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DAS BILD DES AMERIKANISCHEN MENSCHEN

JAHRESBERICHT 1960/61

Druck: Art. Institut Orell Füssli AG, Zürich

I.
FESTREDE
DES REKTORS PROFESSOR DR. HEINRICH STRAUMANN
gehalten an der 128. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 28. April 1961

Das Bild des amerikanischen Menschen

Einige Jahre vor dem Ausbruch der amerikanischen Revolution schrieb ein damals in der literarischen Welt nahezu unbekannter, nach der Neuen Welt ausgewanderter Franzose, Hector St. John de Crèvecoeur, einen Aufsatz mit dem Titel What Is An American? In den fast zweihundert Jahren, die seither verflossen sind, ist diese Frage nach der Eigenart des Amerikaners nie wieder zur Ruhe gekommen. Es gibt unzählige Antworten darauf —Antworten, die in ihren unüberbrückbaren Widersprüchen beispielhaft sind für die scheinbare Unmöglichkeit, einen Nationalcharakter zu definieren, und es zunächst geraten sein lassen, solche Versuche aufzugeben. Dabei drängt jedoch unsere Zeit mehr denn je auf eine Beantwortung. In der gegenwärtigen Weltlage hängt zu viel von der richtigen Einschätzung der Wesensart eines fremden Volkes und seiner führenden Persönlichkeiten ab, besonders wenn es sich um einen Machtbereich wie den der USA handelt, als daß wir es bei dem Verzicht bewenden lassen könnten. Wenn nur schon die Natur der Antinomien erkannt wird und eine Interpretation zuläßt, ist etwas gewonnen.

Es wird allerdings notwendig sein, die Fragestellung entschieden einzugrenzen. Das Problem ist, wie man weiß, von sehr vielen Wissenschaften angegangen worden. Politische, soziologische, wirtschaftstheoretische, verfassungsrechtliche, kulturhistorische und ideengeschichtliche Ausgangspunkte sind vielleicht die häufigsten. Hiezu kommen die zahlreichen journalistischen Beiträge all derer, die von einer Reise nach den USA ihre Eindrücke mitzuteilen sich gedrängt fühlen und deren Darstellungen mehr von

Zufälligkeit als von Zuverlässigkeit bestimmt sind, aber kraft der gewandten Formulierung oft wesentliche Einflüsse ausüben. Und schließlich gibt es jene Versuche, mit mehr oder weniger witzigen Aperçus schwierige Sachverhalte zu überspielen. So weiß man von einer tiefenpsychologischen Deutung, wonach der amerikanische Mensch als ursprünglicher Emigrant dadurch determiniert sei, daß er sein Vaterland preisgegeben, somit seinen Vater verleugnet habe und deshalb gleichsam an einem nationalen Mutterkomplex leide — oder von einer ethnologischen, wonach die Amerikaner die Wesensart der von ihnen überwundenen Ureinwohner, der Indianer, anzunehmen versuchten, statt dessen aber tatsächlich eher die der Neger übernommen hätten.

Zudem ist nicht zu übersehen, daß beinahe für jedes Land und Volk zu jeder Feststellung einer Eigenschaft auch die gegenteilige möglich ist. So gelten wir Schweizer im Ausland im allgemeinen als ehrlich und ordnungsliebend. Wenn es aber an die Angaben im Steuerformular oder an die Einhaltung von Verkehrsvorschriften geht, scheint es auch bei uns weder mit der Ehrlichkeit noch der Ordnungsliebe sehr wohlbestellt zu sein.

So sei denn heute ein anderer Weg beschritten. Es soll hier in dieser kurzen Zeit der Versuch unternommen werden, das Amerikanische als menschliche Eigenschaft auf Grund der von den großen amerikanischen Schriftstellern erstellten Charaktere und ihrer Problematik herauszuarbeiten. Dabei kann allerdings von Anfang an eine Eigentümlichkeit festgestellt werden, die uns erheblich zu denken gibt, nämlich die fehlende Analogie zu andern literarischen Menschenbildern. Ein Uli der Knecht und ein Martin Salander sind nur in der Schweiz vorstellbar, ein Wilhelm Meister kaum anderswo als in Deutschland, ein Julien Sorel nur in französischem Milieu, ein Mr. Pickwick nur in England. Ganz anders steht es mit den Amerikanern. Kapitän Ahab aus Moby Dick könnte gerade so gut ein Deutscher sein, Handlung und Personen des Scharlachroten Buchstabens von Hawthorne lassen sich fast so gut auf dem Hintergrund einer schweizerischen Dorfgemeinschaft denken, Poes Gestalten sind mehr in Frankreich und in Italien zu Hause als in Amerika, Tom Sawyer ist als Schuljunge

