reden.arpa-docs.ch Rektorats Reden © Prof. Schwinges
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Die Schweiz zwischen zwei Weltkriegen

Rektoratsrede 1961

Eine Epoche von rund zwanzig Jahren schweizerischen Staatslebens in dieser einen Stunde historisch zu erfassen, zwingt uns zu manchem Verzicht auf Darstellung und auch nur Erwähnung von Erscheinungen, Ereignissen, Taten, Persönlichkeiten, samt ihren Äußerungen und Ausstrahlungen, welche in das Bild des Ganzen gehörten, wenn es um die eingehendere historische Schilderung der Epoche ginge. Wir müssen uns mit Auswahl und mit groben Vereinfachungen begnügen. Da bleibt auch kein Raum für das besondere Unternehmen, allfällige Legenden auf sachlich-historische Weise aufzulösen, wie sie sich um Personen und Vorgänge gebildet haben mögen.

Daß die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen unseres Jahrhunderts für viele von uns zur eigenen Lebenszeit gehört, erschwert in besonderem Sinne die Aufgabe, die wir uns gestellt haben. Die Befangenheit des Zeitgenossen all dem gegenüber, was er selbst miterlebt hat oder doch miterlebt zu haben glaubt, ist eine Tatsache, der sich auch der Geschichtsforscher unterworfen sieht. Das äussere Hemmnis der Unzugänglichkeit von Quellen wird er durch intensive und abwägende Ausschöpfung des Materials, das ihm zur Verfügung steht, vielleicht in etwelchem Masse überwinden können; dem inneren Hemmnis der Befangenheit muss er Tribut zollen, wie sehr er sich auch um Unvoreingenommenheit bemüht.

Doch darf man als Historiker der Pflicht nicht ausweichen, an dem wahren Bild auch der dicht hinter uns liegenden Zeiten zu arbeiten; mag daraus selbst nur Vorläufiges entstehen.

Die Schweiz erlebte den Ersten Weltkrieg vornehmlich als innere Existenzkrise, den Zweiten Weltkrieg als äußere Bedrohung ihrer Existenz als unabhängig regiertes Land.

Im Ersten Weltkrieg mußten größere Energien darauf verwendet werden, den nationalpolitischen Graben zwischen deutscher und welscher Schweiz zu überbrücken und unmittelbar darnach die sozial- und staatspolitische Krise des Landesstreikes zu überwinden, größere Energien, als für den Schutz des Landes gegen außen aufzukommen nötig waren. Im Zweiten Weltkrieg blieb die nationalpolitische Front geschlossen, die sozialpolitische Spannung wesentlich entschärft, wogegen die Wahrung der Unabhängigkeit und die Verteidigung der neutralen Stellung auf militärischem, außen- und pressepolitischem Gebiet zur äußersten Kraftanstrengung zwang. Was beide Kriegszeiten von 1914-1918 und von 1939-1945 in beinahe gleichen Formen zeitigten, war die handelspolitische Auseinandersetzung mit den kriegführenden Gruppen, der Kampf gegen Blockade- und Prisenrecht, welche die mühsam errungenen völkerrechtlichen Sicherungen der Neutralen zunichte zu machen und ihnen durch Aushungerung die Vernichtung androhten.

Aber an diesem Vergleich liegt uns hier nicht so viel. Wir wollen die Schweiz ins Auge fassen, wie sie sich «zwischen» dem Ersten und Zweiten Weltkrieg entwickelte.

Blickt man auf die Literatur zum Thema Schweiz zwischen 1918 und 1939, so fällt einem auf, daß die dreißiger Jahre schon recht gut beleuchtet vor uns liegen, daß aber die zwanziger Jahre ihre adäquate Behandlung noch nicht erfahren haben.

Dies mag zunächst einmal damit zusammenhängen, daß in den dreißiger Jahren ein Sich-Selbst-Entdecken und Sich-Auffangen

einer Nation, unserer kleinen mehrsprachigen Nation, sich vollzog, nach den düsteren Anfängen des Jahrzehnts ein Phänomen, während die zwanziger Jahre nichts als gemeineuropäische Dekadenz aufzuzeigen scheinen, die allerersten Jahre von 1918 bis 1920 ausgenommen. Von 1920 bis 1929/32 herrschte einerseits ein tiefer Lebensüberdruß, bis 1926 steigende Selbstmordziffern, eine weitere Spitze um 1932, zurückgehender Geburtenüberschuß, Antimilitarismus verschiedenen Grades, Pazifismus im Sinne Romain Rollands, dessen Gandhi-Biographie neben Gjellerups «Pilger Kamanita» und neben Dostojewski und Rilke viel gelesen wurde, Liebe zum Nirwana, Sein zum Tode (lange vor Heidegger), Gesang der «Klagesweiber und Spenglerlehrlinge» (nach der Prägung Egon Friedells). Anderseits eine Gier nach materiellem Lebensgenuss, der Tanz über den Gräbern, Alkoholismus, Festseuche, mitten drin das riesenhafte, beinahe groteske, Volksnein zur Vermögensabgabeinitiative von 1922. Eine Atmosphäre der Verdrossenheit oder dann ein grelles Licht expressionistischer Verzückung lag über der Landschaft der Zeit.

Wenn man dies in Anschlag bringt, kann man verstehen, daß das Jahrzehnt der zwanziger Jahre wenig Anziehungskraft ausübte auf die historischen Betrachter. Aber ihre Abstinenz dürfte noch einen weiteren Grund gehabt haben, der in meiner höchst unvollkommenen Charakteristik des Zeitabschnittes sich schon indirekt ankündigt: Die Zerrissenheit des Volkes in verschiedenartig gestimmte und interessierte Kreise und Schichten macht es notwendig, die zwanziger Jahre nicht so sehr von der Politik als von der geistig-künstlerischen Produktion und vielleicht noch mehr von der Konsumation geistiger Güter her zu untersuchen. Hierfür liegen erste literarhistorische und kunsthistorische Ansätze vor, doch steht dies noch ungeordnet nebeneinander.

