Geologische Probleme der Berner Alpen
Rektoratsrede
VERLAG PAUL HAUPT BERN 1958
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1958 by Paul Haupt, Berne Printed in Switzerland Druck: Paul Haupt, Bern
Geologische Probleme der Berner Alpen
Rektoratsrede 1957
Wenn der Sprechende traditionsgemäß ein Thema des eigenen Fachgebietes behandelt, so findet er sich in die schwierige Lage versetzt, auf die Verwendung jeglichen Anschauungsmaterials verzichten zu müssen. Es sei deshalb wenigstens von einem Gegenstand die Rede, der den meisten Hörern von eigenen Fahrten und Wanderungen vertraut sein dürfte: von unseren Berner Alpen. Wir nehmen uns vor, die Geschichte der Erforschung berücksichtigend, einige Probleme zu erörtern, deren Lösung sich dem Wissenschafter in diesem Teil der Alpenkette besonders aufdrängt. Bernische Gelehrte waren seit jeher an der Erforschung des nahegelegenen Gebirges in hervorragender Weise beteiligt.
Schon während der geographischen Entdeckung der Berner Alpen im ausgehenden Mittelalter wurden wertvolle geologische Beobachtungen angestellt, so von den Pionieren J. J. Scheuchzer, Joh. Gessner. Albrecht von Haller und Gottlieb Sigmund Gruner. Albrecht von Haller befasste sich 1754 als Experte und kurz darauf als Direktor mit der Untersuchung der Salzvorkommen von Bex. Seine Hypothese, dass das Steinsalz im Gebirge nicht als einheitliche Masse, sondern mit andern Gesteinen vermengt auftrete, bewahrheitete sich in der Folge. Haller reorganisierte die Salzgewinnung mit grossem Geschick. Seine 1758 erfolgte Ernennung zum bernischen Bergwerkinspektor wurde im Waadtland allgemein bedauert. Wenige Jahre später, 1773, veröffentlichte Gottlieb Sigmund
Gruner von Bern seine «Naturgeschichte Helvetiens in der alten Welt». In diesem Werk steht der Satz zu lesen: «Helvetien ist noch heutzutage ein von allen Seiten her mit Felsgebirgen umschlossener Kasten, der vor Zeiten, allem Anschein nach, eine allgemeine See eingeschlossen hat.» Diesen Kasten des helvetischen Mittellandes bezeichnen wir heute etwas weniger drastisch als Becken des Molassemeeres. Ihrem Entdecker verursachte die gesalzene See, die uns Fossilien zurückließ, allerhand Beschwerden. So wagte Gruner nicht zu entscheiden, ob ein offenes oder ein «unterirdisches» Meer vorgelegen habe.
Die eigentliche geologische Durchforschung unseres Gebirges setzte erst ein, nachdem H.-B. de Saussure 1779-1796 seine «Voyages dans les Alpes» veröffentlicht hatte und unsere Wissenschaft vom Genfer de Luc getauft worden war. De Saussure erkannte schon, daß in den Alpen die äußere Form weitgehend den Innenbau widerspiegelt. Er glaubte den Fächerbau des Gebirges zu erkennen, der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als Bauprinzip Geltung hatte. Es ist erstaunlich, mit welchem Scharfblick de Saussure Anleitungen zu stratigraphischer und tektonischer Forschung gab und beispielsweise Schichtflächen von Kluftflächen unterschied. Wir können heute sagen, daß de Saussure den andern Naturforschern auf geologischem Gebiete um einige Jahrzehnte vorauseilte. Noch fehlten großenteils die mineralogischen und petrographischen Grundlagen. Gruner, der geschrieben hatte: Die allerhöchsten Schweizer Alpen bestehen aus Geisbergergestein, versuchte diese Gneise einer Gesteinsart im Linné'schen System gleichzusetzen. Im Reich der Mineralien war damals noch allerhand unklar. Der französische Forschungsreisende Tancrède de Dolomieu hatte im Südtirol festgestellt, daß gewisse Kalksteine mit Salzsäure betupft nicht oder sehr schwach brausen. De Saussure's Sohn analysierte diese «Kalke» in mangelhafter Weise
und nannte das Mineral Dolomit. Damit war die Existenz dieses besonderen Minerals immerhin festgestellt. In der Folge wurde eine ganze Alpenregion darnach benannt. Die wahre stoffliche Zusammensetzung aber erkannte der Engländer Smithson-Tennant erst später.
Es war begreiflich, dass man sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts weitgehend von den Theorien abwandte und der Tatsachenforschung zuneigte. Man fühlte sich in den Theoriengebäuden nicht mehr zuhause. Der deutsche Geologe Leopold von Buch, ein äußerst kritischer Wissenschafter, durchwanderte 1797 die Alpen von Linz über Salzburg und Innsbruck nach Italien. Als ein Schüler des Neptunisten Werner, der sogar den Basalt als wässerigen Niederschlag entstehen ließ, geriet von Buch im italienischen Vulkangebiet mit sich selbst in Widerspruch. Man «wisse oft nicht, was man glauben solle; oft nicht, ob es erlaubt sei, seinen eigenen Augen zu trauen», schrieb er. So wandte man sich wieder mehr den konkreten Tatsachen zu. Es setzte eine Periode der Entdeckungen ein, wobei das Interesse der Bearbeitung einzelner Sonderprobleme galt.
