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Hochschule und Spezialistentum

Rektoratsrede, gehalten am 17. November 1962 an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule
Polygraphischer Verlag AG. Zürich 1963

Hochansehnliche Festversammlung!

Mit dem Anwachsen des vom Menschen erarbeiteten Wissensstoffes, das uns manchmal geradezu wie eine Wucherung des Wissens vorkommt, tritt das Spezialistentum immer ausgeprägter in Erscheinung. Fast jedermann hegt mehr oder weniger ernste Bedenken gegen diese Entwicklung, vorab in Kreisen, denen die Freiheit des Denkens als ein unbedingt hochzuhaltender Wert gilt. Niemand wünscht dieses Überhandnehmen des Spezialistentums in immer weiteren Gebieten. Wenn auch unbestritten ist, daß es des Spezialisten bedarf, und wenn es oft von hervorragenden Fähigkeiten zeugt, Spezialist in einem bestimmten Gebiete zu sein, so lehnen wir doch den «Nur-Spezialisten» ab. Wir wünschen, daß eine gewisse menschliche Ganzheit nicht durch das umfangreiche Spezialwissen verdrängt werde. Wo von den Zielen derjenigen Institutionen gesprochen wird, denen die Bildung und Ausbildung der kommenden Generationen obliegt, wird immer wieder betont, man sei bestrebt, eine einseitige Spezialisierung zu vermeiden. Und doch scheint die Entwicklung, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, unaufhaltsam die Richtung immer größerer und engerer Spezialisierung einzuschlagen, die niemand eigentlich will. Hier muß allerdings sofort auf etwas hingewiesen werden, was zumeist übersehen wird, nämlich daß zwischen Spezialisierung an und für sich und engstirnigem Spezialistentum ein grundsätzlicher Unterschied besteht.

Wenn irgend jemand berufen und verpflichtet ist, dieses Problem ernst zu nehmen und auf Abhilfe zu sinnen, so sind es die Hochschulen. Es muß ernst genommen werden, denn es ist mehr als nur eine bedauerliche Begleiterscheinung der Entwicklung der Wissenschaften. Wir fühlen doch, daß damit der Sinn unserer ganzen Bemühungen in Frage gestellt ist, jener Sinn, der sich nicht mit wenigen Worten definieren läßt, dessen wir aber gleichwohl gewiß sein wollen, weil die Menschenwürde ihn fordert.

Versuchen wir zunächst einmal, die Situation zu umreißen, vor der wir stehen. Äußerlich betrachtet, stellt sie sich folgendermaßen dar: Durch die Forschung auf allen Gebieten wird ständig neues Tatsachenmaterial zutage gefördert, und es werden neue Erkenntnisse erarbeitet. Zudem greift die Wissenschaft nach immer weiteren Bereichen, die bislang außerhalb ihrer Domäne gelegen hatten. Dieses einfache Anwachsen des Wissens ist allerdings nur die eine Seite der Entwicklung. Immer wieder gelingt es der Wissenschaft, tieferliegende Zusammenhänge zu erkennen und damit zu einer einfachen und übersichtlichen Schau zu gelangen, wo bisher komplizierte und undurchsichtige Verhältnisse zu herrschen schienen. Dies zu leisten, ist ja gerade die Aufgabe der Theorie, und wo es gelingt, liegt eine hervorragende wissenschaftliche Tat vor. Und noch etwas anderes dürfen wir nicht ganz übersehen: Von Zeit zu Zeit müssen wir zu unserer Überraschung feststellen, daß unsere Altvorderen in manchen Dingen über ein Wissen verfügten, das uns abhanden gekommen ist. Manches, was einst mit viel Mühe und Liebe erarbeitet ist, verschwindet zu Recht oder zu Unrecht aus dem Brennpunkt des Interesses und gerät in Vergessenheit.

Doch selbst wenn alles dies gebührend beachtet wird, bleibt die Tatsache bestehen, daß der aktuelle Wissensstoff unaufhörlich anwächst. Den zunehmenden Umfang der wissenschaftlichen Literatur dürfte man allerdings nicht als ein Maß für das Wachstum des Wissens betrachten, denn ein sehr großer Teil dessen, was geschrieben und veröffentlicht wird, ist von einer enttäuschenden Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit. Das Überangebot an Zeitschriften und Veröffentlichungen aller Art erschwert oft die wissenschaftliche Information eher, als daß es hilft. Das an sich schon außerordentlich schwierige Problem, mit der immer umfangreicher werdenden Materie fertigzuwerden, wird dadurch noch künstlich verschärft.