Das will natürlich nicht heissen, dass nicht auch die dreissiger Jahre nach dieser Seite hin ausgeleuchtet zu werden verdienen; aber ihr Gesicht erscheint von vornherein einheitlicher, weil das Politische sich mit dem Geistesleben wieder enger verbindet und beides auf die Linie der geistigen Landesverteidigung zustrebt — aus der tiefen Verwirrung und Irritierung des Frontenfrühlings und der Arbeitslosigkeitskrise heraus.

Das Ende des Ersten Weltkrieges im Waffenstillstand vom 11. November 1918 wurde in der Schweiz nur mit halbem Ohr vernommen, denn am gleichen Tage fieberte das Land dem vom Oltener Komitee ausgerufenen Generalstreik entgegen, der erst am 14. November, nach wenigen Tagen höchster Spannung, zu Ende ging. Erst hernach, als die Krise im Innern als überwunden gelten konnte, ward man der veränderten Umwelt gewahr und konnte man sich aufatmend der Tatsache zuwenden, dass das Land zwar wirtschaftlich noch in der Zwangsjacke der Alliierten steckte —sie gaben es erst 1920 frei —, dass es innerlich von sozialen und nationalen Gegensätzen wie auch von der Grippeepidemie geschüttelt wurde, dass es von Spionen, Agitatoren und fremden Schreiern überflutet worden war, daß es aber, obwohl angesengt und erschüttert, doch «unser Land» geblieben war, in dem die gleichen Regierungen die Spitzen von Bund, Kantonen und Gemeinden bildeten, die auf Grund eigener Verfassung, eigenen Rechts, und sogar eigenen Vollmachtenrechts, das Land bisher schlecht und recht, und gelegentlich — im Sozialpolitischen —mehr schlecht als recht, regiert hatten. Die politische Unabhängigkeit, die Freiheit im altschweizerischen Verstand des Wortes, war gerettet. Die Freiheit im neueren liberalen Verstand des Wortes war freilich durch die Wirkungen eben jenes Vollmachtenrechts eingeschränkt, aber doch

nicht ausgelöscht; sie rief auch bald nach Entfesselung und kam im Nachkriegsindividualismus zu ungewohnt starker Entfaltung.

Um die Grenzbesetzungskosten zu decken, hatte der Bundesstaat 1915 zum ersten Mal seit seinem Bestehen direkte Steuern zu erheben begonnen und damit in die Zuständigkeit der Kantone eingegriffen. Zwar wurde die sozialistische Initiative auf Einführung des direkten Bundesteuersystems im Juni 1918 vom Volke abgelehnt. Der Föderalismus sah sich doch zurückgeworfen durch die starke Präsenz des Zentralstaates, wie auch in der Sprache der Öffentlichkeit der Begriff des Staates den des Bundes überwog.

Dass somit weite Gefilde der Innenpolitik —Soziales, Wirtschaft, Verkehrswesen, Finanzausgleich, Verhältnis der Nationalitäten zueinander — einer Bereinigung dringend bedurften, war klar. Überdies war unmittelbar vor dem Generalstreik die im Bundesstaat seit 1848 herrschende Partei des liberal-radikalen Freisinns durch die Annahme des Proporzwahlprinzips für die Nationalratswahlen in der Volksabstimmung vom 13. Oktober geschlagen und virtuell bereits entthront worden, so dass das Parteienverhältnis nach Abklärung rief. Eine Woge allgemeiner Reformparolen stieg seit 1917 hoch. Der Ruf nach Totalrevision wurde erhoben. Trotz solcher Dringlichkeit der innern Fragen erzwang nun die Außenpolitik angesichts der in Paris zusammentretenden Friedenskonferenz vorübergehend die Priorität. Dazu zog die Bewegung der Vorarlberger auf Abtrennung von Österreich und Anschluss an die Schweiz die Aufmerksamkeit auf sich. Das von Präsident Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker vermochte sich hierin gegen die Mächtekombinationen mit dem Rumpfstaat Österreich nicht durchzusetzen. Die Schweiz selbst zögerte und hielt an sich.

Die Linie der schweizerischen Außenpolitik in der Aera Motta (d. h. unter der Führung von Bundesrat Giuseppe Motta im Politischen Departement von 1920-1940) ist dank J. R. von Salis 1 und Edgar Bonjour 2 am ehesten bekannt und soll nur in ihren Hauptzügen skizziert werden, damit hernach das Verhältnis zwischen Innen, und Aussenpolitk an einzelnen Punkten noch näher beleuchtet werden kann.

Als Motta 1920 das Politische Departement übernahm 3, waren die Friedensschlüsse von Versailles und St. Germain unterzeichnet und in Kraft. Mit ihnen war die Aufhebung der Neutralität Hochsavoyens und des schweizerischen Besetzungsrechtes entschieden, der Anschluß von Vorarlberg an die Schweiz verhindert, der Gotthardvertrag gegenüber Deutschland kündbar geworden, die Oberrheinschiffahrt dem Belieben Frankreichs ausgeliefert, die unmittelbare Nachbarschaft der Schweiz verändert durch die Rückgliederung des Elsaßes an Frankreich, das als Sieger dastand, durch die Verwandlung Österreichs aus einem Kerngebiet der Habsburger Donaumonarchie in einen föderativ organisierten Rumpfstaat. Italien befand sich in innerer Unrast, die 1922 in die Errichtung der fascistischen Diktatur unter Verschärfung der Irredentapropaganda überging. Deutschland war demokratische Föderativrepublik geworden und suchte und fand den ersten Freund in Sowjetrussland (im Rapallovertrag); die Schweiz hatte gerade mit diesem Staate die Beziehungen abgebrochen. Amerika zog sich, nachdem es den Westmächten den Sieg gesichert, aus Europa zurück und trat dem Völkerbund nicht bei, der doch aus Initiative seines Präsidenten entstand. Großbritannien überließ Frankreich das mitteleuropäische Feld für dessen Bündnisse mit den Staaten des Gordon sanitaire, der zwischen Deutschland und Rußland und gegen beide errichtet worden war.

