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Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie

Prof. Lazarus.

Die in den vollendeten zwei Bänden dieser Zeitschrift niedergelegten Untersuchungen, Forschungen und Darstellungen haben den Gedanken einer Völkerpsychologie zum Inhalt oder zur Triebfeder gehabt. Für die weitere Ausführung dieses Gedankens scheint es vor allem nothwendig, noch einige synthetische Grundgedanken aufzustellen.

Wie im Allgemeinen die synthetische Lehre zur analytischen Forschung sich verhalte, wie sie überall einander bedingen und voraussetzen, wie sich daraus für jede Wissenschaft eine petitio principii ergibt, welche darin und nur darin ihre Lösung findet, dass in jedem gegebenen Zeitpunkt wie in jedem Individuum das Denken über irgend welche Objecte in einem gewissen historischen Zustand sich befindet., in welchem beide, synthetische und analytische, Elemente bereits enthalten, wenn auch (schlimmstenfalls) nur in einander verflochten sind, — dies alles muss als bekannt vorausgesetzt werden. Mit eigenthümlicher Deutlichkeit aber tritt es auf dem Gebiete, dessen Bearbeitung uns hier obliegt, besonders auch deshalb hervor, weil dieser Zweig der Wissenschaft sich noch in seinen Anfängen bewegt, und ihr Wachsthum gleichsam durchsichtig und in beobachtbarer Nähe sich entfaltet.

Schon das Ziel, welches unserer Wissenschaft, ob auch in weiter Ferne, vorschwebt, ist ein zwiefaches: erstens die Geschichte der Menschheit und der einzelnen Völker zu verstehen, sie aus ihren wirklichen Ursachen zu begreifen; sodann von den psychischen Gesetzen, welche in der Geschichte ihre Wirksamkeit offenbaren, eine besondere Erkenntniss zu gewinnen. Jenes ergibt eine Analysis der Geschichte, dieses eine Synthesis der Völkerpsychologie. Beide Erkenntnisse aber bedingen einander, jede ist nur mit Hülfe der anderen erreichbar.

Der Fortgang der geschichtlichen Erkenntniss ist offenbar dieser: wir lernen zunächst unmittelbar oder mittelbar, je nach der Art der Zeugnisse, die geschichtlichen Thatsachen, die Zustände und Ereignisse kennen; sodann suchen wir den Gang der Geschichte, d. h. die causale Folge derselben, die Thatsachen aus ihren Ursachen zu begreifen. So weit geht die Aufgabe der Geschichtschreibung. Wie es aber geschieht, dass die Thatsachen aus ihren Ursachen sich entwickeln, wie die Folgen in ihren Gründen enthalten, die Erscheinungen an ihre Bedingungen gebunden sind, das sind Fragen, welche ausser dem Bereich der Geschichte als solcher liegen. Sie fallen nach der üblichen Trennung und einer vorläufig gewiss noch nothwendigen Theilung der Arbeit einer andern Wissenschaft zu. Um sie zu beantworten, muss vor allem eingesehen werden, dass die Thatsachen, um die es sich handelt, psychische sind. Damit allein aber, mit dem blossen allgemeinen Gedanken ist es nicht gethan; psychische Thatsachen sind noch keine psychologischen, so wie Naturgeschichte noch keine Naturlehre ist. Um von der Kenntniss der thatsächlichen Abfolge der historischen Ereignisse zur Erkenntniss ihres nothwendigen Zusammenhanges fortzuschreiten, kommt es vielmehr darauf an, in die Ereignisse selbst, wie man zu sagen pflegt, mit psychologischem Blick einzudringen. Dieser "psychologische Blick" bedeutet aber offenbar nichts Anderes, als die Einsicht, wie ein gegebenes historisches Ereigniss in bestimmten psychologischen Ereignissen besteht, und welche allgemeine psychologische Gesetze in diesen psychischen Thatsachen zur Anwendung gekommen sind.

Also setzt die analytische Erkenntniss der besonderen historischen

Ereignisse schon die (synthetische) Kenntniss allgemeiner psychologischer Gesetze voraus! *)

Die Kenntniss psychologischer Gesetze aber — der individuellen wie der historischen Psychologie — geht aus keiner reinen Synthesis a priori hervor; sie müssen aus der denkenden Betrachtung des Gegebenen gewonnen werden. Sie können zwar aus der Erfahrung — rein a posteriori — so wenig entnommen werden, dass sie in der That in ihrer Einfachheit in der Erfahrung meist nicht einmal gegeben sind; sie müssen durch einen schöpferischen Act, in welchem der Gegensatz von a priori und a posteriori nichtig und aufgehoben erscheint, entdeckt werden. Dass indessen die Aufstellung von allgemeinen Gesetzen, oder die Annahme von letzten einfachen Thatsachen, in deren gesetzmässiger Verflechtung die Bedingungen liegen für den Ablauf zusammengesetzter Erscheinungen, zumeist und zunächst nur hypothetischer Art sein wird, dass sie ihre Geltung erst durch Vergleichung mit gegebenen historischen Thatsachen bewähren müssen, dies bedarf hier keiner weiteren Auseinandersetzung.

Sieht man nun ab von den seltenen Fällen eines glücklichen, genialen Fundes synthetischer Gesetze, oder eines besonders tief eindringenden Scharfblickes in die Zergliederung der wirklichen Ereignisse, und rechnet man vielmehr nur auf den Erfolg einer ernsten Arbeit in der Wissenschaft, so wird man behaupten müssen, dass beide Methoden fortwährend und wechselweise zur Anwendung kommen müssen, wenn ein wirklicher Fortschritt sich vollziehen, auf die analytischen Betrachtungen nicht unfruchtbarer Fleiss verwendet, und von den synthetischen Hypothesen nicht zu viel zurück genommen werden soll. Das populäre Bewusstsein aber wird immer schneller zur analytischen Betrachtung hindrängen, die gründliche Wissenschaft vorzugsweise bei

den synthetischen Versuchen verharren: denn die Analysis offenbart sofort ihre praktische Zweckmässigkeit, die Synthesis aber ist eine theoretische Nothwendigkeit; jene erscheint reicher, weil sie an die Fülle lebendiger Thatsachen sich anschliesst, die sie zu erzeugen scheint, diese ist scheinbar dürftig, aber in Wahrheit fruchtbar, weil sie Organe hervorbringt, mit deren Hülfe man erst die psychologischen Thatsachen als solche erfassen kann; auch erregt die Analysis sogleich den Schein der Wahrheit, weil sie an gegebene Thatsachen sich anlehnt und sie entwickelt, während die Synthesis oft im Gewande der Hypothese auftreten muss, und erst nach einem langen und rauhen Weg der Forschung am Ziel der Erkenntniss lebendiger Thatsachen anlangt.

Aus all dem seht hervor, wie viel uns daran liegen muss, vor allem bei dem Versuch, synthetische Grundlagen für unsere Wissenschaft zu gewinnen, emsig auszuharren *); wir dürfen auf den Schein, durch unser Bemühen lichtverbreitende Entdeckungen zu machen, verzichten, sobald wir uns bewusst sind auf dem

und einzigen Weg uns zu befinden, welcher endlich zur Entdeckung der Wahrheit führen kann. Der Weg der Wahrheit ist Anfangs nicht minder steil und dornig als der der Tugend, und die Geschichte der menschlichen Irrthümer lehrt uns für die Erforschung der Wahrheit — Geduld und Fleiss.

Wir hoffen auf apologetische Auseinandersetzungen zu Gunsten unserer Arbeit an einer Völkerpsychologie nicht mehr zurückkommen zu müssen; der Aufsatz, für welchen dieser eine Fortsetzung ist, hat hoffentlich manchen Bedenklichen über seine Zweifel beruhigt. Wir wollen daher an dieser Stelle nur noch bemerken, dass ein zwiefacher und in sich widersprechender Irrthum in der Würdigung unseres Bemühens bis jetzt pflegt begangen zu werden. Einestheils namlich meint man, der Gedanke einer Völkerpsychologie, wie wir sie vielfach definirt haben, enthalte der Schwierigkeiten so viele und so grosse, dass sie niemals würden zu überwinden sein; und aus demselben Munde ist anderntheils zu hören, dass die bisherigen Leistungen für dieselbe noch nirgends Vollkommenheit, Vollständigkeit und Sicherheit enthielten. Als ob nicht jeder Anfang schon ein Beweis gegen die völlige Unmöglichkeit wäre! und als ob nicht die mit Recht behauptete Schwierigkeit der Sache die Erwartung schneller und vollkommener Leistungen mässigen müsste!

Unsere Genossen in der Herbartschen Schule möchten wir aber besonders einladen, das Streben dieser Zeitschrift mit einigen Anregungen zu vergleichen, welche Herbart in der sechsten, siebenten und achten Abhandlung des neuten Bandes der sämmtlichen Werke gegeben hat, von denen Hartenstein in der Vorrede mit Recht behauptet, dass sie als Erläuterung, ja selbst als Ergänzung dessen angesehen werden können, was die Einleitung zum zweiten Bande der Psychologie über die Grundzüge einer Naturlehre des Staats darbietet.

Bei einem Blick in die genannten Abhandlungen würden sie erkennen, dass Herbart die Aufgabe, eine Völkerpsychologie in unserem Sinne zu schaffen, weder für eine unmögliche, noch auch für eine unnöthige gehalten haben würde. Er theilt dort der Psychologie so weite und grosse Aufgaben zu, er eröffnet

selbst die Aussicht in so tief eindringende Betrachtungen, dass man behaupten darf, sie würden im Falle der Ausführung zu einer eigenen Disciplin auch für ihn sich gestaltet haben. Aber abgesehen von der Theilung, der Sache und dem Namen nach, steht es fest, dass Herbart die Aufgabe der Völkerpsychologie überall streift, nur dass er den rechten Gesichtspunkt zur Erfassung derselben immer wieder verfehlt, nur dass die hellen Streiflichter, die er auf die Sache fallen lässt, von tiefen Schlagschatten gekreuzt und durchbrochen werden. Den Beweis dafür mag man schon darin sehen, — da eine weitere Ausführung dieses Ortes nicht ist — dass Herbart überall nur von der Beziehung der Psychologie auf politische Meinungen und Bestrebungen, auf die Staatswissenschaft redet, anstatt von der weiteren und wesentlicheren zur Geschichte. Mit Zuversicht aber kann man dieses behaupten, dass nach den Fortschritten, welche inzwischen die Sprachwissenschaft, die Geschichte und insbesondere auch die Psychologie gemacht haben, deren letztere wir im letzten Grunde ja ihm selbst verdanken, jetzt in Herbarts eigenem Sinne und nach seinen bezüglichen Gedanken die Aufgabe der Völkerpsychologie, wie sie von uns gefasst wird, an der Zeit ware.

Es handelt sich dabei nicht darum, Herbart als Autorität für unser Bestreben anzurufen; niemals würden wir ihn nach seinem hohen Sinn verehren, wenn wir auf seine, anstatt der Wahrheit Autorität uns berufen wollten; dann, und nur dann, werden wir ihn wahrhaft verehren, wenn wir nicht an dem Mass der von ihm selbst geschöpften Erkenntniss uns begnügen, wenn wir vielmehr jede Anregung, die er selbst — oder ein Anderer — zur Entdeckung der Wahrheit gegeben, mit seinem wahrhaft vorbildlichen Ernst und Eifer verfolgen.

In diesem Sinne fordern wir die Vertreter der Herbartschen Schule auf, an dem Werke der Völkerpsychologie eifriger, als sie es bis jetzt gethan, mitzuarbeiten.

Fast als selbstverständlich aber dürfen wir es betrachten, dass wir aufs Dringendste unsere Aufforderung zur Mitarbeit an alle Diejenigen erneuern , welche sich mit der Geschichte des Culturlebens beschäftigen und für die psychische Erläuterung und

Begründung desselben ein Interesse haben; sie mögen übrigens eigentliche Geschichtsforscher sein, oder als Juristen, Theologen, Naturforscher, Aesthetiker, Nationalökonomen u. s. w. der Geschichte ihres Culturgebiets ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Ihre Darstellungen, welche die psychologische Betrachtung herausfordern, oder Anregungen irgend welcher Art, werden uns stets willkommen, ja für einen fruchtbaren Fortgang der Untersuchungen kaum zu entbehren sein.

§. 1. Die Analogie des gesammten und des einzelnen Geistes.

Der Volksgeist besteht in den einzelnen Geistern, welche zum Volke gehören. Gerade unter diesem Gesichtspunkte aber, dass der Volksgeist seine Subsistenz in den einzelnen Geistern hat, ist eine wissenschaftliche Untersuchung über seine Wirksamkeit einerseits allein möglich, andrerseits aber auch als eine besondre, von der Erforschung des individuellen Seelenlebens noch verschiedene Aufgabe nothwendig. Allein möglich; denn die Philosophie der Geschichte redet immer von neuen Prinzipien, die in die Welt kommen und wirken. Wie aber wirken denn Prinzipien, wenn nicht auf die einzelnen Geister? Von einer Volksseele nach der Analogie des Gedankens einer Weltseele haben wir keine irgendwie in der Erfahrung gegebene Erkenntniss. Wir wurden uns deshalb völlig vergeblich bemühen, von irgend welchen Gesetzen ihrer Erscheinung und ihrer Entwicklung zu reden. Durch die Beobachtung der Einzelnen also muss untersucht werden, was es heisst, dass neue Prinzipien entstehen. Man muss zu diesem Behuf wissen, wie sie im Einzelnen sich bilden oder zur Geltung kommen und wie sie wirken. Dann aber wird es auch weiter nothwendig, über den Einzelnen hinauszugehen. Denn wenn nun die reelle Wirksamkeit in demselben vor sich geht, wie und wodurch ist die Wirkung im Allgemeinen, in der Gesammtheit? Hier muss man die Circulation der Ideen, die chemische Umwandlung derselben bei dem Lauf durch den psychoschen

Organismus des Volksgeistes begreifen; die Umwandlung, welche dieser selbst erfährt, die Endosmose der Ideen muss erkannt werden.

All das erfordert Analysen des historischen Geschehens, welche, als Anforderungen hingestellt, unmöglich erscheinen, in der That grosse Schwierigkeiten haben. So aber erscheint es bei zusammengesetzten Erscheinungen überall. Der Mensch hat Blut; was ist da zu analysieren? so fragte man sich wohl auch. Der Mensch sieht die Dinge, Sprechen und Verstehen findet statt; auch hier fragte man, was zu analysiren sei. Und doch bestehen die Erkenntnisse, welche wir über diese Prozesse gewonnen haben, nur in der Analyse derselben.

Indem wir nun nach synthetischen Grundsätzen und Kategorien suchen, mit deren Hülfe wir die Analyse des Geschehens im Volksgeiste vollziehen können, werden wir diesen allerdings unter der Analogie mit dem individuellen Geiste betrachten, weil der Geist nur am Geiste gemessen werden kann. Es handelt sich aber dabei nicht etwa darum, dem Gedanken über Gesammtgeist durch Vergleichung mit dem Individuum ein besonderes Gewicht oder unmittelbar eigene Haltbarkeit hinzuzufügen, als ob nämlich, was in der individuellen Psychologie als Wahrheit erkannt und zugestanden wäre, allein durch Annahme der Analogie auf Völkerpsychologie übertragen werden sollte. Die Geschichte der Philosophie überhaupt und derjenigen Denker insbesondere, welche gleichsam von ausserhalb derselben lediglich analogisierend in sie hineingeredet haben, warnt laut und eindringlich genug vor dem Unheil, das solches Denkverfahren angerichtet hat. Vielmehr handelt es sich zunächst meist nur um den leitenden Faden der Vergleichung, um einzelne Gedanken anschaulicher zu machen, zuweilen aber und mit grösserem Nachdruck noch um ein Zwiefaches. Da die Wörter überhaupt und vorzüglich, wenn man irgend nach Anschaulichkeit der Rede trachtet gemäss der innern Sprachform sich vorwiegend auf Analogieen mit sinnlichen Erscheinungen stützen (wie wenn etwa von Anziehung und Abstossung, von Druck und Gegendruck, von Spannung und Lösung die Rede ist): so ist es, wenn vom öffentlichen Geiste geredet wird, oft eine nützliche Vorsorge, unmittelbar

an die Vergleichung mit dem individuellen Geist anzuknüpfen, damit die Wörter selbst in derjenigen secundären Bedeutung verstanden werden, welche ihnen dadurch näher gelegt ist. Es wird also der ganzen Rede damit die bestimmte Sphäre angewiesen, in welcher sie eine eigene Bedeutung gewinnt. Wo die Analogie die wirkliche Geburtsstätte des Gedankens ist, wird die Hinweisung auf dieselbe immer das Verständniss erleichtern. Sodann aber kann auch der wirkliche Grund eines Gedankens in ihr enthalten sein, wenn er sich nämlich auf die Natur des Geistes schlechthin stützt; denn in diesem besondern Falle tritt wirklich die Thatsache ein, die wir der Analogie im Allgemeinen abgesprochen haben, dass nämlich der Satz deshalb Geltung anspricht in seiner Anwendung auf den Volksgeist, weil er in Bezug auf den individuellen Geist anerkannt ist. "Wenn im öffentlichen Leben", sagt Herbart, "ein Wechsel von Factionen die bürgerliche Ruhe stört, so lag das Vorbild nicht bloss, sondern selbst der Ursprung hiervon, offenbar in dem Tumult der Leidenschaften, die in den Gemüthern gähnen." Im Gesammtgeist also, kann man sagen, verhalten sich die Einzelgeister so, wie sich im Individuum die einzelnen Vorstellungen oder überhaupt geistigen Elemente verhalten. Bevor wir die positiven Beziehungen, in denen diese Gleichheit ihren Ausdruck findet, entwickeln, müssen wir einige andere hervorheben, welche sie zu stören oder völlig aufzuheben scheinen.

Der Werth dieser Vergleichung beruht natürlich gar nicht darauf, dass sie eine durchgängige ist, und es handelt sich auch nicht darum, sie als eine solche zu erweisen, vielmehr nur darum, auch durch die ablenkenden Betrachtungen das Mass und die Art der Gleichheit festzustellen.

Die Grundverschiedenheit zwischen beiden besteht offenbar zunächst darin, dass im Individuum die grossen und oft sehr disparaten Massen der Vorstellungen durch die Einheit des Subjects zusammengehören; im Volksgeist aber entspringt umgekehrt die Einheit des Subjects nur aus der Gleichheit oder Vereinbarkeit des Inhalts in den Individuen. Wir lassen es hier dahingestellt, dass auch innerhalb des Volksgeistes oft genug von Gegensätzen die Rede ist und sein darf, die er in sich birgt,

ohne dass wir darum die wirkliche Einheit desselben aufgehoben sehen, dass umgekehrt auch innerhalb der Einheit des Individuums als Subject, in ihm, als thätigem Geist betrachtet, eine Gegensätzlichkeit und Zerrissenheit sich ausbilden kann, gegen welche die Subjectseinheit keinen Schutz bietet. Wir verweisen vielmehr nur darauf, dass beim Individuum, falls es in einer idealen Weise entwickelt wäre, die Massen der Vorstellungen in ihm eine solche Einheit bilden, dass die Einheit des Subjects ganz gleichgültig würde, dass sie als Factum und nicht als Grund für jene innere Einheit bestände, dass sie die That, aber nicht den Werth der Einzelheit bezeichnete. Wie sich also über dem ursprünglichen Bande der Seeleneinheit das höhere Band der geistigen Thätigkeit webt, das im Inhalt und in der Form derselben seinen Ausdruck findet: so auch entwickelt sich umgekehrt im Volksgeist ausser der Gleichheit und Einheit des geistigen Geschehens eine Einheit der Existenz.

Ferner aber scheint die Vergleichung unmöglich gemacht durch eine Eigenschaft der individuellen Vorstellungen im individuellen Geist. Eine jede Vorstellung ist, so scheint es, ein einfaches, jedes Individuum aber ein mannichfach zusammengesetztes Ganze. Allein genauer erwogen steht die Sache so, dass auch sehr wenige individuelle Vorstellungen einfache sind. Die Erinnerung z. B. an die Schlacht bei Leipzig ist eine Vorstellung, welche auf das Gemüth jedes Deutschen eine bestimmte Wirkung ausübt; sie wirkt wie eine einfache, ist aber in der That eine verdichtete, aus einer grossen und sehr mannichfaltigen Masse von Ereignissen, Beziehungen, Folgen u. s. w. In gleicher Weise nun bedeutet jedes Individuum im Volksgeist mit seiner ganzen Mannichfaltigkeit so viel, wie eine Vorstellung im Individuum. Die einzelnen Menschen unterscheiden sich eben wie einzelne Vorstellungen nach dem Reichthum des in ihnen verdichteten Inhalts. Ein Schneider und ein Schuster, ein Bauer und ein Krämer im gleichmässigen Tritt seines nationalgeistigen Daseins ist so viel, wie eine relativ einfache Vorstellung. Wir tragen individuell solche Vorstellungen z. B. von den gewöhnlichen sinnlichen Dingen um uns her in Masse mit uns herum, ohne dass sie für unsern Geist bedeutungslos und

entbehrlich wären, und doch auch ohne dass sie irgend welchen wesentlichen Einfluss auf unser geistiges Leben übten. Grosse, hervorragende Männer haben wir bereits früher mit den leitenden Ideen, mit herrschenden Vorstellungen verglichen; sie wirken innerhalb des Gesammtgeistes wie diese innerhalb des Individuums. Oft werden grosse, weite Massen von Vorstellungen durch eine einzige neue, durch eine neue Kategorie, Methode, Idee (man vergleiche die Naturwissenschaften, Ethik und Religion) in ihrem Inhalt umgewandelt; ebenso der Zustand, das Verhältniss, der Lebensinhalt ganzer Volksklassen durch einen Gesetzgeber, Volkslehrer, Eroberer u. s. w. (Luther, Lessing, Friedrich der Grosse, Napoleon).

§. 2. Das Zusammenleben.