In den Berner Alpen war es zuerst die Gletscherforschung, die mächtig gefördert wurde. Schon 1827 hatte Franz Joseph Hugi von Solothurn auf dem Unteraargletscher eine Hütte als Forschungsstation errichtet. Dieser einfache Unterschlupf zerfiel recht bald und so erstellten die Forscher L. Agassiz und E. Desor mit vier Gefährten 1840 etwas weiter oben auf dem Eisstrom eine neue Unterkunft, das «Chalet des Neuchâtelois». Während sechs Jahren wurden die Gesetze des Fließens von Gletschereis erforscht, in bis 25 Fuß tiefen Bohrlöchern die Temperaturen gemessen, die Schichtung und die Blaubänderung des Eises studiert. Es fehlte nicht an angesehenen Besuchern im Chalet des Neuchâtelois. Auch H. C. Escher von der
Linth war hier zeitweilig tätig. Dieser Forscher befasste sich damals auch mit Beobachtungen am Aletschgletscher, wo er die Eisgeschwindigkeit in einem Querprofil zu messen versuchte.
Ein grosses Problem lag damals «in der Luft». Die Herkunft der erratischen Blöcke im Juragebirge gab immer wieder Anlass zu ziemlich abstrusen Deutungen betreffend ihres Hertransportes. Ähnlich hatte ja das Vorkommen schottischer und skandinavischer Findlinge in England den britischen Forschern Kopfzerbrechen verursacht. G. S. Gruner meditierte schon 1773 über die Herkunft der Geisberger, d. h. der Gneisfindlinge von Obermuhlern am Längenberg und von Mandach im östlichen Jura. —Nach von Buch, der den Jura von seinem Neuenburger Aufenthalt her kannte, trug eine Sturzflut die erratischen Blöcke in den Jura hinaus, die beim Einbruch der Walliser Quertalfurche zwischen Dent du Midi und Dent de Morcles erzeugt wurde. Gute Beobachter deckten alsdann das Geheimnis auf. Der Bergler J.-P. Perraudin von Lourtier (Val des Bagnes) äußerte 1815 J. de Charpentier gegenüber die Auffassung, dass unsere Gletscher einstmals ein viel größeres Areal einnahmen und dass sie Spuren abtragender Tätigkeit zurückliessen 1. J. Charpentier berichtete über diese Erkenntnis 1834 vor der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft in Luzern. L. Agassiz und B. Studer hießen diese Auffassung ebenfalls gut und stellten die Hypothese auf, dass die Verfrachtung von Blockmaterial einer Eisepoche zuzuschreiben sei, die ihre Spuren nicht nur im Jura, sondern auch in den Vogesen und im Schwarzwald, in England und Schottland sowie in Nordamerika zurückgelassen habe.
Das war die Aera der Pioniere der Gletscherforschung und der Entdeckung der Eiszeit. Eine Renaissance dieser Epoche setzte — wieder im Berner Oberland — ein, als 1929 drei
deutsche Geophysiker 2 mit seismischen Apparaten die Dicke des Aletschgletschers zu messen versuchten. Es handelte sich damals um die Ausarbeitung einer Methode zur Bestimmung der Mächtigkeit des grönländischen Inlandeises. Das erprobte Verfahren wurde alsdann 1931 durch die Gletscherkommission der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft am Rhonegletscher verwendet. Von 1936 bis 1950 arbeiteten schweizerische Forscher 3 wieder auf dem Unteraargletscher und seinen Zuflüssen, dem Lauteraar- und Finsteraargletscher. Die maximale Eistiefe wurde oberhalb des Zusammenflusses mit ungefähr 450 m gemessen. Im einzelnen ergaben sich Schwierigkeiten infolge der ungleichen Beschaffenheit höherer und tieferer Eislagen und durch die Einschaltung von Gesteinsmaterial. Der Eisdickenbestimmung kommt neuerdings auch praktische Bedeutung zu. Beim Bau des Grande-Dixence-Werkes wurden 12 km 2 Gletscheruntergrund seismisch untersucht. Im Jahre 1946 vorgenommene seismische Sondierungen dienten der Ermittlung der Felsoberfläche unter dem Plainemorte-Gletscher zwecks Erstellung einer Wasserfassung. Die Schwierigkeit lag hier weniger in der Befolgung und Verfeinerung der neuen Methode als bei der Erstellung der Fassung, da die subglazialen Wasser in verzweigten Gerinnen fließen und ihren Lauf ändern können.