Politisch schien die Schweiz ans hegemonische Frankreich ausgeliefert, und nur durch die erwähnte Einfügung in die Sicherheitsorganisation des Völkerbundes wurde allmählich ihre Befreiung von Frankreich möglich. Das stellte man sich im allgemeinen nicht vor. Daher wurde Mottas Völkerbundspolitik von rechts und links angefeindet; aber er hielt durch und brachte die Schweiz auch zur Annahme des Status des Internationalen Gerichtshofes im Haag, nachdem Max Huber in der vorberatenden Kommission die Gleichstellung der kleinen und großen Staaten vor dem Gericht erwirkt hatte. Motta schloß Schiedsgerichtsverträge mit den Nachbarstaaten, vertrat auch im Völkerbund die Gleichbehandlung der Großen und Kleinen und die Notwendigkeit der Aufnahme des besiegten Deutschland. Gewiß trachtete er nach den Sympathien der Welt, weil er diese als politische Sicherung für den Kleinstaat auffaßte, aber er wagte Frankreich entgegenzutreten und gegenüber der Sowjetunion als einem Glaubensfeind der bürgerlich-liberalen und auf christlichen Vorstellungen basierenden Demokratie der Schweiz blieb er distanziert. Seiner Initiative war dafür die Wiederzulassung des päpstlichen Nuntius um 1920 zu verdanken.

Der skeptische Albert Oeri 4, der 1920 gegen den Beitritt zum Völkerbund eingetreten war, fand um 1930 im Rückblick, daß sich die Völkerbundspolitik vor allem für die Klein- und Mittelstaaten gut angelassen habe, und daß das Element «Genf» im Verein mit dem Element «Haag» dem feindseligen Element «Versailles» ein wohltuendes Paroli zu bieten vermöchten. (1929 hatte die Schweiz auch den Kellogg-Kriegsächtungspakt unterzeichnet.)

Aber das Blatt wendete sich gleichzeitig mit dem Fühlbarwerden der Weltwirtschaftskrise. Der Mandschureikonflikt 1931 brachte das erste große Versagen des Völkerbundes als einer

Sicherheitsorganisation. Die Abrüstungskonferenz siechte von 1932 bis 1934 dahin. Deutschland unter Hitler verließ den Völkerpool. Italien überfiel Abessinien. Im Sanktionenkonflikt mit Italien offenbarten sich Schwächen der schweizerischen Außenpolitik: Erstens konnte die Trennung von Außenpolitik und Außenhandelspolitik in ihren Auswirkungen nicht aufrechterhalten werden, weil Mussolinis totalitäre Politik den Handelskrieg als Angriff wertete. Zweitens verkannte Motta in seiner Sympathie für das Hauptland seiner Muttersprache das fascistische Doppelspiel gegenüber der Schweiz. Mussolini erklärte Ende 1938 vor dem Großen Fascistenrat, daß die Einverleibung des Tessins vor der Türe stände. Cianos Tagebücher lassen darüber keinen Zweifel 5. Motta war ein Reiter über dem Bodensee. Aber er hatte den Sanktionenkonflikt so realistisch behandelt, als es ihm möglich war. Es lag in seiner Intention, daß die Handelsabteilung die Handelsvertragsverhandlungen unterdessen weitergeführt und das Clearingabkommen zum Abschluß gebracht hatte. Die frühe Anerkennung des Impero einschliesslich Aethiopiens 1936 trug ihm jedoch schweren Tadel auch derjenigen ein, die seine Ablehnung der Sowjetunion als Mitglied des Völkerbundes 1934 als unrealistisch verschrien hatten. Im Mai 1938 erlangte Motta durch subtile Behandlung der Frage die Freisprechung der Schweiz von der Pflicht zu wirtschaftlichen Sanktionen seitens des Völkerbundsrates. Er wusste, daß man im Vorfeld einer neuen Konflagration stand. Kurz vor der letzten Verdüsterung des Horizontes starb Motta im Januar 1940.

Seine Erkrankung resultierte nicht nur aus den außenpolitischen Sorgen; er musste stets auch vor dem Schweizer Parlament die Außenpolitik des Bundesrates vertreten. Man machte ihm das Leben sauer.

In den ersten Nachkriegsjahren unterstand die Aussenpolitik überdies noch der direkten Einwirkung der Volksmehrheit. So in der Volksabstimmung über den Beitritt zum Völkerbund (16. Mai 1920) und in der Annahme der Initiative, welche schon 1913 eingereicht worden war und welche das fakultative Referendum für langfristige Staatsverträge verlangte. Dieses Referendum kam 1923 zum Spiel und brachte das Genfer-Zonenabkommen mit Frankreich zu Fall. Daraus erwuchs der Zonenhandel, der erst 1933 vor dem Gerichtshof im Haag zu Ende ging. (In der Völkerbundsabstimmung hatte die welsche Schweiz über die Mehrheit der deutschen Schweiz den Sieg davongetragen; in der Verwerfung des Zonenabkommens schlug die deutsche Schweiz zurück.)

In der Verwerfung der sogenannten Zollinitiative von 1923 erhielt die Außenhandelspolitik einen Freibrief.

Da das Zonenabkommen (bis zum Spölvertrag der fünfziger Jahre) der einzige vom Referendum angefochtene Staatsvertrag blieb, beschränkte sich von hier (1923) an der Einfluß der Demokratie in außenpolitischen Fragen auf die Stellungnahme der Parlamentarier, der Zeitungen und Parteigremien. Das verdichtete sich erst in den späteren dreißiger Jahren zu einheitlicherem Druck, dem der Bundesrat im Sanktionenhandel trotzte, von dem er sich hingegen bei der Wiedererlangung totaler Neutralität antreiben liess.

Viel deutlicher war die innenpolitische Entwicklung von den äusseren Ereignissen und von den außenpolitischen Rücksichten beeinflußt.

Der bürgerliche Block der zwanziger Jahre bildete sich deutlich unter dem Mißtrauen gegenüber der außenpolitischen Haltung der Sozialdemokratie. Die «Roten» wurden alle in denselben Topf geworfen und ihrer antimilitaristisch-klassenkämpferischen Programmatik zufolge als antinational und heimlich

immer noch mit dem bolschewistischen Rußland verschworen betrachtet.