Geistiges Leben besteht dann, dass nicht Vorstellungen überhaupt aufgefasst werden, sondern dieselben sich auch in einer gegenseitigen Beziehung, Durchdringung und Bewegung befinden. In dieser Bewegung und gegenseitigen Durchdringung der einzelnen psychischen Elemente zur Einheit und Energie eines geistigen Lebens ist das Abbild enthalten für die Einheit im Leben eines Gesammtgeistes, welches sich in den einzelnen Individuen vollzieht.

Aber nicht bloss das Abbild, sondern auch die Bedingung für das Sehen eines Gesammtgeistes ist darin enthalten. Denn das geistige Gesammtleben besteht eben darin, dass der Gedanke gleichzeitig und beziehungsweise gleichmässig in einer Vielheit von Individuen mit an seinen Erfolgen auf Wille und Gefühl gedacht wird, dass der Gedanke, zunächst in einem Kopfe entsprungen, sich auf andere überträgt und in ihnen dieselbe Energie und Abfolge der Vorstellungen hervorruft. Geistiges Zusammenleben also heisst wirkliche Gemeinschaft des Lebens haben, d. h. dass, was geistig in dem Einen vorgeht, auch wirklich mindestens zur Kenntniss des Andern gelangt. Blosses Zusammensein in einem Lande, in einer Stadt, selbst in einem Hause heisst noch nicht Zusammenleben. Nur die passive Gleichheit der Eindrücke

und Einflüsse des Klimas und sonstiger gemeinsamer Naturbedingungen kann auch ohne wirkliches Zusammenleben sich äussern. Darin liegt die Lösung des Räthsels, dass auch ohne wirkliches Zusammenleben Gleichheit und insofern Einheit des Volkslebens stattfinden kann. Ist doch auch diese Gleichheit überall die Bedingung und Voraussetzung, um darauf eine Einheit und gegenseitige Durchdringung zu bauen, weil diese ohne ein gegenseitiges Verständniss nicht denkbar ist. Vortrefflich hat Heinrich von Sydel diesen Zustand einer vorhandenen Gleichheit ohne Einheit in Bezug auf das früheste Auftreten der deutschen Völker in der Geschichte charakterisirt. "Neben der Abwesenheit des Nationalgeistes", fast er, "tritt nicht minder deutlich die grösste Gleichartigkeit der nationalen Substanz hervor. Von diesen Menschen, die so geringen Trieb zur politischen Einheit haben, ist einer wie der andere beschaffen. Die Stämme des Nordens und des Südens, die Häuptlinge des ersten und des vierten Jahrhunderts sind sich zum Verwechseln ähnlich. Diese unterschiedlose Gleichartigkeit setzt sich weit in die Folgezeit fort. Bei der Berührung mit den Römern zeigen sich einige etwas roher, heftiger, gewaltsamer, andere etwas rascher, empfänglich für Staatswesen und Kultur; im Kern und Wesen aber sind es überall dieselben Leidenschaften, dieselben Neigungen, dieselben Charakterzüge, welche, höchstens graduell abgestuft, bei den verschiedenen Stämmen zum Vorschein kommen. Niemals in späterer Zeit ist Deutschland so arm an individueller Mannichfaltigkeit gewesen. Natürlich genug, denn erst auf dem Boden einer mannichfaltigen Kultur werden die individuellen Anlagen und Neigungen in ihrer feinern Nuancierung entwickelt und verdichtet. So ist überall in Germanien in der Urzeit im Wesentlichen der gleiche Götterglaube, die gleiche Rechtsentwicklung, das gleiche Verfassungsleben, die gleiche Kriegs- und Wanderlust, die gleiche Erregbarkeit und Bildungsfähigkeit. In hundert Fällen sieht man, dass Theile verschiedener Stämme auf das leichteste sich vermischen und neue Gruppen bilden, welche dann freilich wieder ebenso leicht einem weitern Scheidungs- und Mischungsprozess verfallen."

Die Lebensgewohnheiten, Berufs- und Lebensarten, die

socialen Zustände und endlich die politischen Verfassungen begründen in jedem Volke eine verschiedene Art und einen verschiedenen Grad des Zusammenlebens. Man kann sagen, dass hier in der verschiedenen Art des Zusammenlebens die wesentlichste Seite der Verschiedenheit der politischen Verfassungen enthalten ist. Die geringste Art des Zusammenlebens ist das Zusammentreffen in einem Centrum statt der Bewegung und Beziehung innerhalb der peripherischen Punkte. Alle Zuhörer z. B. einer Predigt, oder alle, an die ein Gesetz vom Staat ergeht, sind nur im Centrum geeinigt; und auch hier würde es noch einen Unterschied machen, wie weit das Bewusstsein von dieser centralen Einigung verbreitet und mitwirkend ist. In der Despotie und absoluten Monarchie haben wir eine solche Beziehung der Massen nur zu einem Centrum. Der Despot herrscht über alle im Volk etwa wie eine Leidenschaft über die Vorstellungen im Einzelgeist, wenn nicht gar wie eine fixe Idee. Hier werden alle die einzelnen Vorstellungen in ihrer Bedeutung, in ihren Verbindungen und Trennungen regiert nicht sowohl nach den in ihrem eigenen Inhalt gelesenen Gesetzen und Antrieben, sondern allein von jenem Centrum, das in seiner anziehenden und abstossenden Kraft dem gesammten Inhalt gewaltsam eine Gestaltung aufdrängt. In den aristokratischen Verfassungen haben wir das Bild herrschender Vorstellungen, welche auf die ganze Masse der geistigen Elemente leitend und regelnd einwirken. Die freie Bewegung aller psychischen Elemente aber, in welcher sich eine Sonderung und Verbindung je nach den Antrieben, welche in ihnen selbst gegeben sind, vollzieht, dergestalt, dass von unten auf, rein aus den objectiv gegebenen Beziehungen eine geordnete Einheit des geistigen Gesammtlebens sich entfaltet, bietet das Abbild der geordneten Republik. Wir verfolgen diesen Gedanken hier nicht weiter, weil eine Prüfung der verschiedenen Verfassungen nach ihren psychologischen Erfolgen und nach ihrer Angemessenheit für die verschiedenen Stufen der psychischen Bildung in der Folge einmal Gegenstand abgesonderter Betrachtung für uns sein soll.

Jedes wirkliche Zusammenleben der Geister ist von Erfolg; selbst die gegenseitige Offenbarung des völlig Bekannten und

völlig Gleichen zweier Geister, wobei man an Inhalt auf keiner Seite gewinnt, ist von Erfolg. Es entsteht nämlich auf beiden Seiten das Bewusstsein von dieser Gleichheit, ein Erfolg, der da von der allerfrohesten Wichtigkeit sein kann, wo man an der Gleichheit zu zweifeln Ursache gehabt hat, ein Erfolg, der sich messen lässt an der Kraft, welche aus dem Bewusstsein der Gleichheit entspringt; und diese Kraft pflegt sich für gemeinsames Handeln so vielfach zu steigern, als die Zahl der Individuen, Personen, Städte, Provinzen, ist, in denen die Gleichheit sich kundgibt. Es versteht sich aber von selbst, dass es selten bei diesem Erfolge allein bleibt. Wo die Menschen verschieden sind, wo der Lebensberuf sie individualisiert hat, da bringen sie neben dem gleichen einen differenten Inhalt zueinander, und das Zusammenleben hat Bereicherung, mindestens auf einer Seite, zur Folge.

Bereicherung ist nicht immer Verbesserung. Auch das Schlechtere kommt als ein neuer Inhalt und theilt sich mit. So kann Verderbniss entspringen. Ausgeschlossen ist durch wirkliches Zusammenleben nur der Stillstand.

Was durch das Zusammenleben jedenfalls und nothwendig geändert wird, ist jedoch nur die Masse des Bewusstseins, der Inhalt des Vorstellungskreises; die Masse allein aber bestimmt das Wesen der Personen noch nicht. Es gehört dazu, wie wir eben gesehen haben, auch die Art der Bewegung und Durchdringung derselben. Also kommt es auch wesentlich auf die Art des Zusammenlebens an. Wäre es möglich, einen vollständigen Einblick in die Geschichte des Zusammenlebens eines jeden Volkes zu gewinnen; könnte man die Arten und Grade desselben so bestimmt auffassen, dass sie sich als bestimmte Grössenwerthe ausdrücken liessen; würde man so die Werthung eines jeden Volksgeistes rein aus der subjectiven und zeitlichen Form der innern Beziehungen seines Gesammtlebens darstellen: so würde sich dieselbe höchst wahrscheinlich als eine Gleichung darstellen zu derjenigen Schätzung eines Volksgeistes, welche man aus seiner schöpferischen und objectiv bleibenden Thätigkeit zu entnehmen pflegt, gerade wie man auch den individuellen Geist eben so wohl durch die Art der Prozesse, d. h. der Bewegungen

seiner geistigen Elemente charakterisiren kann — eben so wohl, und vielleicht noch besser, als man ihn durch den Inhalt, welcher in diesen Prozessen bewegt wird, charakterisirt.

Wenn in dem von der Mitte des sechzehnten bis zur Mitte des siebzehnten reichenden Jahrhundert in Spanien das religiöse und das politische Leben von jeder Aeusserung einer freien Meinung abgeschlossen, wenn vollends etwa von Seiten der Philosophie mehr als scholastischer Redekampf und eine von der überlieferten Autorität der Kirchenmeinung abweichende Ansicht unerhört ist, andererseits aber in Bezug auf Poesie überhaupt und dramatische insbesondere die individuelle und freie Meinung im Volke bis zum demokratischen Extrem (einer ochlokratischen Despotie in Madrid unter Anführung des berühmten Schusters) sich geltend macht: so entspricht es diesen Zuständen des öffentlichen Lebens vollkommen, dass die Poesie sich bis zur glänzenden Höhe klassischer Vollendung ausbreitet, welche nur durch manche tiefe Schlagschatten aus jenem kirchlichen Gedankenzwang verdunkelt wird, das kirchliche und politische Leben aber einer immer grössern Erstarrung entgegengeht.

Anmerkung. Die neuere Zeit zeigt einen besondern Trieb und Drang zu einem in allen Gebieten activen und bewussten Zusammenleben. Die Vereine verschiedenster Art, Juristentage, Kirchentage, Lehrerversammlungen, Naturforscher- und Philologengesellschaften u. s. w. Noch fehlt vielfach das Bewusstsein, inwiefern diese Versammlungen Mittel zu einem Zweck sein sollen. Es sind meist noch ganz dunkle Vorstellungen, was eigentlich dabei herauskommen soll; aber sie enthalten ein vollkommen richtiges Streben. Man hört da oft, die Zusammenkunft habe zwar kein objectives Resultat; aber mindestens sei es gut, sich persönlich kennen zu lernen. In der That steht dieser subjective Zweck höher als der objective; und all das Drängen nach Zusammensein hat das Gute, zum Zusammenleben zu führen. Man wird allmählich schon inne werden, dass mit diesem Zusammenessen und Redenhalten wenig gethan ist; aber man wird dann auch die Formen finden, den wirklichen Inhalt des Zusammenlebens zu gewinnen. An der Sprache, den Sitten, den Institutionen, den Kunstwerken und Industrieerzeugnissen, an den Büchern und

Schriften aller Art besitzt man zunächst nur Centralpunkte zur Bildung der Gleichheit der Geister. Unterstützt von einer activen und persönlichen Bewegung bilden sie sich dann zu Elementen der Einheit aus. *)

§. 3. Die Abhängigkeit.

Alles geistige Leben beruht auf Beziehung, gegenseitiger Ergänzung. Die Nothwendigkeit und die Bedeutung dieser gegenseitige Beziehungen wird im einzelnen Geist zunächst darin offenbar, dass der Inhalt der einzelnen Vorstellungen selbst sich ändert je nach seiner Zusammenschliessung mit andern. Jede Vorstellung erleidet unter allen Umständen von denen, die mit ihr im Bewusstsein sind, einen Einfluss; einen Einfluss auf die Bestimmtheit ihres Inhaltes. Unter besondern Umständen tritt dieser Einfluss sowohl für neugebildete Vorstellungen, als für ältere, die wieder ins Bewusstsein zurückkehren, in derjenigen psychologischen Form auf, welche wir als Apperception bezeichnen . Als rein individuelle, einzelne Vorstellung bilden Newton und Göthe die von der Farbe nicht anders, durch kein anderes Mittel und auf keinem andern Wege, als der gewöhnlichste Bauernjunge, nämlich kurzweg durch Sehen; aber dieselbe Vorstellung empfängt einen ganz andern Inhalt, wenn sie mit andern Vorstellungsmassen in Verbindung kommt, wenn Vorstellungen von Naturgesetzen, vom Licht, vom Prisma, von Schwingung ihr zur Seite sehen und sie in ihren Complex aufnehmen. So tief greift dies ein, dass wir gar nicht weit genug zurückgehen können, um auf das einfache, ganz individuelle, das ist ganz natürliche, von vorhandenen Vorstellungen unabhängige Sehen zu kommen. Soweit unsere historische Kenntniss des Allgemeinen, und unsere genetische des Individuums hinabreicht, geschieht es schon abhängig von appercipirenden Vorstellungen. In gleicher Weise nun erscheint jedes Individuum in Bezug auf den bestimmten Inhalt seines geistigen Lebens bedingt durch

die Gesammtheit, innerhalb deren es sich befindet, und durch die Stellung, welche es in ihr einnimmt. Betrachten wir den Bauern als Beispiel, weil sein geistiges Leben relativ das einfachste ist. Sein industrielles Leben, die Ackerwirthschaft zu betreiben, ist überall gleich; es ist mehr von der Natur und von der Beschaffenheit seiner Arbeit bedingt, als von seiner Persönlichkeit. Betrachten wir ihn aber als Glied der Gesammtheit, wie eine Vorstellung in Berührung mit andern Vorstellungen, obwohl ihr Gegenstand scheinbar derselbe bleibt (Farbe bleibt Farbe, und Bauer bleibt Bauer). Nun denke man sich ihn in einer Ackerbaurepublik, oder in einer Handelsaristokratie, in einer constitutionellen Monarchie, wo er als Soldat mitdient und als Bürger mitwählt, oder unter der gutsherrlichen Polizei und Gerichtsbarkeit, oder als feudalen Frohnbauern. Gerade wie dieselbe Vorstellung in verschiedenen Köpfen, so ist hier das geistige Leben des Bauern, sein Bewusstsein, seine Gesinnung, seine Stellung, sein Einfluss, sein Streben, alles, alles anders.

Wenn aus dem wahren Gedanken, dass der Gesammtgeist nur in den Einzelnen besteht, keine Irrungen erfolgen sollen, so kommt es wesentlich darauf an, den Gesichtspunkt festzuhalten, der uns hier entgegentritt, dass also der Einzelne auch das, was er als Einzelner ist, nur erst als Glied des Ganzen ist, dass er die Eigenschaften, die ihm zukommen, nur dadurch besitzt, dass er dem Ganzen angehört.

Dies Verhältniss der Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesammtheit erstreckt sich aber in der That noch weiter. Nicht bloss die individualisierende Bestimmtheit, nicht bloss die Schattirung seines Lebensinhaltes empfängt der Einzelne von der Gesammtheit, sondern allermeist auch die Möglichkeit, diesen seinen Lebensinhalt überhaupt zu gewinnen. Es ist auch nicht bloss die Gelegenheit zur Anwendung und Bethätigung seiner individuellen Eigenschaften, durch welche der Einzelne von der Gesammtheit bedingt ist (denn der Redner setzt Zuhörer voraus, die ihn verstehen, der Feldherr Soldaten, die ihm folgen, auch der Gemeine eine Compagnie, in welcher er dient), sondern auch die Möglichkeit, sie zu erwerben und auszubilden, ist in gleicher

Weise bedingt. Der Einzelne wird ein Redender nicht als Einzelner, sondern nur in der Sprachgenossenschaft; er spricht diese Sprache als Glied dieser redenden Gesammtheit, er besitzt bestimmte Bürgertugenden nur als Glied dieser bürgerlichen Gesellschaft.

In theoretischer Beziehung geht dies so weit, dass wir uns den Menschen als vereinzelten gar nicht in einer Weise entwickelt denken können, welche mit der des geselligen Menschen kommensurabel wäre. Nicht bloss alles das, was Erfolg einer technischen, künstlerischen oder gar wissenschaftlichen Ausbildung, wird dem Einzelnen nothwendig von der Gesammtheit als Gegenstand der Erkenntniss entgegengebracht, sondern auch die Natur, wie sie Gegenstand seiner ganz unreflectirten, ungebildeten Erkenntniss ist und in den Kreis seines Lebens fällt. Der Mensch steht der Natur gegenüber, aber es gibt keinen Wes von ihm zu ihr, noch von ihr zu ihm, der so kurz wäre, dass ein Einzelner oder selbst eine Generation zu dem Ziele einer leidlichen Erkenntniss gelangen könnte. Die Gesellschaft, der Gesammtgeist, die Geschichte muss dazwischen treten, um die Brücke zwischen beiden zu bilden. Nur durch Tradition und Continuität der Entwicklung ist eine Erkenntniss möglich, vollends wenn diese irgend wissenschaftlicher Art sein soll. Jahrtausende nicht bloss eines Kulturlebens überhaupt, sondern sogar einer speciell wissenschaftlichen, forschenden Kultur hat es bedurft, um diejenigen Begriffe von den Dingen und Ereignissen der Natur zu gewinnen, welche wir heute unsern Kindern als sehr einfache Anschauungen durch Sprache und sonstige Anleitung beibringen. Der einzelne Mensch, und dächten wir uns das höchste Genie, würde nach den Erfahrungen der Geschichte zu diesen Begriffen niemals gelangen.

Anmerkung. Geben wir uns einen Moment der Hypothese hin, dass ein Mensch sogar Hunderte von Jahren mit der gewöhnlichen Sinnesschärfe alt würde, so erscheint es aus psychologischen Gründen auch dann noch zweifelhaft, ob er nur annähernd soweit kommen könnte, als eine Reihe von aufeinanderfolgenden Generationen gewöhnlichen Alters in der Hälfte derselben Zeit. Die Ueberlieferung des Vergangenen, beziehungsweise

Fertigen, sammt der individuellen Combination desselben gehören gleichmässig zum gedeihlichen Fortschritt.

Es gibt keine angebornen Ideen. Die Theorie, welche dieselben annahm, ist ebenso ungeschichtlich als unpsychologisch. Um die thatsächlichen Erscheinungen mangelhafter Entwicklung früherer Zeiten und niedriger Völker zu erklären, muss man zu der Annahme schreiten, dass diese angebornen Ideen so unentwickelt, so schlafend u. dgl. da sind, dass sie für die Entwicklung eben so viel bedeuten, als ob sie nicht da waren; und wo sie entwickelt erscheinen, muss die psychologische Analyse sich wiederum nach einer Fähigkeit umsehen, die angebornen Ideen auch anzuwenden, die Erscheinungen auf die Ideen zu vertheilen, eine Fähigkeit, welche bei näherer Beleuchtung gerade gross genug und geeignet ist, die Ideen eben so gut zu erzeugen. Auch Kant musste, um von seiner allgemeinen Raumanschauung zur Erfassung einzelner räumlicher Dinge zu gelangen, die Einbildungskraft erst als ein vermittelndes Glied setzen. Der leibliche Genuss, das Bedürfniss ist das einzige ursprüngliche Band zwischen dem Menschen und der Natur; seine Grenzen aber sind sehr eng. Auge und Ohr und Gemeingefühl aber und allmählich auch die andern Sinne schreiten über diese Grenze hinaus. Es gibt keine angebornen Ideen; aber auch die Vorstellungen einzelner Dinge kommen nicht von aussen, von den Dingen in die Seele; ihre Auffassung ist ein subjectiver, allmählicher Process; die Formen sind subjectiv aber nicht a priori; und ein Wechselverhältniss von Inhalt und Form findet statt, dessen verschiedene Stadien sich historisch und genetisch auf verschiedene Generationen vertheilen.

Das Gleiche tritt uns in Bezug auf die praktische Beziehung des Menschen zum Leben entgegen. Die Philosophen reden von der Bestimmung des Menschen; sie forschen nach dem Zwecke seines Daseins und fordern, dass sein Sinn auf die Erfüllung desselben gerichtet sei. Die Einzelnen aber, mit Ausnahme etwa eben der Philosophen (und auch nicht aller) wissen wenig von dieser Bestimmung im Allgemeinen, von diesem Zweck als einem letzten. Die Einzelnen suchen ihr Fortkommen in der Welt, ihre Stellung in der Gesellschaft; sie trachten nach dem

Genuss und wählen einen Beruf des Lebens. Der Beruf, der erwählt, der Genuss, der erstrebt, die Stellung, die gesucht wird, sie sind alle dem Inhalt nach durch die Gesellschaft gegeben und abhängig von dem Bildungszustand, von den öffentlichen Zwecken und Einrichtungen der Gesammtheit. Bis auf die schöpferischen Genien, von denen besonders zu reden ist, kann der Einzelne zur Bethätigung seines Daseins eben nur irgend ein Fach ergreifen, dessen wesentliche Substanz und Beziehung zum Ganzen bereits gegeben, vor den Einzelnen da ist. Abgesehen also von jenen Glücklichen, die auf eine Wahl des Berufs verzichten, weil das Schicksal ihnen mit der Geburt zugleich Stand und Stellung angewiesen hat, die sie befriedigen; abgesehen auch von den Unglücklichen, denen keine Wahl bleibt, weil das Schicksal sie mit der Geburt auf ihrer Hände Arbeit angewiesen hat, wird auch von den übrigen Menschen der Zweck ihres Lebens nicht frei gesetzt, geschaffen, sondern nur erwählt, ergriffen. Die Gesammtheit ist es, welche die Ziele stellt und die Schranken öffnet. Gilt dies nun von jeder historischen Zeit, um wie viel mehr von jeder vorhistorischen. Da sind die Einzelnen noch viel weniger im Stande, sich etwa eine Aufgabe für ihr Leben zu schaffen; da rennen die Einzelnen noch viel mehr und unterschiedsloser in den bezeichneten Bahnen nach vorgesteckten Zielen, und entweder die Natur selbst oder die Gesellschaft, die Gesammtheit ist es, welche die Ziele stellt. Der zwecksetzende Geist des Menschen also, er lebt und besteht nur in der Gesammtheit. Ergreifen und erfüllen, auch fördern, klären, fortsetzen kann der Einzelne die Zwecke des Menschenthums, nicht schaffen; geschaffen werden sie allein durch das Ganze.