Heute auch noch aktuell ist die Frage nach der Intensität der Eiserosion. Zu Beginn unseres Jahrhunderts stunden sich die Anhänger der Wassererosion unter Albert Heim und die der Eiserosion unter Albrecht Penck und Eduard Brückner schroff gegenüber. «Mit Butter hobelt man nicht», sagte Albert Heim. Einwandfreie Beobachtungen liessen auf das Gegenteil schließen. So sah Escher von der Linth schon 1840 wie der Zmuttgletscher anstehende Schieferköpfe zerriß. Der Berner Geologieprofessor Armin Baltzer suchte sich 1892 vermittels Experimentes
Gewißheit zu verschaffen. Die fünfzehn Bohrlöcher, die er am Untern Grindelwaldgletscher einmeißeln liess, wurden vom Gletscher bis heute nicht überfahren und verändert. Mehr Glück war dann Otto Lütschg beschieden, dessen Bohrlöcher am Allalingletscher und am Oberen Grindelwaldgletscher während kurzdauernder Vorstösse gekappt wurden. Die gemessenen Werte des Abtrages lagen bei 1 cm pro Jahr, müssen aber infolge der exponierten Lage als überdurchschnittlich angesehen werden. Tatsache ist, daß die Gletscher durch Abschleifen, Wegsplittern und ähnliche Vorgänge ihre Felsunterlage intensiv bearbeiten. Es besteht aber gegenwärtig wenig Aussicht, daß die alpinen Gletscher uns Wissenschaftern den Gefallen tun, in nächster Zeit wieder einmal stärker vorzustoßen. In andern Gebirgen ist dies eher zu erwarten. Im Himalaya stiess ein Gletscher kürzlich in einigen Monaten um 12 Kilometer vor, verbarrikadierte ein Seitental und machte kurz vor einer Ortschaft Halt 4.
Die Gletscherkunde betrifft oberflächliche Erscheinungen der Gebirgswelt. Sie ist sowohl von Geographen als von Geologen gepflegt worden. Befassen wir uns nun aber mit der Erforschung des Untergrundes, der Gesteinswelt der Berner Alpen, so können wir das Primat Franz Joseph Hugi zuerkennen, der im Jahre 1828 die Auflagerung von «Urgebirge», d. h. von aarmassivischen Gneisen auf das Kalkgebirge untersuchte und 1829 als Erster das Finsteraarhorn bestieg. Hugi sammelte im Massiv systematisch Gesteinsproben. Existenzschwierigkeiten hinderten ihn wohl an der Bearbeitung seines Materiales. Die eingehendere Erforschung des Aarmassivs blieb andern Forschern vorbehalten, so vor allem Bernhard Studer und später Edin. von Fellenberg sowie Armin Baltzer
Welches ist nun die Stellung der Grundgebirgsmassive im alpinen Bau, nach Auffassung der alten Pioniere und nach dem heutigen Stande der Erkenntnis?
Um das Jahr 1840 sahen die Forscher in den Alpen ein Schachbrett elliptischer Massive, die Fächerbau aufweisen sollten. Diesen Fächerbau, d. h. die randliche Überlagerung der Sedimenthülle durch die Kristallinkerne hatten de Saussure und Necker schon früher im Montblancgebiet, H. C. Escher von der Linth und C. Lardy am Gotthard, B. Studer im Aarmassiv beobachtet. Studer schilderte wie die Zentralmasse des Finsteraarhorns, d. h. des Aarmassivs von der Altels bis an den Tödi reiche und daß man es in früheren Zeiten, da Wallis und Bünden noch nicht so eng mit der Schweiz verbunden waren, mit Recht als zentrales Rückgrat der Schweizer Alpen betrachtet habe. Die Auffassungen über den Bau der Alpen waren noch recht schwankend, die Kenntnisse ungenügend. So sah man sich denn genötigt, die geologische Kartierung gleichsam als Bestandesaufnahme in Angriff zu nehmen. Dadurch allein war man in der Lage, über den Stand de Saussure's hinauszukommen, der sich in Anlehnung an ein Wort Heraklits dahin geäußert hatte, «qu'il n'y a dans les Alpes rien de constant que leur variété».
Wenn wir heute zu etwas klarerer Einsicht gelangt sind, so verdanken wir dies unsern Vorgängern. Nach jetziger Auffassung ist das Aarmassiv ein in den alpinen Bau übernommener Teil eines älteren Gebirgssystemes, des variszischen oder herzynischen Gebirges. Dieses steht unter dem Molassebecken hindurch in Zusammenhang mit Vogesen und Schwarzwald. Im Gotthardmassiv sind gleich alte Gebirgsteile durch die alpine Faltung stärker zusammengepreßt worden, und in den Walliser und Bündner Alpen ist der alte Unterbau sogar weitgehend in den Faltenwurf mit einbezogen. Noch bleibt abzuklären, in
welchem Masse anlässlich des alpinen Zusammenschubes granitisches Material in die Massive eingedrungen oder durch Aufschmelzung neu entstanden ist.
Wir verzichten darauf, die Geschichte des Werdens und Vergehens älterer und jüngerer Gebirgsteile zu schildern. Das alte Gebirge wurde zur Karbonzeit weitgehend abgetragen. Die Konglomerate, Sandsteins und die Schiefer, in denen unsere bescheidenen alpinen Kohlenflöze vom Aiguilles-rouges-Massiv bis ins Tödigebiet auftreten, sind Erosionsprodukte des alten Gebirges. Später, zur Permzeit, lagen die heutigen Massive weithin über Meeresspiegel, so auch das westliche Aarmassiv. Anzeichen starker Verwitterung an der damaligen Landesoberfläche sind vielerorts feststellbar. Weiter im Osten wurden ungeheure Mengen vorwiegend roten, d. h. eisenschüssigen Gesteins, sogenannter Verrucano in ein südlich anschliessendes Becken eingeschwemmt.
Während des ungefähr 125 Millionen Jahre 5 dauernden geologischen Mittelalters lagen die alpinen Zentralmassive mit ihrer Sedimenthülle zunächst weithin unter Meeresspiegel, später, zur Kreidezeit ragten sie teilweise als Festlandsrücken darüber hinaus.
