ideendialektischen Beweggründen des geschichtlichen Lebens eine weitere Gruppe beifügt: Beweggründe unbewußter Art, die wir nur mit Hilfe des Wissens um das Unbewußte erkennen können.

Die Entscheidung darüber, ob wir in solcher oder ähnlicher Weise bei der Betrachtung und Darstellung der Geistesgeschichte das Unbewußte berücksichtigen wollen oder nicht, und die Entscheidung über das Ausmaß und den Grad der Bedeutung, die wir dem Unbewußten für den Gang der Geschichte beimessen, ist gar keine freiheitliche. Wir können den geschichtlichen Menschen im Prinzip nicht anders verstehen, als wir uns selber verstehen. Wer als Individuum sich wesentlich als durch sein Denken und durch sein Bewußtsein bestimmt empfindet, wird Denken und Bewußsein auch als die wesentlichen Momente der Kausalität in der Geschichte annehmen. Wer sich individuell auch als durch Affekte und Projektionen, durch Stimmungen und Faszinationen beherrscht fühlt, wird solche Beweggründe auch in den Individuen und Kollektiven der Geschichte fühlen, aufspüren und als wesentlich bezeichnen. Es ist nicht verwunderlich, daß die Zeitgenossen der kopernikanischen Wendung der Psychologie im 20. Jahrhundert in ihrem Verständnis des geschichtlichen Menschen davon ebenso bestimmt werden, wie sie sich in ihrem Selbstverständnis von ihr bestimmt fühlen.

Dazu kommt nun eben, daß unsere Generation als Ganzes die umwälzendsten geschichtlichen Vorgänge unseres Jahrhunderts mit den überkommenen Mitteln der Geistesgeschichte offenbar kaum erfassen kann. Das Aufkommen des Materialismus im 19. Jahrhundert und die Krise der westeuropäischen bürgerlichen Kultur bis zum Ersten Weltkrieg mögen noch als allgemeine Ideenentwicklung verstanden werden können. Das mag auch auf Exponenten wie Kierkegaard, Nietzsche und seine Nachfolger noch zutreffen. Aber in ihnen und erst recht dann in den geistigen, literarischen und künstlerischen Erscheinungen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges, in Rilke und Kafka, in der modernen Musik und der Malerei seit dem Expressionismus begegnen uns Erscheinungen, die wir ideendialektisch und bewußtseinspsychologisch mit der Überlieferung kaum mehr in Verbindung bringen können. Auch für die russische Revolution,

für das Aufkommen des Fascismus und des Nationalsozialismus, für die Spaltung der heutigen Welt und den antikolonialistischen Aufstand Asiens und Afrikas gibt es eine Menge ideeller, bewußter, rationaler Gründe. Die dialektischen Zauberschlüssel von These und Antithese vermögen ohne Zweifel einige erste Türen des Verständnisses aufzuschließen. Es mag sein, daß für viele von uns diese Schlüssel noch immer die magische Kraft der Passe-partouts besitzen. Für andere hingegen besteht zwischen den logisch feststellbaren Kausalitäten (wonach der Vertrag von Versailles zum Fascismus und Nationalsozialismus «führen mußte», die Kriegskoalition zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion nach der Besiegung Deutschlands die Bildung der beiden Blöcke «zur logischen Konsequenz hatte» und dergleichen mehr) und dem, was sich tatsächlich begeben hat und begibt, ein ungelöster Widerspruch. Die ideelle Dialektik und die objektiven Gründe mögen zwar die Richtung erklären, die die Entwicklung in Italien, in Deutschland, in Rußland, und nun im Westen überhaupt und in Asien und Nordafrika überhaupt genommen hat — der Umfang dieser Vorgänge aber; die unfaßliche Energie, die sich in ihnen investiert findet; die verblüffende Kraft der Ansteckung und Ausbreitung solcher kollektiver Denk- und Fühlweisen; die Formen und Symbole, in denen sich diese Prozesse vollziehen: das alles ist ideendialektisch nicht mehr zu erklären. Wir stehen vor Rätseln, und wir anerkennen, wissentlich o der unwissentlich, das Rätselhafte, indem wir formulieren, es handle sich um die Konstellation von Glaubenskriegen. Es ist auffällig, daß auch in Darstellungen, die keineswegs psychologische Ziele verfolgen, nun häufiger Anleihen bei der Psychologie gemacht werden; man zieht individuelle psychische Reaktionen wie Ressentiment und Faszination, wie die Herkunft des Hasses aus der Angst oder aus der verschmähten Liebe, ja sogar die Affekte der Pubertät heran, um auf dem Wege einer nicht sehr genau bestimmten Übertragung individueller Psychologie auf Kollektive gewisse Erscheinungen verstehbar zu machen, die sich mit pragmatischen oder ideologischen Gründen nicht befriedigend erhellen lassen. Auch tauchen Ausdrücke wie «die Seele Asiens», «die Seele Afrikas» häufiger auf als früher; die Erkenntnis greift um sich, daß

die Psychologie, wie wir sie zu verstehen glaubten, keine apriorische Wissenschaft war, sondern die Psychologie des westeuropäischen und nur des westeuropäischen Menschen.