Der nationalen Abwehr und damit außenpolitischer Zielsetzung dienten sowohl die Ausländergesetzgebung der zwanziger Jahre wie vor allein die verschiedenen Ansätze der zwanziger und dreißiger Jahre zur Staatsschutzgesetzgebung. Das Volk verwarf die letzteren jeweils. Doch über Notrechtsmaßnahmen (ab 1933) wurde der Tätigkeitsbereich und auch die Organisation der Bundespolizei fortwährend erweitert. Das Schweizerische Strafgesetzbuch, vom Volke im Jahre 1938 knapp angenommen, schuf erst ein vom Volke legitimiertes Staatsschutzrecht.

Die Fronten- und Gruppenbildungen um 1932/33 hatten zwar ihre einheimischen Wurzeln. Aber die Entwicklung des Fascismus in Italien und dann besonders der Hitlerherrschaft in Deutschland wirkten beflügelnd auf ihre Tätigkeit. Sie führte umgekehrt fast wider Willen die Bürgerlichen und die Sozialdemokraten im Abwehrkampf zusammen. So war auch die entscheidende Wendung der Sozialdemokratie von 1935 zur Bejahung der Landesverteidigung der aussenpolitischen Abwehrstellung gegen Hitlerdeutschland zuzuschreiben.

Überflüssig, zu sagen, das auch die Militärfragen stets unter dem Einfluß der Außenpolitik standen, die Aufrüstung der dreißiger Jahre, ihre Finanzierung — man denke an die hoch überzeichnete Wehranleihe von 1936! —, die Schaffung stehender Grenztruppen.

Letztlich war primär aus Abwehr äusserer Kräfte erwachsen alles, was unter dem Zeichen der geistigen Landesverteidigung von 1934 bis zur Erhebung des Romanischen zur Nationalsprache im Jahre 1938, zur Bildung der Arbeitsgemeinschaft Pro Helvetia und zur richtungsweisenden bundesrätlichen Botschaft über staatliche Kulturpflege vom Dezember 1938 vorgekehrt ward. Aber hierbei zeigte sich's, dass Natur weder Kern noch

Schale hat, daß Äusseres und Inneres verschmolzen, dass die entscheidende Kraft gegen außen nur aus dem Innern geschöpft werden konnte, wenn dem dämonischen Anprall des Feindlichen Widerstand geleistet werden sollte. Daß dies auch Spannungen, die vom einzelnen ausgetragen und ertragen werden mußten, erzeugte, davon wüsste die Pressekontrolle zu erzählen, welche den Nervenkrieg um die für uns lebenswichtige Trennung von Neutralitätsrücksicht und freier Gesinnungsäußerung zu führen hatte.

Nun fragen wir nach den Specifica der schweizerischen Innenpolitik in der Zwischenkriegszeit.

In seiner Geschichte der Schweizerischen Kreditanstalt von 1956 glaubt W. A. Jöhr feststellen zu können: «Während in der Epoche von 1914 bis 1929 die politischen Vorgänge in hohem Maße die wirtschaftliche Entwicklung bestimmten, verhielt es sich in der Periode von 1929 bis 1939 umgekehrt: das wirtschaftliche insbesondere das konjunkturelle Geschehen vollzog sich zunächst wenig beeinflußt von der Politik, übte dann aber einen entscheidenden und unheilvollen Einfluß auf die politische Entwicklung aus.» Und W. A. Jöhr verweist dann auf die starke Abhängigkeit der schweizerischen Wirtschaftsdepression der dreißiger Jahre von der allgemein weltwirtschaftlichen Entwicklung 6.

Dies Urteil des Wirtschaftshistorikers will sich nicht so leicht zusammenreimen mit den Beobachtungen, welche die Betrachtung der innenpolitischen Entwicklung der Schweiz vermittelt. Klang nicht am Ende der zwanziger Jahre — um 1928 — die Klage über Verwirtschaftlichung der Politik am lautesten, da Eduard Fueters 7 Geschichte der Schweiz seit 1848 und Emil Dürrs 8 Untersuchungen über die neuere Parteipolitik erschienen?

Wurde nicht aus wirtschaftlichen Rücksichten 1928 das puritanische Spielbankenverbot von 1920 aufgehoben und für einen Zweifränkler-Maximaleinsatz das Glücksspiel in den Fremdenorten wieder erlaubt? Hatte nicht das Wirtschaftsdenken die Oberhand bei der Verwerfung des Getreidemonopols des Bundes von 1926 wie bei der Getreideordnung von 1929?

Und anderseits: waren die Staatsschutzpolitik, die Militär- und die Pressepolitik der dreissiger Jahre und Totalrevisionsbestrebungen der Fronten und Bünde nicht primär politisch und nur indirekt wirtschaftlich bestimmte Vorgänge?

Im Bergbauernproblem, das sich 1925 der Bundespolitik in Form der Motion Baumberger aufdrängte, war freilich die sozial- und agrarpolitische nicht von der nationalpolitischen Frage zu trennen. Und für die dreißiger Jahre ist die allmächtige Präsenz der Wirtschaftskrise im Hintergrunde alles Handelns und Tuns der staatlichen Behörden nicht zu leugnen. Aber von der Fernwirkung der Pfundabwertung von 1931 auf die französische und schweizerische Frankenabwertung vom September 1936 abgesehen, erscheint doch alles staatliche Wirken auf dem Felde der Wirtschaft durch das Sieb des politischen Entscheides hindurchgegangen. So auch das schweizerische Bankengesetz von 1934, das natürlich durch die vorausgegangenen Bankkräche veranlasst war, das aber gerade die politische Kontrolle über diesen Zweig der Wirtschaft herzustellen versuchte.