In der jüngeren Kreidezeit setzte vom Mittelmeer her der Ansturm des werdenden Gebirges ein. Die grossen, heute unter der Poebene und der Adria befindlichen Grundgebirgssockel bewegten sieh gegen die nördlichen Vorländer, gegen den europäischen Kontinent. Das Gebirge wurde aufgefaltet, viele Falten nahmen überliegende Form an und ganze Stapel von Gesteinsplatten fuhren übereinander weg. Es dauerte lange, bis man diese Deckenstrukturen zu deuten vermochte und über die Zusammenhänge im einzelnen wird immer noch diskutiert. Sehr willkommene Aufschlüsse brachten nach der Jahrhundertwende die großen Tunnelbauten, in den Berner Alpen der
Lötschbergtunnel. Hier hatte die Prognose noch durchwegs autochthones, d. h. bodenständiges Gebirge angenommen. In Wirklichkeit lag über dem Massiv und dessen normalem Sedimentmantel, wie die Tunnelaufschlüsse zeigten, die nordwärts abtauchende Deckfalte der Doldenhorn-Blümlisalpmasse. Damit war der Deckenbau auch dieser Gebirgsgruppe nachgewiesen.
Nicht überall ist die Überfaltungs- und Überschiebungsstruktur so einfach beschaffen. Denn schon während der Gebirgsbildung schlug die Erosion Breschen in das werdende Gebäude. Einzelne Pakete wurden allseitig freigelegt und oft auf ihrer Unterlage mitverfrachtet. Solche «Klippen» weisen oft, wie Mythen und Stanserhorn zeigen, recht regelmäßigen Faltenbau auf, während andere Deckenreste wie Arvigrat und Musenalp auf dem Transport stark mitgenommen wurden.
Gebirgsbildung führt in der Regel zu Hebung über Meeresspiegel. Die Erosion setzt ein und es entsteht ein neues Relief. Aus den werdenden alpinen Ketten wurden mächtige Schuttmassen in die angrenzenden Meeresmulden eingeschwemmt. Es entstunden die Flyschbildungen. Sande und Tone, aber auch Grobschutt gelangten zum Absatz, auch ganze Schollen rutschten in die Becken ab. Die Sedimentation war oft eine rhythmische, Schichten gröberen Materials wechseln mit solchen feineren Korns beinahe endlos. Auch innerhalb einer Gesteinsbank oder -Schicht vollzieht sich oft von unten nach oben der Wechsel vom Gröberen zum Feineren. Dieser Kleinrhythmus kann unter anderem auf vielfach wiederholtes Einfliessen schwerer Trübeströme zurückgeführt werden. Bleiben diese Emulsionen und damit die Zufuhr gröberen Materials aus, so gelangen feinkörnige Gesteine zum Absatz.
Die alpinen Flyschgesteine sind von großer Mächtigkeit und Verbreitung. In dem uns naheliegenden Querschnitt vom Längenberg
ins Aarmassiv liegt zunächst die breite Zone des Gurnigelflyschs, dem östlich des Thunersees der Habkernflysch entspricht. Weiter südlich folgt die mächtige Masse des Niesenflyschs. Beide Flyschkomplexe sind erst im Verlaufe der Gebirgsbildung über das Aarmassiv auf die Alpennordseite verfrachtet worden. Gleiches gilt für die im Simmental vertretenen Flyschbildungen der Schubmassen, die wir als Klippendecke, Breccien- und Simmendecke bezeichnen.
Die Erforschung der Flyschzonen bietet auch heute noch viele ungelöste Probleme. Infolge der Armut an Fossilien lassen die Altersbestimmungen zu wünschen übrig. Oft ist die Herkunft des Materials fraglich. So beim Habkerngranit, der nur als Geröll vorkommt. Es ist deshalb beinahe unmöglich, den Begriff Flysch genauer festzulegen, nachdem man in allen Weltteilen seit Jahrzehnten darüber gesprochen und geschrieben hat. Das Wort Flysch stammt aus dem Simmental. Es wird dort im Volke zur Benennung der schiefrig-tonigen und deshalb weniger festen Lagen der Gesteinsfolge verwendet, die, auch festere sandige und kalkige Lagen aufweisend, als Ganzes 1827 von Bernhard Studer als Flysch bezeichnet wurde. Der Begriff Flysch machte schon bei Studer selbst Wandlungen durch. Von 1839 bis 1844 faßte der Autor unter dieser Sammelbezeichnung alle möglichen schiefrigen alpinen Gesteine verschiedensten Alters zusammen. Später kehrte Studer wieder zu seiner früheren Auffassung zurück und bezeichnete nur noch die jüngsten Bildungen der alpinen Schichtfolge als Flysch.
Es wird Aufgabe der zukünftigen Forschung sein, die Flyschserien unserer Alpen und damit auch der Berner Alpen noch genauer nach Zusammensetzung und Alter zu untersuchen. Kennen wir einmal die Bedingungen der Bildung solcher Ablagerungen besser, so werden wir auch in den Ablauf der gleichzeitig
erfolgenden Orogenese klareren Einblick erhalten. Ist doch im Normalfall damit zu rechnen, daß intensivere Auffaltung zur Heraushebung von Gebirgsteilen und weiterhin zu stärkerem Abtrag führt, der sich durch Umlagerung gröberen Materiales bemerkbar machen kann.