Daß mit dem quantitativen Anwachsen unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse das Wissen eines Einzelnen einen immer kleineren Ausschnitt dessen darstellt, was insgesamt erarbeitet wurde, ist eine Binsenwahrheit. Gemeinhin erblickt man hierin allein den Kern des Problems, das dann allerdings unlösbar sein müßte. In Tat und Wahrheit erfaßt man aber mit dieser Feststellung noch keineswegs das Problem

des Spezialistentums in seiner Ganzheit, ja man geht sogar am Wesentlichsten vorbei. Das Denken und Wirken eines Einzelnen hat sich ja stets auf Bereiche beschränkt, die ihn anzogen und seiner Wesensart entsprachen. Wann hätte jemand vernünftigerweise das Ziel anstreben können, möglichst alles zur Kenntnis zu nehmen, was das menschliche Denken errungen hat? Die Vielwisserei kann uns doch an und für sich auch gar nicht als wirkliches Ideal vorschweben. Selbst das Ziel einer Einheit der Wissenschaft würde nicht implizieren, daß der Einzelne ein wandelndes Konversationslexikon sein solle. Der moderne Nur-Spezialist ist indessen ein Menschentyp, den frühere Epochen überhaupt nicht kannten. Deshalb kann die Ursache für sein Erscheinen wohl nicht nur im Anwachsen des Umfanges unserer Erkenntnisse gesucht werden. Es scheint mir, daß vor allem die folgende Tatsache beachtet werden muß.

Jeder Wissenszweig entwickelt seine eigenen Denkformen, und er muß dies tun. Die Art und Weise, die Probleme zu betrachten und anzupacken, der Typus der Begriffsbildungen, die oft kaum explizite ausgesprochenen Grundvorstellungen, das intuitive Unterscheiden zwischen wesentlichen und unwesentlichen Aspekten, alles dies nimmt in jedem Gebiet besondere, typische Formen an. Zur Leistung bahnbrechender Wissenschaftler gehört es oft gerade, die Denkformen aufzuspüren, die im Zusammenhang mit dem betrachteten Problemkreis sich als fruchtbar erweisen. Alles dies formt auch die Fachsprache, die der Ausdruck der jeweiligen Weise des Denkens ist. Und der Lernende steht vor dem Problem, sich die besonderen Denkformen des zu erlernenden Wissenszweiges zu eigen zu machen. Darauf beruht es auch, daß hochintelligente Menschen zur Erlernung bestimmter Wissenschaften völlig unfähig sein können: Die dort übliche Weise des Denkens liegt ihnen fern, ja sie kann ihnen bisweilen geradezu widerwärtig sein. Daraus möge man übrigens niemandem einen Vorwurf machen. Es gehört zur Freiheit des Denkens, sich von dem fernhalten zu dürfen, was einem widerstrebt.

Damit aber, daß das Denken in jedem Wissensgebiet seine besonderen Wege einschlägt, ist stets auch die Gefahr einer Deformation und Verengung gegeben. Daher entwickelt sich nur allzuleicht neben dem Fachwissen etwas, was man als Fachunwissen bezeichnen könnte,