Die Erörterung des Prioritätsverhältnisses von Politik und Wirtschaft mutet ein wenig an wie die Frage nach der Priorität von Huhn und Ei. Als Historiker wird man sich mit der Feststellung bescheiden müssen, daß Politik und Wirtschaft —seit langem — stark ineinander verfilzt erscheinen, und dass die Frage besser gestellt wird, ob und wie und wann sich der politische Wille über die wirtschaftliche Grundbindung hinauszuschwingen trachtete.

An dieser Stelle ist der Blick auf die schweizerischen Parteien zu richten.

Die schweizerischen Landesparteien hatten sich seit 1919 mit dem Proporzwahlsystem zurechtzufinden. An Wichtigkeit für den politischen Entscheid der Behörden waren die Parteien durch die Spitzenverbände der Wirtschaft überschattet. Aus der Resignation gegenüber dieser Tatsache waren Äußerungen wie jene von 1928 zu verstehen: «Le parti politique a vécu comme tel! » (Pierre Favarger)9. Aber für die politische Meinungsbildung und die Wahlvorbereitungen blieben die Parteien ein tragendes Element der schweizerischen Demokratie, und es war zu früh, eine Parteiendämmerung anzukündigen. Aus der Reformstimmung, welche das Buch «Die Neue Schweiz» von Leonhard Ragaz 1918 zu erzeugen vermochte, ging zwar ein «Bund für Reformen der Übergangszeit» hervor, der so etwas wie eine überparteiliche Partei sein wollte. Doch gedieh er nicht weit. Im Frontenfrühling von 1933/34 ging es wohl gegen die historischen Parteien, aber nur in vereinzelten Gruppen gegen die Partei als politisches Organ. Ähnlich 1940, als die Parole «Widerstand und Erneuerung» auf Überwindung überkommener Parteigruppierungen abzielte. Stets setzten sich die «alten» Parteien als die Stärkeren durch. Wenngleich nicht ungeschoren.

Am Anfang der Epoche steht die Entmachtung der Freisinnigen Partei bei den Nationalratswahlen von 1919. Immerhin blieb sie noch bis 1935 die stärkste Fraktion. Doch musste sie sich zu Kompromissen mit anderen Parteien herbeilassen, um in der Gesetzgebung Einfluß zu behalten. Dasselbe mußten auch die übrigen Parteien tun: die Katholische (konservative) Volkspartei, die endlich ihrer Stärke entsprechend im Nationalrat vertretene Sozialdemokratische Partei, die neue Fraktion der Vertreter kantonaler Bauernparteien und die kleineren Gruppen der (konservativen) Liberal-Demokraten und der zürcherisch-ostschweizerischen

Demokraten. Aus der Nötigung zum politischen Kompromiss wurde indes bald allzu selbstverständlich eine Tugend gemacht. Das brachte das Parlament und die Porporzparteien gegen Ende der zwanziger Jahre in Verruf und half mit, die zornige Reformstimmung zu erzeugen, aus welcher die kompromißfeindlichen Fronten hernach emporstiegen.

Daß sich neue Gruppen relativ leicht bilden und in Szene setzen konnten, war die zweite Hauptwirkung des Proporzsystems. 1920 bildeten sich die Kommunistische Partei und die Evangelische Volkspartei, ideell in großartigem säkularem Gegensatz stehend, als Parteien nur Randexistenzen. In den dreißiger Jahren machte sich die Nationale Front zur Partei, gefolgt von den Jungbauern und dem Landesring der Unabhängigen. Die Geschichte dieser Gründungen kann hier nicht näher verfolgt werden. Die Parteizersplitterung würde die Frage der Programmatik dieser Gruppierungen aufwerfen und insbesondere das Verhältnis der Parteipraxis zum Parteiprogramm. Trotzdem die Soziologen die Programme der Parteien als bloße propagandistische Verlautbarungen beiseite schieben, glaube ich als Historiker den Gehalt an Leitideen, der in der Auseinandersetzung um Programmpunkte in den Parteien und zwischen ihnen vor sich geht, nicht gänzlich übersehen zu dürfen.

Freilich war für die Haltung der Parteien im politischen Kampf und für die Bewegungen in den Wählermassen gewiß von grösserer Bedeutung, was sich seit Beginn des Jahrhunderts im sozialen Untergrund abspielte: vor allem die Herausbildung einer neuen Volksschicht von Angestellten und niederen Beamten und Angehörigen von Dienstleistungsberufen, die als Verkäufer ihrer Arbeitskraft der Linken anzugehören schienen und auch ihren sozialpolitischen Verstören Sukkurs leisteten, die aber kleinbürgerlich-individualistisch-kapitalistisch eingestellt blieben. Sie wurden von links und von rechts umworben. Eine

Verlegenheit für marxistische Parteidogmatiker wie auch für bürgerliche Liberale. Fritz Marbach machte frühzeitig auf dieses Phänomen aufmerksam 10. Eine andere Verschiebung von politischem Gewicht war der Rückgang des verhältnismäßigen Anteils der Bauernbevölkerung an der Gesamtbevölkerungsziffer; nach dem Ersten Weltkrieg war sie auf ein Viertel zurückgegangen.

Wenn solche Vorgänge im «Unterbau» das Parteileben besonders stark bestimmen mußten, so darf man an der Einwirkung politischer Leitideen auf die Krise der Demokratie und des Parteiwesens zu Beginn der dreissiger Jahre nicht vorbeigehen. Die Idee des Führerstaates, den Kult des starken Mannes, lassen wir dahingestellt sein, gleich wie die unterschichtigen ressentimentgeborenen Leitbilder des Antisemitismus (der etwa von der Zeitung «Schweizerbanner» zusammen mit dem Kampf gegen Freimaurer, Parteien, Warenhäuser, «Bonzen» und Doppelverdienertum u. a. schon seit der Mitte der zwanziger Jahre von Zürich aus verbreitet wurde)11, des Antijesuitismus und dergleichen. Die Idee des Korporativstaates, des Ständestaates, einerseits und die Idee einer integralen Planwirtschaft anderseits, welche den Revisionsversuchen von rechts und links im Jahre 1935 zu Gevatter standen, sind demgegenüber an sich von höherer Dignität. Es kommt dazu, dass die eine den politischen Katechismus des Katholizismus vertrat und soeben in der Enzyklika «Quadragesimo Anno» von 1931 repräsentative Formulierung erfahren hatte, daß die andere eine Gegengewalt, den Marxismus in revisionistischer Gestalt, verkörperte. Beiden stand immer die liberale Idee gegenüber.