schlechterdings in der westlichen Welt beheimatet. Und solches hört mit dem zwanzigsten Jahrhundert keineswegs auf. Faulkner, Hemingway, O'Neill, Thomas Wolfe und Thornton Wilder haben eindrückliche Charaktere gestaltet, aber nur vereinzelt ließe sich sagen, daß sie lediglich in Amerika und nirgendwo anders vorstellbar wären.

Das muß wohl schon etwas heißen. Zunächst bestünde die Möglichkeit, die Arbeit der amerikanischen Schriftsteller als a-typisch zu erklären, dergestalt, daß sie sich nicht um die Darstellung der von uns zunächst hypothetisch angenommenen amerikanischen Eigenschaften bemühen. Angesichts der sonst insgesamt recht getreuen Nachbildung der amerikanischen Wirklichkeit darf jedoch dieser Schluß wohl kaum gezogen werden. Es ist festzuhalten, daß in der Unterhaltungsliteratur, im Film, im Fernsehen und im amerikanischen Volkslied —kurzum in dem, was man in Ermangelung eines bessern Ausdrucks als Volkskunst bezeichnen könnte, es einen spezifisch amerikanischen Helden durchaus gibt, und er ist all denen, die sich gelegentlich einen Wildwest- oder Gangsterfilm zu Gemüte führen, wohl bekannt. Tatkräftig aber geduldig, schweigsam aber entschlossen, dem Streite abgeneigt aber von grimmiger Energie erfüllt, wenn es anzutreten gilt, in Herzensangelegenheiten ungeschickt aber zuverlässig, zurückhaltend aber hilfsbereit, hart aber gerecht führt er seine und der Andern Sache gegen alle Widerwärtigkeiten falls nötig mit dem Einsatz seines Lebens zum guten Ende, denn er ist zuletzt immer der Stärkere, sei es in der Bemeisterung einer Situation durch Intelligenz oder durch physische Kraft. Er ist der Träger der seit Benjamin Franklin formulierten und durch den Erfinder selbst verkörperten pragmatischen Idee von der Wahrheit als dem in einer gegebenen Situation Angemessenen. Er hat einige Züge aus der Stoa mitbekommen, besonders aber auch solche des optimistischen Naturburschen, wie er von Emerson und dann wieder von Whitman gefeiert wurde. Es steckt aber auch noch etwas vom Puritaner in ihm, der sich verpflichtet fühlt, für das ethisch als richtig Erkannte einzustehen und als Werkzeug des göttlichen Willens sich dem Teuflischen in jeder Form

entgegenzustellen. Man mag sich zu diesem Bilde stellen wie man will —und viele werden es als lächerliche, wenn nicht als abscheuliche Verkitschung moralischer Sentimento empfinden: Tatsache bleibt, daß es sowohl in Amerika wie in weiten Teilen der westlichen Welt vom großen Publikum als durchaus gültiges Ideal akzeptiert wird. Die erste und von nachhaltigster Wirkung gebliebene erzählerische Gestaltung dieses Helden ist James Fenimore Coopers Lederstrumpf vor bald anderthalb Jahrhunderten. Auf dieser Ebene also steht Amerika ein nicht unbeträchtliches ideologisches Potential zur Verfügung, das sowohl der Soziologe wie der Literarhistoriker nicht ohne Not vernachlässigen sollten.

Der Literarhistoriker allerdings wird feststellen müssen, daß die Menschen, wie sie in der großen amerikanischen Dichtung gestaltet wurden und noch werden, ganz anderer Art sind. Zwar mögen einzelne Züge des populären Helden der Volkskunst ab und zu in Erscheinung treten —aber zur Hauptsache scheint es, als ob die Dichter samt und sonders in geradezu entgegengesetzter Richtung arbeiteten. Es sind vor allem drei Konzeptionen, die die amerikanische Literatur im Lauf der vergangenen anderthalb Jahrhunderte in bezug auf menschliches Empfinden und Verhalten herausgearbeitet hat, und jede findet neben zahlreichen Abwandlungen ihren eigenen Schwerpunkt im Werk eines Meisters.