also eine für die Vertreter des betreffenden Gebietes typische verkürzte Schau der Dinge. Wo uns dies entgegentritt, beobachten wir nicht selten gleichzeitig eine erstaunliche Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit in der Erfassung der tiefer liegenden Grundlagen des Faches selbst. Dies aber führt zur eigentlichen Spezialistenmentalität. Kennzeichnend für sie ist es, daß sie der Deformation des Denkens nicht widersteht, und zwar vor allem deshalb nicht, weil die Grundlagen nie wirklich durchdacht und daher das Besondere und nicht Selbstverständliche der Weise des Denkens nie wahrgenommen wurden. Sie äußert sich denn auch nicht primär in einer Unwissenheit in allen außerfachlichen Dingen, sondern innerhalb des Fachgebietes selbst. Es begegnet uns bei solchen Menschen etwas «Allzufachmännisches». Sie stehen nicht über ihrem Fach, sie beherrschen es nicht eigentlich, sondern sie werden von ihm beherrscht. Und wenn je das Unglück eintreten sollte, daß sich im eigenen Wissensgebiet ein grundlegender Wandel vollzieht, der selbst eine Revision der Denkweise fordert, so stehen sie hilflos da und können nicht mehr mitgehen. Die Begrenztheit des Bescheidwissens ist also nicht der Kern des Problems, sondern die Enge der Geisteshaltung. Es scheint mir von großer Bedeutung, zu erkennen, daß viel eher die Oberflächlichkeit als die echte Vertiefung in ein Wissensgebiet zu dieser Degeneration des Denkens führt.

Wenden wir uns zunächst der Frage zu, welche Gefahren aus dem Spezialistentum erwachsen. Dabei wollen wir drei Aspekte betrachten, nämlich die Erkenntnis, das praktische und schöpferische Wirken, wie es in der angewandten Wissenschaft und der Technik vorliegt, und schließlich, das Wichtigste von allem, den Menschen selbst.

Daß Spezialistenmentalität und Wille zur Erkenntnis schlecht harmonieren, liegt auf der Hand. Wem die Erkenntnis als solche etwas bedeutet, dem geht es oder ging es wenigstens ursprünglich in einem verborgenen Winkel seines Herzens auch um die Einheit der Wissenschaft, selbst wenn er sich nicht einmal klare Gedanken darüber macht, was darunter zu verstehen wäre und wie man es anstreben müßte. Ich bin überzeugt, daß viele unter Ihnen sind, die als junge Menschen eine tiefe Enttäuschung erlebten, als Sie allmählich

gewahr wurden, daß eine gewisse Einheit der Wissenschaft, die Sie eigentlich erwartet hatten, nicht existiert. In der großartigen Einfalt jugendlichen Denkens hielten wir es zunächst für selbstverständlich, daß in irgendeiner Weise, die wir uns weiter nicht vorstellten, eine Synthese all dessen vollzogen werde, was in den verschiedenen Wissensgebieten erarbeitet wird, ja daß es gerade das vornehmste Ziel der Wissenschaften sei, diese Synthese möglich zu machen. Unsere hochgespannten Erwartungen erlitten einen empfindlichen Schlag, als wir erkannten, daß das Eigentliche, nämlich die Errichtung des Gesamtbaues der Erkenntnis, gar nicht geschieht.

Dem Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts muß man nicht erst auseinandersetzen, weshalb eine solche Integration der Wissenschaften eine Utopie wäre. Es liegt hier kein Versagen der Wissenschaftler vor, denn die Wirklichkeit erweist sich nun einmal als unendlich viel komplizierter als alles, was der Mensch sich vorstellen mochte. Der Verzicht, den wir leisten, indem wir den Versuch schon gar nicht unternehmen, alle unsere wissenschaftliche Erkenntnis zu einer Gesamtschau zu verdichten, dieser Verzicht wird im Namen der Wahrheit und der wissenschaftlichen Redlichkeit geleistet. Nichtsdestoweniger ist er sehr schwerwiegender und grundsätzlicher Art. Das menschliche Denken ging doch durch die Jahrtausende hindurch von der jugendfrischen, naiven Auffassung aus, es könne dazu gelangen, die Grundfragen der Erkenntnis endgültig zu beantworten. Ja das Denken verstand sich geradezu als das Aufsuchen dieser Antwort, und die reine Wissenschaft hätte doch eigentlich der Weg dazu hin sein sollen. Auch noch die auf blühende Naturwissenschaft war lange Zeit überzeugt, die Natur sei in ihrer fundamentalen Struktur hinreichend einfach, um schließlich als Ganzes vom Menschen verstanden werden zu können. Heute haben wir uns längst daran gewöhnt, daß im Laufe der weiterschreitenden Forschung das Ganze immer komplizierter und weitläufiger und damit auch immer unüberblickbarer wird. Der Entwicklung der Naturwissenschaft haftet ohne Zweifel etwas Tragisches an. Das Ziel eines naturwissenschaftlichen Weltverständnisses, dem man einst in vorschneller Weise schon recht nahe zu sein glaubte, entschwindet uns nur schon deshalb, weil die Wissenschaft sich immer weiter verzweigt, selbst abgesehen davon,

daß uns der Charakter grundlegender Erkenntnisse zu einem gewissen Agnostizismus führt.