Nicht bloss die Bestimmtheit des Inhalts, sondern auch der psychologische Charakter der Vorstellungen ändert sich, je nachdem sie einzeln oder in Reihen, beziehungsweise in Massen verbunden sind. Nicht nur die einzelnen Vorstellungen selbst erleiden andere Prozesse, je nachdem sie isolirt oder verbunden auftreten, sondern auch für die Reihen und Massen der Vorstellungen werden verschiedene Gesetze wirksam, je nachdem sie einander gegenüberstehen. Es braucht nur darauf hingedeutet zu werden, wie der ganze Bildungszustand eines Geistes psycholosisch

ein anderer ist je nach dem Grad der Innigkeit und Gegenseitigkeit dieser Verbindung, je nach der Beweglichkeit und Durchdringung der verschiedenen Reihen von Vorstellungen. Für den Gesammtgeist entspringt daraus auf analoge Weise ein eigenthümliches und merkwürdiges Verhältniss. Da er aus Individuen besteht, welche, als geistiger Inhalt betrachtet, nicht einfache Wesen, sondern erfüllt von mancherlei Gedankensystemen, dann von Gefühlen und Willen, von Gesinnungen und Wünschen sind, welche obendrein keineswegs immer eine solidarische Harmonie ausdrücken, so kann es geschehen, dass bestimmte Kreise von Individuen (A) mit bestimmten anderen Kreisen (B) in Bezug auf die eine Richtung, welche ein Gedankensystem in sich schliesst, vereinigt, von einem andern Kreise (C) getrennt sind. Gleichzeitig aber kann A mit C in einer andern Richtung verbunden und von B getrennt sein. Demnach scheidet sich also der Volksgeist nicht bloss subjectiv in Gruppen von Individuen, die einer Längen-Theilung vergleichbar wären, sondern zugleich objectiv in Gruppen von Gedankensystemen, dann einer Quertheilung vergleichbar, und er ist dann so in allen Individuen, die dies trifft, nicht bloss verbunden, sondern auch durchflochten. Man denke nur an die Einheiten und Trennungen von Staat und Kirche, Staaten und Nationen, und an die Fusionen aller Art, welche auf dem Boden der Politik und aller Gemeinschaft entspringen. Das geistige Leben der Gesammtheit, wie das der Einzelnen stellt sich so als ein mannichfaltig verschlungenes Gewebe dar, dessen durchsichtige Erkenntniss zu den wichtigsten und schwierigsten Aufgaben der Psychologie, wie der Geschichte gehört. *)

§. 4. Formen des Zusammenwirkens im Gesammtgeist.

Es ist schon mehrfach darauf hingedeutet worden, dass sich die Einzelnen in ihrem Zusammenwirken zu einem Ganzen und in letzterem auf eine verschiedene Weise verhalten werden; wir haben einstweilen vier solcher, bestimmt von einander unterscheidbaren Formen und Arten der Wirksamkeit, vermöge deren

die Thätigkeit der Individuen eine geeinigte Gesammtheit ausmacht , zu kennzeichnen.

A. Die Thätigkeit der Einzelnen ist in Bezug auf die Absicht, die sie leitet, auf den Zweck, zu dem sie hinführt, eine schlechthin individuelle; das eigene (subjective) Bewusstsein von dieser Thätigkeit enthält keine Beziehung auf die Gesammtheit; jeder thut, was er thut, unmittelbar nur für sich.

Gleichwohl bilden alle Einzelnen — auch ohne Wissen und Wollen — durch ihre Arbeit eine Einheit. Erkannt also wird diese Einheit nur von einem höheren Standpunkt, als derjenige ist, auf welchem eben die Einzelnen stehen; aber dennoch ist diese Einheit nicht ein bloss subjectiven Gedanke des Betrachtenden, sondern sie besteht durch wirkliche, concrete, oft einflussreiche (causale) Beziehungen, welche objectiv in dem Thun der Einzelnen sich kundgeben, nur dass sie dem Bewusstsein derselben eben so, wie ihrer Absicht und ihrem Zweck sich entziehen. Dieses Verhältniss nun zwischen den Einzelnen und der Gesammtheit ist, quantitativ betrachtet, das bedeutendste, ausgedehnteste. So verhalten sich alle Sprachgenossen zu einander; sie bilden eine Spracheinheit; aber der Einzelne will und weiss nichts davon, dass und in welchem Umkreis er mit den Andern eine Sprachgesammtheit ausmacht; jeder spricht das, was er zu sprechen hat, in seiner Sprache, aber dass er damit ein lebendiges Glied in der Sprachgenossenschaft ist, dies zu denken ist seine Sache nicht, gehört auch nicht zu seiner Eigenschaft als Sprechender. Und doch liegt — auch ohne ein entsprechendes Bewusstsein — in der Theilnahme Aller an dem Gebrauch der gleichen Sprache nicht bloss eine so bedeutende Beziehung der Nationaleinheit, sondern auch eine sehr wesentliche Bedingung für das eigenthümliche Leben einer Sprache. Denn wie sehr die in der Sprache gegebene Gesammteinheit nur in der durchgängigen Gleichheit aller Sprechenden zu beruhen scheint, (welche allerdings für sich allein schon wichtig genug ist, da sie den bestimmten Gleichwerth des allgemeinen, gegenseitigen, geistigen Verständnisses ausmacht), so tritt doch dazu noch der höhere Werth einer die Verschiedenheit in sich fassenden und verbindenden Einheit; die verschiedenen Berufsklassen nämlich

sind die Hüter und Pfleger verschiedener Theile des allgemeinen Sprachschatzes; und nur indem so Alle das Ganze erhalten und mehren, ist es auch für Jeden und für das Ganze da.

Man glaube ja nicht, dass es gleichgültig ist, ob die Kunstausdrücke der verschiedenen Gewerbe am Leben erhalten bleiben und ob die neuen Erfindungen durch neue Entdeckungen in der eigenen Sprache begleitet werden; eine zutreffende Bezeichnung für irgend ein Werkstück oder eine Hantierung eines Schiffers oder Schusters, eines Webers oder Maurers kann der springende Punkt werden in der Zeugung poetischer Anschauungen oder angleichender Gedanken. Die Fülle des Götheschen Styls quillt gerade aus dieser Kenntniss und Beherrschung aller Theile des Sprachschatzes. Den Einfluss, den die Wissenschaft rein von der sprachlichen Seite auf den nationalen Geist ausübt, wenn sie sich seiner Sprache bedient, kann man sich nicht gross genug denken. Sie mag dabei immerhin Begriffe von weitverzweigtem Inhalt durch Kunstwörter aus fremden Sprachen ausdrücken; auch dies sogar ist nicht bloss ihr allein, sondern selbst der eigenen Sprache dienlich, indem sie lehrt, an ein Wort zu gleicher Zeit Fülle und Bestimmtheit des Inhalts zu knüpfen, die sich ursprünglich bei dem Worte der Muttersprache auszuschliessen streben. Daneben schafft sie völlig ungesucht und meist unbewusst auch in der eigenen Sprache zahllose Kunstausdrücke, d. h. sie gibt vielen Worten neu und fest geprägten Inhalt, und den syntaktischen Formen verleiht sie, mehr als jede ausserwissenschaftliche Redeweise, Geschmeidigkeit und Bestimmtheit. — Es gibt keine nationale Wissenschaft, so lange diese in fremden Zungen reden zu müssen vermeint.

Auch der Gebrauch der Dialekte neben der allgemein anerkannten Schriftsprache birgt eine Mannichfaltigkeit unter der um so mehr belebten Einheit. Die Art und Ausdehnung dieses Gebrauchs ist freilich eine unbestimmt fluthende. Sobald aber der Dialekt ausschliesslich verwendet wird, und er die Kenntniss der allgemeinen Sprache verdrängt: so macht er sich in trennender

Weise zu einer eigenen Sprache; die Einheit ist nicht mehr für das Nationalleben, sondern nur für den Sprachgelehrten da. Meist aber und glücklich gestaltet sich das Verhältniss so, dass eine Art von Vertheilung der Lebensgebiete auf Sprache und Mundart stattfindet, wobei der Gegensatz von Stadt und Land nahezu umgekehrte Ansätze der Grössen aufweist.

In den norddeutschen Städten verhalten sich Schriftsprache und Mundart gewissermassen zu einander wie Berufsarbeit und erholende Beschäftigung der Musse. Alle innigen und zarten Beziehungen des Gemüthslebens, alle traulichen Bezüge des engeren Kreises, aller Scherz und Spatz im Allgemeinen und jede Neigung zur Derbheit im Besonderen flüchten sich in die vier Pfähle der Mundart; die Arbeit aber und der Verkehr, vollends alle öffentliche und wissenschaftliche Wirksamkeit tritt heraus auf den Markt der allgemeinen Schriftsprache. Wenn man auch in Hamburg und Rostock in den Comtoirs und Werkstätten oft genug Plattdeutsch hört, so hat doch bei allen scharf ausgeprägten Erkenntnissen, bei allen formulierten und stipulirten Gedanken die Schriftsprache den Vortritt. Auf dem Lande aber sind es nur die ganz allgemeinen und rein idealen Gebiete des Lebens wie die Belehrung der Religion, wissenschaftlicher Unterricht, politische und gerichtliche Verhandlung, welche durch das Mittel der Schriftsprache erworben und erhalten werden. Aehnlich ist es in der Schweiz; nur dass sich die Städte der östlichen Schweiz zur Schriftsprache so hinneigen, wie die städtische Bevölkerung im Norden an der Weser und Elbe, die westliche Schweiz dagegen ist in der Mundart zugleich zäher und reicher, so wie die Landleute des Nordens.

In gleicher Weise bildet der ökonomische Betrieb aller Einzelnen eine Einheit, obgleich Jene sich derselben nur in den seltensten Fällen bewusst werden. Während Jeder nur seine eigenen ökonomischen Zwecke verfolgt und nur diese verfolgen will, bildet er, also ungewollt und ungewusst, zugleich ein Glied in dem Organismus eines Ganzen, dessen Dasein und Wirkungsweise

allerdings die Wissenschaft erst entdeckt, dessen thatsächliche Existenz aber mit der Gesetzmässigkeit der inneren und gegenseitigen Beziehungen aller Theile objectiv gegeben ist.

Diese nationale Einheit des ökonomischen Lebens ist nicht bloss ein deutliches Abbild, sondern auch ein beträchtlicher Theil von dem einheitlichen Leben des Nationalgeistes überhaupt. Denn wie sehr es sich auch in allen ökonomischen Beziehungen nur um sogenannte materielle Dinge und Interessen zu handeln scheint, so sind doch in Wahrheit überall geistige Elemente Ursachen und Erfolge derselben; einerseits spielen in allem ökonomischen Betrieb, von der kunstmässigen Industrie bis zum Lenken der Rosse und des Pfluges, von dem wissenschaftlichen Beruf des Arztes bis zum Küchenjungen und Ruderknecht, die geistigen Elemente der Vorstellung und des bewegenden Willens die überwiegende Rolle; und andererseits liegt in den Geschäftsweisen der Menschen, den daraus hervorgehenden Wünschen und Gesinnungen und danach gewählten Zwecken sowohl das Grundmass für die Bestimmung aller Werthe, als auch für die Auswahl und Energie der ökonomischen Thätigkeit. Allerdings auf der Grundlage rein materieller Bedingungen und Bedürfnisse, welche, jedoch nur in sehr engen Grenzen, durchaus von einer unweigerlichen Nothwendigkeit beherrscht werden, erhebt sich, schon mitten in dem Kreise dessen, was man sinnlichen Genuss und sinnliche Arbeit nennt, ein Reich des Geistes und der Freiheit, eine Welt von Vorstellungen, welche in dem Ganzen der Nation durch Gleichartigkeit und gegenseitige Beziehung und Ergänzung eine Einheit bildet. Zu dieser Einheit also verhält sich jedes arbeitende und jedes verzehrende, also jedes ökonomische Individuum als ein Theil, ohne dass es sich dessen weiter bewusst wird.

Blickt man von dem, dem gewöhnlichen Auge allerdings leicht verschwindenden, Einzelindividuum irgend wie auf grössere Massen, dann ist die geistige Einheit im national-ökonomischen Leben, und die Art, wie die Gesammtheit und die Einzelnen einander fortwährend bedingen, leicht erkennbar. Es verschwinde z. B. in einem civilisirten Volke in den höheren Ständen der

Sinn für Luxus, oder in niederen der Fleiss und die Bescheidenheit des Lebensgenusses oder in den mittleren die schaffende geistige Regsamkeit, und das nationalökonomische Bild desselben wird sogleich ganz andere Züge annehmen.

Auch abgesehen von den ökonomischen Bedingungen und Erfolgen bildet die erzeugende und ordnende Thätigkeit des menschlichen Geistes eine Einheit innerhalb einer jeden nationalen Gesammtheit, voll von Gleichartigkeit, Bedingtheit und Ergänzung aller Einzelnen durcheinander. Aber auch hier erstreckt sich das Bewusstsein der Individuen von ihrer Abhängigkeit und Mitwirksamkeit meist nur auf die nächsten Maschen des weithin geflochtenen und überall zusammenhängenden Netzes der Gesammtheit; dass sie vollends mittelbar oder unmittelbar am Ganzen mitarbeiten, entgeht ihrem Blick. Und doch beruht auf dieser Vertheilung der gesammten geistigen Thätigkeit an die Einzelnen und Einzelmassen zum allergrössesten Theil die politische Ordnung oder ständische Gliederung Aller.

Da es sich hier um geistige Kräfte und Elemente handelt, liegen Quantität und Qualität, Anzahl und Bedeutung meist im Gegensatz zu einander. Die Grösse dieses Gegensatzes, die verschiedenen Verhältnisszahlen, durch welche er ausgedrückt wird, stellen sich bei den verschiedenen Nationen und Zeiten sehr deutlich heraus nicht bloss in der politischen Verfassung, in der Vertheilung der politischen Rechte, also überhaupt in der politischen, sondern auch in jeder anderen geistigen Schätzung. Und hierin liegt wiederum eines der bedeutenden Unterscheidungszeichen der verschiedenen Nationen von einander; nur dass die Betrachtung bei civilisirten Völkern eine feine Rechnung erfordert.

Anmerkung. Je fruchtbarer dieser Gedanke zu werden verspricht, desto eher mag es gestattet sein, noch einige Sätze flüchtig und lose daran zu fügen. Die Anzahl ist, obwohl es sich nur um Geistiges handelt, nicht gleichgültig. Sie ist es auch im individuellen Leben des Geistes nicht; denn die meisten unserer Erfahrungssätze sind für uns so einflussreiche und zuverlässige

Wahrheiten nur deshalb, weil sie gleich oder gleichartig so oft wiederkehren, obwohl man bei genauer Erwägung sagen müsste, dass sie an logischer Schärfe oder Sicherheit durch die Wiederholung nichts gewonnen haben.

Es spielen aber hier in der individuellen Seele, wenn auch nicht gleiche, so doch ähnliche Beziehungen zu Gunsten der grösseren, gleichartigen Vorstellungsmassen, wie zu Gunsten der zahlreichen, ob auch niederen Stande in der Gesellschaft.

Die Gleichartigkeit aber und das Bewusstsein von derselben ist die Bedingung für die grössere Macht der grösseren Anzahl. Die Masse eines Standes mag factisch noch so gross sein, sie ist von Einfluss nur nach dem Masse, als sie sich ihrer als Masse bewusst ist. Die Erzeugung dieses Bewusstseins wird durch einfache psychologische Gesetze in der Gesellschaft, wie in der Seele, unterstützt. Meist ziehen nun die Einzelnen sich zu Massen an, und das Bewusstsein der Gleichartigkeit hat noch nicht die Erkenntniss der Stelle, welche zum Ganzen eingenommen wird, zur Folge, sondern lediglich eine abstracte Zusammenschliessung und oft Abschliessung nach aussen.

Gründung, Erhaltung und Aufbesserung ihrer socialen Stellung ist durch beides — und beides ist gegenseitig zu einander — durch wachsenden Inhalt und Anzahl und durch steigendes Bewusstsein bedingt. .

Eben hieraus aber ergibt sich als Folge, dass es von der allergrössten Bedeutung ist: wie und worin eine Masse das Wesen der Gleichartigkeit setzt; welche Massen also, in welchen Grenzen und aus welchen Gründen sich als geeinigt auffassen.

Die Entwickelungsgeschichte des dritten Standes bietet auf jedem Blatt einen historischen Commentar zu diesen Sätzen, und sie wiederum können, weiter durchgebildet, einen Schlüssel des Verständnisses für jene abgeben.

Zu dem oben genannten Gegensatz von Anzahl und Bedeutung der Personen muss man einen zweiten, nur theilweise damit zusammenfallenden hinzunehmen, nämlich den von geistigen und materiellen Kräften. Es sind aber durchaus nicht etwa die rein geistigen Kräfte, die Intelligenz und Energie, welche im umgekehrten Verhältniss von Anzahl und Bedeutung über

die materiellen Massen herrschen; sondern nur diejenigen geistigen Potenzen, welche unmittelbar an materielle sich anlehnen, diese in Dienst nehmen; diejenigen also, deren Zweck und Richtung überhaupt nicht das Geistige selbst, sondern eben diese unmittelbare Beherrschung des Sinnlichen ist. Daher die kriegerisch und politisch und social herrschenden Stande keineswegs immer die nationalen Vertreter der Intelligenz als solcher sind.

Aber nicht bloss diese specifische Art von geistigen Elementen ist besonders ins Auge zu fassen, wenn von der Gliederung des Nationallebens die Rede ist; sondern es muss überhaupt als geistige Mächte erkannt werden, was an sich und geistig oft sehr ohnmächtig ist; die geistige Bedeutung beruht eben meist nur um allergeringsten Theile auf Seiten dessen, der bedeutet, viel mehr aber auf Seiten dessen, für welchen er bedeutet. Mit einem Worte, jene Unterschiede und Gliederungen, welche wir wesentlich als sociale Ordnung bezeichnen, bestehen weitaus überwiegend durch geistige Verhältnisse und in denselben; aber diese Verhältnisse, welche etwa den Einen ein Uebergewicht geben, beruhen nicht sowohl auf dem factischen Uebergewicht, das diese durch ihre Thätigkeit erzeugen, sondern mehr noch darauf, dass die Andern es ihnen beilegen. Ursprünglich wohl durch thatsächliche Verschiedenheit der geistigen Bedeutung, namentlich wegen ihrer Verflechtung mit materieller Kraft, erzeugt, erben sich gleiche Beziehungen in der Gesellschaft fort, welche wesentlich durch das Bewusstsein sowohl der Klassen von sich selbst, als namentlich von den andern erhalten werden. —

Auch in Bezug auf das moralische und religiöse Leben findet thatsächlich eine Zusammengehörigkeit aller Individuen in der nationalen oder kirchlichen Gemeinschaft statt, während das Bewusstsein davon in den meisten Menschen durchschnittlich sehr wenig entwickelt ist. Die Einzelnen pflegen ihre moralische Verpflichtung zu fühlen, sie zu erfüllen oder zu verletzen, ohne zu wissen, dass sie in ihrem Thun etwas für die Gesellschaft thun; und mit der religiösen Gesinnung stellt ein Jeder sich seinem Gotte gegenüber, ohne in ihr eine gesellschaftliche Leistung zu erkennen. Moral und Religion erscheinen als eigentliche Privatsache.

Dass in Wahrheit die, scheinbar ganz individuelle, moralische Führung und religiöse Auffassung des Lebens durch alle Abwandlungen der statistischen Zahlenverhältnisse und die Schattirungen der sittlichen Qualität die wesentlichsten Züge im Bilde eines Nationalcharakters ergibt, dies braucht nicht erst bewiesen zu werden.

Fast eben so gross aber und darum überall der historisch-psychologischen Prüfung werth ist eben der verschiedene Grad des Bewusstseins von der Zusammenschliessung der Individuen zur Einheit der Gemeinschaft in ihrem religiösen und sittlichen Leben. Wenn es z. B. auf den ersten Blick scheint, als ob Mass und Grund für die Grade dieses Einheitsbewusstseins in der Dogmatik selbst gegeben seien; dass eben deshalb der Protestantismus in der grösseren persönlichen Verantwortung und Wirksamkeit des Einzelnen den Individualismus begünstigt, wie auch wahr; der Katholizismus dagegen durch Concentration aller religiösen Elemente im Kirchenbegriff mehr das Einheitsbewusstsein erhält, wie nicht minder wahr: so sind diese Thatsachen in ihrer Bedeutung doch einer weit genaueren Prüfung zu unterwerfen, und solche Erscheinungen zu beachten, wie die, dass gerade im katholischen Italien sich zu allererst und in der grössten Entfesselung der moralische und religiöse Individualismus entwickelt hat, während innerhalb des Protestantismus einzelne Sekten, insbesondere die Herdenhüter, den höchsten Grad von Gemeinschaftlichkeit sowohl in den Gemüthern als in den Institutionen erzeugt haben.

In allen diesen Beziehungen also sehen wir die Lebenselemente der Individuen, aus denen die Gleichartigkeit, Zusammengehörigkeit und mit einem Worte die Einheit Aller hervorgeht, während diese und das Verhalten der Einzelnen zu ihr sich dem Bewusstsein derselben mehr oder weniger entzieht.