Da ist einmal der Mensch, der sich mit einer bestimmten, oft schweren Schuld oder wenigstens dem Bewußtsein davon in einem meßbaren Zeitablauf auseinanderzusetzen hat. Ansätze hiezu finden sich schon in den Anfängen des amerikanischen Romans bei Charles Brockden Brown und in den Novellen von Edgar Allan Poe, aber dort handelt es sich zumeist erst um die einfache Begegnung mit dem Bösen, wie auch um die Faszination, die das Böse als die Möglichkeit einer bestimmten verbrecherischen Handlung auf den Menschen ausübt. Nur gelegentlich spielt auch das Element des Zeitablaufs hinein, so etwa in der gespannten Erwartung auf den Augenblick hin, da eine Schuld entdeckt wird (das Motiv von der Uhr des Ermordeten, die weitertickt).

Von einer vertieften Gestaltung besonders auch im Charakterlichen kann noch kaum gesprochen werden: das Motiv ist gleichsam erst aufgesetzt, aber das Pathos, mit dem es vorgetragen wird, zeugt von der Wichtigkeit des Anliegens. Man darf es, da es im 18. Jahrhundert kaum in Erscheinung tritt, als eine Art Eruption der einst so starken, aber von der Aufklärung verschütteten puritanischen Angst vor dom göttlichen Richteramt betrachten, und es ist nicht die einzige Restanz aus der Zeit des presbyterianischen Neuengland.

Die entscheidende Gestaltung des Schuldproblems ist aber erst Nathaniel Hawthorne in der Mitte des 19. Jahrhunderts gelungen. Hawthorne war es, der dem Motiv die ganze menschliche Ründe verlieh, indem er es sowohl mit dem Charakterlichen, wie auch mit dem Aspekt des Zeitablaufs so gänzlich verschmolz, daß es geradezu zu einer Daseinsform wurde. Der Mensch wird nicht einfach vom Bewußtsein einer Schuld oder vom Gefühl der Niederlage gegenüber dem Bösen gepeinigt, sondern er versucht im Hinblick darauf, daß die Zeit gleichsam ihre eigene Leistung an ihm vollbringt, mit seiner Schuld zu einem Ende zu gelangen. Fast alle großen Charaktere Hawthornes sind aus dieser Konzeption herausgewachsen: so etwa Arthur Dimmesdale im Scharlachroten Buchstaben (1850) — der Geistliche, der einen Menschen für etwas mitverurteilt, an dem er selber schuldig ist, und der von seinem Geheimnis langsam aber sicher zermürbt wird, weil er auf eine äußere Ehrung wartet, die angesichts seines Selbstbetrugs doch nur zur Katastrophe führen kann. Im gleichen Zeitraum aber bekennt sich die mit Ächtung bestrafte Ehebrecherin Hester Prynne zu ihrer Sünde und gewinnt durch ihre Würde und werktätige Liebe gerade das, was dem andern verloren geht: inneren Halt und äußere Zustimmung der Gemeinschaft.

Man hat diese beiden Charakterentwicklungen oft als zwei polare Aspekte der Selbstverwirklichung betrachtet, eine Auffassung, die angesichts der Beziehung Hawthornes zum amerikanischen Transzendentalismus, der diesem Postulat so sehr verpflichtet war, zweifellos vieles für sich hat. Aber zur Daseinsform

wird die Haltung erst durch das Bewußtsein vom Ablauf der Zeit, die bei Hawthorne sowohl nach rückwärts wie nach vorwärts erlebt und verfolgt wird. Als Vergangenheit wird sie dem einen, wie dem schuldigen Pfarrer, durch sein Tun zur unerträglichen Last, dem andern, wie Hester Prynne, durch Einsicht zur wachsenden Befreiung. Die Bewegung kann sich auf Generationen erstrecken, wie im Haus der sieben Giebel (1851), wo der Fluch eines Verbrechens nach anderthalb Jahrhunderten nochmals wirksam wird und erst durch den entschiedenen Willen zur Zukunft überwunden werden kann, oder sie führt, wie im Marmor Faun (1860) aus dem unbekannten Dunkel eines persönlichen Schicksals zur Untat, zum Bekenntnis und von da wieder zurück ins Dunkle. Immer aber formt sie den Menschen aus, sei er zunächst Opfer wie Hester oder Clifford oder Täter wie Dimmesdale oder der Richter Pyncheon, der im Begriffe durch Erpressung neue Schuld auf sich zu laden, mit der Uhr in der Hand vom Schlagfluß getroffen wird.