Doch ist die Verfolgung der im weitesten Sinne politischen Geschichte und ihres Beitrags zur Entstehung einer neuen geistesgeschichtlichen Modellvorstellung nicht unsere Sache. Die Betrachtung der Kulturgeschichte und der Geschichten der Literatur, der bildenden Künste und der Musik drängt uns gebieterisch in dieselbe Richtung. Dabei ist wohl zu unterscheiden zwischen der wissenschaftsimmanenten Entwicklung einerseits und der Entwicklung der Gegenstände dieser Wissenschaften anderseits. Einmal ist innerhalb dieser Wissenschaften, also von den wissenschaftlichen Betrachtern lier, die Fragestellung mannigfach verändert worden und zielt nun weitgehend auf die Existenz, das In-der-Welt-Sein und die gesamtpsychische Struktur; damit ist eine Entwertung der geschichtlichen, auch der geistesgeschichtlichen Fragestellung eingetreten, zu Gunsten des anthropologischen und psychologischen Bereichs. Anderseits aber ist diese antiidealistische Strömung, die man etwa ungenau und vorläufig mit <Existenzialismus» bezeichnen mag, an den Erscheinungen der Kultur, der Literatur und der Künste selbst ablesbar. Von heute aus gesehen ist die Gruppe der Tolstoi, Keller, Hebbel, Otto Ludwig, Ibsen, George, Zola, Valéry, Gide, G. B. Shaw usf. noch wesentlich ideell bestimmt. In keiner Weise aber wäre das zu sagen von denjenigen, die den stärksten schöpferischen Einfluß auf die junge Generation der Gegenwart ausüben: Dostojewsky, Proust, Kafka, Rilke, Trakl, Joyce, Faulkner, J. S. Eliot, Henry Miller, Cézanne, van Gogh, Gauguin — von Klee, Picasso, Henry Moore usf. zu schweigen. Diesen gegenüber versagt eine geisteswissenschaftliche Erfassung mit alten Instrumenten, so wie sie, soweit sie überhaupt rational Auskunft über sich selbst zu geben willens oder imstande sind, sich kaum in einer geistigen Dialektik befindlich verstehen, sondern sich in einer Sprache über sich selbst ausdrücken, deren Wortschatz durch Nietzsche, Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Freud und Jung geprägt wurde. Dem entspricht, daß erhellendste Beiträge zu der Phänomenologie und Energetik der modernen Kunst nicht von den Geistesgeschichtlern, sondern von den Vertretern

der philosophischen Anthropologie, der Psychologie, der Religionswissenschaft, ja selbst der Psychiatrie geschrieben worden sind.

Wir versuchen das Bisherige zusammenzufassen. Betrachtet man die Ergebnisse der neueren Psychologie einerseits, die Erscheinungen der neueren, vor unseren Augen sich abspielenden politischen und kulturellen Geschichte anderseits, so erhebt sich trotz unserer starken Bedenken die Frage, ob nicht das Instrumentarium des auf Einheitszusammenhänge und Wirkungszusammenhänge gehenden Geistesgeschichtlers durch Einbeziehung gewisser Ergebnisse der analytischen Psychologie erweitert werden müsse.

Gerade der Hinweis auf das vor unseren Augen sich Begebende, das wir ideendialektisch nur zu einem kleinen Teil zu ordnen vermögen, legt freilich einen Einwand nahe, der nicht verschwiegen werde: den Einwand nämlich, es liege hier zunächst nur ein optisch-perspektivisches Problem vor; aus einiger Distanz besehen, werden sich auch diese letzten hundert Jahre ohne große Schwierigkeit ideengeschichtlich triangulieren lassen. Ganz ohne Zweifel gibt es diese Schwierigkeit der Nähe. Aber wir vermögen uns durch den Hinweis auf sie nicht beschwichtigen zu lassen; die Kollektiverscheinungen beispielsweise des Nationalsozialismus oder, ganz anders, der alogischen modernen Kunst sind in einem Maße anti-ideell und nur aus der Tiefe des Unbewußten zu erklären, wie wir es in der Neuzeit sonst nirgends feststellen.