Alle mit Flysch erfüllten Meereströge wurden während mehrer Schubphasen samt den trennenden Schwellen von der Gebirgsbildung ergriffen und dem alpinen Bau einverleibt. Das ganze Orogen lag damals großenteils noch südlich der heutigen Zentralmassive. Es wurde nun auch über seine Umgebung herausgehoben und damit der Erosion preisgegeben. Mächtige Ströme schafften gewaltige Massen Grob- und Feinschutt ins Vorland hinaus, Nagelfluh, Sandsteins und Mergel, kurz gesagt, die Molassebildungen entstunden, teils in untiefem Meer, teils als kontinentale Sedimente. Zeitweilig war in diesem nördlichen Resttrog der Mediterrannis noch Meeresverbindung mit dem Rhone- und mit dem Wienerbecken vorhanden. Die ganze helvetische Zone, d. h. der Bereich der heute in unserem Lande von den Tours d'Ai und der Dent du Midi über das Wildhorn- Jungfraugebiet bis in die Glarner und St. Galler Alpen reichenden Gesteinsserie lag noch weithin unter Gesteinsüberdeckung.
Nur in beschränktem Maße wurden Teile des helvetischen Faltenbaues durch die Erosion bloßgelegt und Gerölle wie Schrattenkalk in die Nagelfluhdelten vertragen. Die Massive blieben überdeckt. So finden wir denn weder Gastern- noch Aaregranit als Komponenten in der Nagelfluh.
Und dann erfolgte in der jüngsten Tertiärzeit, zu Beginn des Pliocaens, der letzte bedeutende Zusammenschub des Gebirges. Die helvetischen Falten fuhren über die Zentralmassive weg, die selbst als langgestreckte Ellipsoide hochgepreßt wurden. Damals erhielt der Bau der Berner Alpen seine heutige
Innenstruktur. Es brandeten die präalpinen Gebirgsbogen zwischen Arve und Aare und anschließend die vom Thunersee bis ins Allgäu reichende Bogenguirlande über die Nagelfluhklötze der Molasse hinaus, sich deren Ungleichheiten und Breschen anpassend. Der einspringende Winkel zwischen präalpinem und helvetischem Bogenbau diente der Aare und ihren Zuflüssen als Austrittsstelle aus den Alpen. Hier überschneiden sich die Gebirgsbogen auch heute noch. Die als Ausläufer und Fortsetzung der Stockhornzone zu betrachtenden Kalkrücken des Spiezberges und Schloßberges lassen sich auf Grund neuerer Lotungen der Eidgenössischen Landestopographie noch gegen zwei Kilometer weit ostwärts unter Seespiegel verfolgen und die Faltenaxen des Sigriswilergrates tauchen recht unvermittelt über Seeniveau auf.
Über die weitere Geschichte des schweizerischen Mittellandes sind wir nur mangelhaft unterrichtet. Nach Ablagerung der Molasse (und zwar der «oberen Süßwassermolasse») wurde diese um mehrere hundert Meter über Meeresspiegel gehoben und gefaltet, vor den Alpen in grossen Schollen aufgehäuft. Die jüngsten Tertiärbildungen, das sogenannte Pliocaen (Plaisancien-Astien) fehlen bei uns. Über dieser Lücke, die zeitlich ungefähr 15 Millionen Jahren entspricht, liegt der stark durchbrochene Schleier eiszeitlicher Bildungen ausgebreitet. Das Relief unseres Landes erfuhr damals grosse Veränderungen, die sich unter anderem in Flußverlegungen äusserten. Die grossen Flüsse aus dem Aare-, Reuss- und Rheingebiet waren im Pliocaen noch der Donau tributär. Vogesenflüsse lagerten damals ihren Schutt im Jura ab. Später setzte der Einbruch von Nordwesten her ein. Rhein und Aare wurden abgelenkt. Ihre Wasser flossen aber zunächst nicht in Richtung Basel-Straßburg ab, sondern über die Belfortersenke (burgundische Pforte) nach der Saône und damit nach der Rhone. Erst zu Beginn der Eiszeit
erfolgte der Durchbruch zwischen Vogesen und Schwarzwald in den Rheintalgraben. Die geologische Geschichte unseres Flußnetzes wäre einer monographischen Behandlung wert. Ein Versuch besseren Einblick in das Geschehen dieser Zeit zu erhalten, führt uns auf die Südseite der Alpen. Hier liegen nunmehr die wertvollen Befunde der vielen in der Poebene durchgeführten Erdgas- und Erdölbohrungen vor, die unsere italienischen Nachbarn mit Energie und Erfolg abgeteuft haben 6. Tief unter jüngeren Bildungen verborgen liegen im Inneren dieses großen Beckens die unserer Molasse entsprechenden Ablagerungen. Zwei-bis sechstausend Meter mächtige Pliocaen- und Quartärfolgen überlagern drei Faltenbogen der Molasse. Während nördlich der Alpen das Mittelland und zeitweilig auch der Jura von Gletschern überflutet wurde, reichten die Eisströme südlich der Alpen nur wenig weit ins Vorland hinaus. Hier gelangten in einer Seitenbucht der heutigen Adria bei fortdauernder Absenkung des Beckengrundes bis über 4000 Meter Sedimente zum Absatz.