Seit Hawthorne ist die in Schuld- und Zeitbewußtsein verschmolzene Daseinsform in der amerikanischen Literatur immer wieder gestaltet worden, ganz besonders aber in unserem eigenen Jahrhundert. So greift der Dramatiker O'Neill zum klassischen Elektramotiv, um an der Vernichtung einer Neuenglandfamilie durch Liebe, Haß und Rache das Spiel von Schuld und Sühne, vorn Fluch der Vergangenheit und dem illusionären Glück der Zukunft, das heißt der Flucht aus der Gegenwart, in der leidenschaftlichen Figur der Lavinia und der gebrochenen des Orin erstehen zu lassen. Auch T. S. Eliot hat in der Familienfeier (1939) die Auseinandersetzung eines von Schuldgefühl Gepeinigten mit seiner Vergangenheit zur Darstellung gebracht und im christlichen Gefühl der innern Anerkennung der Sündhaftigkeit den Weg in die erlösende Zukunft gesehen. Bei Faulkner erscheint das Problem in der für ihn so charakteristischen bewußten Umkehrung, indem Menschen mit verbrecherischen Handlungen nach außen völlig amoralisch in Erscheinung treten, dadurch aber den Leser mit zwingender Logik zur Frage nach dem Sinn des Bösen führen. Demgemäß werden bei Faulkner auch die Zeitabläufe in

der Erzähltechnik wechselweise retrogressiv gehandhabt: es ist, als ob die Problematik von Schuld- und Zeitbewußtsein auf den Leser überwälzt würde, um ihn zu veranlassen, der Sache als zusammengehörig selbst auf den Grund zu gehen und als (manichäische) Ordnung zu erkennen. Auch Robert Penn Warren gehört in diese Nähe. Und endlich hat Thornton Wilder die Frage nach dem Schicksal des Menschengeschlechts unter anderem unter dem Aspekt des schuldig werdenden Menschen aufgegriffen. Aber statt der retrogressiven Technik wird hier die der Teleskopie der Zeitabläufe angewandt. En dem Stück Wir sind noch einmal davongekommen (1942) wird Kam am Kongreß der Säugetiere in Atlantic City in die Arche geholt und vor der Katastrophe errettet, und er ist auch anwesend, da das Theaterpersonal wegen Erkrankung der Schauspieler die Wahrheiten der großen Denker selber vorträgt. Auf diese Weise wird eine spezifische Seite des Menschseins mit der Allegorie des absolut Beständigen, das heißt der Zeitlosigkeit verschmolzen. Solches kann nicht ohne tiefere Bedeutung sein, aber bevor der Bezug gesetzt wird, soll der andern beiden führenden Konzeptionen der amerikanischen Literatur gedacht werden.

Die eine erscheint vor allem und besonders drängend in unserer Zeit, obwohl sie auf den ersten Blick keineswegs etwas grundsätzlich Neues bedeutet. Es handelt sich um das, was man am ehesten als Spiel mit der Illusion bezeichnen könnte. Auch hier finden sich eindrückliche Ansätze in den Leistungen der amerikanischen Klassiker, so etwa in der Rahmenerzählung zu den Piazza Taies (1856) von Herman Melville, wo der Dichter berichtet, wie er von seinem Haus in der Ebene aus weit entfernt in den Bergen ein Dach in der Morgensonne schimmern sieht, von diesem Anblick nicht los kommt und beschließt, den Tagesritt dorthin zu unternehmen, weil er irgendwie überzeugt ist, es müßten dort besonders glückliche Menschen wohnen. Tatsächlich findet er das einsame Haus von einem Mädchen bewohnt vor, das ihm nach kurzem Gespräch die Frage stellt, ob er wisse, wer weit weg in der Ebene in dem Hause wohne, das abends von der Sonne vergoldet werde: das müßten doch besonders glückliche

Menschen sein. Und der Dichter erkennt sein eigenes Haus. Das ist Phantasiearbeit als lebensspendender, daseinskräftiger, glückverheißender Gedanke — auch wenn er im Gegenspiel zur Wirklichkeit steht und nicht über den eigenen Zauberkreis hinausgelangt, aber gerade deshalb zum tiefern Verstehen der eigenen heimlichen Wünsche führt und damit zum Selbstverständnis überhaupt. Kommt os aber dennoch zum Zusammenstoß mit dem Wirklichen, so ist er im 19. Jahrhundert erst von verhüllter Tragik, wie etwa bei Henry James, oder dann von jener Komik wie sie etwa in den Reiseskizzen von Mark Twain erscheint, der seine feinnervige und von tiefem Pessimismus erfüllte Unruhe ob der Diskrepanz zwischen Phantasie und Realität in handgreifliche Farce umzugestalten wußte.