Diese Ausführungen mögen sich anhören wie eine Verteidigung des Spezialistentums, das eine durch die Natur der Dinge gegebene unvermeidbare Folge der Entwicklung wäre, und sie erscheinen zunächst auch als Absage an den Gedanken der Einheit der Wissenschaft. Gesagt ist damit aber nur, daß eine weitgehende Spezialisierung unumgänglich ist, wobei Spezialisierung verstanden wird als die Beschränkung des Wirkungsbereiches des Einzelnen, die um der Ernsthaftigkeit der Wahrheitsfindung willen erfolgt. Keineswegs muß damit zugleich jene Enge des Gesichtskreises einhergehen, die den Nur-Spezialisten kennzeichnet und die ihrerseits sich gar nicht ohne weiteres mit der Ernsthaftigkeit der Wahrheitsfindung verträgt, sondern sie im Gegenteil gefährdet.

Was die Einheit der Wissenschaft anbelangt, so zwingt uns allerdings die Entwicklung zu größerer Bescheidenheit. Wir werden darunter etwas anderes verstehen müssen als eine utopische Integration des Wissens. Die Einheit kommt vielmehr zustande durch die gemeinsame Quelle, aus der alle Wissenschaft hervorgeht, den Willen zu erkennen. Dieser liegt auch an der Basis der angewandten Wissenschaft, mag auch dort Schaffen oder Helfen das eigentliche Ziel sein; denn wenn Wissenschaft in den Dienst solcher Ziele gestellt wird, so bedeutet dies eben, daß ihre Erreichung Wahrheitsfindung zur Voraussetzung hat. In dieser Beziehung besteht zwischen reiner und angewandter Wissenschaft kein so grundlegender Unterschied, wie häufig angenommen wird. Dieses Ringen um Erkenntnis, bei dem immer wieder die Persönlichkeit des Forschers aufgerufen ist, stiftet eine gewisse geistige Gemeinschaft. Diese ist menschlicher, als es die gemeinsame Errichtung eines babylonischen Turmbaues sein könnte.

Die Spezialistenmentalität, wie wir sie gekennzeichnet haben, schließt solche Gemeinschaft aus; denn jeder hält ja seine Weise des Denkens für die eigentlich richtige, da sie ihm durch Gewohnheit zur zweiten Natur geworden ist, worüber er sich aber keine Rechenschaft gibt. Davon, daß sein Fachgebiet irgendwie einen höheren Rang einnimmt als die anderen, ist er ehrlich überzeugt, sei es, weil in anderen Gebieten die Methoden weniger exakt sind, sei es,

daß man die Fragestellungen für wenig relevant hält, oder was immer der verkürzten Schau die eigene Überlegenheit vortäuschen mag.

Wenden wir nun unseren Blick einem anderen Fragenkomplex zu, dem praktischen Wirken in angewandter Wissenschaft und Technik. Zu fordern, der Einzelne müsse so vielseitig sein wie immer möglich, ist eine Banalität. Aber was ist wirklich möglich? Dort liegt das Problem, über das sich die Urheber solcher Postulate meist wenig Gedanken machen. Wenn man versucht, eine Zusammenstellung all dessen zu machen, was als wünschbar oder unerläßlich für die Ausbildung des Maschineningenieurs schon genannt wurde, so erhält man eine hübsche Liste. Das spezifisch Technische, das Konstruieren soll er natürlich beherrschen. Außer in die klassischen Ingenieurwissenschaften muß er auch in die moderne Physik eingeführt sein. Aber auch in der Chemie sollte er sich heimisch fühlen. Und die wirtschaftlichen Zusammenhänge sollten ihm, der eine maßgebende Funktion in der Industrie ausüben soll, nicht fremd sein, wie er auch als Menschenführer über psychologische Kenntnisse verfügen sollte. Mathematiker, Nationalökonom, Psychologe und Jurist, alles, alles sollte der Ingenieur zugleich noch sein! Man verarge der Hochschule nicht, daß es ihr nicht gelingt, solche Universalgenies heranzuzüchten!