Gewissermassen als das Extrem dieses Verhaltens und dieses Mangels an Einheitsbewusstsein haben wir hier schliesslich eine Erscheinung zu betrachten, welche, wie man bald sehen wird, eigentlich in die folgende Klasse (B) des Zusammenwirkens gehört. Nämlich auch da, wo es sich um eine eigentliche politische Leistung handelt, mitten im politischen Leben also, finden

wir zuweilen dennoch den Mangel an Gemeinsinn das Bewusstsein und die Interessen beherrschen. Von solcher Art ist vielfach noch bis auf den heutigen Tag und war in einem ungleich grösseren Masse etwa im vorigen Jahrhundert das Verhalten der Steuerzahler. Obwohl sie doch nun offenbar eine Leistung für den Staat vollziehen, orientirt sich ihr Bewusstsein nicht in der thatsächlichen Beziehung um Staat. Sie zahlen ihre Steuern an den eigenen Staat mit keiner anderen Gesinnung als mit welcher der Schiffer im fremden Gewässer, der Kaufmann an fremden Grenzen die Zölle erlegt: widerwillig und gezwungen. Der Staat und seine Forderung erscheint ihnen lediglich als die harte Nothwendigkeit, wie eine Naturbestimmung; sie denken von den Steuern wie von der Kälte des Winters, man muss eben einheizen und zahlen. Das Bewusstsein dieser Bürger ist nicht hinreichend und nicht dazu hingeleitet, das Ganze in sich aufzunehmen und sich selbst nur als einen Theil zu betrachten, der eben in dem Ganzen erst sein wahrhaftes Eigenes ist und besitzt. Der Staat ist eine moralische Persönlichkeit; wessen Bewusstsein aber unfähig ist, sich zu dem Gedanken einer solchen zu erheben und sich selbst als Glied derselben zu fassen, der sieht im Staat nichts Moralisches und nichts Persönliches. *)

B. Die zweite Art der Zusammenwirkung der Individuen für das Allgemeine ist nun da, wo die Einzelnen ihre Thätigkeit

— gang oder theilweise — im Dienste des öffentlichen Geistes und Lebens vollziehen. Sie hören dabei nicht auf für sich als Einzelne persönlich zu arbeiten, auch der Grund, weshalb sie diese öffentliche Arbeit übernehmen, ist meist ein persönlicher; um dafür eine Gegenleistung (Besoldung) von der Gesellschaft, oder Ehre und Würde u. dgl. zu erlangen; aber das Wesentliche in ihrer Thätigkeit bleibt immer dies, dass Inhalt und Zweck derselben dem Allgemeinen gewidmet ist. Die Persönlichkeit des Einzelnen (und seine Absicht) tritt gleichsam hinter seine Leistung zurück, sie wird gleichgültig dem gegenüber, was sie, beauftragt oder aus freier Wahl, für das Allgemeine vollbringt. Von solcher Art ist offenbar die Thätigkeit aller eigentlichen Beamten, der Richter, der Geistlichen, der öffentlichen Lehrer. '

Von allen Formen des öffentlichen Dienstes, welche das heutige Leben der Gesellschaft aufweist, sind vielleicht die Akademieen der Wissenschaft darin die reinsten, dass es sich nicht wie beim Richter um die Partheien, beim Lehrer um die Schüler, sondern allein um Schöpfung und Darstellung des Wissens als eines allgemeinen Gutes des Nationalgeistes handelt.

Von gleicher Art ist aber ferner alle wissenschaftliche Thätigkeit, so weit sie irgendwie schöpferisch ist (denn die aufnehmende Beschäftigung gehört zu A), alle monumental künstlerische Arbeit, die Journalistik und das Schriftthum im weitesten Sinne. Hieher gehört aber auch alle gemeinnützige Thätigkeit für moralische und religiöse Zwecke, wie sie in den mannichfaltigen Vereinen gepflegt wird, desgleichen die öffentliche Sorge für Pflege der Kunst, für Förderung der Wissenschaft. Für jede Gesellschaft wird es nun vor allem charakteristisch sein, in welchem Masse überhaupt diese Thätigkeit für den öffentlichen Geist ausgeübt, wie mannichfaltig sie gestaltet, ob und in welcher Art sie gegliedert ist, d. h. ob überhaupt die Fäden dieses mannichfachen Wirkens irgend wo zusammenlaufen, und ob sie mit Bewusstsein zu einem Ganzen verwebt sind. In dieser Beziehung erscheint, wenn nicht das Perikleische Zeitalter, so doch jedenfalls Perikles selbst als ein Ideal, das nicht wieder erreicht ist.

Die Frage nach dem Masse, in welchem die einzelnen Mitarbeiter von ihrer Stellung in dem engeren, und, je höher hinauf, auch von dem weiteren Ganzen, an dem sie arbeiten, ein Bewusstsein haben, wird mit der allgemeinen Frage nach der Tüchtigkeit ihrer Leistungen überhaupt wohl zusammen fallen; von besonders charakteristischem Gehalt aber ist die Frage nach der Gesinnung, mit welcher die Einzelnen für die Gesammtheit arbeiten.

Von den Römern der republikanischen Zeit wird man behaupten dürfen, dass jeder Bürger, vielleicht schon jeder Knabe, den ganzen Organismus seines Staatslebens gekannt hat; sowie, dass unbedingte Hingebung an denselben und Sorge für sein Heil nicht bloss die höchste, sondern eigentlich die alleinige Tugend gewesen ist. Bei uns aber ist die blosse Kenntniss der Staatseinrichtungen über die Magistrate, denen man unmittelbar untergeordnet ist, hinaus schon ein Act politischer Tüchtigkeit.

Auch die Thätigkeit, deren Inhalt und Zweck das öffentliche Leben ist, wird von Individuen vollzogen; in diesen ist nothwendig das Zwiefache des persönlichen und des allgemeinen Zweckes das Leitende; ihre Absicht ist mehr oder minder von dem öffentlichen oder dem eigenen Interesse erfüllt. Von dem Masse aber, in welchem das eine oder das andere der Fall ist, von der Gesinnung und Hingebung für das Allgemeine, von der Art, wie die Individuen das Allgemeine für den persönlichen oder die Person für den allgemeinen Zweck in Bewegung setzen, hängt mehr, als von allen anderen Verschiedenheiten, das Wohl des Ganzen ab. Nur wenn die individuellen Personen sich als Organe des öffentlichen Geistes betrachten, wenn sie es wissen und wollen, dass in ihrem Leben und Thun nur der Zweck des Allgemeinen sich bewege und bewähre, nur dann kann von einem eigentlichen Sehen des öffentlichen Geistes geredet werden. Mögen im anderen Falle die Leistungen der Einzelnen noch so geschickt und präcis sein: sie bilden nur eine Summe lebloser Werke. Im gerechten Richter lebt die Gerechtigkeit, im ungeheuchelten Vortrag der Wissenschaft lebt die Wahrheit, in der

lauteren Predigt lebt die Frömmigkeit des nationalen Geistes; in den Lohndienst persönlicher Zwecke gestellt, wird alles dieses Höchste des Menschenthums erniedrigt.

In dieser Beziehung wird es also für eine jede Gemeinschaft charakteristisch sein, zunächst in welchem Verhältniss die Anzahl der nur leidend Angehörigen zu der der thätig Mitwirkenden steht. Sodann ob die Dienste, welche dem Allgemeinen geleistet werden, überall besoldete oder unbesoldete sind, und in welchem Verhältniss der öffentliche Sold für öffentliche Leistungen zu dem durchschnittlichen Erfolg der Privatarbeit steht, ob einerseits Stellenjägerei von unten und Nepotismus von oben sich entwickelt und so die öffentlichen Zwecke immer wieder zu Privatinteressen herabsinken, oder andererseits die Gesammtheit unbezahlte Leistungen von den Einzelnen entweder wie ein Almosen empfängt oder Aemter und Würden als gesuchte Ehren vertheilt. Ob der Clerus in den Gemeinden steht oder über denselben, ob die Laien activ oder passiv zur religiösen Gemeinschaft gehören, bestimmt wesentlich die specifischen Werthe des religiösen Zusammenlebens. Für die Gesellschaft in geselliger und sittlicher Beziehung ist es charakteristisch, in welchem Masse die egoistische Absonderung überwunden ist, in welcher Zahl und in welcher Art, nach welchen Motiven die Einzelnen zu gemeinnützigen Zwecken verbunden sind, und wie weit diese Genossenschaften Sinn und Richtung zum allgemeinen Ganzen bewähren. Das Verhältniss der Mitglieder von Wohlthätigkeitsvereinen zu den Einwohnern ist in den letzten Jahren

in Frankreich 1 : 76,
"Belgien 1 : 66,
"d. Schweiz 1 : 17,
"England 1 : 9. *)

Selbst wenn man sich alle diese Vereine nur als Almosengeber vorstellte, wäre es thöricht, in ihnen nur eine materielle Leistung zu erblicken und zu übersehen, wie sich in ihnen Fäden des sittlich-geistigen Zusammenlebens spinnen. Schon das Geben mit Wohlwollen und mit Dank empfangen, und noch mehr die Gemeinschaft zum Geben stiftet ächt menschlichen Zusammenhang zu gegenseitiger Ergänzung und Erhebung. Denkt man sich aber die anderen, vielfach über materielle Unterstützung hinausgehenden Motive der gemeinnützigen Vereine noch vertieft, erweitert und verstärkt, so sieht man eine in vorigen Jahrhunderten völlig unbekannte Gestalt der Gesellschaft sich entwickeln, welche, ohne irgend einen Grund zum Kampf gegen den Staat, nur unabhängig von ihm, Resultate des Zusammenlebens erzielt, für welche keine seiner Formen ausreichend war.

C. Von besonderer Art und Bedeutung ist das Zusammenleben darin, dass und wie die Gesammtheit umgekehrt für den Einzelnen und damit zugleich auf denselben wirkt. Hieher gehört sogleich für die jüngeren Lebensjahre des Individuums die Erziehung, in wie fern sie ihm durch die Gesellschaft und deren Vertreter zu Theil wird. Später ist es vor allem der Schutz des Eigenthums, der Person, des Verkehrs im Innern des Landes und ausser demselben, welcher vom Ganzen jedem Theil gewährt wird. Aber auch alle unmittelbaren und mittelbaren, geistigen und materiellen Förderungen, welche das Individuum empfängt für seine Bildung, seine Schöpfung und Verwerthung. Der grösste Einfluss aber, den jede Gesellschaft auf das Individuum ausübt, liegt schon vor aller praktischen Einwirkung und über dieselbe hinaus in dem blossen Urtheil, das sie unausgesetzt über dasselbe fällt, und ihm zum Bewusstsein bringt. Von diesem Urtheil ist jeder Einzelne in seinem Schaffen und Handeln unweigerlich wie von der Atmosphäre umgeben; es umschwebt ihn richtend und lohnend, dadurch spornend und zügelnd; es bildet in ihm die stärkste Triebfeder der Ehre und jene für die Gesellschaft durch nichts zu ersehnende Zuversicht des öffentlichen Gewissens.

In allen diesen Beziehungen der Gesammtheit und ihrer Wirksamkeit auf den Einzelnen ist der Erfolg in den letzteren und die Rückwirkung auf das Ganze abhängig von dem Masse, in welchem die Gesammtheit als Ganzes oder nur einzelne Theile, welche die zufällige Umgebung des Individuums ausmachen, sich wirksam erweisen; und wenig verschieden hiervon ist dann der weitere Unterschied, ob die Gesellschaft als organisirte auf den Einzelnen wirkt, von Diesem also in dem Einfluss, den er erfährt, als Urheberin aufgefasst wird, oder nur in zerstreuter Weise, zwar factisch aber nicht einheitlich, dem Individuum gegenüber steht. Ob also das Recht im Namen und nach Institutionen des Ganzen, wenn auch durch einzelne Richter, gehandhabt, oder in particulärer Weise geübt wird (die orientalische Gerichtsbarkeit durch den Kadi des Ortes, Patrimonialgericht in verschiedenen Abstufungen, Erkenntniss im Namen des Königs oder des Gesetzes); ob der Unterricht von Einzelnen zu Einzelnen, wie ein Privatgeschäft, oder auf öffentlichen Anstalten, durch öffentliche Lehrer und Mittel vollzogen wird; ob Kunstanschauung und Kunstlehre durch vereinzelten Besitz und Uebung des Einzelnen dargeboten wird, oder als ein Ausfluss der öffentlichen Verwaltung da steht; —das sachliche Resultat mag in all diesen Fällen für die Sicherung, Bildung und Anregung der Individuen vollkommen das gleiche sein: der Geist der Gesellschaft, die Pflege des Gemeinsinns und dadurch allerdings mittelbar auch die Art der Rückwirkung auf das Ganze wird ein durchaus verschiedener sein. Bei dem Schutze, den die Gesellschaft dem Angehörigen im In- und Auslande gewährt, kommt es wesentlich darauf an, wie gross, wie zuversichtlich und wie deutlich derselbe dem Individuum zu Theil wird. *)

Für den staatspsychologischen Erfolg ist auch dies von wesentlicher Bedeutung, ob die Leistung irgend welcher idealer Art, die das Ganze dem Einzelnen zuwendet, mit einem Preise bezahlt werden muss, ob sich der Staat hier wie eine blosse Handels- oder Actiengesellschaft verhält (Geleitzoll, Schulgeld, welche von blossen Spötteln verschieden sind), oder die Ordnung der Einnahmen und Ausgaben so gestellt ist, dass hier wie dort alles Einzelne aus dem Gesichtspunkte des Ganzen gefordert und geleistet wird. Es handelt sich überall darum, dass der Einzelne in all den Einflüssen und Förderungen, die er aus dem Zusammenleben mit Andern für seine eigene Bildung und Bethätigung empfangen muss, das Ganze als ein System ineinanderwirkenden Kräfte erkenne, welches auch in sein Leben mit einer bestimmten Wirksamkeit einmündet, diese Beziehung zum Ganzen aber nicht auf die Stufe eines Privatgeschäfts herabgedrückt werde.

Auch das öffentliche Urtheil mit seinen tief eingreifenden Wirkungen auf die ganze Stellung der Individuen in der Gesellschaft nimmt in ihr allerlei mehr oder minder feste oder flüssige Formen an, bei denen es wesentlich ist, wie sehr sie ein treuer, bestimmter und erkennbarer Ausdruck des Allgemeinen. Hieher gehören Orden, Preise, Medaillen, Denkmäler, Ehrenbürgerrechte, Bürger- und Dichterkrönung u. s. w., nebst den viel feineren, im Erfolg gewichtigeren, im Ursprung aber unwägbaren Elementen der Achtung, des Ansehens, des Ranges, des Einflusses. Von der weithin tönenden Stimme der Presse, welche als der vollmächtige Minister des Königs der öffentlichen Meinung erscheint, bis herab zum unwillkürlichen Gruss des Geachteten webt die Gesellschaft unaufhaltsam an dem Kleide des Rufes eines Jeden, das ihm seine Stelle in ihr anweist. Durchaus

charakteristisch für ein Gemeinleben ist es, wie weit und wie sicher das Urtheil über den Einzelnen je nach seiner Bedeutung aus dem Gesichtspunkt und aus der Quelle des Allgemeinen hervorgeht, und welche freie oder feste Formen dies dafür geschaffen hat (China, Frankreich, Römische Triumphe, Spiele der Griechen u. s. w.) Für alle diese Beziehungen wird in der Grösse oder Kleinheit des betreffenden Gemeinwesens zwar nicht der alleinige und zureichende Grund, wohl aber eine wesentliche Veranlassung zu der Verschiedenheit der Einwirkung des Ganzen auf den Einzelnen zu erkennen sein; alles Uebrige gleich gesetzt, wird dort das Mass und hier der Grad, dort die Ausdehnung und hier die Innigkeit der Einwirkung grösser sein.

D. Endlich ist diejenige Art des geistigen Zusammenlebens zu nennen, in welcher die Verbindung aller Einzelnen zu einem Gesammtgeist so offenbar ist, dass man ihn am frühesten darin, und lauschen darin allein, erkannt hat: da nämlich, wo alle Einzelnen in gemeinsamer Thätigkeit für einen öffentlichen Zweck sich befinden, wo der Inhalt und das Interesse der Wirksamkeit überhaupt nicht im Individuum als solchem, sondern nur in der Gesammtheit gegeben ist, wo Alle in der Art und Gesetzmässigkeit ihres Thuns zusammengeschlossen sind. Zwar sind es immer einzelne Personen, welche thätig sind; aber die Kräfte sind so zur gemeinsamen That geeinigt, Antrieb, Richtung und Ziel derselben ist so sehr im Allgemeinen gegründet, dass das Walten des Gesammtgeistes in allen Einzelnen ihnen offenkundig und unmittelbar bewusst ist. Von solcher Art ist die Vereinigung der Bürger zur Vertheidigung des Vaterlandes im Kriegsheer, oder zur Vollziehung der gesetzgebenden Thätigkeit, beziehungsweise zur Wahl der Abgeordneten für dieselbe. Hier ist, wie gesagt, der Inhalt und der Zweck, die Handhabung und das Ziel, Anfang und Ende aller Thätigkeit so sehr und so offenbar im Allgemeinen gegründet, dass auch Irrthum und Beschränktheit die Geister nicht zu isoliren vermögen; in Allen vielmehr ist das Bewusstsein vorhanden, dass es sich nur um das Ganze handelt.

Weniger in die Psychologie, als vielmehr in die Pathologie der Gesellschaft ist es daher zu registrieren, wenn es der Niedrigkeit der Gesinnung gelingt, auch auf diesen, aller Particularität fern liegenden Gebieten den Pfahl des Egoismus in das Fleisch des Organismus der gesunden Gemeinschaft zu drängen.

In eigentlichen Volksfesten, namentlich historischen Erinnerungsfeiern, in Volksversammlungen u. dgl. haben wir Bedingungen und Erfolge dieser Art von unmittelbarer Wirksamkeit des Gemeingeistes zu erkennen.

Anmerkung. Es ist durchaus nicht unsere Meinung, dass der Mangel an Bewusstsein, den wir als charakteristisch für die erste Art des Zusammenwirkens der Einzelnen zur Gesammtheit bezeichnet haben, auch wirklich nothwendig ist. Im Gegentheil möchten wir es als einen praktischen Erfolg unserer Betrachtung ersehnen, dass dieser Mangel als solcher erkannt, und durch Erziehung und Unterricht ergänzt werde. Die Erweckung des Bewusstseins von der Einheit durch deutliche Hinweisung auf dieselbe wird meist von wirkungsreihen Folgen begleitet sein; überall und im Allgemeinen wird sie eine Stärkung des Nationalbewusstseins erzeugen. Sie kann aber auch im Besonderen fruchtbar werden. So hat sich z. B. für uns Deutsche bei der Wende des letzten Jahrhunderts der Gebrauch der Muttersprache, durch das Bewusstsein, in ihr, trotz aller specifischen Vorzüge anderer Sprachen, die edelste Redeweise zu besitzen, zu einer nationalen Pflicht erhoben. Nicht minder erscheint die Sorge für Erhaltung der Reinheit und des Adels, beziehungsweise für Veredlung, der eigenen Sprache gleichsam als ein moralischer Anspruch, den die Nation an jeden Redenden und noch mehr an jeden Schreibenden hat; ein Anspruch, dessen Grenzen von den Sprachreinigern verkannt werden, dessen Berechtigung aber von so Vielen, lediglich in Folge von Geistesträgheit so sehr verletzt wird, dass, trotz unsäglicher Besserung, dennoch der alte Vorwurf mangelnden Nationalbewusstseins darin eine neue Begründung findet. Dass sich das Gleiche für die anderen Beispiele der ersten Form des Zusammenwirkens eben so sicher ergeben werde, bedarf keiner weiteren Ausführung.

§. 5. Analoge Formen im Einzelgeist.

Zur Erläuterung des vorigen Paragraphen und zur weiteren Anregung in diesem Gedankenkreise will ich noch die Analogie dieser verschiedenen Arten der Wirksamkeit im Zusammenleben mit denen der einzelnen Vorstellungen im Ganzen eines individuellen Geistes folgen lassen.

A. Alle Vorstellungen haben zunächst und unmittelbar ihre Bedeutung in dem Inhalt, der durch sie, als einzelne betrachtet, vorgestellt und dem Bewusstsein angeeignet wird. Es lässt sich aber bei einem weiteren Blick auf den Schatz der Vorstellungen in einem Bewusstsein leicht erkennen, wie innerhalb desselben fortwährende Verbindungen, Ordnungen, Gruppierungen und Einwirkungen stattfinden, wobei eine jede Vorstellung ausser ihrer eigenen, auf das Object bezogenen Bedeutung zugleich von Einfluss ist auf Bestand und Fortbildung der übrigen, so wie, uni es kurz zu bezeichnen, auf die Ausbildung dieses einheitlichen Bewusstseins. Reichthum, Mannichfaltigkeit, Gliederung und Fülle, Regsamkeit und Reizbarkeit der Vorstellungen, den Verkehrs- und Ergänzungsbeziehungen im Gesellschaftsleben vergleichbar, bilden die Elemente der Charakteristik eines persönlichen Bewusstseins.

B. Erst bei einem gewissen Grade höherer Ausbildung erkennen wir im Geiste Vorstellungen, welche sich dadurch auszeichnen, dass sie überhaupt nicht einen individuellen Inhalt ausbrüten wollen und sollen —obwohl sie, rein nach ihrem Inhalt betrachtet, immerhin auch einzelne Vorstellungen bleiben — sondern eine Beziehung, eine Einwirkung auf das ganze Bewusstsein oder auf einzelne Kreise desselben dergestalt ausmachen, dass sie dieselben zur Einheit verbinden und ordnend und leitend auf sie wirken. Von solcher Art sind die grammatischen, logischen, mathematischen Gesetzesvorstellungen, und eben so ästhetische und ethische Maximen, kurz alle Zweckbegriffe, insofern sie das sind, methodologische Begriffe. Ihre wesentliche Bedeutung besteht eben darin, dass sie die Ordnung der übrigen Vorstellungsmassen

herstellen und handhaben. Wie die Beamten eines Staates nicht um ihrer selbst, sondern um des Staates willen da sind, so sind auch die grammatischen Kategorieen nur für die Sprache, die logischen für das Denken überhaupt da. Jene wie diese können freilich auch für sich, als einzelne, betrachtet werden, ihre Bedeutung und Wirksamkeit aber liegt in der Beziehung zum Allgemeinen. Jeder Grad wirklicher Ausbildung ist von dem Dasein und der Herrschaft dieser leitenden Vorstellungen wesentlich bedingt, gerade so wie die Gesellschaft und der Gesammtgeist bedingt ist von dem Dasein und der Thätigkeit Derer, welche nicht für sich allein, sondern für die Gesammtheit sich thätig erweisen, die öffentlichen Zwecke erkennen und erfüllen.