Der volle Aufbruch des Problems der Illusion in der menschlichen Verhaltensweise erscheint jedoch erst in unserem Jahrhundert. Bemerkenswerterweise heißt der Titel des Romans, in dem es zum erstenmal als eigentliche Katastrophe gestaltet wird, Eine amerikanische Tragödie (1925), wobei der ironische Unterton nicht zu überhören ist. Denn dem Autor Theodore Dreiser geht es weniger darum darzustellen, wie die Maschinerie der Rechtsprechung einen von Haus aus keineswegs zum Verbrechen bestimmten Menschen zur Verantwortung zieht und auf den elektrischen Stuhl befördert, sondern daß die Untat, der Mord an der zum Hindernis gewordenen Geliebten, nicht etwa in einer ausweglosen Situation begangen wird, sondern nur deshalb, weil der Täter der Illusion eines bequemern, erfolgreicheren Lebens verfallen ist. Der imaginäre Wert wird hier eindeutig als materielle Befriedigung definiert und am Kaufpreis der Existenzvernichtung gemessen.

Künstlerisch aber am vollendetsten wird das Problem durch den Dramatiker Eugene O'Neill gestaltet. In seinen früheren Werken erscheint es noch als einfacher, wenn auch tief gehender Konflikt zwischen den mannigfachen Wunschträumen und den bürgerlichen Gegebenheiten seiner klar umrissenen Gestalten. Im Spätwerk aber wird es zu einer unheimlich komplexen Beziehungsstruktur, die geradezu als Daseinserläuterung wirkt.

O'Neills Menschen sind in diesen Werken von dem besessen, was er pipe dreams nennt —Wunschträume, von denen der einzelne eigentlich weiß, daß sie entweder unerfüllbar sind, oder, falls sie erfüllbar wären, in der Erfüllung gerade das nicht mehr sein können, was die Vorstellung verspricht. Der spielerische Selbstbetrug bewegt sich bis zur Begegnung mit dem Tod, was nichts anderes heißt, als daß diejenigen, die ihre Existenz auf eine Illusion bauen, von Anbeginn Gequälte sind, die mit oder ohne wahrnehmbaren Grund im bürgerlichen Leben Schiffbruch erleiden, aber mit gesteigerter Sensibilität in einer eigentlichen Haßliebe der Welt der Konventionen gegenüber verharren. Solcher Art sind die verkommenen Gestalten in Der Eismann kommt (1946), so ist Melody, der Schankwirt, in Fast ein Poet (1957), so Jimmy Tyrone in Eines langen Tages Reise in die Nacht (1956) und im Mond für die Beladenen (1953). Gescheitert, gehetzt, ausgestoßen, verleumdet — aber der Reinheit eines authentischen Daseins stets näher verbunden als das in Konventionen befangene und sich selber treulos gewordene Gesellschaftsglied: das ist das Bild, wie es O'Neill in der vielschichtigen Illusionsgebundenheit seiner Menschen aufbaut.

Mit dieser Konzeption steht aber O'Neill keineswegs allein. Ja, man darf sagen, daß fast alle bedeutenden Dramen der amerikanischen Nachkriegszeit diesem Motivkreis verpflichtet sind. In dem Stück Endstation Sehnsucht (1948) führt Tennessee Williams den Zusammenbruch einer illusionären Wertwelt bis zum Wahnsinn der Betroffenen, und im Tod des Handelsreisenden (1949) stellt Arthur Miller die Katastrophe dessen dar, der seiner Zweifel ob der Illusion eines schalen Lebensoptimismus und eines billigen Popularitätsprinzips nicht mehr Herr wird. Daß nach politischen Katastrophen vom Ausmaß des Ersten und Zweiten Weltkriegs ganze Wertsysteme als Illusionen verworfen werden, ist zu erwarten —Der große Gatsby (1925) von F. Scott Fitzgerald ist hiefür ein gutes Beispiel — aber daß damit eigentliche neue Seinsdeutungen verbunden werden können, zeugt erst von der außerordentlichen Fliehkraft der Idee. Hemingways berühmte Erzählung Der alte Mann und das Meer (1953) ist der deutlichste

Beweis hiefür. Denn was der einsame alte Fischer vollbringt, ist nichts anderes als ein Symbol für den verbissenen Kampf, den jeder führt, der auch nur die Trümmer eines geglaubten Leistungswertes gegen eine feindliche Umwelt einbringen möchte.