Einer ansehnlichen Trockenlegung und Hebung des Mittellandes und der Alpen steht somit eine ganz beträchtliche Senkung des Pobeckens gegenüber 7. Daß eine so gewaltige Verbiegung in der Erdrinde nicht ohne entsprechende seitliche Massenverschiebungen in der Tiefe möglich ist, leuchtet ein.
Und nun sehen wir uns vor die schwierige Frage gestellt, ob die Hebungs- und Senkungsvorgänge heute noch andauern oder mit andern Worten gesagt: Überwiegt in unseren Alpen zurzeit die Hebung oder der Abtrag? Werden die Alpen höher oder niedriger? Diese Frage scheint angesichts der mächtigen, durch unsere Flüsse abtransportierten Geschiebemassen fast müssig zu sein. Sie dünkt uns beinahe überflüssig angesichts vieler der Zerstörung preisgegebener Gipfel. Wir brauchen nicht einmal
an den Gallo in den Bergeller Bergen zu denken, der vor einigen Jahren seinen Kopf verloren hat.
Das Problem ist indessen nicht so einfach zu lösen. Blättern wir noch einmal im Buch der geologischen Geschichte zurück bis zum Abschnitt Tertiär. Dann stellen wir die scheinbar einfache Frage: Wie hoch war das alpine Gebirge, das zur Molassezeit abgetragen wurde? Versuchen wir einmal, in Gedanken die Molassemassen des Gurtens und Belpberges, des Schwarzenburgerlandes und Napfgebietes mitsamt ihrer westlichen und östlichen Fortsetzung auf die heutigen Alpen zurückzuversetzen.
Nehmen wir die Breite des Gebirges, von dessen Nordabdachung unsere Molasse stammt, etwas großzügig mit 100 km an, so ergibt sich bei teilweiser Ausgleichung des Reliefs über diesem ein Gesteinsmantel von ungefähr 2700 m Dicke. Dieser Betrag ist zweifellos zu hoch. Dies schon aus dem Grunde, weil nicht das derzeitige relativ schmale Alpenland als Einzugsgebiet der Molasseflüsse in Betracht kommt, sondern das damalige. Die Rechnung wird also etwas komplizierter. Denken wir uns einmal alle alpinen Falten ausgeglättet und die Schubmassen in ihre Ursprungsbereiche zurücktransportiert, so erhalten wir einen Ablagerungsraum von etwa 600 km Breite. Die jetzige Gesamtbreite beträgt im Sektor Bodensee —Comersee ungefähr 150 km. Rechnen wir nun mit einem halbwegs zusammengefalteten alpinen Bau, so wäre dieser etwa 300 km breit gewesen. Berücksichtigen wir noch, daß der Abtransport des Gebirgsschuttes nur etwa zur Hälfte nach der Außenseite des Alpenbogens erfolgte, so kommen wir auf eine Zonenbreite der Einzugsgebiete von je 150 km und auf Grund unserer Kenntnisse über die Kubatur der Molassebildungen auf einen durchschnittlichen Abtrag von ungefähr 1800 m.
Rechnen wir auf Grund neuerer Radioaktivitätsbestimmungen mit einer Entstehungsdauer unserer Molasse von 20 bis 25 Millionen Jahren, so entspräche dies einem jährlichen Abtrag von 7 bis 9 Hundertstel Millimetern. Nehmen wir mit dem Geologen Richard Sonder an, daß die Erosion während der Molassezeit nur zeitweilig tätig war (7 bis 9 Millionen Jahre), so belief sich der jährliche Abtrag auf 0,2 bis 0,25 mm. Dieser Betrag ist von gleicher Größenordnung wie der für heutige Verhältnisse errechnete.
Über die heutigen Abtragungsverhältnisse sind wir dank den Deltamessungen des Eidgenössischen Amtes für Wasserwirtschaft besser unterrichtet. Da fast alle größeren Alpenflüsse ihren Schutt in Seen ablagern, sind wir imstande, aus den Deltainhalten den durchschnittlichen jährlichen Abtrag der zugehörigen Einzugsgebiete zu bestimmen. Es liegt dann nahe, das Ergebnis auf eine längere Zeitdauer zu extrapolieren.
Die amtlichen Messungen ergaben, daß die jährlich durch die Aare in den Brienzersee transportierte Schuttmenge einem durchschnittlichen jährlichen Abtrag von 0,236 mm entspricht 8. Nehmen wir mit Milankovitch für die gesamte Eiszeit und Nacheiszeit eine Dauer von 600000 Jahren an, so wäre das Gebirge während dieser Zeit um 141,6 m niedriger geworden. Rechnen wir mit C. Emiliani nur mit 300000 Jahren, so betrüge der Abtrag nur 70,8 m.
Diese Überschlagsrechnung berücksichtigt nicht, daß der Abtrag während der Eiszeiten möglicherweise intensiver war als während der Zwischeneiszeiten und der Jetztzeit. Andererseits ist zu bedenken, dan die erwähnten Abtragswerte insofern täuschen könnten, als unsere Flüsse heutzutage noch immer mächtige Massen eiszeitlichen Moränenmateriales aus den Talfurchen herausbringen. Der Abtrag im eigentlichen Hochgebirge ist also bedeutend geringer.