Über die Kriseninitiative, welche die schweizerische Föderativdemokratie auf eine in ihrem Wesen zentralistische und dirigistische soziale Demokratie umbiegen wollte, wurde am 2. Juni 1935 nach schärfstem Abstimmungskampf abgestimmt. Der

knappe Sieg des bürgerlichen Lagers zwang die Sozialdemokratische Partei, den Gewerkschaftsbund und die übrigen Initianten, zur Milderung des Programms. Es entstand die «Richtlinien-Bewegung», welche den sozialen Umbau und Ausbau des Staates in verschiedene Etappen aufgliederte. Es folgte 1937 die revolutionäre Tat des Abschlusses des Arbeitsfriedens in der Metall- und Uhrenindustrie, der die Freiwilligkeit einer Vertragsbindung über die staatlich-dirigistische Planwirtschaft stellte.

Die Initiative auf Totalrevision der Bundesverfassung erlitt am 9. September 1935, also wenige Wochen nach der Kriseninitiative, eine wuchtige Niederlage vor dem Volk. So blieb die überkommene liberale Demokratie auch gegenüber dem Revisionsversuch von rechts erhalten.

Warum aber sprechen wir von einem Revisionsversuch von rechts? Die Nationale Tatgemeinschaft vom 1. August 1934 umfaßte die «Nationale Front», die schweizerischen Jungkonservativen (sekundiert von der katholischen Aktion), die Gruppe «Aufgebot» unter Führung von Jakob Lorenz, die gewerblich-mittelständische «Neue Schweiz»; diese Tatgemeinschaft trug den Hauptkampf für die Bundesrevision aus. Die Jungliberalen hatten 1933 die Parole zuerst ausgegeben und fühlten sich verpflichtet mitzufechten, nachdem die «Nationale Front» mit der Revisionsinitiative vorgeprellt war. Die welschschweizerischen Liberal-Demokraten (im Unterschied zu den Basler Liberalen) und auch welsche Radikale schlossen sich an. Aber entscheidend war das Bündnis zwischen «Nationaler Front» und Jungkonservativen welche von der Mutterpartei, der Katholisch-Konservativen, Unterstützung empfingen. (Carl Doka hatte im Mai 1933 schon festgestellt, «dass vieles von dem, was klar oder unklar in den ,Fronten' steckt, längst schon Gedankengut und Forderung der Katholiken, vor allem der schweizerischen katholischen Volkspartei ist. Wenn es je eine historische Stunde gab, dann

heute...») — Und Rolf Henne im Oktober 1933 spielte den Ball zurück: Die ,Nationale Front' stehe «durchaus auf dem Boden eines organischen Ständestaates» ... «Wenn ich die Positionen der katholischen Volkspartei und der Nationalen Front überblicke, so stelle ich eine weitgehende Übereinstimmung der Standpunkte fest» 12.

Diese Übereinstimmung der Standpunkte, das ist gleich beizufügen, war indessen nur eine scheinbare. Denn die von der Enzyklika «Quadragesimo Anno» umschriebene korporative Ordnung war eine Sozialordnung, welche die Gesellschaft mit neuem Sinn durchdringen wollte für die natürliche körperschaftliche Gemeinschaft der Familie und der kleinen und größeren Lebensgemeinschaften im Beruf, welche Unternehmer und Arbeitnehmer im gleichen Körper zusammenfassen. Eine zwangsweise öffentlichrechtliche Organisation der Körperschaften war nur von unten herauf denkbar 13. Es ist charakteristisch, dass die katholisch-konservative Sozialpolitik nach dem Scheitern der Totalrevision sich auf den Familienschutz warf und ihn auch am Ende des Zweiten Weltkrieges in der Bundesverfassung zu verankern vermochte.

Was dagegen die Nationale Front unter korporativer Ordnung verstand, war im fascistischen Italien als hierarchische Zwangsordnung von oben herab bereits in Szene gesetzt und mit der bezeichnenden Inkonsequenz behaftet, daß die untersten Körperschaften in Unternehmer- und Arbeiterorganisationen einander gegenübergestellt waren. Die Spitze bildete der Duce, der Führer 13. Nach dem Scheitern der Totalrevision widmete sich die Nationale Front der Initiative für ein Verbot der Freimaurerlogen, erlitt aber damit 1937 vor dem Volk ebenfalls ein deutliches échec.

In der welschen Schweiz wirkte die korporative Idee teils in der Erneuerung und Stärkung föderalistischer Motive weiter,

teils in Vorstößen für die Gesamtarbeitsverträge und ihre Obligatorisch-Erklärung. Sie konnten an ältere genferische Ansätze für eine öffentlichrechtliche Sicherung der Berufsgemeinschaften anknüpfen 14.

Ein letztes Wort im Zusammenhang der Totalrevisionsfrage von 1935: Die katholisch-konservative Befürwortung der Totalrevision hatte auch ihre taktisch-konfessionspolitische Seite. Auf dem Wege einer Teilrevision war die Beseitigung der Kulturkampfartikel in der Bundesverfassung bei der Mehrheit des Schweizervolkes kaum zu erreichen. Vielleicht aber im Zuge einer Totalrevision? Eine solche forderte die Partei schon seit Ende des Ersten Weltkrieges 15.

Die Schweiz der dreißiger Jahre wollte keine Umkrempelung der öffentlichen Ordnung und versagte so auch schon dem rein formalen Ansatz der Frage: Revision der Bundesverfassung oder nicht? ihre Zustimmung. Die katholische Innerschweiz verwarf ebenfalls. Sie fühlte wohl, dass eine Verfassungsrevision, die dem Zug der Zeit folgen würde, das Heiligtum ihres Föderalismus bedrohte.