Hier verschmilzt das Illusionäre mit dem, was der abendländische Mensch überhaupt als sinnvolles, weil zielbewußtes, vor allem aber auch individuelles Tun betrachtet. Illusion und Ideal sind nicht mehr zu unterscheiden.

Dies gibt uns das Stichwort zur dritten Konzeption, die das Antlitz des amerikanischen Menschen in der Literatur bestimmt, und sie ist die ehrgeizigste, denn sie fragt beinahe unmittelbar nach dem Sinn des Seins überhaupt. Ihre umfassendste künstlerische Gestaltung hat sie bei Herman Melville in Moby Dick gefunden, dem Werk, das genau in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand und erschien (1851), aber bis in die letzten paar Jahrzehnte fast völlig unverstanden blieb, seither aber zur äußersten Anspannung der kritischen Interpretation Anlaß gegeben hat und weiterhin geben wird. Denn über den Sinn dieser rätselhaften Geschichte von der im Untergang endenden Jagd nach dem weißen Wal besteht noch keine Übereinstimmung. Doch steht eines fest: Ob man den Wal als Symbol des Bösen, des Unerkennbaren, des Geheimnisses des Lebens oder des Todes, des Erkenntniswillens, des Schicksals, der kosmischen Willkür oder des Seins schlechthin betrachte —das Entscheidende ist, daß der Vorgang des Walfangs, der ja in die letzte Einzelheit realistisch geschildert wird, zum Gleichnis für die Haltung des westlichen Menschen gegenüber dem, was er als Sinn seines Daseins betrachtet, wird: nämlich ein gewaltiges, unfaßbares und gefährliches Objekt unablässig und fanatisch bis zum bittern Ende zu verfolgen und auf diesem Wege jene Antwort des Ewigen zu erzwingen, die nie gegeben werden kann. Man hat mit Recht von Melvilles Streit mit Gott gesprochen, denn die ständige Auseinandersetzung mit der Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos, nach seinem Verhältnis zu den erbarmungslosen Naturgesetzen, nach dem Ursprung des Bösen und die abgründige Skepsis, mit

der die möglichen Antworten abgewandelt werden, deuten auf einen unlösbaren Konflikt mit dem Gedanken an irgendwelche Heilsgewißheit.

Solche Lebensskepsis erscheint bei Melville auch in der Geschichte von Bartleby, dem einsamen Kanzleibeamten, der langsam aber mit unheimlicher Konsequenz im schweigsamen und passiven Widerstand gegen seine ihm an sich durchaus gut gesinnte Umwelt sein Leben verlöschen läßt, oder von Billy Budd, dem jungen rechtschaffenen Seemann, der angesichts einer ungeheuerlichen und sinnlosen Verleumdung gegen das Böse aufsteht, nur um ein Opfer starrer Justiz zu werden. Ob leidenschaftliches Bemühen, das Rechte zu tun oder steinerne Resignation — dem Menschen enthüllt sich das Geheimnis unseres Daseins so wenig als der Sinn des Seins überhaupt.

In unserm Jahrhundert ist das Problem als deutlich erkennbares Motiv und als Interpretation einer Daseinsform erst wieder in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren in Erscheinung getreten, dafür aber mit sehr bedeutsamer Wirkung. So warf als einer der ersten Thornton Wilder es in der Brücke von San Luis Rey (1927) auf, und er ist ihm durch sein ganzes Oeuvre hindurch bis zu den Iden des März und der Alkestiade tief verbunden geblieben. Ob Zufall oder höhere Absicht unser Leben gestalte, ob ein Cäsar mit seiner Ansicht recht habe, wonach das Universum unseres Daseins nicht gewahr sei und das Leben nur den Sinn haben könne, den wir ihm selbst verleihen — das sind die Fragen und Zweifel, die seine Menschen und ihr Verhalten bestimmen. William Faulkner hat versucht, in der gewaltigen Parabel Legende (A Fable) (1954) seine eigene Antwort zu geben. Das «Ertragenkönnen» wird als die Lösung des sensitiven Menschen in den Widersprüchen unseres Daseins gesehen und in der Geschichte von jener Meuterei an der Westfront des Ersten Weltkriegs und vom Fremdling in der Masse zum Symbol des Zweigesichtigen und der Ironie einer doppelten Wertordnung erhoben, in der kein Gott ohne Satan mitzureden hat. Und was auch sonst gegen die Ausdrucksweise der jüngsten Generation der amerikanischen Erzähler ausgesagt werden kann — ihr innerstes Anliegen,

mit eben diesem Problemkomplex zu Rande zu kommen, ist unverkennbar.