Hier bleibt wirklich keine andere Lösung als die Zusammenarbeit von Fachleuten der verschiedenen Gebiete. Das Teamwork hat eine immer größere Bedeutung erlangt. Allein, gute Zusammenarbeit ist wiederum etwas, wovon sich leicht reden läßt, während es außerordentlich schwer zu verwirklichen ist. Wo fruchtbare Arbeit geleistet werden soll, müssen sich schöpferische Impulse frei entfalten können. Schöpferisch begabte Menschen fügen sich aber keineswegs leicht in eine Arbeitsgemeinschaft ein. Ihre eigene Einbildungskraft dominiert ihr Denken oft viel zu sehr, als daß sie auf die Gedankengänge anderer eintreten könnten. Welch hohe Anforderungen werden hier an den leitenden Kopf gestellt! Zwar muß er keineswegs etwa alles, was unter seiner Leitung geschieht, selbst auch verstehen und in den Einzelheiten beurteilen können. Das hieße in vielen Fällen das Unmögliche verlangen. Maßgebend ist vielmehr das menschliche

Format und eine Geisteshaltung, welche die entsprechende Weite und Offenheit besitzt.

Spezialistische Deformation des Denkens macht das Zusammenspiel äußerst schwierig und führt immer wieder zum Leerlauf. Da kann es geschehen, daß die Ergebnisse jahrelanger Studien unfruchtbar bleiben, weil die Verständigung mit denjenigen, die diese Ergebnisse benützen könnten, nicht gelingt. Oder eine Teiluntersuchung innerhalb eines Gesamtproblems kann in einer völlig falschen Richtung vorgetrieben werden, weil die Enge des Gesichtskreises den Sachbearbeiter unfähig macht, übergeordneten Überlegungen zu folgen. Gewisse Beispiele sogenannter Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren und Physikern sind geradezu klassisch. Jeder ist dabei ehrlich überzeugt, daß der andere das Wesentliche überhaupt nicht versteht. Jedem scheint das Vorgehen des anderen dilettantisch. Der Fehler liegt nicht eigentlich darin, daß beide Spezialisten sind, indem sie nur über ihr eigenes Fachgebiet wirklich Bescheid wissen, sondern darin, daß jeder die im eigenen Fache übliche Weise des Denkens für die richtige schlechthin hält. Wenn beide über ihrem Fache stehen, ist die Möglichkeit der Zusammenarbeit sogleich gegeben.

Natürlich ist eine gewisse Breite der Kenntnisse unbedingt notwendig. Aber das Problem, eine enge Zusammenarbeit zwischen Fachleuten verschiedener Richtung möglich zu machen, besteht primär darin, jene babylonische Sprachverwirrung zu vermeiden, die unbedingt entsteht unter Partnern, denen eine andere Optik als die ihres eigenen Faches nicht denkbar ist. Daß jenes Festgefahrensein in gewissen Denkformen einem Menschen jede Möglichkeit des Wirkens vorzeitig nehmen kann, wenn die Entwicklung über sie hinweggeht, erwähnten wir schon.

Wichtiger aber als alle diese Unzulänglichkeiten, die im Leben der Wissenschaft und in der Praxis durch die geistige Enge des Nur-Spezialisten entstehen, ist der Mensch selber. Er selbst, dessen Denken solcher Weise denaturiert wird, ist der eigentlich Beklagenswerte. Es ist die Armseligkeit und Leere des Geisteslebens, die uns das Spezialistentum als eine Kümmerform des Menschseins erscheinen läßt. Der Mensch wird dabei um die Fülle des Lebens betrogen. Seinem Dasein haftet damit eine gewisse innere Sinnlosigkeit an,