Aus allen angeführten Daten könnte man zunächst den Schluss ziehen, daß unsere Alpen ständig an Höhe verlieren und in etwa 10 bis 13 Millionen Jahren zu einem Hügelland degradiert sein werden. Der Abtrag ginge somit sehr langsam vor sich. Es sprechen nun aber gewichtige Gründe dafür, dass dieser Erosion andere Faktoren entgegenwirken und sie wahrscheinlich sogar überkompensieren. In Betracht kämen Hebungen des ganzen Gebirges oder einzelner seiner Teile. Ob solche Verstellungen in letzter geologischer Zeit und heute noch erfolgen, ist schwierig zu ermitteln. Berichte über Kippungen von Taltrögen schienen dafür zu sprechen, erwiesen sich jedoch als nicht zutreffend. Eigenartig sind die Befunde von P. Eckardt 9 aus dem Vorderrheintal und den angrenzenden Urner Alpen, wo ein bis gegen Ende der Eiszeit auf und ab bewegtes Mosaik von Gebirgsstreifen vorliegen soll. Beobachtungen in Richtung Grimselpaß stehen noch aus.
Aus den alpinen Vorländern sind verschiedentlich Verstellungen gemeldet worden. Die nach 50 Jahren wiederholte Nivellementsvermessung an der Badischen Bahn ergab, daß die Hochzonen des Schwarzwaldes auch jetzt noch über den Rheintalgraben herauswachsen. Am bayrischen Alpenrand sind, wie in den benachbarten Kalkalpen und im Inntal lange, tief mit Schutt erfüllte Talstrecken seismisch und mit Bohrungen festgestellt. Der Geophysiker H. Reich spricht von versenkten und heute noch unter Gebirgsdruck stehenden Flußtälern, während andere Autoren an Übertiefung durch Gletschererosion denken. Die Feinvermessung hat für die letzten hundert Jahre jährliche Senkungsbeträge von ungefähr 1,5 mm ersehen was eher auf tektonische Bewegungen schliessen liesse. Von gleicher Größenordnung sind die von 1890 bis 1950 erfolgten Senkungen im unteren Pogebiet; sie betragen jährlich ungefähr 3 mm.
Solche Einzelbeobachtungen lassen sich heute noch nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Um einen Überblick zu gewinnen, müssen wir das Antlitz des ganzen Gebirges betrachten. Auch dem Unvoreingenommenen muss auffallen, dass im Alpeninnern weithin Hochflächen vorhanden sind, über die unsere höchsten Gipfel nur 1000 bis 2000 m hinausragen. Es sei an die Hochflächen des Diablerets- und Wildstrubelgebietes, an die des Kanderfirns erinnert. Noch deutlicher liegen die Verhältnisse in den Ostalpen, wo die Grate und Gipfel der Silvretta und der Oetztaler Alpen den Gletscherböden, dem sogenannten Firnfeldniveau aufgesetzt erscheinen. Diese hoch gelegenen Verebnungen sind älter als die Eiszeiten. Sie müssen andererseits jünger sein als die letzten Faltungen und Überschiebungen. Andernfalls wären sie durch diese noch verbogen und verstellt worden. Unter dem Firnfeldniveau liegen noch mehrere Verflachungen, deren tiefste als praeglaziale Landesoberfläche aufgefaßt wird. Aus dieser sind die heutigen Talfurchen durch Eis- und Wasserwirkung herauspräpariert worden.
Noch sind wir nicht in der Lage, zu entscheiden, ob die Gletscherböden des Berner Oberlandes dem ostalpinen Firnfeldniveau angehören. Sicher steht aber fest, daß das Gefälle von den alpinen Hochflächen ins Vorland hinaus übernormal gross ist, weil das Gebirge nachträglich herausgehoben wurde. Die Alpen waren in spättertiärer Zeit noch ein Mittelgebirge, das dann allmählich über seine Vorländer herauswuchs. Der Betrag der Heraushebung der präglazialen Landesoberfläche ist nicht leicht feststellbar. In den österreichischen Alpen wird er auf 500 m geschätzt, in Ostbünden beträgt er eher noch mehr, in den Berner Alpen etwas weniger. Auf jeden Fall steht fest, daß der Betrag der Heraushebung denjenigen des Abtrages weit übertrifft. Wir ziehen deshalb den Schluss Unsere Alpen werden nur scheinbar infolge Wasser-, Eis- und Winderosion
niedriger; in Wirklichkeit wachsen sie, wenn auch sehr langsam, über ihre Vorländer hinaus. Es ist somit dafür gesorgt, daß unsere Alpen nicht von der Bildfläche verschwinden, und die alte Beteuerungsformel: «Solange Grund und Grat steht», wird auch dem neuesten Stande der Wissenschaft gerecht.
Vermutlich sind die Alpen gewölbeartig emporgestiegen, d. h. am Rande weniger, in der Mittelzone stärker gehoben worden. Die Annahme örtlich unregelmäßiger Verstellungen ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn wir die gewaltige Front, den ungeheuren Absturz der Hochalpen, wie er sich uns von Bern aus in majestätischer Weise vom Balmhorn und Altels bis zur Jungfrau und dem Wetterhorn darbietet, betrachten, wären wir geneigt, an eine Zone stärkerer Hebung zu denken. Der Skeptiker unter den Wissenschaftern wird allerdings betonen, daß die Gesteinsunterschiede —weiche Schiefer in der Scheideggzone und harte massige Gesteine im Hochgebirge — genügen, um den auffälligen Gegensatz zu bedingen.