So werden etwa in der eigenartigen Erzählung Henderson the Ram King (1958) von Saul Bellow die Schicksale eines exzentrischen Amerikaners, der auf einer Afrikareise bei einem Negerstamm zur Würde eines Regenmachers aufsteigt, geschildert. Ein Mensch sieht sich in einer fremden Welt vor eine rätselhafte Aufgabe gestellt, die er zum Teil erfüllt, an der er zum Teil scheitert; er erlebt das Wilde, Unberechenbare, Arationale in gebändigter wie auch in ungebändigter Form, und er wird gewahr, daß er etwas davon mit einer Sorge in seinen Alltag mitbringen muß, wenn er diesen überhaupt bemeistern will.

Um die Ausformung solcher Symbole des Daseins und ihrer Träger als Charaktere bemühen sich auch die Vertreter jener Bewegung, deren Bedeutung durch eine unverhältnismäßig ausgedehnte Publizität in der amerikanischen Presse entstellt worden ist: die sogenannte beat generation. Ihre Überzeugung ist, daß nur eine vollständige Abwendung vom gegenwärtigen Zivilisationsbetrieb, von Karriere und Gelddenken den Menschen als Menschen retten könne. Mit Hilfe der Meditation und Konzentration im Sinne des Zen Buddhismus sollen die Dinge auf den Grund hin erkannt und soll ein neuer Daseinsmodus erreicht werden. Das Verlangen nach innerer Gelöstheit (disaffiliation) in natürlichem Spannungswechsel mit der Anziehungskraft des Exotischen als des besonders Natürlichen, das Erlebnis der fundamentalen menschlichen Einsamkeit im Widerspiel zu dem des unerklärlichen rapport zum Mitmenschen — das sind Elemente, wie sie in den Werken etwa eines Jack Kerouac, des talentiertesten unter der beat generation zu erzählerischer Gestaltung gelangen.

Das Bild, das hier vom amerikanischen Menschen und seiner Problematik entworfen wurde, ist offensichtlich weit entfernt von demjenigen, das der Tourist, der Geschäftsmann, ja auch der Wissenschafter von seinen Amerikafahrten nach Hause bringt; es ist auch erheblich verschieden von dem, was die Fachleute der eingangs erwähnten Wissenschaftszweige als charakteristisch

amerikanisch erkannt haben. Und doch sind diese Gegensätze nicht unlösbar. Erinnern wir uns daran, daß die Menschen, wie wir sie eben kennengelernt haben, zur Hauptsache alles Einsame, Entfremdete oder Ausgestoßene und Schiffbrüchige sind, gleichzeitig aber von einer Idee Besessene, nie Erlahmende, oft in Rebellion gegen den Konformismus Verharrende. Das heißt einmal, daß die Sympathie des amerikanischen Künstlers deutlich auf der Seite derer ist, die sich gegen das allgemein Akzeptierte wenden. Der amerikanische Mensch, wie er in der Literatur erscheint, wäre demnach einmal der Oppositionelle schlechthin, das heißt derjenige, der sich mit den Gegebenheiten seiner Umwelt nicht abfinden kann. Nun ist die Opposition des Künstlers gegenüber seiner Umwelt in keinem Lande etwas Ungewöhnliches — aber die Konsequenz, mit der diese Haltung vom amerikanischen Schriftsteller nahezu durchwegs eingenommen wird, ist außerordentlich, gibt es doch so radikale Fälle wie Ezra Pound. Die ständige Anstrengung, den Rahmen zu verändern, in dem sich sein Dasein abspielt, hat aber gerade der Künstler mit dem amerikanischen Pionier und Pragmatiker gemeinsam, denn so stark der Konformismus sonst im Leben der amerikanischen Gesellschaft sein mag, so bereitwillig ist sie, das Neue, wenn es kühn genug ist, anzuerkennen. Derjenige allerdings, der den Ring zu sprengen versucht, wird zunächst immer als Außenseiter betrachtet und behandelt werden.