Nun befürchten wir wie gesagt nicht ohne Grund, die Berücksichtigung moderner psychologischer Gesichtspunkte verwickle die Geschichtsschreibung in ein Abenteuer mit unabsehbaren Folgen. Mag sein, wird man einwerfen, daß die Logik der Zusammenhänge und die Logik der dialektischen Entwicklung, wenn das Schwergewicht der geschichtlichen Betrachtung und Darstellung auf ihr liegt, das Individuelle und Lebendig-Vielfältige dem geschlichteten Bilde des dialektischen Ablaufs zum Opfer bringt. Aber wird Psychologisierung der Geistesgeschichte nun nicht umgekehrt die objektiven, rationalen, bewußten Zusammenhänge in eine strukturlose Folge von Einzelphänomenen auflösen? Hat Hegel nicht recht, wenn er das Individuell-Lebendige im Entwicklungsgange des objektiven Geistes aufhebt? Darauf wäre zu antworten: Die Frage, ob

der als Idee sich objektivierende Geist der Psyche übergeordnet sei, oder ob die überzeitlich und überpersonal verstandene Psyche ihrerseits die Objektivierungen des Geistes in sich begreife, ist nur weltanschaulich zu beantworten; einen Richtigkeitsbeweis gibt es nicht. Die Betrachtung der Leistungen des Menschen sub specie des Geistes und diejenige sub specie der Psyche scheinen sich auszuschließen, im Sinne der modernen Fassung des Begriffs Komplementarität6. Man könnte mithin in der Geschichte nur entweder auf den Geist oder aber auf die Psyche ausgehen.

Die Wahrnehmung solcher Schwierigkeiten der Erkenntnis ist fruchtbarer als ihre Überspitzung. Wäre das Verhältnis von psychologischer zu geistesgeschichtlicher Betrachtung ein echt komplementäres, so hieße das, daß psychologische Betrachtung das Ideelle nicht wahrzunehmen imstande sei; geistesgeschichtliche Betrachtung aber werde der Psyche des Menschen nicht ansichtig. Dem muß aber nicht so sein. Auch die analytische Psychologie kennt den Archetyp des Geistes und die Mächtigkeit der ideellen, bewußten Intentionen. Es wäre falsch, die Tiefenpsychologie heute immer noch nur nach ihrer Freudschen Frühform zu beurteilen und zu glauben, das Kulturelle, Geistige, Religiöse usf. werde vom Tiefenpsychologen in seiner Wirklichkeit nicht wahrgenommen; es gelte immer noch nur als Illusion gegenüber einer alleinigen Wirklichkeit der Libido. Und umgekehrt ist von den Geschichtsschreibern die ideelle Dialektik des objektiven Geistes immer, und besonders seit Dilthey, auch in die Seele des Menschen verlegt worden; in ihrer individuellen Erlebnis-Wirklichkeit vollzieht der objektive Geist die Momente der These, Antithese und Synthese.

Von einer Versteifung der psychologischen und der geistesgeschichtlichen Positionen ist kaum Gutes zu erwarten. Es ist offenbar fruchtbarer, die formalen Analogien, welche zwischen der Hegelschen Ideendialektik und dem psychologischen Prinzip der Polarität bestehen, wahrzunehmen 7.

Wäre komplexe Psychologie, eine Psychologie also, die von der Realität nicht nur des Bewußtseins, sondern auch des Unbewußten überzeugt ist, das, als was sie dem humanistischen Geisteswissenschafter meist noch erscheint: eine medizinisch-psychiatrische Methode