selbst wenn sein Wirken noch so nützlich sein sollte. Und wenn eingangs gesagt wurde, das Überhandnehmen des Spezialistentums erfülle alle diejenigen mit Besorgnis, denen die Freiheit des Denkens ein wahres Anliegen ist, so ist hier der Grund dafür zu sehen. Der Mensch, der nur abgerichtet ist, gewisse intellektuelle Funktionen auszuüben — wobei, wie wir sahen, erst noch fraglich bleibt, ob er diese Funktion wirklich befriedigend auszuüben vermag — will und braucht doch eigentlich gar keine Freiheit. Was Wunder, wenn ein solcher, selbst wenn er sich in guten Treuen zur Freiheit bekennt, einzelne Maßnahmen, die unter der Herrschaft der Tyrannei getroffen werden, als beispielhaft hinstellt, ohne den inneren Widerspruch überhaupt zu bemerken. Die Freiheit verteidigen heißt die Freiheit im Leben verwirklichen, und wie kann man dies tun, wenn man völlig damit zufrieden ist, ungestört Funktionen auszuüben, wären es auch noch so komplizierte und anspruchsvolle intellektuelle Funktionen.

Deshalb müssen sich die Hochschulen im Bewußtsein ihrer Verantwortung sehr ernsthaft bemühen, dieser Entartungserscheinung Einhalt zu gebieten. Aber was kann getan werden? —Die einer oberflächlichen Betrachtung naheliegende Maßnahme besteht darin, Studienpläne aufzustellen, die eine große Anzahl verschiedener Lehrgegenstände umfassen. Man stellt sich vor, durch ein solches umfangreiches und seiner Struktur nach heterogenes Studium werde spezialistischer Einseitigkeit wirksam begegnet. Natürlich verlangt das eine entsprechend lange Dauer des Studiums. Dies allein sollte uns aber die Aussichtslosigkeit dieses Weges erkennen lassen. Das Problem würde sich ja im Laufe der Zeit immer wieder stellen, und wo käme man hin mit diesen immer wiederkehrenden generellen Verlängerungen der Studienzeit! Wenn das Heilmittel der allgemeinen Studienverlängerung angepriesen wird, kommt mir unwillkürlich folgendes in den Sinn:

Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts bedurfte es zur Erlangung des Grades eines Doktors der Theologie, z. B. an der damals neu gegründeten Universität Basel, eines Studiums von mindestens 21 Semestern, wobei der Kandidat allerdings während langer Jahre gleichzeitig Student und Dozent war (vgl. E. Bonjour: Die Universität

Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart, Helbing und Lichtenhahn, Basel 1960). Dabei ist die Studiendauer vom Bakkalaureat an aufwärts gezählt, da der damalige Bakkalaureus etwa dem heutigen Maturanden vergleichbar sein mag. Offenbar vermochten aber die Theologen jener Zeit mit all ihrer ungeheuren Gelehrsamkeit nichts Wesentliches mehr auszusagen, denn sonst hätten die geschichtlichen Ereignisse wohl nicht den Gang nehmen können, den sie genommen haben. —Wird es uns einmal ähnlich ergehen? Werden wir unseren hektischen Studien- und Forschungsbetrieb immer weiter aufblähen, bis schließlich alles in der Belanglosigkeit versanden wird? Der Vergleich mit den damaligen Verhältnissen hinkt ohne Zweifel, aber es könnte doch eine gewisse Parallele bestehen.

Wenn wir nun aber eine übertriebene Verlängerung der Studienzeit ausschließen und gleichwohl Studienpläne ins Werk setzen wollen, in die so außerordentlich vieles hineingepackt wird, so ist die Oberflächlichkeit des Studiums die unvermeidliche Folge. Übrigens liegt hier noch ein tieferes Problem. Ein sehr heterogenes Studium, das sich also aus Lehrgegenständen sehr verschiedenen Charakters zusammensetzt, ist schon an sich problematisch, selbst abgesehen von der dazu benötigten Zeit. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß jedes Wissensgebiet die ihm gemäßen Denkformen entwickelt und daß der Lernende sich eben diese aneignen muß. Die Möglichkeit des Einzelnen, sich sehr verschiedene Weisen des Denkens so zu eigen zu machen, daß er sie wirklich beherrscht, sind durchaus begrenzt. Hier gibt es natürlich große individuelle Unterschiede. Wenn sich aber ein Kollegium von Professoren zusammenfindet, um einen Studienplan auszuarbeiten, der den Studenten zwangsläufig einen Weg führt, der möglichst große Universalität gewährleisten soll, dann kann es leicht geschehen, daß beim Studenten eine übermenschliche Vielseitigkeit der Begabung vorausgesetzt wird, die keiner der Professoren selber besitzt. Natürlich hat man bei solchen Überlegungen unvermeidlicherweise immer etwas wie einen Idealstudenten vor Augen, den es nicht gibt. Das darf aber nicht dazu führen, wirklich unrealistisch zu werden und Dispositionen zu treffen, die in Tat und Wahrheit gar nicht zum beabsichtigten Erfolg führen, was außerordentlich leicht eintreten kann.