C. Der ganze Bildungsgrad eines Individuums, die Masse, Ordnung und Beweglichkeit seines Vorstellungskreises, erweist sich dann einflussreich auf die weitere Ausbildung jeder einzelnen Vorstellung. Die specifische Bedeutung einer jeden Vorstellung, die Fülle, Bestimmtheit und Stellung ihres Inhaltes ist davon bedingt, und weiterhin die Rückwirkung, welche sie selbst auf die Gesammtheit des Vorstellungskreises auszuüben vermag. Davon ist denn auch der Werth, welcher einer jeden Vorstellung als Theil des Ganzen zukommt, abhängig.

D. Nur in idealen Naturen und in gehobenen Momenten des Lebens finden wir endlich im individuellen Geist auch jenen Zustand einer Zusammenwirkung der grossen Masse von Vorstellungen auch der verschiedensten Art. Gerade wie im Volksgeist auch sind es die Momente des sich selbst erfassenden Bewusstseins, oder die Bildung von Gesinnungen, der Fassung von Lebenspläne; die scheinbar gleichgültigsten Elemente des Geistes, an und für sich bedeutungslos, gewinnen durch Wiederholung oder Eigenart (Gewohnheit, Temperamentserfolge e. ) da einen Einfluss, wo es eben auf den ganzen Menschen ankommt. Auch in bedeutenden Schöpfungen bedeutender Geister zeigt es sich, wie nichts ohne Erfolg ist, was sie jemals gesehen, erlebt, gedacht haben; was als die blosse Masse erscheint, wie der Ballast der Alltäglichkeit ihnen anhängt, gewinnt, an die richtige Stelle gebracht und in Bewegung gesetzt, Leben und Einfluss.

§. 6. Der objective Geist. *)

Als den bedeutendsten Erfolg alles geistigen Zusammenlebens bezeichnen wir die Entstehung eines erzeugten, erschaffenen, vorhandenen, eines objectiven Geistes. **)

Wo immer mehrere Menschen zusammenleben, ist dies das nothwendige Ergebniss ihres Zusammenlebens, dass aus der subjectiven geistigen Thätigkeit Derselben sich ein objectiver, geistiger Gehalt entwickelt, welcher dann zum Inhalt, zur Norm und zum Organ ihrer ferneren subjectiven Thätigkeit wird. So entspringt aus der subjectiven Thätigkeit des Sprechens, indem sie von mehreren Individuen unter gleichen Antrieben und Bedingungen vollzogen wird und dadurch auch das Verstehen einschliesst, eine objective Sprache. Diese Sprache steht dann den Individuen als ein objectiver Inhalt für die folgenden Sprechacte gegenüber; sie wird aber auch zugleich zur Norm, zur gegebenen, gesetzmässigen Form der Gedanken, und weiterhin selbst zum Organ der weiteren Entwickelung der Sprechthätigkeit in Allen. Aus der Thätigkeit aller Einzelnen ursprünglich geboren, erhebt sich der geistige Inhalt, als fertige That, sofort über die Einzelnen, welche ihm nun unterworfen sind, sich ihm fügen müssen. Die Sprache erscheint als das Seiende und Bleibende neben den vorübergehenden Acten des wirklichen Sprechens, sie

ist das Allgemeine gegenüber der individuellen Thätigkeit der Einzelnen.

Die Nothwendigkeit, mit welcher die Genossen irgend einer Sprache so sprechen, wie sie sprechen (gewisse Gedanken an gewisse Lautformen knüpfen), ist nun nicht mehr jene erste und ursprüngliche, vermöge deren sie nach psychophysischen Gesetzen diese bestimmten Formen der Sprache erzeugt haben, sondern es tritt zu derselben und überragt sie sehr bald die neue Nothwendigkeit, welche aus der objectiv vorhandenen, gesprochenen Sprache hervorgeht.

Wenn man sich vor Missverständnissen hütet und den Satz im Zusammenhang des Ganzen auffasst, dann darf man diesen Gedanken kürzlich so ausdrücken: zur physischen Nothwendigkeit tritt die historische, zu dem natürlichen Gesetz kommt das geistige.

Wie nun die physische (d. h. physiologische und psychologische) Gesetzmässigkeit neben der historischen (d. h. historisch-psychologischen) namentlich bei der Aneignung und Fortentwickelung der Sprache mitwirkt, wie die letztere fördernd, aber auch hemmend auf dieselbe einwirkt, dies ist einer besonderen Untersuchung vorzubehalten.

Es mag hier nur noch in Bezug auf die fortdauernd verschieden ausfallenden Versuche, das Moment der Nothwendigkeit in dem Wesen der Sprache zu ergründen, bemerkt werden, dass es vor allem auf eine genaue psychologische Unterscheidung jener ursprünglichen und der historischen Nothwendigkeit ankommt, wodurch man erst zu der Erkenntniss gelangen wird, dass und wie weit in historischer Zeit die historische Gesetzmässigkeit oder die Gesetzmässigkeit aus historischen Bedingungen die der natürlichen Bedingungen beherrscht.

Es muss ausdrücklich bemerkt werden, dass dieser Gesichtspunkt von der allergrössten Wichtigkeit ist, nicht bloss für das Wesen der Sprache, sondern für alle Bethätigungen des Geistes, welche durch Vermittelung des erzeugten, objectiven

Geistes ihre Form, ihren Bestand und ihre Entwickelung erhalten. *)

Denn in der That auf allen Gebieten des geistigen Daseins ist die Entstehung des objectiven Geistes das nothwendige Resultat des Zusammenlebens, seine bestimmte Art und Natur aber die Bedingung für alles weitere Leben und Wirken der Geister.

Wir suchen uns deshalb in etwas bestimmterer Weise die Fragen zu beantworten: was der objective Geist ist? und wie er wirkt?

§. 7. Der objective Geist als Masse.

Das Leben eines jeden individuellen Geistes besteht in einem Kreis von Anschauungen, Vorstellungen, Ideen, Motiven, Gesinnungen, Schätzungen, Wünschen, Gefühlsweisen u. s. w. Denken wir uns nun bei irgend einer Genossenschaft (etwa einem Volke) die Substanz der einzelnen Personen, den Träger all dieses mannichfaltigen Inhalts, der ihn zur Persönlichkeit einigt, hinweg: so erhalten wir die ganze Masse alles geistigen Thuns, welches sich im Volke vollzieht, ohne Rücksicht auf persönliche Vertheilung und Ausübung. Diese Summe alles geistigen Geschehens in einem Volke ohne Rücksicht auf die Subjecte, kann man sagen: ist der objective Geist desselben.

Dies ist offenbar eine sehr unvollkommene, gewissermassen rohe, aber einfache und für die Folgen wichtige Vorstellung vom objectiven Geist.

§. 8. Der objective Geist als System.

Denken wir uns nun aber den objectiven Geist des Volkes, als das Produkt seiner allseitigen Thätigkeit, als ein irgend wie

fertiges Gebilde, das mit anderen vergleichbar und in sich selbst zusammenhängend gefasst werden soll, in dem Sinne wie man sagt: dies oder das liegt in einem bestimmten Volksgeist, entspricht ihm oder nicht —: so wird jene blosse Summe des vorigen Paragraphen sich gestalten zu einem, auch in der weiter sich entwickelnden Thätigkeit folgerichtigen System von Anschauungen, Vorstellungen, Begriffen und Ideen, wodurch dieser objective Volksgeist von allen andern sich unterscheidet.

Dächten wir uns nämlich, dass gerade so wie die Sprache eines Volkes in seinem Lexikon und seiner Grammatik (beziehungsweise in der Mehrheit seiner dialektischen und provinziellen Lexiken und Grammatiken) durchaus vollständig niedergelegt ist, ebenso auch alle Rechtsanschauungen, wie ja meist der Fall ist, aber auch alle Anschauungen von der Natur und ihrem Wesen, von dem Menschen, der geistigen Fähigkeit, von allen moralischen, religiösen und ästhetischen Bedürfnissen, alle praktischen und industriellen Bestrebungen und die Art, wie sie vollzogen werden, als völlig bestimmt angegeben, gleichsam codificirt: so würde damit eine adäquate Darstellung des objectiven Geistes zur blossen Kenntniss desselben (noch nicht Erkenntniss!) gegeben sein.

§. 9. Die Verkörperung des Geistes überhaupt.

Fragen wir nun nach der Weise der Existenz dieses in einem Volke gegebenen objectiven Geistes, so sehen wir zunächst; dass sie für verschiedene Theilgebiete desselben eine zwiefache ist. Zum Theil nämlich existirt der geistige Inhalt nur als Gedanke oder sonstiges geistiges Element (Gefühl, Wille e. ) in den lebenden Trägern des Volksgeistes als wirklich vollzogene oder vollziehbare Acte des psychischen Lebens, also in den einzelnen Geistern innerhalb oder ausserhalb *) des Bewusstseins; zum anderen Theil aber erscheint er gestaltet und befestigt durch Hineinbildnng in irgend einen materiellen Träger des Gedankens.

Da wir von dem ersteren Theil ausführlicher zu reden haben, werfen wir zunächst einen Blick auf den letzteren und die Uebergänge beider zu einander.

In Büchern und Schriften aller Art, in Bau- und anderen Denkmälern, in Kunstwerken und den Erzeugnissen des Gewerbfleisses; in den Werkzeugen (und den Werkzeugen zur Erzeugung der Werkzeuge), in den Verkehrsmitteln zu Lande und zu Wasser, auch in den Vorkehrungen des Handels sammt der Erstellung allgemeiner Tauschmittel, in den Waffen und Kriegsgeräthen, in Spiel- und Kunstwerkzeugen, kurz in der Herstellung von allen körperlichen Dingen zum realen oder symbolischen Gebrauch findet der objective Geist eines Volkes seinen bleibenden Ausdruck.

§. 10. Maschine und Werkzeug.

Besonders hervorzuheben aber ist die Maschine. Nirgends vielleicht hat sich der tiefe Mangel an psychologischer Betrachtungsweise so bemerklich gemacht als in den Wechselreden über das Maschinenwesen. Es sind meist wohlwollende Leute, welche es angreifen; "das, was Menschen machen sollten, das wird durch die Maschinen gemacht"; *) ob dadurch die Sachen, die gemacht, oder die Personen, die sie machen, angeklagt werden, ist nicht ganz klar. Auf der anderen Seite wird meist nur auf den materiellen Vortheil hingewiesen — obwohl das, was man in solchem Zusammenhang materiell nennt, oft gar nicht bloss materiell ist. — Arn wichtigsten aber ist sowohl in ökonomischer als in allgemein psychischer Beziehung der folgende Gesichtspunkt, den ich den Nationalökonomen zur weiteren Verfolgung empfehle. Man pflegt das Charakteristische der Maschinenarbeit durch den Gegensatz zur Handarbeit zu bezeichnen; damit wird nur ein Theil des wesentlichen Unterschiedes und der

psychologische gar nicht getroffen. Denn ob die Arme eines Menschen oder eiserne Hebel den Hammer regieren: in beiden Fällen sind es physische Kräfte, welche in den Dienst der psychischen treten. Der weitere und wesentliche Unterschied liegt darin:

in der Maschine ist ein objectiver Geist vorhanden; der objectiv gewordene Gedanke regiert, wie ein lebendiger Geist die materiellen Kräfte;

in der Handarbeit aber wirken nicht bloss menschliche Hände, sondern ein menschlicher Kopf, ein lebendiger, persönlicher Geist, und dieser setzt mit seiner geistigen Thätigkeit nicht mehr als den geringen Umfang von zweier Hände Kraft in Bewegung.

Das Erste und Wichtigste hierin ist nun dieses: was durch die Maschine erspart wird — und also anderweitig productiv verwendet werden kann — ist nicht bloss physische Kraft der Arme, sondern die Kräfte des lebendigen activen Geistes. Wenn eine Locomotive von 100 Pferdekraft Personen und Güter die Strecke einer alten Tagereise in zwei Stunden befördert, so würden für dieselbe Fortbewegung (um von Sänftentragern und Karrenschiebern nicht zu reden) mit 50 Paar Pferden 50 Kutscher gehören, welche ihre ganze Intelligenz mit gespannter Aufmerksamkeit einen ganzen Tag darauf verwendeten; die Locomotive aber erfordert nur Einen Führer und Einen Heizer auf zwei Stunden. Der Verbrauch an activer geistiger Kraft steht demnach in den beiden Verkehrsarten im Verhältniss von 1 : 150. *)

Zu dieser quantitativen Proportion tritt nun noch als fast eben so wesentlich eine zweite, qualitative hinzu. Jede Maschine muss durch Menschen, also durch persönliche geistige Kräfte bedient werden; also wird die materielle Kraft durch die geistige

immer in Bewegung gesetzt; aber durchaus nicht bloss mit dem Mass und der Art des Geistes geschieht es, welchen dieser die Maschine bedienende Mensch besitzt; sondern der unendlich höhere, feinere Geist des Erfinders ist es, welcher die Form gefunden hat, durch objective Gestaltung sich in die Botmässigkeit eines einfachen Menschen zu stellen. In jeder Dampfmaschine arbeiten die Geister James Watts, aller seiner Vorgänger und aller derer, welche eine Maschine verbessert haben. Sie treten zwischen die rein physischen Kräfte auf der einen Seite und die geistige Kraft des Maschinenlenkers auf der anderen Seite; ihre Gedanken beflügeln seinen sonst schwerfälligen Geist, oder sie liefern die grossen Massen natürlicher Kräfte gebändigt in seine Hand.

Bei der Handarbeit aber wird der Mechanismus des menschlichen Leibes nur durch den persönlichen Geist und nach dem Grade seiner Ausbildung in Bewegung gesetzt.

Hieran schliesst sich dann wieder, beides, das Quantitative und Qualitative des Unterschiedes wiederholend und steigernd, der weitere Unterschied zwischen Maschinen- und Handarbeit, dass in jener der objective Geist dauernd, erblich und darum einer durchaus fortschreitenden Verbesserung fähig ist; in der Handarbeit, welche vom persönlichen Geist allein regiert wird, muss der persönliche Geist sich mit jeder Generation in jeder einzelnen Person von Neuem aus den ersten Anfängen hinaufarbeiten, so dass von einer fortschreitenden Entwickelung nur schwer und selten die Rede sein kann.

Die Geschicklichkeit ist ein persönlicher, nicht erblicher, vielmehr mit der Person erlöschender Besitz; der mechanische objective Gedanke ist dauernd, der Verbesserung und der — Vervielfältigung fähig.

Zweierlei ist indess hier noch zu bemerken. Erstens gibt es auch für das Handgewerbe einen gewissen objectiven Geist: in den methodischen Vorschriften und in den besonderen Kunstgriffen ("Vortheilen") für die Arbeit. Und für die Charakteristik der verschiedenen Volksgeister sind diese "Vortheile" bei ihrer Arbeit aller Art gewiss von hoher Bedeutung. Aber man kann bei der

Vergleichung derselben mit dem objectiven Gedanken in der Maschine leicht bemerken, wie dort doch immer nur das geringe Mass der eigenen Leibeskraft mit einem kleinen Umkreis von Werkzeugen, hier aber grosse und weite Kraftmassen durch den Gedanken in Bewegung gesetzt werden; dort nur enger und beschränkter Fund des Geistes, hier aber die gewaltige, in einander greifende, verdichtete Kraft aller Wissenschaften sich gestaltet und gestaltend wirkt; dort der wesentlichste Theil, die eigentliche Geschicklichkeit, durchaus persönlich und von geringer Perfectibilität, ja sogar von leicht möglicher Rückgängigkeit begleitet ist, während hier in dem Dasein und in der Geschichte der Erfindung Sporn und Methode des Fortschritts zugleich gegeben ist. *)

Man hat dagegen auch gemeint, dass die Maschine gewissermassen durch ihre geistige Uebergewalt den Menschen, der sie bedient, herabdrücke; für gewisse Fälle muss dies als ein wirkliches Uebel, aber durchaus nicht als ein nothwendiges zugegeben werden. Man verwende nur in methodischer Weise einiges Wohlwollen und einige Mühe darauf, dem Arbeiter eine, wenn auch nicht wissenschaftlich, so doch technisch genaue Kenntniss der Maschine zu verschaffen, mit welcher er arbeitet, und es wird sich überall bewähren, was man jetzt nur in einzelnen Fällen wahrnimmt, dass der Umgang mit dem Erzeugniss eines höheren Geistes den Geist des Arbeiters

selbst erhebt. Die Handhabung der Nähmaschine erfordert und erzeugt eben so viel Intelligenz als die Hantirung mit der blossen Nadel; die Leitung eines Baggerdampfers ist ein edleres Geschäft als die Arbeit am Baggerei mit eigener Leibeskraft. Und wie viel höher steht der Locomotivführer als ein Frachtkutscher? Um davon nicht zu reden, dass es heute in jedem Culturlande Europas, und zwar nur in Folge der Ausbreitung des Maschinenwesens, so viele wissenschaftlich gebildete Techniker für Herstellung und Leitung von Maschinen gibt, als es ehemals Schlosser gegeben hat.

Einer psychologischen Erwägung bedarf zweitens auch noch das Verhältniss der Maschine zum Werkzeug überhaupt. Wir haben im ersten Bande d. Zeitschrift S. 18 auf die hohe psychologische Bedeutung des Werkzeugs überhaupt hingewiesen. Ueberall wo der Mensch in der äusseren Natur zu wirken hat, handelt es sich darum, dass er sich durch Gestaltung fremder physikalischer Kräfte längere, stärkere und gewandtere, namentlich auch präcisere wirkende Arme verschaffe; dies geschieht dadurch, dass der Geist nicht blos unmittelbar im eigenen Leibe, sondern auch mittelbar in den äusseren Dingen wohnt und wirksam ist; indem er seinen Geist gestaltend nicht bloss in den Leib, sondern in die äusseren Dinge versenkt, soll er die physische Kraft seines Organismus nicht bloss erweitern, sondern womöglich ersetzen. Der Mensch soll vor Allein mit seinem Geiste arbeiten. Die Erfindung und die Wissenschaft haben ihn gelehrt, mit fremden Kräften wie mit den eigenen, und dadurch nicht bloss stärker, sondern auch sicherer zu operiren.

Dies ist die Bedeutung alles Werkzeugs; aber nicht alle gleichen einander. Das Spinnrad ist klüger als die Spinnenden; die Töpferscheibe ist ein so durchaus wesentlicher Bestandtheil zur Schöpfung eines Topfes, dass sie nicht als die Gehülfin des Töpfers, sondern dieser als der Gehülfe der Scheibe erscheint; ähnlich ist es bei allen Räder- und Drehwerken des Seilers und des Drechslers. Wie viel weniger aber leisten

Ahl und Pfriemen dem Schuhmacher, Scheere und Nadel dem Schneider? und als ein Nichts erscheint der Stift und Pinsel des Malers, der Weisse! und Hammer des Bildhauers. Dagegen sind Richtschnur und Winkelmass die Augen des Zimmermanns und das Loth ist das Auge des Maurers.

Der völlig bestimmte Massstab für den Werth eines jeden Werkzeugs liegt nun offenbar in dem Masse, als der objective Gedanke, der in ihm ausgeprägt und wirksam ist, die subjective geistige Arbeit des Handhabenden verringert, ersetzt und sichert. Hier liest denn auch der psychologische Scheideweg zwischen Kunst und Industrie.

Hieraus also begreift man wohl, dass die Maschine nichts Anderes ist, als das beziehungsweise vollkommenste Werkzeug, das alle anderen so weit überragt, als es einmal selbst der Erfolg eines umfassenderen und tieferen Geistes ist, der die Naturkräfte nicht bloss durch Geschicklichkeit, sondern durch Erkenntniss beherrscht, und als es andererseits weit grössere Massen und mit grösserer Sicherheit in den Dienst nimmt, ohne eine bedeutende Fähigkeit des persönlichen Subjects in Anspruch zu nehmen. Von einer absoluten Scheidung aber zwischen Werkzeug und Maschine kann um so weniger die Rede sein, — und dies sollten die Ankläger der Maschinen bedenken — als in der That gar viele der älteren und ältesten Erfindungen in dieser geistigen Werthung den neueren Maschinen durchaus nahestehen. Von solcher Art sind die Töpferscheibe, der Webstuhl, die Wind- und Wassermühlen und die Segelschiffe.

Hieher gehört übrigens auch die Zähmung der Thiere und ihre Verwendung zum Dienst als Ersatz menschlicher Leibeskraft. Sie sind lebendige Maschinen, welche die geistig-leiblichen Kräfte des Menschen befreien, indem sie sie ersetzen; nur erblicken wir in ihrer Herstellung, in der Dressur und Lenkung derselben heute kein besonderes Moment des objectiven Geistes; einst aber galt das Rosselenken als eine edle Kunst, welche den Wetteifer des öffentlichen Geistes herausforderte. Der chinesische Mandarine fährt eben auch nicht mit vier Pferden, sondern er lässt sich in der Sänfte tragen; und auf den römischen Latifundien

waren nicht bloss die zehrenden Leiber der Sclaven zur Last, sondern auch die brachliegenden Geister derselben ein Ferment der Verwesung.

§. 11. Der psycho-physische Typus.

Nicht unerwähnt darf, wenn es sich um die Weisen der Existenz des objectiven Geistes handelt, ferner diejenige bleiben, welche mitten in der persönlichen Bewegung des Geistes und seiner Wechselwirkung mit dem Körper ihren Sitz hat. Im Unterschiede nämlich einerseits von den objectiv vorhandenen Gedanken und Denkformen im Geiste und andererseits von den Verkörperungen des Gedankens in objectiven Dingen müssen wir alle jene psycho-physischen Leistungen betrachten, welche man unter dem Namen der Uebungen und Geschicklichkeiten zusammenfassen kann. Nun ist zwar eine jede Ausführung derselben an die subjective, persönliche Thätigkeit der Individuen gebunden; allein nicht bloss ist hier ausser der vorübergehenden Thätigkeit zugleich eine bleibende, vorhandene Fertigkeit des Geistes in seiner Einwirkung auf den Leib, sondern es bildet sich auch bis zur Charakteristik der verschiedenen Nationalgeistes die Art und Weise, wie die Geister der Individuen ihren Leib beherrschen, durch ihn und auf ihn wirken, zu einem bestimmten, relativ gleichbleibenden Typus aus.