und Praxis, die, wie sie über die Behandlung von Neurosen und Psychosen zu ihren Erkenntnissen gelangte, noch immer wesensgemäß auf das Pathologische ausgerichtet wäre, so wäre von ihr für die Geistesgeschichte kaum Förderliches zu erwarten. Die Aufdeckung biologischer oder psychologischer Unzulänglichkeiten an den großen schöpferischen Menschen kann von der Wahrnehmung der wesentlichen Größe nur ablenken. Eine solche Vorstellung vom Wesen und Sinn der komplexen Psychologie ist aber unrichtig. Komplexe Psychologie heute, das was als das Ergebnis der Lebensarbeit Carl Gustav Jungs 8 vorliegt, ist in keiner Weise nur ein Instrumentarium in der Hand des Arztes. Gegenstand der komplexen Psychologie ist auch alles das, was Gegenstand der Geistesgeschichte ist. Sollte ein scharf hegelianischer Geistesgeschichtler geglaubt haben, er sei bisher ohne Psychologie ausgekommen, so dürfte er sicher einer Selbsttäuschung erlegen sein. Es fragt sich nun, ob uns nicht die komplexe Psychologie ein Hilfsmittel in die Hand gebe, das gerade für die Geistesgeschichte fruchtbarer ist als jene überkommene reine Bewußtseinspsychologie. Der Begriffs- und Vorstellungsschatz der komplexen Psychologie bringt das Besondere der Geistesgeschichte als solcher nicht zum Verschwinden. Wir möchten es eher so ausdrücken, daß das reine, flächige Schema der geistesgeschichtlichen Dialektik durch Einbezug der analytischen Psychologie eine neue Dimension gewinne, eine neue Tiefe; vielleicht dürfte man sagen: die idealistische Projektion gewinnt über den Begriff des Psychischen jene Dimension des Lebens zurück, die durch den Akt der Projektion eben zum Verschwinden gebracht worden war.

Aus den Erkenntnissen der komplexen Psychologie, von denen wir denken, sie könnten für das Verständnis der Geistesgeschichte fruchtbar werden, seien einige wenige, fundamentale in einfachster Formulierung herausgehoben. Dabei müssen wir von den Begriffen der Seelenlage einer Epoche, der Konstellation ihres Bewußtseins und Unbewußten insoweit einen unkritischen Gebrauch machen, als wir hier die Frage nicht abklären können, ob solche Personifizierungen von Epochen objektiv möglich oder nur metaphorisch erlaubt sind.

Von entscheidender Wichtigkeit ist das psychologische Gesetz, daß das Unbewußte eines Menschen sich zu seinem Bewußtsein kompensatorisch verhält. Dieser Satz dürfte auf Epochen, auf die Zeitgenossenschaft einer Epoche, übertragbar sein. So wie wir vom kollektiven Bewußtsein einer Epoche sprechen und darunter die Summe und den Kanon der leitenden Ideen, Wertsetzungen, Zwecke usf. verstehen, dürfen wir ein «epochales Unbewußtes» einer solchen Epoche annehmen. (Es hat dieses zunächst nichts zu tun mit dem archaischen, für das Individuum oder für eine Epoche unspezifischen «Kollektiven Unbewußten». Sein Charakter ist personal und nicht autonom-transpersonal.) Dieses «Unbewußte einer Epoche», das schattenhaft die in ihr nicht objektivierten menschlichen Möglichkeiten umfaßt, bleibt für die ideengeschichtliche Betrachtung der Bewußtseinsoberfläche normalerweise unsichtbar. Diese hält sich logischerweise in erster Linie an diejenigen Ausformungen der objektiven Kultur und an diejenigen Vertreter der Epoche (Philosophen, Dichter, Maler usf.), welche deren kollektives Bewußtsein tatsächlich repräsentieren. Die Literatur- und die Kunstgeschichte bieten freilich eine Fülle eindrücklichster Beispiele dafür, daß die großartigsten Schöpfungen der geistigen Kultur eben gerade nicht als Repräsentationen des jeweiligen epochalen Bewußtseins zu verstehen sind; das Wesen der Genialität und die Faszination, die vom genialen Werk ausgeht, sind nicht zuletzt darin zu erblicken, daß das Genie nicht aus dem Kanon, sondern aus dem Unbelichteten heraus schafft und nicht nur das Bewußtsein, sondern auch das Schlummernd-Unbewußte anspricht, in einer Sprache, über die das Wörterbuch der Epoche keine Auskunft weiß.

Diese negative Charakterisierung einer Epoche durch das von ihr nicht anerkannte Psychische und das ihr nicht Bewußte läßt aber nicht nur das geniale schöpferische Individuum anders erblicken, sondern überhaupt alles das, was den Kanon durchbricht und ihn schließlich auflöst: das Ketzerische, das Oppositionelle, die Krisen und schließlich den Umschlag in das, was Hegel als Antithese bezeichnet. Die Häresie, die Opposition und die Krise verlieren innerhalb eines tiefenpsychologisch mitbestimmten Aspektes der Geistesgeschichte den Charakter des Unerwarteten und Anstößigen, und