Alles in allem: In die Breite gehen, den Studenten zur Beschäftigung mit möglichst viel Verschiedenem zu zwingen, das ist kein Weg. Es bleibt also nur das andere: in die Tiefe gehen. In der Tat, die Enge der Spezialistenmentalität, jenes «Allzufachmännische» muß vorab innerhalb des einzelnen Wissensgebietes selbst überwunden werden. Dies aber bedeutet Vertiefung, wobei Vertiefung wiederum nicht heißen darf das Eintreten auf möglichst viele Einzelheiten um ihrer selbst willen, sondern das Durchdenken der Grundlagen. Dabei können natürlich Einzelheiten im Hinblick auf das Verständnis des Grundlegenden bedeutsam sein. Wo dies geschieht, wird dort weitergefragt, wo der Nur-Fachmann nicht weiterfragen würde, und gerade das ist entscheidend wichtig. Das Erkennen und Schaffen des menschlichen Geistes wird so erlebt. Daß es uns dabei in der besonderen Gestalt entgegentritt, die gerade diesem Wissensgebiet gemäß ist, hat dann keine grundsätzliche Bedeutung. Solches Bemühen um ein Wesentliches, diese, wie ich es nennen möchte, echte Wissenschaftlichkeit formt die geistige Persönlichkeit, anstatt sie zu verformen. Es tritt uns ja dann nicht das Fachmannsdenken entgegen als das selbstverständlich Richtige, das man sich nun einmal anzugewöhnen hat. — Wenn man in einzelnen Wissensgebieten in die Tiefe hinabsteigt, werden auch die Querverbindungen zu anderen sichtbar, die man manchmal gar nicht vermutet. Bisweilen entdeckt man eine überraschende Ähnlichkeit der gedanklichen Struktur der Probleme, selbst in weit voneinander entfernt liegenden Gebieten. —

Wenn wir an den Hochschulen also bestrebt sein wollen, unserer Aufgabe gemäß den Studierenden nicht zum engen Spezialistendenken hinzuführen, sondern im Gegenteil zu jener geistigen Mündigkeit, die den Akademiker kennzeichnen sollte, so ist das Entscheidende nicht, was wir lehren, sondern wie wir lehren. Das Problem läßt sich nicht vom Studienplan aus lösen, sondern es fällt auf jeden einzelnen Dozenten zurück. Er muß mehr als nur Fachmann sein. —Was könnte ein noch so geschickt ausgeheckter Studienplan nützen, wenn jeder einzelne Professor sich nur bemühte, dem Studierenden diejenige professionelle Deformation aufzuprägen, die er selbst erfahren hat? Der Student hat ein feines Sensorium für das Unzulängliche eines solchen

Fachmannsunterrichtes, selbst wenn er nicht klar sieht, woran es eigentlich liegt.

Ist es unsere Konzeption der akademischen Lehre, daß der Dozent, sein eigenes Fachgebiet von höherer Warte aus sehend, die gedankliche Durchdringung des Lehrgegenstandes in echter Wissenschaftlichkeit vollzieht, dann folgen daraus allerdings auch Konsequenzen bezüglich der Wahl der Lehrgegenstände. Die Hochschule muß dann eine gewisse Zurückhaltung üben, wenn es gilt, sich neue Lehrgebiete einzugliedern; denn nicht alles, was praktisch bedeutsam ist, eignet sich deswegen auch schon zum Hochschulfach. Übrigens darf man sich auch der Tatsache nicht verschließen, daß heute leider vieles als Wissenschaft sich anpreist, was diesen Namen nicht verdient, eine Erscheinung, die kaum überraschen kann in einer Zeit, die glaubt, die Wissenschaft könne jedermanns Ding sein. Den häufig geäußerten Wünschen, die Hochschule möge rasch und in hinreichender Zahl möglichst einsatzfertige Fachleute für dieses oder jenes aktuelle Sondergebiet ausbilden, d. h. abrichten, müßte man antworten, daß sie dies nicht darf im Hinblick auf ihre Verantwortung gegenüber dem Studenten selbst, wie auch gegenüber der Praxis. Denn diese würde unter den Folgen solcher Maßnahmen am meisten leiden.