In so fern nämlich dieser Typus, mitten in aller Verschiedenheit der Einzelnen und während sie in subjectiven Thätigkeit ihn darstellen, doch zugleich ein bleibender ist, in so fern haben wir in ihm auch einen Zug des objectiv gewordenen öffentlichen Geistes zu erkennen.

Auch die Sprache enthält in ihrer phonetischen Seite Momente dieser Art des objectiven Geistes. Die Art der Beherrschung der Sprachorgane, die Bevorzugung des einen vor dem anderen, die Ausbildung des Lautsystems unter Anwendung von verschiedenen Vocalen und Consonanten, von Zisch- und Schnalzlauten, auch die Weise des schnelleren oder langsameren,

klaren oder dumpfen Sprechens, der heftigen oder gelinden Gesticulation: alles dies bietet charakteristische Merkmale des objektivirten Nationalgeistes dar. —Auf anthropologischer Grundlage im weitesten Sinne stehen dann die verschiedenen Arten der Bewegung und der Beweglichkeit des Körpers überhaupt; die Behendigkeit der Franzosen, die Steifheit der Engländer, die Grandezza der Spanier und Würde der Türken, die Schwerfälligkeit der Holländer, Festigkeit der Deutschen, die verschiedenen Weisen der Anmuth bei den Frauen schliessen charakteristische Züge des objectiven Geistes ein, welche sich einerseits in den verschiedenen Stämmen der Völker wieder individualisieren und andererseits in verschiedenen Lebensäusserungen einen besonderen Werth gewinnen, z. B. in der grösseren Tauglichkeit zum Angriff oder zur Ausdauer im Kriege, zum Land- oder Seedienst, zur Colonisation u. s. w.

Hieher gehört auch alle natürlich gegebene oder künstlich erworbene und zur zweiten Natur gewordene Gewandtheit und Geschicklichkeit überhaupt, die in friedlichem Turnen oder kriegerischer Uebung oder in den eigentlichen Spielen ihren Ausdruck findet. Unter der Voraussetzung, dass die Weise der Erscheinung und der Thätigkeit habituell geworden ist und neben der Individualität des Einzelnen doch zugleich eine bestimmte von jeder anderen unterscheidbare Allgemeinheit darstellt, bildet sie ein Merkmal des objectiven Geistes. Deutlich und gewichtig tritt dies hervor, wenn wir bemerken, dass auch alle mimischen und musikalischen Künste hierher gehören, indem die verschiedenen Arten und Grade, die Neigungen und Fähigkeiten ihrer Uebung für die verschiedenen Nationen charakteristisch sind.

§. 12. Die Institutionen der Gesellschaft und die Formen der Geselligkeit.

Wir nähern uns offenbar wieder dem rein geistigen Dasein, wie es in theoretischem Inhalt, in Denkformen, Gesinnungen und Gefühlsweisen besteht, indem wir im Unterschied von ihm noch jene Form des geistigen Daseins erwähnen, welche,

von überwiegend innerlichem Gehalt und innerer Bedeutung, doch zugleich an materiellen Dingen eine Anknüpfung oder eine Symbolik hat. Schulen z. B. und alle Kunst- und Lehranstalten, auch Verwaltungseinrichtungen, Gemeindebildungen bürgerlicher und kirchlicher Art und freie Vereine mit äusserlichen Normen, Bedingungen und Erfolgen, ja alles das, was man als öffentliche Institutionen bezeichnet, bildet eine zugleich in Aeusserem ausgeprägte, objective Gestaltung des Geistes. Auch die Formen der Geselligkeit mit ihren ethischen und ästhetischen Motiven gehören hieher. In der Reihenfolge aber, in welcher sie hier von uns betrachtet ist, wird leicht bemerklich, dass diese Art der Existenz des objectiven Geistes ani wenigsten von der activen und persönlichen Thätigkeit der betheiligten Subjecte abgelöst und selbständig, vielmehr seine Erhaltung fortwährend von derselben bedingt ist.

§. 13. Totalbild des objectiven Geistes.

Nunmehr können wir versuchen, ein gedrängtes Bild von der gesammten Existenz- und Wirkungsweise des objectiven Geistes überhaupt zu entwerfen, in welchem alle Momente der Charakteristik verschiedener Genossenschaften und ihres objectiven Geistes gegeben sind.

Der objective Geist ist, wie wir gesehen haben, der aus der persönlichen (subjectiven) Thätigkeit der Einzelnen hervorgegangene, erzeugte und vorhandene, als solcher den Personen thatsächlich gegenüberstehende geistige Gehalt, welcher als Inhalt und Form des geistigen Lebens sich kund gibt, Die beiden extremen Erscheinungen, in denen dieser objective Geist sich manifestirt, sind also diese. Auf der einen Seite stehen rein geistige Elemente: Anschauungen, Ueberzeugungen, Gesinnungen, Denkformen, Gefühlsweisen u. s. w.; sie sind Elemente des objectiven Geistes, in so fern sie im Volke verbreitet, dauernd und charakteristisch sind, als das Vorhandene dem einzelnen Geiste gegenüberstehen und auf ihn wirken; ihre Existenz aber, den Ort und die Art ihres Daseins haben diese Elemente dennoch

nur in den persönlichen Subjecten, in den einzelnen Geistern, in deren subjectiven Thätigkeit sie eben als das Allgemeine in dem Individuellen auf concrete Weise enthalten sind.

Auf der anderen Seite stehen reale oder symbolische Verkörperungen des Gedankens: Kunstwerke, Documente, Schriften, Bauten aller Art, zum Verbrauch bestimmte Erzeugnisse der Industrie. Sie enthalten im engsten Sinne den objectivirten, in ein Object gelegten Geist, dessen Beziehung zur subjectiven Thätigkeit der Personen nur diese ist, dass überhaupt subjective Thätigkeit, welche die Objecte auffasst, hinzukommen muss, damit diese als objectivirte Gedanken ein Leben gewinnen; in den Objecten selbst liegt es, diese subjective Thätigkeit zu erregen und zu ihrer Erkenntniss zu leiten je nach dem Masse der Bestimmtheit des in ihnen niedergelegten Gedankens. *)

Zwischen diese Extreme treten nun wieder auf der einen Seite die Werkzeuge und Maschinen sammt allen wissenschaftlichen Instrumenten, in denen der Geist dergestalt objectivirt ist, dass zum blossen Beharren desselben auch die dauernde Wirksamkeit tritt, welche nur von der dauernden Kenntniss des Gebrauchs bedingt wird. Auf der anderen Seite dagegen bilden die in §. 12 erwähnten Institutionen ein durchaus lebendiges Bestehen und Wirken des Gedankens, welcher in der Anknüpfung an materielle Dinge und Verhältnisse nur einen festeren, objectiveren Bestand gewinnt.

Im beziehungsweise vollkommensten Gleichgewicht der verschiedenen

Elemente, welche der Erscheinung des objectiven Geistes dienen, befindet sich endlich die in §. 11 entwickelte, auf anthropologischem Boden spielende Gestaltung desselben. In aller habituellen und national-charakteristischen Gewandtheit und Geschicklichkeit, in allen nationalen Formen und Manieren, in allen Kunstübungen und persönlichen Darstellungen erscheinen Geist und Natur, Seele und Leib, Ueberlieferung und Gegenwart , das Allgemeine und das Persönliche durchaus gleichgemischt.

Die persönliche Thätigkeit des ganzen psycho-physischen Organismus erscheint als das nothwendige Vehikel der Erhaltung dieser Manifestation des objectiven Geistes, und doch stellt sie sich andererseits, indem sie einen bestimmten und allgemeinen Typus zur Erscheinung bringt, dessen Ursache, Inhalt und Weise der Ueberlieferung wesentlich geistiger Art ist, als ein Element des objectiv gewordenen Geistes dar.

Kürzlich also können wir die verschiedenen Manifestationen des objectiven Geistes in folgender Reihenfolge darstellen; er existirt als:

1) der durch Verkörperung beharrende und wiedererkennbare Gedanke;

2) der in einer Verkörperung nicht bloss erkennbare, sondern auch wirkende Gedanke;

3) der in des Menschen eigenem psycho-physischem Organismus erscheinende und wirkende Gedanke; *)

4) der unter Anknüpfung an materielle Verhältnisse organisirte — oder auch das Verhalten der Geister zu einander organisierende Gedanke;

5) der in dem geistigen Leben (der Einzelnen wie der Gesammtheit) als wesentlicher Inhalt und leitende Form lebende und dasselbe constituirende Gedanke.

§. 14

Der subjective und der objective Geist.

Die zuletzt genannte höchste, nämlich rein geistige Form des objectiven Geistes hat ihre Existenz in der Gesammtheit der einzelnen Geister, in deren Leben und geistigem Thun der objective Geist lebt und sich vollzieht. Aber dennoch sind die einzelnen Geister nicht die Schöpfer, sondern nur die Träger des objectiven Geistes; sie erzeugen ihn nicht, sie erhalten ihn nur; ihr geistiges Thun ist nicht so sehr Ursache als vielmehr Erfolg desselben. Die Einzelnen (bis auf die Ausnahme des §. 24) lernen ihre Thätigkeit aus dem Bestehenden und vollziehen es eben deshalb, weil es das Bestehende ist, dem sie sich nicht entziehen können; nicht aus der Kraft ihrer individuellen Subjectivität wirken sie, sondern aus der Macht der Objectivität, in welcher sie entstanden sind und stehen. Wir müssen uns dies Verhältniss des subjectiven Geistes, der subjectiven Thätigkeit des einzelnen Geistes zum gegebenen, objectiven Geist noch klarer machen.

Man kann in übersichtlicher Weise alles geistige Leben in den zwei Richtungen erkennen, die objectiv vorhandene Welt (einschliesslich des eigenen Selbst) als Inhalt in den Geist aufzunehmen, und in der Welt sich activ, handelnd und bildend zu bewegen.

Demgemäss wird die Bedeutung des objectiven Geistes für die subjective Thätigkeit des Individuums in Folgendem bestehen

1. Der Mensch, der in irgend welcher historischen Zeit und Stellung in das Lehen eintritt, findet neben der objectiv gegebenen Welt der Natur zugleich in dem objectiven Geist eine zweite, eine Welt des Gedankens.

Nun aber ist der Inhalt und der Werth einer objecterfassenden geistigen Thätigkeit — das Mass der Energie, der geistigen Kraftäusserung gleich gesetzt — verschieden je nach der Natur des Objects selbst; denn der Gefolg des Denkens ist

abhängig von der Stärke, Bestimmtheit, dem Reichthum und der Dignität überhaupt des gedankenerregenden Objects. Wenn ich einen künstlerischen Gegenstand auffasse, so ist allerdings meine subjective Thätigkeit des Anschauens wesentliche Bedingung dafür, dass das Bild desselben zum Inhalt meiner Seele wird; durchaus von meiner Thätigkeit ist die Existenz des Bildgedankens in meinem Geiste abhängig; das Bild kommt nicht durch seine active Erregung in meine (passiv gedachte) Seele hinein, sondern meine, des Geistes active Thätigkeit fasst es auf. Aber der specifische Werth und Inhalt ist mir dennoch in dem Kunstwerk gegeben; ich habe den Gedanken desselben, den Gedanken des Künstlers nicht erzeugt, sondern nur für mich wiedererzeugt; nicht gebildet, sondern nur nachgebildet; an der Hand der vom objectiven Gedanken ausgehenden und mich treffenden Erregung habe ich mir denselben subjectiv — nicht geschaffen, sondern — angeeignet. Danach nun kann man den durchaus überwältigenden Einfluss des geistigen Zusammenlebens ermessen. Denn erstens bildet diese Art nachahmender Gedanken in unserer geistigen Thätigkeit ein so grosses numerisches Uebergewicht, dass als ein verschwindend kleiner Bruchtheil die Gedanken erscheinen, welche wirklich schöpferische sind, also auch nach ihrem Werth und Inhalt aus unserer subjectiven Thätigkeit hervorgehen und dann eine Bereicherung des objectiven Geistes ausmachen, wovon weiter unten die Rede sein wird. Nur dies sei sogleich noch bemerkt, dass auch unsere schöpferischen Gedanken vielfach aus Elementen des nachahmenden zusammengesetzt sind und also immer wieder auf die Macht und den Einfluss des objectiven Geistes zurückweisen.

Sodann ist noch auf einen wesentlichen Unterschied hinzuweisen, zwischen dieser zweiten objectiven Welt nämlich des Geistes, und der ersten, der Natur. Diese nämlich als das natürliche Object des Geistes verhält sich, so zu sagen mit einer übertriebenen Discretion, fast gänzlich passiv, oder sie umwebt den einfachen Menschengeist so sehr mit den Zaubern ihrer Erscheinung, dass sie, anstatt ihn zu ihrer Erkenntniss aufzustacheln, ihn vielmehr sehr bald sättigt und von einer energisch activen Auffassung ablenkt. Das Reich des Geistes hingegen, die

Menschen und ihre Schöpfungen dringen auf jeden Neugebornen in einem Culturlande mit einer beglückenden Zudringlichkeit so gewaltig ein, weil sie nicht bloss gewissermassen die ganze Oberfläche der Natur wie mit einem Netz übersponnen haben, sondern auch mit tausend Zungen laut und vernehmlich in den neuen Menschen hineinreden. In einem unsäglich viel weiteren Sinne als das Wort sonst genommen wird, kommt die Erziehung, als Repräsentantin der Geschichte und des objectiven Geistes, der auffassenden Thätigkeit des Epigonen von der ersten Stunde seines Daseins entgegen, umstellt sie, um jeder freien Aeusserung derselben nicht bloss sich als nothwendiges Object darzubieten, sondern sie lässt auch alle Reizmittel spielen, um die junge Seele zu dieser Thätigkeit zu erregen. *)

2. Schwerer aber und später entwickelte sich die Einsicht, dass der Mensch nicht bloss eine zweite Welt von Objecten im objectiven Geist empfängt, sondern dass in dem überlieferten Geist auch die Form und das Organ gegeben ist, durch welche das Individuum auch die ihm unmittelbar gegenüberstehende Natur auffasst.

Noch bei Locke und Kant, bei Spinoza und Fichte finden wir in den Darstellungen von der Thätigkeit und Entwickelung des menschlichen Verstandes alle Momente derselben unmittelbar auf das Individuum bezogen; kaum als flüchtige Ausnahmen erscheinen Hinweisungen auf die geschichtlichen Bedingungen derselben. In der That aber vollzieht sich auf dem Standpunkt einer entwickelten Cultur auch die scheinbar einfachste Naturerkenntniss in einem psychischen Prozess, welcher in seinen wesentlichsten Stücken aus solchen Denkformen und Methoden besteht, welche das Resultat fortdauernder Ansammlung und Fortbildung gegebenen Gedankengehaltes sind. Zwar findet die Entwickelung des menschlichen Geistes überall und jederzeit nach allgemeinen psychologischen Gesetzen statt; allein man täuscht sich über den

Sinn dieses wahren Gedankens, wenn man übersieht, dass die Bedingungen des gesetzmässigen Geschehens, die Elemente und Voraussetzungen desselben für die Individuen verschiedener Zeiten und Völker völlig verschiedene sind, dergestalt, dass allmählich ganz neue psychische Ereignisse auftreten und mit diesen auch erst die sie betreffenden Gesetze zur Erscheinung kommen. (vgl. unten §. 25.) Denn zu der natürlichen Thätigkeit des Geistes kommt eine künstliche, zur unwillkürlichen eine absichtliche, zur zufälligen eine methodische; die Resultate aber aller dieser künstlichen, absichtlichen und methodischen Prozesse treten, festgehalten im objectiven Geist, als verdichtete Elemente an das spätere Individuum heran, um in ihm wie natürliche zu wirken. Es sollte gewiss nicht mehr der Wiederholung bedürfen, dass auch die Cultur des Menschen im weiteren Sinne zur Natur desselben gehört; aber nicht zur Natur des einzelnen, isolierten, sondern lediglich zu der des historisch lebenden Menschen; mag man also immerhin die Entwickelung der Cultur als einen natürlichen Verlauf ansehen; nur muss man dann nie von dem einzelnen Menschen, wie er aus der Hand der Natur hervorgeht, reden, sondern von dem Mitglied einer Gesellschaft, in welcher die natürlich-geistige Thätigkeit objectiv geworden und als überliefertes, historisches Element in die natürliche Entwickelung des späteren Individuums eintritt. *)

Sowohl der eigentliche Inhalt, der Schatz von Anschauungen, Vorstellungen und Ideen, als die Denkformen — im engeren Sinne —, welche im objectiven Geiste enthalten sind, wirken bestimmend auf die Thätigkeit des individuellen Geistes ein, also beziehungsweise auf die Gesammtheit der Individuen eines folgenden Geschlechts, indem sie die Organe der Thätigkeit und die Richtung derselben ihr überliefern.

Die Einheit sowohl als die eindringende Macht des objectiven Geistes zeigt sich eben deshalb nicht bloss in der Erhaltung und Wiederholung des bereits Gegebenen, in der feineren Umbildung und Ausgestaltung dessen, was schon als ein Fertiges immer vorhanden ist, wie in der Sprache und den Sitten, dem Rechtsbaue u. s. w., sondern da vor allem, wo eine Schöpfung dieses Geistes, etwa eine Erkenntniss, überhaupt nur in einer Reihe von Jahrhunderten zu Stande kommen kann. Wie gleichmässig muss da im Volke der Zug des Geistes, wie ausdauernd das Interesse, wie treu und bewusst muss der ideale Sinn sein, wo die geistige Arbeit von Generation zu Generation so sicher und einheitlich fortschreitet, wie wenn der Eine Denker von Secunde zu Secunde in seiner Thätigkeit von den Prämissen zum Schlusssatz, von der Beobachtung um Resultat fortgeht. Wie wird da von früheren Generationen das Unbestimmte festgehalten, damit folgende Generationen es zur Bestimmtheit erheben!

"Die Kenntniss der sieben Sphären, die Grundlage aller astronomischen Vorstellungen vom Weltbau, setzt die Bestimmung der siderischen Umlaufszeiten voraus. Diese selbst aber konnte nur eine fortgesetzte Beobachtung gewinnen, und Jahrhunderte waren nöthig und eine stete Ueberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht, um bei der ersten rohen Methode der Beobachtung und bei der langsamen Bewegung der oberen Planeten diese Bestimmungen zu erhalten." (Apell, Epochen.)

3. Am deutlichsten und darum auch bekanntesten ist dagegen die Einwirkung des gegebenen, objectiven Geistes auf alles, was zur praktischen Thätigkeit des Individuums gehört. Die Schätzung der Dinge und Verhältnisse, die Bestimmung der Werthe, die Wahl der Zwecke, die Bildung von Motiven und Gesinnungen, welche das Handeln leiten, sie wurzeln fast gänzlich in dem überlieferten Geist der Gesellschaft, in welchem das Individuum steht.

§. 15. Die Träger des objectiven Geistes.

Der Paragraph 7 hat von der Möglichkeit einer vollständigen Kenntniss des objectiven Geistes eines Volkes gehandelt; der vorige Paragraph aber hat gezeigt, dass die wesentlichste Manifestation desselben nur in den lebenden Individuen die eigentliche Existenz hat. Sind denn nun alle Individuen Träger des objectiven Volksgeistes? sind es alle auf gleiche Weise?

Wenn zunächst einzelne Individuen von dem objectiven Geist abweichen, wenn Recht oder Sitte verletzt wird, so wird dies meist nicht ohne ein Bewusstsein des Unrechts, ohne die Erkenntniss geschehen, dass und in wie fern der Einzelwille gegen das Allgemeine sich auflehnt, und so wird die subjective Ausnahme nur die objective Regel bestätigen. Aber auch Art und Zahl dieser Abweichungen, die Statistik der Verbrechen, muss zur Charakteristik eines Volksgeistes dienen, indem sie zeigt, ob und in wie weit die objectiven Gedanken des Volksgeistes Macht genug haben, die Fesseln der Natur zu lösen und die Freiheit des Geistes (der Einzelnen) zu binden.

Wir werden in diesem Sinne allerdings das Verbrechen der Einzelnen der Gesammtheit, die individuelle subjective That dem allgemeinen objectiven Geist zurechnen müssen. Vollends wenn die Vergehen der Einzelnen ein nothwendiger Erfolg der Organisation der Gesellschaft sind, wenn sie nur als einzelne Anzeichen von der Krankheit des Ganzen auftreten, wenn nämlich nur die bestimmten Personen aus unglückseliger Freiheit das

Verbrechen erwählen, die Zahl derselben aber eine unabwendbare Nothwendigkeit ist (wie wenn zwar Brod für Alle, Besitz aber und gesuchte Arbeit nur für Alle — X vorhanden ist und Vergehen gegen das Eigenthum also nothwendig werden): dann werden wir zugestehen müssen, dass "der Verbrecher das Verbrechen der Gesellschaft ist". Nur findet dies nicht in der Ausdehnung statt, in welcher Buckle es annimmt.

Wo aber die Abweichung vom objectiven Geist ohne ein Bewusstsein von derselben stattfindet, wo Sprachfehler, niedrigere Naturanschauung, ethischer und ästhetischer Bildungsmangel vorhanden sind: da ist eben der objective Geist das Mass für den Zustand solcher Individuen. Wie die im Wachsthum aufgehaltenen oder in Krüppel verbildeten physiologischen Gebilde zum Gattungstypus, so verhalten sich diese Subjecte zum objectiven Geist. Auch hier ist die Analogie des Verhaltens des Einzelnen zur Gesammtheit mit dem Verhalten der einzelnen Vorstellungen zum Gesamtbewusstsein des Individuums leicht zu erkennen; und wir heben sie besonders hervor, weil nicht bloss die Analogie, sondern auch der Grund jenes Verhaltens darin gegeben ist. Jedes Individuum hat einen gewissen Bildungsgrad, welcher seine psychischen Prozesse, einen Charakter, welcher seine Handlungen bestimmt. Aber nicht alle einzelnen Vorstellungen haben denselben Grad der Ausbildung, nicht alle Denkacte die dem Individuum entsprechende Bestimmtheit, nicht alle Willensacte stimmen mit der Gesinnung der Person zusammen. Gleichwohl messen wir jeden Gedanken des Einzelnen und jede Handlung desselben an seinem Bildungsgrad. Auch hier liegt die Schuld eines Mangels entweder in dem einzelnen psychischen Ereigniss selbst, oder in dem gesammten psychischen Organismus, aus welchem die individuellen Fehler hervorgehen.