der Umschlag zur Antithese erscheint in viel höherem Maße vorbereitet und voraussehbar. Die formale Ähnlichkeit einer solchen Vorstellung, wonach das jeweils Verdrängte und Unobjektivierte im Gange der Entwicklung den bisherigen Kanon der Bewußtheit durchbricht und dessen Inhalte nun seinerseits in den Orkus hinabstößt, mit dem Modell der Hegelschen Vorstellung ist evident. Der unüberbrückbare Gegensatz aber liegt darin, daß für Hegel dieser Gang des Weltgeistes ein durchaus progressiver ist; indem er aufhebt, schreitet der Weltgeist vor, dorthin, wohin er noch nie gelangt war 9. Die psychologische Betrachtung wird die Tatsache nicht leugnen, daß die bewußten Objektivierungen immer eindeutig neu und insoweit progressiv sind. Aber daneben steht gebieterisch die entgegengesetzte Erkenntnis, die das «Regressive» oder mindestens Nicht-Progressive dieses Fortschritts erkennt: der Umschlag von These zu Antithese ist auch eine Zurücknahme der These, ein Zurückweichen aus dem Extrem der These in die entgegengesetzte Richtung. Erscheinungsmäßig führt uns die Geistesgeschichte progressiv ins Nieerblickte; in ihrem seelischen Grunde aber tut sie immer dieselben Atemzüge, tut sie immer das um der Grundgegebenheiten wie um des Endes willen seelisch Fällige. Es ist oft genug ein Rückfälliges.

Und hier ist ein zweites Ergebnis der tiefenpsychologischen Forschung zu nennen, das ebenfalls unsere Vorstellung vom Gange der Geistesgeschichte zu verändern geeignet ist. Man müßte nun die Begriffe des kollektiven Unbewußten und der archetypischen Präformierung (C. G. Jung) sorgfältig einführen; das kann nicht geschehen. Es sei deshalb in vereinfachter Weise zunächst lediglich auf die Bedeutung des Alters, bzw. der Überzeitlichkeit des Psychischen hingewiesen. Die Untersuchungen C. G. Jungs und seiner Schule auf den Gebieten der vergleichenden Religionspsychologie, der Mystik, der Alchemie und aber auch der Psychopathologie lassen es als wahrscheinlich oder sicher erscheinen, daß es seelische Urbilder, bzw. richtiger: präformierte Modelle des seelischen Verhaltens und seelischer Inhalte gibt, ordnende und anordnende Prinzipien, deren menschheitliche Verbreitung in Geschichte und Raum ebenso belegt ist, wie wir hinsichtlich der Art ihrer Entstehung

und Vererbung noch im Dunkeln stecken. Offenbar sind sie uralt, und offenbar sind sie durch die Jahrzehntausende der Geschichte des bewußten Menschen in ihrem Wesen nicht wesentlich berührt worden. Ob sie als unreduzierbare Konstanten zu gelten haben oder ob und inwieweit sie durch die geschichtliche Verwirklichung des Menschen mitbestimmt wurden, durch Niederschläge der Erfahrung und ähnliches, ist strittig 10.

Unbestritten aber ist die uns hier interessierende Tatsache, daß sich an den großen geistesgeschichtlichen Wendepunkten seelische Umbrüche vollziehen, in denen die Wirklichkeit und Wirksamkeit solcher Archetypen sichtbar wird. Der Hegelsche Schritt zur Antithese ist geistesgeschichtlich ein Fortschritt; seelengeschichtlich aber stammt die Antithese nicht aus der These, sondern aus einem Älteren, als es die These selber ist. Es meldet sich in der Antithese nicht das Neue, sondern ein anderes Altes. Geistesgeschichte als Bewußtseinsgeschichte kennt nur die ideelle, gedankliche Überlieferung; die komplexe Psychologie ist geneigt, die Bedeutung der bewußten Überlieferung geringzuschätzen und als Ort der wesentlichen Überlieferungen das Unbewußte der Menschheit anzusehen 11. Dann sind die geistesgeschichtlichen Zeitalter nicht mehr als je einmalige Sprossen einer unendlichen Leiter des Bewußtseins zu verstehen, sondern als jeweilige Momente, die durch eine jeweilige Konstellation des fortschreitenden Bewußtseins zu einer jeweiligen Konstellation von überzeitlichen Archetypen (Formen und Inhalten) gekennzeichnet sind. Die wirklichen Umbrüche der Geistesgeschichte sind demnach nie nur ideologischer Art, sondern mit Veränderungen in der Dominanz der Archetypen verbunden. Das gilt für die Christianisierung der westlichen Welt wie für die Gotik, für die Renaissance wie für das Zeitalter der Entdeckungen, für die Aufklärung wie für die Romantik. Die kulturelle Leistung des Einzelnen liegt in der Ausformung und Differenzierung der überkommenen allgemeinen Bewußtseinsinhalte. Die eigentlich genialen Leistungen sehen wir in den Fällen, wo der Einzelne — es mag dies mit einer Schwächung seiner Bestimmtheit durch das kollektive Bewußtsein Hand in Hand gehen — in der Auseinandersetzung mit dem epochalen Unbewußten begriffen ist und diesen Kampf als Einzelner