Seit dem Ersten Weltkrieg sahen sich die Kantone genötigt, den Wettlauf um den Ausbau des sozialen Wohlfahrtsstaates und damit auch des kantonalstaatlichen Beamtenapparates mitzumachen. Der Bund erzwang beispielsweise Mitte der zwanziger Jahre die Errichtung kantonaler Arbeitsämter. Die föderalistische Reaktion war gering. Das föderalistische Problem der Nachkriegszeit stellte sich von außen her mit der Frage des Völkerbundsbeitritts.

Erst die dreißiger Jahre brachten ein starkes Wiederaufleben föderalistischer Denkweise. Diese vielschichtige Erscheinung der Renaissance des Föderalismus hat verschiedene Wurzeln,

die hier nur genannt, nicht charakterisiert werden können: die Heimatschutzbewegung, Gonzague de Reynolds Buch von 1929 «La democratie et la Suisse» 16 und die Bewegung «Ordre et tradition» in der Waadt, die Enzyklika Quadragesimo Anno von 1931, die traditionalistisch eingestellte «Eidgenössische Front» des Frontenfrühlings, die mit der Nationalen Front nicht zu verwechseln ist, der christliche Traditionalismus Max Hubers 17, die abschreckende Wirkung des rücksichtslosen nationalsozialistischen Unitarismus, der 1934 die «Länder» der Weimarer Republik durch «Gaue» ersetzte; die Besinnung auf den geschichtlichen Aufbau der Schweiz wurde sowohl durch das Erlebnis des Krisennotrechtes des Bundesstaates wie durch die Angriffe der nationalsozialistischen Presse auf die übervölkische Staatsnatur der Schweiz angeregt. Schließlich wuchsen diese Tendenzen in der geistigen Landesverteidigung zusammen. Im gleichen Jahr, da diese in Philipp Etters bundesrätlicher Botschaft ihre umsichtige Formulierung fand, bäumte sich zum letzten Mal der altüberkommene antiunitarische Föderalismus auf in der Campagne gegen das Eidgenössische Strafgesetzbuch. Er unterlag. Die Landesausstellung von 1939 widerspiegelte die neue föderalistische Sehweise.

Diese neue Sehweise last sich etwa durch Max Imbodens Formulierung 18 verdeutlichen:

«Föderalismus ist nicht die Proklamation des Vorrechtes der Kantone oder der Gemeinden, Föderalismus ist ein Ordnungsprinzip —ein Ordnungsprinzip, das die lokalen Körperschaften unter größtmöglicher Wahrung ihrer Selbständigkeit als tragende Glieder in eine Einheit höherer Ordnung einfügt — ein Ordnungsprinzip, das in einem gerechten Ausgleich dem Starken und dem Schwachen, dem weiteren und dem engeren Verband sein Recht gibt.»

Nun, da die Außenpolitik und einige Felder der innenpolitischen Entwicklung der Schweiz in der Zwischenkriegszeit beleuchtet worden sind, soll zum Schluß versucht werden, die Gehalte jener Epoche aufzuzeigen, die über sie hinausweisen und ihren Charakter als Inkubationszeit oder auch nur als Übergangszeit ins Licht stellen.

Daß wir hier nicht auch eine umfassendere Bilanz des kulturellen Lebens vornehmen können, möge verziehen werden. Nur einige Hinweise seien gegeben:

— wie sich schweizerische evangelische Theologie über das Mass des Landeskirchentums hinausschwang, zuerst in Leonhard Ragaz, und wie sie hernach in Karl Barth und Emil Brunner die Pole einer Auseinandersetzung von weiten Proportionen über göttliche Gnade und Gottebenbildlichkeit des Menschen erstehen liess 19;

—wie die Frauenemanzipationsbewegung aufkam, die Frauenfrage und die Frauenstimmrechtsfrage diskutiert wurden;

— wie die Psychologie in Carl Gustav Jung unter Auseinandersetzung mit Freud und Adler ein neues großartiges Bild der menschlichen Seelenstruktur erschuf;

—wie sich schweizerische Musik mit Othmar Schoeck, Arthur Honegger, Willy Burkhard und Frank Martin zur Führung im europäischen Konzert erhob;

—wie ein selbstkritischer Geist neu auflebte, und im «Rufer in der Wüste» von Jakob Bosshart um 1921 die Verlorenheit des sittlichen Individuums in der schweizerischen Welt anzeigte, um 1938 jedoch den «Schweizerspiegel» von Meinrad Inglin hervorbrachte, der den ganzen, den reifen schweizerischen Menschen zum Leben erweckte;

— aber auch wie Jakob Schaffner zuerst die Schweizer aus der «kümmerlich und frei» befundenen Schweizerkarte heraus zur wahrhaft empfundenen Souveränität, zum Marsch in die

historische Größe anspornen wollte, und dann an der Heimat verzweifelte, weil sie den geistigen Menschen zur ewigen Opposition zu verurteilen schien, und der schließlich hinüberging auf die andere Seite, von wo es kein Zurück in die unbefangene demokratisch bestimmte Schweizer Wirklichkeit gab 20.

Es ist die Zeit, da sich die Schweiz bereit fand (in ihrer Volksmehrheit), die integrale Neutralität dem Völkerbund, als einem Experiment kollektiver Sicherheitsorganisation, zum Opfer zu bringen, sich auf militärische Neutralität zu beschränken, um damit vor allem sich selbst, aber auch weiten Teilen der übrigen Menschheit die Chancen auf Sicherung des Weltfriedens gegen irgendwelche Angreifer zu erhöhen, um ein kleines zu erhöhen, wie es ihrem geringen Gewicht im Völkerkonzert entsprach. Sie musste zur vollständigen Neutralität zurückkehren, als die Chancen offen verspielt waren. Daran festzuhalten, war dann auch 1945 gegenüber der Uno gegeben.