Damit kann aber auch die Verbindung mit den drei für uns so wesentlichen Konzeptionen hergestellt werden. Daß die ständige Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Schuldgefühls beziehungsweise mit dem Ursprung und dem Sinn des Bösen unter anderem historisch bedingt, nämlich im Puritanismus der ersten Neuenglandsiedler begründet ist, scheint unbestritten zu sein. Es wäre also nur ein besonders ausgeprägter Aspekt elementarsten christlich-abendländischen Denkens und Empfindens. Daß aber das Bewußtsein vom Ablauf der Zeit so drängend gerade mit diesem Aspekt verbunden ist, kann doch wohl nur so gedeutet werden, daß das, was der Pragmatiker als wichtigstes Hilfsmittel für die Bewältigung einer Aufgabe betrachtet, unweigerlich

auch beim Elementaren in Erscheinung tritt. Wenn einer der größten aller amerikanischen Praktiker und Experimentatoren, nämlich Benjamin Franklin, sagen konnte, «Zeit ist Geld», so scheint sich das zunächst auf erfolgreiches, gewinnbringendes Handeln zu beziehen. Solches Handeln hat aber immer auch seine moralische Komponente, und je mehr sie im Alltag verdrängt wird, desto stärker meldet sie sich im Grundsätzlichen. Wie oft ist das moralische Element in der amerikanischen Publizistik, insbesondere in der politischen oder wirtschaftlichen, belächelt oder gar als heuchlerisch abgetan worden — dabei ist ohne es amerikanisches Wesen gar nicht erfaßbar. Es ist gleichsam die um eine weitere Stufe säkularisierte Ausdrucksform für das, was in der Literatur als Problem der Schuld und des Zeitablaufs eingeschmolzen worden ist.

Ähnlich verhält es sich mit dem Spiel mit der Illusion. Gerade weil die amerikanische Pionierzeit außerordentliche Anforderungen an die Erfindungs- und Visionskraft der Siedler stellte und diese überdies ja zum Teil wegen ihrer besonderen Eigenschaften in die Neue Welt gezogen waren, mußte das Gefälle zwischen Entwurf und Realisierung eine besondere Größenordnung annehmen. Die Einbildungskraft transzendiert mehr denn anderswo die besonders in unsern Zeiten immer fester gefügten Gegebenheiten des Alltags; ihr Überschuß drängt gebieterisch zur Betätigung am Objekt, und wenn dieses nicht in concreto gefunden werden kann, so kommt es entweder zur Verfolgung bestimmter, den Außenstehenden oft naiv anmutender Idealismen oder eben zum Verharren im pipe dream, zur selbstgewählten Isolierung in der Phantasiewelt und damit für die Sensibilität des Künstlers häufig zur Katastrophe.

Das Spiel mit der Illusion ist nahezu undenkbar ohne seinen Übergriff ins Feld der Seinsdeutung. Da der Pragmatiker seine Kräfte auf die Bemeisterung der materiellen Wirklichkeit konzentriert, stellt sich der transzendierenden Imagination die Frage nach dem Sinn solchen Tuns und Seins im Weltganzen um so dringender. Daß dabei die Fragestellung wesentlicher ist als die gegebene Antwort, zeigt die Tatsache, daß sie so oft als einsamer

Weg nach einem unbekannten Ziel, als unablässige Suche, ja als leidenschaftlich verbissene Jagd gestaltet wird. Als Idee mag die Antwort oft von dynamischem Optimismus sein wie bei Emerson, bei Whitman und der beat generation oder von tiefster Skepsis wie bei Melville und einigen Autoren unserer Zeit —aber das Bild, das vom einzelnen Menschen als Charakter entworfen wird, ist notwendigerweise fast immer von Tragik überschattet.

Das ist wohl auch die Schwelle, an der wir Halt zu machen haben. Denn in der Rückschau zeigt sich eines deutlich: dieser Mensch besitzt alle Eigenschaften, die wir beim modernen Abendländer überhaupt vermuten —jedoch in gesteigerter Form und größerer Verdichtung. Deshalb hebt sich sein Profil gegen Licht und Schatten des amerikanischen Alltags so viel schärfer ab, und deshalb gibt es auch die Entsprechung zu den nationalen Charakteren anderer Literaturen nur in der populären Form. Und wenn wir den amerikanischen Menschen immer wieder neu zu sehen glauben und zu begreifen suchen, so heißt das nichts anderes, als daß es letzten Endes um unser eigenes Selbstverständnis geht.