für seine Epoche besteht. Die Zeitalter aber wenden sich, wenn eine neue archetypische Konstellation sich meldet. Immer sind es auch in diesen Fällen die Einzelnen, die das Alt-Neue bewältigen müssen 12. Oft genug bezahlen sie dies mit ihrem Leben, von Sokrates bis auf Nietzsche.

Wo solche unbewußten Inhalte ältester Herkunft, wie es im Nationalsozialismus geschah, in unbewältigten, kollektiven Prozessen ausbrechen, wie wir Sie beim Individuum als neurotisch bezeichnen müßten, überwiegt das Zerstörerische. Anderthalb Jahrtausende Christlichkeit können da wie eine dünne Kruste weggefegt werden.

Die Beantwortung der Frage, welche Archetypen denn in diesen größten Krisen und Wenden der Zeitalter im Spiele waren, würde unseren Rahmen sprengen. Ihre Phänomenologie ist uns bekannt. Doch gewinnt unser Geschichtsbild eine andere Struktur, wenn wir, um ein einziges Beispiel anzudeuten, in der deutschen Geistesgeschichte der Neuzeit den männlich-geistigen Logos-Archetyp in seiner Auseinandersetzung mit dem anderen des mütterlich-dunkeln Unbewußten verfolgen und die Reformation wie den Barock, das Obsiegen des Sturms und Drangs über die Aufklärung und die Überwältigung des klassischen Erbes durch die romantische Irrationalität unter diesen Zeichen erblicken. Der Begriff des geschichtlichen Fortschrittes tritt da in fruchtbare Verbindung mit dem anderen der ewigen Wiederkehr.

Der kurze Hinweis auf solche Perspektiven unherkömmlicher Geistesgeschichte mag durchaus geeignet sein, die Bedenken gegen sie nochmals zu verstärken. Es wohnt der Psychologie eine totalitäre Tendenz inne; wo wir sie ins Spiel bringen, ist immer Gefahr, daß sie alle anderen Aspekte des Lebens in sich aufsauge. Läßt sich der Geistesgeschichtler mit der Psychologie ein, so hat er alle Hände voll zu tun, daß sein Feld und Gegenstand, die Geschichte, nicht zur bloßen kasuistischen Materialiensammlung für die Psychologie werde. Die Fragestellung und die Verstehensabsicht der Psychologie ist bisher ihrem Wesen nach ungeschichtlich gewesen; sie ging bewußt oder unbewußt auf das Ewig-Eine der psychischen Gegebenheiten und nicht auf das Jeweilig-Andere des geschichtlichen

Momentes aus. (Der Begriff der archetypischen Konstellation eröffnet nun aber neue Möglichkeiten des psychologischen Verständnisses von Epochen, Nationen, Religionen usf.) Dazu kommt, daß die moderne Psychologie, ihrer Entstehung und ihrem dialektischen Verhältnis zu der früheren Bewußtseins-Psychologie entsprechend, ohne Zweifel geneigt ist, die bewußte Orientierung des Menschen gering anzuschlagen im Vergleiche zu seiner Bestimmtheit durch das Unbewußte. Auf der inneren Konstellation ruht das Interesse und soviel Licht, daß für die objektiven Konstellationen, in denen sich der Einzelne und die Generation geschichtlich-bewußt vorfinden, wenig mehr übrigbleibt. So scheinen die geisteswissenschaftlichen Disziplinen, wenn sie die Dialektik des Ideellen durch die Berücksichtigung der unbewußten Prozesse erweitern, einer Entrationalisierung ihrer Wissenschaften in die Hände zu arbeiten. Man mag befürchten, daß die Linearität der Nachzeichnung an ein dämonisches Farbengewölk verloren gehe und der Stift des Historikers durch die ungestalte Buntheit der psychologischen Palette ersetzt werde.