Eine intelligent und geschmeidig geführte, von Rücksichten auf die Volksmeinung wenig geplagte Außenhandelspolitik rang, solange es die Verhältnisse der wirtschaftlichen Umwelt zuließen, um Handelsverträge — wenn sie auch nur kurzfristig sein konnten, waren sie doch mit der Meistbegünstigungsklausel ausgestattet — und schaltete hernach, als die harte Autarkiepolitik der Handelspartner dies notwendig machte, elastisch auf die massiveren Kampfmethoden der Kontingentierungs-, Kompensations- und Clearingabkommen um. Dies geschah auf der Basis einer möglichst weitgehenden Getrennthaltung von Außenhandel und Außenpolitik und ohne Preisgabe einer grundsätzlichen Ausrichtung auf Freihandel 21. Im Sanktionenkonflikt mit Italien zerbrach diese Voraussetzung. Dennoch kämpfte die schweizerische Handelspolitik auch im Zweiten Weltkrieg um

Befreiung von lebenswichtiger Ein- und Ausfuhr vom politischen Diktat der fremden Blockadegesetze.

Es ist eine Zeit, da zwei Wirtschaftskrisen überwunden wurden, die sogenannte Valutakrise der ersten Nachkriegsjahre, und die weit schärfer ins Fleisch der einheimischen Wirtschaft einschneidenden Auswirkungen der grossen Weltwirtschaftskrise ab 1929/30, die besonders von 1931 bis 1936 die wichtigsten schweizerischen Wirtschaftszweige lahmzulegen drohte, mit zunehmenden Arbeitslosenmassen die soziale Lage belastete. Sie wandelte sich teils unter der neuen Rüstungskonjunktur teils unter Ausnützung der Herabsetzung des Wechselkurses des Schweizer Frankens im September 1936 zum Zustand der Vollbeschäftigung um 1939. Sie hinterließ die wichtige Erfahrung, daß produktive Arbeitsbeschaffung das bessere Krisenbekämpfungsmittel ist als Ausrichtung des Stempelgeldes, als Spar- und Besoldungsabbaumaßnahmen.

Der Ausbau des Sozialstaates wurde anfänglich unter dem Eindruck des Generalstreiks von 1918 rasch vorangetrieben, der «sozialpolitische Galopp» von 1918 bis 1920 22 (Fabrikgesetz mit 48-Stundenwoche, Regelung der Arbeitszeit der Eisenbahner, Errichtung eines schweizerischen Arbeitsamtes, nachdem ein umfassender angelegtes Gesetz über das Arbeitsverhältnis 1920 knapp vom Volk verworfen wurde). Noch reichte der sozialpolitische Atem aus zur verfassungsmäßigen Begründung des Prinzips der Alters- und Hinterbliebenenversicherung und der Ermöglichung einer Invalidenversicherung. Dann stockte diese Entwicklung des Bundesstaates. Das erste AHV-Gesetz von 1931, eine Lex Schultheß, ward abgelehnt. Erst 1947 fand die AHV als verspätetes Sozialwerk Einlaß in die schweizerische Volksgemeinschaft, zu gleicher Zeit, da die altüberkommene Handels- und Gewerbefreiheit sich eine lang schon vorbereitete massive Einschränkung ihres Geltungsbereiches gefallen lassen musste.

Die Beratung der neuen Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung setzte schon in den frühen dreißiger Jahren ein, von Bundesrat Schulthess, dem Dirigenten der schweizerischen Wirtschaftspolitik von 1912 bis 1935, selbst gefordert.

Es gehört zum Bild der Epoche, daß es möglich wurde, daß Sozialdemokraten, die noch die Klassenkampfparole und die Antimilitarismusformel gemäss Parteiprogramm von 1922/24 zu vertreten hatten, dem Wehrkredit und den Armeegesetzen ebenso zustimmten wie die bürgerlichen Kapitalisten und so den Weg zur Kooperation und Partnerschaft statt zum Klassenkampf fanden, nicht ohne Mühe und politisch-psychologisch bedingte Rückschläge, die auf beiden Seiten eintraten und noch 1939 die Aufnahme eines Vertreters der Sozialdemokratie in den Bundesrat vereitelten. Erst 1943 wurde dies letztere durchgesetzt, nachdem schon 1929 die Linkspartei zur Koalition bereit gewesen wäre. (Zum vorläufigen Ende kam diese Entwicklung in den Bundesratswahlen von Ende 1959 mit der Proporzformel 2:2:2:1.)

Es ist eine Zeit, da sich die überlieferte Demokratie von extremistischen Strebungen, von Frontenfrühling, Kriseninitiative und Totalrevisionskampf in Frage gestellt sah; eine Zeit, die ein neues Vollmachtenregime der Landesregierung erstehen liess; eine Zeit, die doch weder den Rechtsstaatsgedanken 23 noch die angestammte Demokratie preisgab, sondern — wenn auch auf schmaler Spur und mit Rückschlägen —die Bemühungen um Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit weiterführte, die Dringlicherklärung von Bundesbeschlüssen bremste und erschwerte und schließlich die Demokratie in altgewohnten Formen, wenn auch um manche Furche im Antlitz reicher, durch alle Fährnisse hindurchrettete.

Auf diesem Wege bildete einen Höhepunkt der Maueranschlag vom 18. April 1940, in welchem sich uralte demokratische

Erziehung des Schweizer Bürgers und militärische Notwendigkeit der Stunde die Hand reichten: Jeder Schweizer Soldat handelt auf eigene Faust 24 ! Die Proklamation des «Widerstandsrechts» in neuer Form, die ein Vertrauen von oben nach unten, zum Bürger, ausdrückte, das unter den europäischen Nationen seinesgleichen suchte.

Es ist die Epoche, die mit kalter Betonung des Staatsbegriffs begann und die mit der erstaunlichen Wiedergeburt eines geläuterten Föderalismus und mit vertieftem Verständnis für den föderativen Aufbau des schweizerischen Staates endigte. Ein Föderalismus überdies, der in Verbindung mit kluger Weitherzigkeit gegenüber nationalen Minderheiten sich zentripetal zeigte oder der jedenfalls den Bundesstaat nicht blindlings von sich stieß, sondern der sich ihm als kritische, aber in der Absicht konstruktive Opposition einbaute.

ANMERKUNGEN