Was die Art und Weise des akademischen Lehrens betrifft, so kann ich die bei uns zu Lande übliche, vom Professor nach freiem Ermessen gestaltete Vorlesung, der kein von anderer Seite vorgeschriebener oder übernommener Text oder Plan zugrunde liegt, nicht hoch genug preisen. Die Vorlesung ist die der genannten Lehrkonzeption gemäße Form des Unterrichtes. Sie stellt allerdings hohe Anforderungen an den Studenten.

Das Problem, der Entwicklung zu immer weiter gehender spezialistischer Verengung zu begegnen, kann also von der Hochschule aus keineswegs durch neuartige Maßnahmen und äußerliche Reformen gelöst werden. Wir bezeichneten die Vertiefung, das Eintreten auf die tiefer liegenden Zusammenhänge, das was echte Wissenschaftlichkeit der Lehre genannt wurde, im Gegensatz zum Fachmannsunterricht, als den einzig möglichen Weg. Alles andere erweist sich in der praktischen Durchführung als die Quadratur des Zirkels und trifft obendrein den Kern der Sache nicht. Vertiefung aber bedeutet

zugleich Beschränkung auf weniges. Welch paradoxer Vorschlag! Es soll ein Weg eingeschlagen werden, von dem jedermann naheliegenderweise genau den gegenteiligen Erfolg erwarten würde, und der Charakter des Unterrichtes, der Geist, der ihn trägt, soll das einzige Gegenmittel sein! Darauf allein sollen wir uns verlassen, wissend, daß bestimmt kein Hochschullehrer das Ideal solcher akademischer Lehre wird vollkommen verwirklichen können. Da wird offenbar ganz außerordentlich viel verlangt, viel vom Professor, viel vom Studenten.

Das was verlangt wird von beiden, kann mit einem kurzen Wort gekennzeichnet werden: ein gewisser Adel des Geistes. Dies wird sehr treffend hervorgehoben durch Karl Jaspers (vgl. K. Jaspers, K. Roßmann: Die Idee der Universität, Springer 1961). Wo der Geistesadel nicht ist, wird nie und nimmer wahres Akademikertum sein, was und wieviel auch immer gelehrt und gelernt wird. —Und das Abgleiten in die geistige Enge ist dann nicht zu vermeiden, selbst wenn man durch ein Studium generale dem entgegenzuwirken versucht. Wenn unsere Hochschule eine philosophisch-staatswissenschaftliche Abteilung besitzt, so kann damit nicht angestrebt werden, den Studenten neben fachlicher Ausbildung auch noch Allgemeinbildung «einzutrichtern». Das könnte nicht gelingen. Sie kann nur ihre Schätze bereithalten für die, die sie ergreifen wollen. Das Bestehen dieser Abteilung ist eine Notwendigkeit, denn man setzt voraus und sollte voraussetzen dürfen, daß sie einem echten, von vornherein vorhandenen Bedürfnis des jungen Akademikers entgegenkommt.

Diejenigen Studenten, die den Adel des Geistes besitzen, werden sich nicht in spezialistische Enge hineinzwingen lassen, auch wenn sie dereinst Spezialisten sein werden. Unsere Pflicht ist es, durch die Weise und den Geist unseres Lehrens diesen Studenten das zu geben, worauf sie ein Anrecht haben. Dies ist, was die Hochschule tun kann. Solche Menschen werden zur menschlichen Ganzheit streben, und sie allein können verhindern, daß all unser kompliziertes Wissen und Können in die Sinnlosigkeit absinkt.