Aber das Bedürfnis, die dialektische Folge der Epochen und ihrer Wirkungszusammenhänge anders als nur mit den Mitteln einer logischen Dialektik zu erklären, wird ja nicht künstlich und willkürlich von außen her an die Geistesgeschichte herangetragen. Es entspringt einem nicht wegzudiskutierenden Gefühl, die fundamentalen Momente der Durchbrüche durch den ideellen Kanon, des Umschlags ins dialektische Gegenteil und der Wiederkehr ähnlicher Situationen seien mit den Mitteln der Ideendialektik nur unzulänglich zu erklären. So sicher die geschichtliche Abfolge, die Logik des geschichtlichen Ablaufs, diejenige Idee ist, welche aller Geschichtsschreibung zugrundeliegt, so sicher ist es die Erklärung der kollektiven Krisen und Umbrüche und der individuellen Abweichungen vom Kanon, nach der wir die Tiefe und Größe eines Historikers bemessen. Es ist dieses Irrationale, was uns auf den Nägeln brennt, und da dem so ist, darf wohl die Wissenschaft keine Wege verschmähen, die dieses Irrationale begrifflich faßbar machen.

Uns scheint, daß eine die Hilfen der Tiefenpsychologie in Anspruch nehmende Geistesgeschichte zu einem tieferen Verständnis

des Irrationalen und Dämonischen in der Geschichte gelangen könnte, desjenigen, was Norm und Kanon ohne Logik durchbricht. Diesem Irrationalen und Dämonischen begegnet der Geschichtsschreiber der politischen Geschichte so gut wie derjenige, der sich mit den Künsten befaßt. Drei Orte dieser Begegnung seien genannt, die unter sich oft im Zusammenhange stehen: das Religiöse, was wir in weiterer Form besser als das Numinose bezeichnen möchten, das Revolutionäre und das Schöpferische. Die Betrachtung des Numinosen als psychischen Problems erlaubt uns, die Wirklichkeit und Wirksamkeit eines menschlichen Urbedürfnisses weit über die Geschichte der religiösen Ideen hinaus in Bereichen nachzuweisen, wo dieses Numinose nicht mehr den Namen des Religiösen an der Stirn geschrieben trägt. Es mögen dann Faszinationen und Energien verstehbar werden, deren Ursprung uns sonst im Dunkeln bleibt. Die Betrachtung der Krisen und Revolutionen als psychischer Probleme wird nicht die Manifeste und Thesen primär zum Gegenstand haben, deren Charakter ihre bewußte, ideelle Herkunft bezeugt. In allen großen Wenden der Geschichte erscheinen unter dem Programmatischen, das sich in politischer oder religiöser oder sozialer Bewußtheit ausdrückt, Verlagerungen und Schübe am Werke, welche jene Zündungskraft und energetische Weiterwirkung, die das Programmatische hinter sich läßt, erst erklären. Der anfängliche Funke mag ebenso rational verstehbar sein, wie er aus dem Steine des Bewußtseins geschlagen wurde; warum aber der Kanon der Epoche in Flammen aufgeht, zu dieser Antwort mag Psychologie beihelfen. Was drittens das Schöpferische anbelangt — das Schöpferische der Philosophen, der Dichter und Künstler —, so steht hier nur sein geistesgeschichtlicher Aspekt zur Diskussion, nicht aber die Frage, welches die Beiträge der komplexen Psychologie zur Erklärung des schöpferischen Prozesses überhaupt sein könnten. Die komplexe Psychologie gibt uns die Möglichkeit, die im höchsten Sinne schöpferischen Akte, das Vorrecht der Genialität, als Durchbrüche durch die Zeit von der bloßen Repräsentation der Zeit zu unterscheiden 13. Auf den besonderen Zusammenfall von Innen- und Außenwelt im Genie und auf den besonderen Zusammenfall von Neu und Alt in seiner Gestaltung fällt neues Licht, und

insbesondere auch auf die dritte Paradoxie des Genialen: daß seine Unzeitgemäßheit dennoch die stärkste Wirkung in die Zeit ausübt.

Es sei zum Schlusse nochmals betont, daß die vorgelegten Gedankengänge über die Entwicklung einiger geistesgeschichtlicher Aspekte von Hegel über Dilthey zu Jung einen Ausschnitt darstellen. Sowohl die historische Herleitung, wie die Prüfung der Folgerungen konnten nicht anders als bruchstückhaft ausfallen. Und es blieb vor allem auch das Verhältnis unbesprochen, in dem eine solche bewußte Aneignung moderner psychologischer Begriffe sich zu der fast unmerklichen Durchtränkung der älteren geistesgeschichtlichen Begriffswelt mit Psychologie verhält, wie sie seit Nietzsche ohnehin schon im Gange ist 14.