Daher geschieht es denn auch, dass dieselben Individuen in der einen Beziehung vollbürtige Träger des objectiven Geistes sind, während sie in einer anderen Beziehung hinter ihm zurückstehen oder ihm entgegentreten. Von einer absoluten Bestimmtheit also, wo wir die eigentlichen Träger des objectiven Geistes zu suchen haben, kann deshalb nicht wohl geredet werden.

Wollen wir uns dieser Bestimmtheit aber einigermassen nähern, so ist Folgendes zu beachten.

Wir werden zunächst von den Idioten aller Art absehen, — welche ihren Namen dadurch verdienen, dass sie, in der natürlichen Einzelbestimmtheit zurückbleibend, von der erziehenden Gewalt des allgemeinen Geistes nichts an sich erfahren können; aber auch von all jenen Individuen einerseits werden wir absehen, welche (gleich den Kindern) nur erst in der Entwickelung zu dem durchschnittlichen Mass des allgemein ausgebildeten, Jedermann in seiner Sphäre zugänglichen Gemeingeistes begriffen oder befangen sind; so wie andererseits von den hervorragenden Individuen, welche, eben jenes durchschnittliche Mass überschreitend, durch ihre eigene Grösse und deren Einwirkung auf die Gesammtheit dasselbe zu dehnen und zu erheben noch im Begriff stehen.

Die so verbleibende mittlere, durchschnittliche Masse werden wir vor allem an dem erkennen, was sie in bewusster Weise in der Gesammtheit und für dieselbe leistet und von ihr empfängt (oben §. 4); der Inhalt, den sie erzeugt und der sie leitet und die Formen, durch welche beides geschieht, wird sie kennzeichnen.

Jene beiden Arten von Individuen aber, die zurückgebliebenen und die gesteigerten Menschen, können, während sie von dem Mass des Allgemeinen abweichen, zugleich dazu dienen, es zu erklären, indem an den Einen erkannt wird: welche Art von wirklicher Entwickelung von der durchschnittlichen Masse bereits vollzogen ist; an den Anderen aber: wie und wo die Möglichkeit einer weiteren Entfaltung des Allgemeinen selbst gegeben ist (vgl. unten §§. 19 und 20).

§. 16. Beiderseitige Gliederung des subjectiven und des objectiven Geistes.

Wichtiger aber für die Erkenntniss des objectiven Geistes ist es dann, dass er nach dem Masse der objectiven Culturentwickelung, die er einschliesst, und der Theilung der Arbeit, die

er voraussetzt, sich seinem eigenen Inhalt nach ebenfalls gegliedert in den Gleichzeitiglebenden darstellen muss. Daher können einerseits die Lebensarten und Arbeitsgewohnheiten einzelner Stände oder Klassen an und für sich charakteristisch werden für den objectiven Geist des Ganzen, in dem die Klassen vereinigt sind;

Ob der Adel, der Bauernstand träge oder munter, Neuerungen geneigt oder abhold; ob der Handwerkerstand überhaupt vorhanden, ob er erfindsam oder nachahmend, beweglich oder schwerfällig; ob der Handel enge oder weite Grenzen hat, ob er reell oder schlau, ob er Baar- oder Credithandel ist; ob die Gelehrten isolirt oder mit der Welt in Verbindung, ob sie formlose Pedanten oder gewandte Volksbildner sind: Alles dies sind Kennzeichen und Erfolge des allgemeinen subjectiven Geistes.

und andererseits wird der Charakter einer Culturepoche wesentlich davon berührt, ob die Scheidung und Gliederung überhaupt bestimmt, klar genug, oder zu bestimmt und schroff ist; ob bestimmt genug, um deutliche, fruchtbare und regelmässige Beziehungen zwischen den Klassen herzustellen, oder ob sie zu schroff sind und nur Hemmungen, Antipathieen und Antagonismen zur Folge haben.

Man vergleiche das Verhältniss der Patrizier und Plebejer in der römischen Republik mit den Zwangsklassen des oströmischen Kaiserthums.

§. 17. Die Harmonie der Gliederung und ihr Gegentheil.

An die Gliederung des allgemeinen Gattungscharakters in die Artcharaktere der einzelnen Stände und Klassen, welche letztere alle den ersteren widerspiegeln und zusammensetzen, knüpft sich die für den Bestand und die Fortentwickelung derselben gleich wichtige Frage nach der inneren Harmonie des objectiven Geistes und sein Verhalten zu den subjectiven Trägern.

1. Zunächst handelt es sich natürlich darum, ob der öffentliche

Geist überhaupt objectiv mit sich selbst übereinstimmend ist, oder Differenzen enthält, die sich wie logische Widersprüche zu einander verhalten.

Das Letztere finden wir bei allen Volksgeistern vor dem Untergange eines Volkes und als wesentliche Ursache desselben. Die verschiedenen Lebensanschauungen, —theils aus heimischen Keimen entwickelt (Griechen), theils durch Berührung mit fremden Ideenkreisen überkommen (Römer und Juden)— vertheilen sich Anfangs auf verschiedene Kreise von Individuen, bilden Parteiungen, in denen entweder unmittelbar um jene Gegensätze, oder mittelbar durch die Macht derselben um irgend welche Objecte und Beziehungen des öffentlichen Lebens gekämpft wird. In dem Stadium dieser Kämpfe zeigt die Geschichte das trügerische Bild von Fülle und Frische des Lebens; aber es ist ein hektischer Schimmer, der Prozess einer lebhaft wirkenden Kraft, die sich aufreiht, je lebhafter, desto verzehrender. Diese Kämpfe sind nur der Anfang vom Ende, welches dann nothwendig eintritt, wenn einerseits die Gegensätze — wegen ihrer scheinbar objectiven, subjectiv aber für die durchschnittliche Masse wirklichen Unlösbarkeit — ihre Anziehungskraft verlieren, wenn so die Gleichgültigen die zahlreichste Partei bilden, welche das Uebel in der Cultur überhaupt erblickt, zur sogenannten Natur und ausschliesslichen Antrieben derselben sich zurückwendet, also den Weg der Entartung geht, der bald zur Rohheit, zur Auflösung alles objectiven Geistes führt; und andererseits die Gegensätze, welche früher in den verschiedenen Individuen vertheilt waren, in einen und denselben Individuen sich einnisten, Skepsis erzeugen, die verschiedenen Gesinnungen zur Gesinnungslosigkeit führen, weil dann die Köpfe stumpf, aber die Gewissen dialektisch werden. *)

Wer sieht nicht, dass in diesem Gedanken die Gefahren und die Aufgaben unseres Zeitalters angedeutet liegen; da die Gegensätze einer mechanischen oder teleologischen, einer naturalistischen oder idealistischen Lebensauffassung

um sich greifen, und nicht bloss der Gedankeninhalt, sondern selbst die letzten Denkformen Gegenstand des Widerstreits geworden sind. (Freie Wissenschaft und traditionell-religiöse Lebensanschauung; in England sogar politische Freiheit neben wissenschaftlichem und religiösem Despotismus.)

2. Sodann handelt es sich darum, ob der objective Geist mit seiner subjectiven Gestaltung und Vertheilung in den Massen der Individuen harmoniert. Offenbar bedarf ein niedrig stehender objectiver Volksgeist keiner so bestimmten Gliederung, als ein entwickelter; und von der Natur des objectiven Geistes hängt es ab, oh Staat und Kirche, Schule und Staat und Schule und Kirche verbunden oder getrennt sein müssen, ob Religion und Wissenschaft frei oder gebunden sein sollen. Namentlich aber ist es von Bedeutung, ob die Artcharaktere der einzelnen Stände und Berufsklassen sich so verhalten, dass sie den Gattungscharakter, wenn auch nicht zerstören, so doch mit Widersprüchen belasten können. Ob z. B. einzelne Stände in der Entwickelung oder im Einfluss auf das Ganze zu weit vorgehen oder zu weit zurückbleiben; an Bildung oder an Macht; ob Macht und Bildung, Besitz und Arbeit, kriegerische und friedliche Thätigkeit u. s. w. im Gleichgewicht stehen, oder nicht.

Hier können Gegensätze sich erzeugen, welche lange bevor sie erkannt werden, schon ihre verderbliche Macht ausüben; Gegensätze, welche entweder aus der gewaltsamen Einschiebung neuer Elemente zur Hemmung einer regelmässigen Entwickelung entspringen (wie die Gegenreformation in Italien und theilweise auch in Oesterreich), oder aus der zähen Fortdauer veralteter Anschauungen, Zustände und Einflüsse, während das Ganze in eine neue

Epoche der Entwickelung eingetreten ist. Solche Elemente können lange, wie eine Kugel im leiblichen Organismus bei anscheinender Gesundheit, unbemerkt im Innern des Volksgeistes fortwühlen; und es gehört dann eine geschickte Hand des Chirurgen und eine starke Constitution — des Patienten dazu, wenn solch eine Kugel ohne Gefahr für das Leben entfernt werden soll.

§. 18. Die Ausbildung des objectiven Geistes.

Der Bestand des objectiven Geistes in der Gesammtheit wird dadurch erhalten, dass die Einzelnen sich zum Inhalt und zur Höhe desselben, beziehungsweise zu derjenigen Stelle entwickeln, welche sie in ihm einzunehmen geeignet und geneigt sind. Jeder Einzelne nun verhält sich zur Gesammtheit und dem in ihr lebenden objectiven Geist, wie sich jeder einzelne psychische Act im Individuum zu dem Ganzen seines bis dahin erlebten Gesammtbewußtseins verhält. Jeder einzelne Art nämlich ist offenbar bedingt von dem ganzen Stand und Gang des früheren psychischen Lebens der Person; zwar nicht gänzlich in Bezug auf den Inhalt, da die Person einem neuen Inhalt als Subject gegenüber treten und ihn aufnehmen kann; wohl aber wird die Art und Form der neuen Vorstellung und damit auch mittelbar der Inhalt derselben in seiner vom Subject ausgehenden Bestimmtheit der Auffassung bedingt sein von den früheren Vorstellungen und allen an ihnen in der Seele vollzogenen Prozessen. Jeder psychische Act also hat einen personalgeschichtlichen Charakter; er wird zwar nach allgemeinen Gesetzen vollzogen; allein der Sinn eines jeden — auch psychologischen —Gesetzes ist ja dieser, dass unter gegebenen gewissen Bedingungen gewisse Erfolge nothwendig sind: eben diese Bedingungen aber liegen für jeden psychischen Act nicht in der blossen Beziehung zwischen dem Subject und dem betreffenden Object, sondern wesentlich in der früheren Thätigkeit des Subjects selbst, denn durch diese

werden z. B. die Empfänglichkeit, Beweglichkeit und Appeceeptionsgestaltung des Prozesses, der in Frage kommt, bedingt. *)

Auf gleiche Weise nun ist das psychische Leben und die Entwickelung des Einzelnen bedingt von dem bereits vorhandenen Leben der Gesammtheit und des darin liegenden objectiven Geistes; denn Form und Inhalt desselben werden sich nothwendig nach diesem gestalten, da in ihm die Bedingungen gegeben sind, wie das Einzelsubject seine Thätigkeit gesetzmässig vollzieht. Wir sagen auf gleiche Weise, obwohl uns der Unterschied deutlich vor Augen steht, dass es dort ein und dasselbe persönliche Subject ist, in welchem sich der Einfluss der früheren Thätigkeit auf die spätere geltend macht, hier aber nur ein objectiver, in anderen Personen lebender Gehalt seinen Einfluss auf eine andere Person ausüben soll. Denn die Identität des Subjects ist zwar ein factisches (und an und für sich wichtigstes) Verhältniss; die Art der Bedingtheit der folgenden Ereignisse durch die früheren beruht aber nicht in diesem Verhältniss, sondern in der Art und Natur der geistigen Ereignisse selbst, welche vorangegangen sind,

in ihrer objectiven Natur und Beschaffenheit. (§. 1.) Wenn also irgend ein gegebener objectiver geistiger Gehalt von anderen Personen her sich einer Person so unweigerlich aufdringt, dass sie den Einfluss desselben im eigenen Geiste nicht vermeiden kann, dann hat dieser Einfluss die gleiche Nothwendigkeit, als wenn er aus der eigenen, früheren Thätigkeit des Subjects herstammte. Populär ausgedrückt (obwohl nicht ganz consequent, denn am wesentlichsten handelt es sich um die formbildenden Einflüsse [nach §. 14, No. 2]) heisst dies so viel, als: ein Gedanke hat auf den folgenden Gedankenlauf den gleichen Einfluss, ob er in meinem Kopfe oder in einem anderen entsprungen ist; die Prämissen im anderen Geist führen auch in meinem zu dem gleichen Schluss; mit einem Wort; die Gleichheit der objectiven Gesetze für den Geistesinhalt und seine Entfaltung und die Gleichheit der subjectiven, psychologischen Gesetze für den Prozess, diese Gleichheit der Thätigkeit ersetzt die Identität der Person.

§. 19. Die Fortbildung (durch Genialität).

Ist nun der Bestand des objectiven Geistes dadurch gegründet, dass er bedingend auf die subjective Thätigkeit des Einzelgeistes einwirkt: so sehen wir dann umgekehrt die weitere Fortentwickelung des objectiven Geistes selbst abhängig von der beziehungsweisen Erhebung des einzelnen Geistes (in seiner subjectiven Thätigkeit) über denselben. Es findet hier wiederum durchaus dasselbe Verhältniss der Analogie mit der Entwickelung des individuellen Geistes selber statt. Was einzelne psychische Acte im Gesammtbewusstsein des individuellen Geistes, das sind persönliche Individuen für den objectiven Geist der Gesammtheit. Offenbar nämlich erhebt sich das Individuum über irgend ein bereits erreichtes Mass der Bildung durch Vollziehung neuer, bedeutsamer, und auf das Ganze und alles Frühere rückwirkender psychischer Acte; irgend ein späterer Gedanke, ausgezeichnet durch hervorragende Energie in der Erfassung des Inhalts, oder durch eine neue Combination des Gegebenen, durch grössere

Innigkeit und Klarheit in der Fassung der Ideen, durch grössere Ordnung und Festigkeit ihrer Gestaltungen, erzeugt auch rückwärts für das Gesammtbewusstsein der Persönlichkeit eine neue Schärfe, Bestimmtheit und Ordnung der Gedanken, neue Zwecke und entsprechende Mittel ihrer Ausführung. In der subjectiven Entwickelung des Einzelgeistes ist uns so Urbild und Ursache gegeben für den Fortschritt auch des objectiven Geistes der Gesammtheit; denn dieser vollzieht sich dadurch, dass Einzelne oder eine Vielheit von Individuen durch ihr geistiges Thun eine Erhebung, Klärung, Vertiefung, überhaupt Bereicherung des objectiven Geistes vollbringen, welcher dann, so bereichert, in die Gesammtheit sich wiederum ergiesst und in ihr erhält. Gewinnt doch die glänzende Erhebung eines einzelnen, neuen, schöpferischen Gedankens über das Ganze des persönlichen Geistes ihre volle Bedeutung erst dann, wenn er auf das ganze Bewusstsein klärend, ordnend und gestaltend sich zurückbezieht; und so finden grosse, bedeutende Männer für ihre geistige That ebenfalls die Bedeutung erst in der Rückwirkung auf die Gesammtheit. Wenn ein Friedrich nicht vereinzelt bleibt mit der Macht seiner Persönlichkeit, sondern sein Volk mit sich fortreisst, wenn ein Kant nicht der einsame Denker, sondern der Gründer einer Denkschule wird, welche die formale Aufklärung mit dem Aufklärungsinhalt zur Festigung des sittlichen Bewusstseins bis in die Dorfschule sendet: so stehen die Genien nicht mehr ausser und über, sondern im Volksgeist und bilden einen Theil seines objectiven Gehalts.

Häusser drückt die Wirksamkeit Friedrichs des Grossen vortrefflich dadurch aus, dass er fast: "es war nicht die Poesie allein, welche die grosse Rückwirkung einer solchen Persönlichkeit empfand. Unser ganzes Leben, unsere eigentliche Natur hat durch Friedrich eine ungemeine Veränderung erfahren". Von einer Veränderung der "eigentlichen Natur" kann aber schwerlich in einem anderen Sinne die Rede sein, als in dem der Umgestaltung des objectiven Geistes, woraus dann eine nothwendige Aenderung in der subjectiven Thätigkeit aller Einzelnen (nach dem vorigen Paragraphen) nothwendig

folgt. *) Und wenn v. Schön die ostpreussische Erhebung in den Freiheitskriegen dem Geiste Kants zuschreibt, so war dieser Geist dreissig Jahre vorher noch nicht der Geist der Preussen; dieses aufopfernde Pflichtleben, dieser hingebende Sinn für das "Allgemeine" hat in der That in der Lehre Kants eine offenliegende Quelle, die sich als wachsender Strom in die Gemüther ergossen hatte. Während der Genius nur eben erst in seiner eigenen Seele den geistigen Gehalt zu Tage schöpft, gehört dieser, weil einem der Träger desselben, zum subjectiven Geist des Volkes, aus welchem er dann, nach dem Masse seiner Kraft und Dauer, in den objectiven Geist eindringt; er gleicht dem Pfropfreis, das in den Stamm gesenkt wurde; noch ist es nur die räumliche Nähe und die beginnende Endosmose, die sie verbindet; bald aber verwachsen beide in einander und, die Trennung vergessend, werden wir von den Früchten sagen, dass sie auf diesem Baume wachsen.

§. 20. Die Fortbildung (durch Tüchtigkeit.)

Aber nicht bloss jene hervorragenden, Allen erkennbaren Geister, welche mit einem Wurf Grosses anbahnen oder vollbringen,

wirken auf die Fortbildung des objectiven Geistes; sondern alle Diejenigen, welche, in irgend einer der vier Formen des geistigen Zusammenlebens dergestalt thätig sind, dass sie nicht bloss nachahmend, das Gegebene wiederholend und erhaltend, sondern selbständig schaffend, frei ergänzend und gestaltend zu Werke gehen, arbeiten mit an der Bereicherung des objectiven Geistes. Hierbei sind namentlich auch die verschiedenen Arten des Daseins des objectiven Geistes (§. 13) als verschiedene Beziehungen seiner Fortbildungsfähigkeit wohl zu beachten. Also die fortschreitende Thätigkeit jedes Einzelnen, der entweder durch persönliche Erhebung oder vorbildliche Schöpfung seine Genossenschaft weiter führt, mündet nothwendig in den objectiven Geist ein. Dies ist die Weise aller aufstrebenden Berufsarbeit, auf welchem Gebiete es auch sei. Die einzige Bedingung dafür ist eben nur die, dass jeder irgend wie und irgend worin schöpferisch Tüchtige wirklich mit den Anderen zusammenlebt, sich mittheilt, schafft, wirkt, und nicht als Einsiedler lebt.

Es ist dabei aber wohl zu beachten, dass nicht alles individuelle Thun den Werth und die Bestimmung hat, in das Leben der Gesammtheit überzugehen; nach grösseren Epochen kann man beobachten, wie der Volksgeist beim Einsammeln der Frucht das Stroh auf der Tenne zurücklässt und nur das Korn in die Scheuern bringt. Immer aber sind Halme nöthig, wenn Körner wachsen sollen; nur sollte man dies in der Philologie speciell und in der Culturgeschichte überhaupt nie vergessen; es gibt dann immer noch Leute genug, welche nicht bloss auch das Stroh einsammeln, sondern es für eigentliche Frucht halten (f. den folg. Paragraphen).

§. 21. Das Historische.

Wenn wir von dem Verhältniss des objectiven Geistes zu den einzelnen Individuen, welche seine Fortschritte bewirken, absehen, wie es sich denn auch gewissermassen historisch von selbst

immer wieder auflöst, indem die subjective That des Einzelnen in den objectiven Gehalt der Gesammtheit übergegangen ist: so bleibt dies der wesentliche Gesichtspunkt in der Entwickelung des objectiven Geistes, dass sie in einer zeitlichen Abfolge sich vollzieht, dass die früheren Momente bedingend auf jede folgende Epoche einwirken, aber dennoch die folgende Epoche den Gehalt des Ganzen, das Bild des objectiven Geistes umgestalten kann; der objective Geist ist (eben so wie selbstverständlich der subjective, thätige Geist) ein schlechthin historischer; historisch in der bedingenden Macht für alles Nachfolgende, und in der Entwickelungsfähigkeit durch dasselbe. *)

§. 22. Unterschiede des historischen Wirkens.

Daran knüpft sich nun eine Betrachtung, welche eben so schwierig für den Psychologen, als wichtig für ihn, den Historiker und den Politiker ist.

1. Schon im Leben des Einzelnen nämlich haben wir zu unterscheiden das, was einmal gethan, schlechthin auch vorüber ist, beziehungsweise als ein wirkungsloser Inhalt im Gedächtniss bleibt, von dem, was, voller Einfluss, dauernd und bildend fortwirkt. Hier scheiden sich namentlich die Prozesse, in denen Gesinnungen, Erkenntnisse gewonnen werden, von den blossen Ereignissen des Lebens. Im Geiste des Individuum sind die meisten psychischen Acte, im Leben des Volkes das Leben der meisten Einzelnen nicht bloss Gegenstand der Wiederholung und Nachahmung — die Erzeugung der alltäglichen Industrie, die Bestellung des Bodens, die Ausbeute der Bergwerke, der Betrieb des Handels, die Arbeit in den Schreibstuben aller Art, welche zwar das Leben erhalten und erfüllen, aber nicht bereichern — sondern auch die individuellen Ereignisse, die Glücks-Unglücksfälle, wie sehr auch bedeutungsvoll für das Lebensschicksal,

bleiben meist bedeutungslos für den Stand des geistigen Daseins und seine Entwickelung.