Mit Absicht hat bis dahin die Hypothese keine Erwähnung gefunden, nach der die Bildung unserer größeren Alpenseen einer Rücksenkung der Gebirgsränder zu verdanken sei, die ihrerseits durch das Abschmelzen der eiszeitlichen Gletscher verursacht wurde. Ein solches Absinken und Ertrinken der Alpenränder könnte erst nach dem soeben erwähnten Aufstieg der Alpenkette stattgefunden haben. Es müsste durch Verstellungen älterer Talboden und Terrassen dokumentiert sein. Man glaubte einst, Reste solcher rückläufig gewordener Terrassen am Zürichsee entdeckt zu haben. Genauere Untersuchungen liessen das Argument hinfällig werden. Auch liegt ja der Zürichsee großenteils im Mittelland und nicht am Alpenrand. Der Bodensee ist nur im südöstlichsten Teil ein Alpenrandsee, die auffällig geradlinigen Umrisse des Untersees sind nach neueren
Untersuchungen durch Bruchflächen bedingt, die nach dem Schwarzwald weisen.
Fassen wir schließlich die naheliegenden Becken des Brienzer- und Thunersees ins Auge, so lassen sich in den steilen Talflanken am Brienzersee keine alten Talboden mit Sicherheit auf größere Strecken verfolgen. Das Thunerseebecken ist, wie die neuen Lotungsergebnisse zeigen, deutlich zweiteilig. Im östlichen, oberen Teil sind die weichen gipsführenden Zonen über 200 m tief heraus erodiert worden. Es folgt die schon erwähnte Schwelle von Spiez, und das Nordwestbecken können wir als Rest des alten «Bernersees» betrachten, der bis in unser heutiges Stadtgebiet reichte. Die Lage der bescheidenen, unter dem Spiegel des Thunersees gelegenen Verflachungen lässt keinerlei Schlüsse auf Verstellungen zu. Gleiches gilt für den Verlauf der über Seespiegel zu erkennenden Talbodenreste. Auch an den oberitalienischen und südschweizerischen Seen scheinen rückläufige Terrassen zu fehlen. Es bleibt uns deshalb zurzeit nichts anderes übrig, als, wie A. C. Ramsey schon 1862 annahm, die Austiefung unserer Seen als Wirkung der Eiserosion zu betrachten. Die eiszeitlichen Gletscher haben die Seebecken ausgehobelt und die seitherige Schuttzufuhr genügte nicht sie aufzufüllen. Zeitweilig mag die Zufüllung auch durch das Vorhandensein großer Eismassen verhindert worden sein, die als Toteis die Eiszeit überdauerten.
Wir wenden zum Schluss noch einmal den Blick gegen die
Berner Alpen. Thun liegt an der Pforte zu den Gebirgstälern
und Paßfurchen unseres Alpenabschnittes. Hier überschneiden
sich die Gebirgsbogen, der praealpine, in der Stockhornkette
und bei Spiez endigend und der helvetische, vom Pilatus her
als vierteilige Bogenguirlande zum Sigriswilergrat durchziehend.
Steil fallen die Faltenzylinder an den Ralligstöcken unter
den Seespiegel ein. Vor der alpinen Faltenflut wurde schließlich
die angrenzende Molassezone mit ihren mächtigen Nagelfluhen an und über die mittelländische Molasse geschoben. Ungefähr gleichzeitig ist das Aarmassiv hochgepreßt und zum Rückgrat der Berner Alpen geworden.
Während der Eiszeit und anschliessend entstunden die Becken des Thuner- und Brienzersees, hervorgegangen aus dem größeren Bernersee. All diese Hohlformen wurden, soviel wir heute wissen, vorwiegend durch die Gletscher geschaffen, die aus dem Haslital, aus den Lütschinentälern, aus Kander- und Simmental zusammenflossen und mit ungebrochener Kraft das Vorland erreichten. Für die früher oft vertretene Auffassung, wonach Rücksenkungen des Alpenrandes bei der Beckenbildung beteiligt waren, fehlen heute jegliche sichere Beweise.
Im alpinen Bauplan und Talfurchennetz war auch unserer Stadt ein ganz bestimmter Standort vorgeschrieben. Wo das Süd-Nord verlaufende Aarequertal zwischen den Bastionen des Gurtens und des Bantigers in die mittelländische Längsfurche mündet, hier wo in jüngster geologischer Zeit der Fluss gegen Westen abgelenkt wurde, sind die uns vertrauten Flußschlingen entstanden, die schon in vorgeschichtlicher Zeit (Latène-Zeit) und bis ins Mittelalter natürlichen Schutz boten.
So ergeben sich mannigfaltige Beziehungen zwischen Geologie einerseits, Geographie und Geschichte andererseits. Der Alpengeologe wird noch weiter beobachten und untersuchen, Hypothesen und Theorien aufstellen müssen, bis ein klares Raum- und Zeitbild des Gebirges vor uns ersteht. Möge es unserer akademischen Jugend vergönnt sein, dieses schöne und ideale Werk weiterhin zu fördern und sich damit auch das Rüstzeug für die Lösung anderer wissenschaftlicher Aufgaben zu schaffen.