Eine solche Beeinflussung eines überkommenen Denksystems durch ihm fremde Elemente wird zunächst immer als anstößig empfunden. Es liegt aber lin Geiste der fortschreitenden Wissenschaft, gerade beim Anstößigen, was vom bisherigen System nicht geschluckt wird, sich aufzuhalten und von ihm den Anstoß zu neuer Arbeit zu empfangen. Wir würden dabei dem Gesagten untreu, wenn wir zuletzt nicht andeuteten, daß eine solche Hinwendung unseres Denkens zu dem, was das helle Licht der logischen Dialektik stolz überblendete, seinerseits nicht nur Fortschritt, sondern auch etwas wie eine Rückkehr wäre.

Anmerkungen und Verweise

1 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Abh. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jhg. 1910, Phil.-hist. Klasse, S. 79.

2 ebendort, S. 79.

3 Erst nach Abschluß der Arbeit an meinem Vortrag ist eine Studie erschienen und mir bekannt geworden, in der der Epochenbegriff systematisch untersucht und in seiner Bedeutung herausgestellt wird: Michael Landmann, Das Zeitalter als Schicksal. Die geisteswissenschaftliche Kategorie der Epoche. Basel 1956 (Philos. Forschungen. Neue Folge. Hg. von Karl Jaspers, Vol. 7).

4 Dilthey, a.a.O., S. 84ff.

5 ebendort, S. 81 f.

6 Vgl. Niels Bohr, Kausalität und Komplementarität, in: Erkenntnis, 6. Bd. 1936, S. 293-303. W. Pauli, Die philosophische Bedeutung der Idee der Komplementarität, in: Experientia, 6. Jhg. 1950, S. 72-75. Hermann Weyl, Wissenschaft als symbolische Konstruktion des Menschen, in: Eranos, 16. Bd. 1948, insbesondere S. 422 if.

7 Hier wie überhaupt in diesen Darlegungen bin ich dem scharfsinnigen Aufsatz von Fr. Seyfert, Ideendialektik und Lebensdialektik, in dem Gemeinschaftswerk: Die kulturelle Bedeutung der komplexen Psychologie, Berlin 1935, S. 237-270, zu besonderem Dank verpflichtet.

8 Auf ins Einzelne gehende Verweise auf die Werke G. G. Jungs muß aus verständlichen Gründen verzichtet werden. Aus der Fülle seiner Schriften seien für unsern Zusammenhang nur besonders zitiert: Aufsätze zur Zeitgeschichte, Zürich 1946; Von den Wurzeln des Bewußtseins, Zürich 1954.

9 Vgl. Schopenhauers Kritik an Hegels geschichtsphilosophischer Grundeinstellung, in: Die Welt als Wille und Vorstellung, Ergänzungen zum dritten Buch, Kap. 38: Über Geschichte. (Ausgabe J. Frauenstädt, Bd. 3, S. 501 ff.).

10 Vgl. die mannigfachen, teils den Materialien, teils der theoretischen Fundierung gewidmeten Aufsätze in den 24 Eranos-Jahrbüchern, Zürich 1934-1956.

11 Vgl. auch Leopold Ziegler, Gestaltwandel der Götter, 1920/22; Überlieferung, 1936.

12 Vgl. dagegen M. Landmanns Betonung der Epoche gegenüber dem Einzelnen, a.a.O.

13 Vgl. dazu und zum Begriffe des Kanons überhaupt Erich Neumann, Kunst und schöpferisches Unbewußtes, Zürich 1954.

14 Als Beispiel sei die folgende Bemerkung Nietzsches zitiert (Taschen-Ausgabe, Bd. IV, Lpz. 1906, S.452), in der er sich Schopenhauer gegenüber ähnlich absetzt wie dieser seinerseits von Hegel: «Schopenhauer ist Optimist, wenn er sagt: ,Es gibt zwei Geschichten: die politische und die der Literatur und Kunst. Jene ist die des Willens, diese die des Intellekts. Daher ist jene durchweg beängstigend, ja schrecklich... Die andere hingegen ist überall erfreulich und heiter.' Oho! Ho!»

Herrn Dr. med. C. A. Meier, PD an der ETH, möchte ich auch an dieser Stelle für freundliche Durchsicht des Manuskriptes danken. Vgl. auch seinen Aufsatz Projektion, Übertragung und Subjekt-Objekt-Relation in der Psychologie, in: Dialectica, Vol. 8, 1954, S. 302 ff.