2. Dahingegen treten, noch weit mehr als theoretische Anleitungen zur Bereicherung des Geistes, diejenigen Ereignisse hervor, welche im Besonderen die historischen zu heissen verdienen, welche Gesinnungen und Erkenntnisse bildend auf die Seele wirken, von denen die letzteren sich entweder ablösen, um auch als selbständig dauernder Gehalt fortzuwirken, oder nur implicite mit jenen und deren Erinnerung erhalten bleiben. Hierin liegt der Massstab für den Unterschied, ob gewisse historische Facta in der Folge geglaubt oder bezweifelt werden; hierin die Gleichheit und Verschiedenheit zwischen Mythen und Sagen auf der einen und historischen Thatsachen auf der anderen Seite.

Je inniger die gesinnungbildende Kraft noch mit der Thatsache selbst verknüpft, je weniger sie abgelöst und selbständig geworden ist, desto wichtiger bleibt noch der Glaube an die Thatsache und die Wiedererinnerung derselben. Für das Leben der Völker gibt es deshalb, eben so wie für Einzel- und Familienleben, künstliche Vorkehrungen zur Erinnerung, die Herstellung von Bedingungen der Reproduction, um die Gesetze derselben zu unterstützen und ihre Anwendung zu regeln, Feste, Gedenktage u. s. w.

3. Noch wichtiger aber ist für den Geist — sowohl der Gesammtheit als des Einzelnen — ob die Ereignisse, welche seine Erhebung oder Erweiterung herbeiführen, eine zufällige Bereicherung oder eine nothwendige Entwickelung (als Grund oder Folge) einschliessen. Für den Einzelnen kann, um nur ein Beispiel anzuführen, die Anwesenheit am Sterbebett eines hochverehrten Mannes, der letzte Ausspruch Desselben, oder sonst ein ergreifender, erschütternder Act von ausdauernden Folgen für seinen Charakter sein; aber sehr verschieden bleibt diese Wirkung von derjenigen einer regelrecht geleiteten Erziehung und der Ausbildung wohlgeordneter, zusammenhängender, sich gegenseitig stützender moralischer Vorstellungen. Im Volksleben sind die zufälligen Berührungen mit anderen Völkern im Kriege sehr verschieden von dem regelmässigen Verkehr im Frieden, und

noch mehr die politischen Ereignisse, welche durch plötzlich oder zufällig auftauchende Factoren geschehen, oder aus der stetigen, im objectiven Geist selbst begründeten Entwickelung mit Nothwendigkeit hervorgehen.

Fast immer aber lassen sich alle die angedeuteten Unterschiede auf denjenigen zurückführen, der in psychologischer Beziehung der bedeutsamste ist.

4. Es handelt sich nämlich um den Unterschied, ob durch irgend ein — theoretisches oder praktisches — Ereigniss ein formaler, methodologischer Erfolg, und damit eine entwickelte Fähigkeit, gewissermassen ein neues Organ erreicht wird, oder ob nur ein neuer, positiver Gehalt gewonnen ist. Sprechen wir zunächst von dem einzelnen Geist; eine neue wahre Thatsache im Vergleich zu einer wahren Methode, Thatsachen zu entdecken, ein wahrer Gedanke im Vergleich zu einem Princip der Wahrheit, verhalten sich zu einander wie die Erzeugung einer Fähigkeit zu der eines blossen Productes derselben. Der Sinn der erworbenen Fähigkeit ist offenbar ein zwiefacher: einmal bildet schon die neuentdeckte objective Beziehung der Gedanken unter einander gleichsam ein neues Organ für den Geist, insofern sich dadurch Prozesse vollziehen lassen, welche vorher unmöglich waren; sodann tritt auch die rein subjective Beziehung hervor, dass mit der erhöhten Thätigkeit des Subjects wirklich auch seine Kräfte und Fähigkeiten wachsen. Eine exacte Psychologie aber kann von solchen Arten und Graden der Fähigkeit nur reden, indem sie die psychischen Elemente und ihre Bewegung ins Auge fasst. In diesem Sinne nun können psychologische Ereignisse die Fähigkeit des Individuums erhöhen, in so fern sie die Reizbarkeit und Beweglichkeit der Vorstellungen überhaupt verstärken, insbesondere aber die verschiedenen Weisen des Einflusses einer Vorstellung (oder Vorstellungsgruppe) auf andere als Apperception, Verdichtung, Herrschaft u. s. w. begünstigen und regeln, also Bedingungen schaffen für die Wirksamkeit höherer Gesetze. Beides nun hat seine Analogie im Leben des öffentlichen Geistes, nur dass hier die Untrennbarkeit beider von einander noch deutlicher hervortritt.

Zunächst der subjectiven Fähigkeit, der Reizbarkeit und Beweglichkeit

der psychischen Elemente im Geiste entspricht der Gemeinsinn und die Zusammenwirkungsfähigkeit überhaupt; jedes Factum, das in dieser Beziehung von Einfluss ist (vergl. §. 2.) hat ungleich grössere Bedeutung als irgend eine allen Einzelnen als solchen erwiesene Förderung; denn gänzlich davon hängt es ab, ob das Ganze als solches sich weiter entwickeln kann. Den Methoden aber und formalen Prinzipien im Geiste des Einzelnen entsprechen völlig im öffentlichen Geist die Institutionen aller Art; wie ein wahrer Gedanke zu einer wahren Methode, wie eine moralische That zu einer sittlichen Maxime verhält sich ein weiser Despot zu einer weisen Constitution, ein gerechter Richter zu einer gerechten Gesetzgebung.

Durch diese psychologische Vergleichung, welche auch eine Begründung ist —(denn es findet in beiden Fällen der gleiche psychologische Prozess statt)— fällt ein klärendes Licht auf den oft gehörten Gedanken, dass die blosse Schöpfung von Institutionen den Geist eines Volkes noch nicht verbessern könne, und auf die entgegengesetzten Behauptungen von dem absoluten Werth der Institution — wie wenn Hegel die Schöpfung des Gesetzes über dessen Erfüllung stellt — und von dem absoluten Unwerth derselben — als eines nur papiernen Geistes und wie die Redensarten sonst heissen; diese Gegensätze finden ihr Mass in der Natur des psychischen Verhaltens. Es kann natürlich von dem wirklichen Besitz einer Methode der Auffassung, wenn man auch die abstracte Regel derselben gelernt hat, nicht die Rede sein, sobald man der Elemente entbehrt, in denen sie Anwendung findet, oder der Fähigkeit, d. h. der Uebung in den Prozessen, welche die Anwendung ausmachen. Institutionen also, welche überhaupt nichts Anderes sind, als (objective und mehr oder minder verkörperte) Methoden und Maximen der Behandlung praktischer Verhältnisse, sind nur da wirklich vorhanden, wo einmal die Elemente, darauf sie sich beziehen, gegeben sind, und eine entsprechende Bewegung und Zusammenwirkung derselben überhaupt möglich ist. Die Methode (und

Institution) hat keinen Werth ohne die Kenntniss und Möglichkeit ihrer Anwendung; der praktisch-günstige, aber zufällige Erfolg dagegen hat kein Gewicht und keine Gewähr, ohne Kenntniss der Methode, des allgemeinen Grundes, dem er entsprungen ist. *)

§. 23. Gehalt und Form.

Wir müssen hier eine Betrachtung etwas weiter führen, welche oben (§. 14, 2) begonnen und im vorigen Paragraph unter 4 fortgesetzt ist; dort haben wir für den Bestand und die Erhaltung des objectiven Geistes, hier für die Fortschritte und die Entwickelung desselben die Methodik, die Form des Geisteslebens, also diejenigen Vorstellungen besonders beachtenswerth gefunden, welche Organe der geistigen Thätigkeit werden.

Zwei Gesetze aus der individuellen Psychologie kommen dabei vorzüglich in Betracht:

1) das Gesetz der Uebertragung im psychischen Prozess aus einem Gebiete auf das andere.

Darauf beruht ein grosser Theil der Erhebung der Anschauungen eines Gebietes der Sinnlichkeit zur Vorstellung, indem es durch ein anderes Gebiet der Anschauung appercipiert wird, Töne z. B. durch Farben und umgekehrt. Darauf das weitreichende Formgebiet der Analogie im Denken, welche meist erklärend, aber auch verwirrend einwirkt. Hierauf die Wirkung eine gründlichen Erziehung, Ausbildung in einem Gedankenkreise,

auf alle anderen Kreise oder den ganzen Menschen. — Denn nur auf Grund dieses Gesetzes versprechen wir uns von der Mathematik eine allgemeine Zucht auf Nothwendigkeit und von den classischen Sprachen eine allgemeine, lichtvolle Ordnung des Denkens. So stehen leibliche und geistige Ordnung und Sauberkeit, so Sicherheit und Gediegenheit der theoretischen Gedankenreihen mit Gleichmässigkeit und Ausdauer der sittlichen Gesinnung und beide mit dem ästhetischen Sinn für geordnete Gruppirung und vollendete Abrundung in gegenseitiger Beziehung.

2. Dieses weitverzweigte Gesetz gründet sich aber wesentlich auf das einfachere, wonach nämlich die Reproduction (mittelbar also auch Apperception und die höheren Prozesse) von Vorstellungen stattfindet nach der Gleichheit oder Aehnlichkeit nicht bloss des Vorstellungsinhaltes, sondern auch der nur implicite mit der Vorstellung gegebenen Form und Beziehung derselben. *)

Daraus nun folgt, dass und wie die Ausbildung des Individuums wesentlich bedingt ist durch den Gesammtgeist, durch welchen eine bestimmte Form der Auffassung der Objecte des Denkens für jeden Einzelnen gesetzt ist; und welchen Vorzug eine solche That und ein solches geistiges Ereigniss hat, aus welchem eine neue formale Bedingung des geistigen Lebens sich ergibt. **)

Wenn die Sprache eine entwickelte ist, wenn in ihr Subject

und Prädikat und die Nebenumstände beider grammatisch genau bezeichnet, der Gedanke in ihr also wohl gegliedert ist: so wird jede neue Wahrnehmung, jede Beobachtung, jedes Nachdenken mit Nothwendigkeit zu einer solchen formalen Gliederung hingeleitet werden, auch wenn eine sprachliche Darstellung derselben nicht erstrebt wird.

Nicht bloss die abgezogene und für sich selbst gedachte, auch die in der Uebung erfasste Sitte, die in der Wirklichkeit bestehende ethische Institution, die in der Anwendung ergriffene ästhetische Regel, die der Gesammtgeist jedem Individuum zugleich mit den Verhältnissen des Lebens und seinen Erscheinungen überliefert: sie gestalten sich zu Organen auch für die eigene und freie Bewegung des individuellen Geistes, zu Formen, welche bereit liegen, jeden neugewonnenen Inhalt in sich aufzunehmen und ihm ihre Gestalt aufzuprägen.

Nur wenn wir bis auf die letzte Quelle aller geistigen Cultur, auf den Ursprung der Sitten, auf die Entstehung der Sprache, auf das Erwachen ästhetischen Sinnes zurückgehen, nur von jener weit hinter der Gränze alles Historischen liegenden Zeit mögen wie behaupten, dass in der Gleichheit der Bedingungen in allen Individuen, von den klimatischen Verhältnissen bis auf die Organisation des Leibes (und vielleicht auch der Anlage des Geistes —) sammt allen objectiven Beziehungen und Bedürfnissen, die darin gegeben sind, in den rein objectiven Bedingungen also, ohne als bereits vollzogen vorausgesetzte subjective Thätigkeit, der Grund für die Schöpfung des gleichen und gleichlaufenden Denkprozesses liege.

Aber nicht weit genug können wir zurückgehen mit der Feststellung, dass bereits vorhandene, vollzogene geistige That sofort auch um objectiven Geist wird, dass sie zwar nicht Fessel ist, welche den Fortschritt hemmt, wohl aber Regel und Richtschnur, nach welchen sie die folgende Bewegung leitet, Norm und Form, in welchen sie den Prozess des Einzelnen gestaltet. Nicht Fessel, sage ich, ist die in einer That gefundene und auf die folgende einwirkende Form; denn wie bindend sie auch immer sei, wird sie doch aus zwiefachem Grund die eigentliche Bedingung des Fortschritts. Denn einmal wird der gewonnene

Inhalt — eine Naturanschauung, eine sittliche Regung, ein ästhetisches Gefühl — dadurch erst gefestigt und seine Wiederkehr ins Bewusstsein erleichtert; *) sodann wird jeder neu zu gewinnende Inhalt desto sicherer und schneller angeeignet. Von dieser den Inhalt nicht bloss durchdringenden, sondern meist auch erst erwerbenden Gewalt der Form bietet des Menschen Fähigkeit zur Rede das klarste Beispiel in der inneren Sprachform.

Erst wenn der durch die Form vermittelte, von der Form durchaus bedingte Fortschritt des menschlichen Geistes es bis zu einer gewissen Erfüllung desselben gebracht, wenn eine Art von Natur- und Weltanschauung so sich gebildet, religiöse Vorstellungen das sinnliche Dasein ergänzen, Sitten das Leben ordnen und in den Zierden desselben, in Kleid und Geräth ein gewisser Geschmack sich ausgeprägt hat, erst dann entsteht für die Beobachtung die Frage: ob diese Formen des geistigen Lebens nicht zu eng, ob sie die innere Thätigkeit nicht fesseln, anstatt sie zu führen, ob nicht die Regel zum Zwang, dadurch das Mittel zum Zweck, und der Zweck unerreichbar wird. Dann aber leiden nicht bloss die Völker, welche dadurch überhaupt auf einem niedrigen Stand der Cultur festgehalten sind, von der lebenvernichtenden Gewalt der Form, sobald nämlich die Formen jeder neuen Regung des Lebens entgegengehen und sie in ihre eisernen Arme schliessen, alles aber, was sich nicht fügen will, eben keinen Eingang findet — sondern auch in viel späteren Zeiten und auf viel höheren Stufen der Cultur erleben wir in historischer Zeit denselben wahrhaft tragischen Erfolg der Form, indem die Gestaltung zur Verhärtung, die Bildung zur Versteinerung wird.

Geschieht dies zuweilen dadurch, dass in deutlichem Bewusstsein die tiefe und wesentliche Bedeutung der Form erkannt, aber damit auch verkannt, dass sie an sich geschätzt und dadurch überschätzt wird, so ist es doch häufiger sowohl als wesentlicher, dass die Form eben gar nicht als Form erkannt wird.

In beiden, in der Sprache (und beziehungsweise den Vorstellungen) einerseits und in den Sitten und Gewohnheiten des

Lebens einschliesslich des religiösen Cultus andererseits, wird die Form und formende Macht von dem Inhalt, auf den sie sich beziehen, nicht geschieden, aus theils gleichen, theils verschiedenen Gründen. Sind beide, die Verhärtung der Sprach- und der Lebensformen, darin gleich, dass sie mit dem Inhalt und der Inhalt mit ihnen zugleich geboren wird, so sind sie in Folgendem verschieden: die Sprache erscheint nicht als Form, sondern schlechthin als der Inhalt des Denkens: Brod ist wirklich Brod, und es muss wahr sein, sonst könnte man's nicht erzählen; als längst die Speculation einen so hohen Flug genommen hatte, dass man auf der einen Seite die Welt des vielgestaltigen Daseins für blossen Schein erklärt hatte, neben welcher nur das Eine, reine Sein wahrhaft ist, auf der anderen Seite aber nur in dem reinen Fluss des Werdens das Wahre erkannte, während alles Sein und Bleiben blosse Täuschung wäre — da hatte man von den grammatischen Formen, deren man sich zum Vortrag dieser in die Tiefe der Probleme dringenden Gedanken bediente, noch keine Ahnung. Dem Bewusstsein vor und ausser der Grammatik ist Reden gleich Denken, beide sind der Eine Logos. (Vgl. Steinthal, Gesch. d. Sprachwissenschaft.) Die Sprache aber als gesprochener Gedanke hat wenigstens ihre Realität an den Objecten, an den Dingen, die gedacht werden.

In den Sitten aber und Lebensgewohnheiten e. , in denen die Regungen und Antriebe der Idee als Inhalt leben und Gestalt gewinnen, wird dieser Inhalt, rein innerlich und subjectiv wie er ist, als besonderer nicht erkannt; so tief und innig sind beide mit einander verwachsen, dass der Eifer, der der reinen Idee würdig wäre, für ihre Verflechtung mit der individuellen und theilweise äusseren Form (denn auch innerlich genommen ist Sitte schon Form für den sittlichen Gehalt, wie Sprachform für den Gedanken) sich zum Fanatismus steigert. Es muss bis jetzt noch als eine höchste, nur von Individuen erstiegene Staffel der Cultur angesehen werden: die Sitten und religiösen Formen als solche, als eine Sprache für den reinen Gedankeninhalt des Religiösen und Sittlichen, als eine Gestalt für die Ideen anzusehen, und jenen die Offenheit zu gewähren, dass diese sich darin frei entwickeln und vertiefen kann. Werden

die Sitten leiden, wenn man ihre formale Bedeutung erkennt? schwerlich; nur ihr Inhalt, die Sittlichkeit wird und soll steigen. Auch der Sprachforscher, der Philosoph strebt nicht dahin, dass er ohne Sprache denken möchte; aber von den Fesseln, welche die Wörter den Begriffen anlegen, will er sich befreien, durch Einsicht in die fesselnde Natur derselben. Auch das Sittlichste soll in der reinsten Gestalt und Wesenheit erkannt, dann wird es in den würdigsten und reinsten Formen geübt werden. Je reiner und tiefer der sittliche Gehalt, desto edler d. h. freier und fester seine Formen; fest in der Erfüllung, frei in der Schöpfung derselben.

§. 24. Das Individuum und die Individualität, die Gesammtheit und das Allgemeine.

Das Wesen und die Bedeutung der Individualität innerhalb der Gesellschaft soll einmal Gegenstand besonderer Behandlung sein; da hier aber bereits von der Gebundenheit des Individuums durch den öffentlichen Geist und seiner Rückwirkung auf denselben die Rede, so müssen wir folgende Betrachtung wenigstens andeuten.

Das Individuum steht, wie wir gesehen haben, der Gesammtheit, die einzelne Persönlichkeit der Gesammtpersönlichkeit, der subjective Geist des Einen dem objectiven Geiste, welcher Allen eignet, gegenüber. Zugleich aber steht das Individuum in dem Gehalt und in der Thätigkeit seines Geistes als das Besondere dem Allgemeinen gegenüber. Der Gesammtgeist eines Volkes bildet zwar auch gegen die Person des Einzelgeistes und der objective Geist in jenem gegen die Thätigkeit in diesem ein relativ Allgemeines, das Individuum aber hat auch gegen das absolut Allgemeine seine bestimmte Stellung. Ein Baumeister z. B. oder ein Tragiker und ihre Werke stehen als das Besondere im Verhältniss zur Baukunst und der tragischen Muse, wie sie in ihrem Volke vertreten sind; zugleich aber stehen sie im Verhältniss zur Baukunst und zur Tragik überhaupt. In logischer Beziehung nun wird man kurzweg die Behauptung aussprechen

können, das Verhältniss sei in Wahrheit dieses, dass in jedem Volksgeist schon eine Besonderung eines jeden allgemeinen Inhalts gegeben sei, welche dann in den Gliedern desselben individualisiert ist; jedes Individuum also ist das Einzelne, der Volksgeist das Besondere, über welchem die Sache und der Gehalt, wie er in der gesammten Menschheit sich ausbreitet, als das Allgemeine steht. Dies gilt aber nur für die logische Betrachtung schlechthin; anders ist es für die psychologische Betrachtung. Hier finden wir nämlich, dass bei weitem die meisten Menschen nur an dem objectiven Geist, in welchem sie stehen, ihr Allgemeines haben; was darüber hinaus liegt, existirt nicht für sie, hat keinen Einfluss auf sie; sie mögen thun, was sie wollen, und handeln, wie sie wollen, so individualisieren sie durchaus nur das im Volksgeist als Allgemeines bereits Gegebene . Jede schöpferische Individualität dagegen hat gerade darin ihre Bedeutung, dass sie eine wirkliche Beziehung (nicht bloss in der rein passiven Weise, logisch untergeordnet zu sein) zu dem wahrhaft Allgemeinen hat, daraus eine Individualisierung ihres Schaffens zieht, welche nicht bereits in der Besonderung des Volksgeistes enthalten ist, vielmehr dieselbe um die Form ihrer Existenz bereichert und erweitert. Man hat es wohl als ein Kennzeichen des Classischen betrachtet, dass es das allgemein Menschliche zur Darstellung bringe; darin lag eine richtige Ahnung; aber unmittelbar, wie es ausgesprochen wird, ist es eine leere Rede, denn auch das Classische ist immer ein Individuelles und darin liegt auch seine Grösse. Aber dieses Durchbrechen der logischen Ordnung, diese Vertiefung des Eigenen durch eine Erhebung desselben zur unmittelbaren Beziehung zum Menschlich-Allgemeinen, indem es nicht durch die Richtung der im Volksgeist gegebenen Besonderung eingeengt ist, dies ist das Charakteristische für die wahrhaft schöpferische Individualität, für das Classische, für das Genie.

Nur ist nicht zu vergessen, dass auch die Schöpfungen des individuellen Geistes unter günstigen Bedingungen einmünden in den Strom des Volksgeistes; wenn es also Völker gibt, in deren Mitte nie eine Individualität aufgestanden ist, welche sich unmittelbar zum Allgemein-Menschlichen emporgehoben hat:

so können sich zwar andere durch die Schöpfungen der Individualität über ihr eigenes Mass erheben; immer aber wird der Gehalt auch der bedeutendsten Genialität im Volksgeist wieder verhärtet, und dieser kann zwar höher und höher steigen, jedoch nie den absoluten Werth des allgemein Menschlichen, sondern nur den relativen einer Besonderung desselben vertreten. Populär ausgedrückt gibt es, wegen der Schranken seiner Besonderung, kein absolutes Mustervolk.

§. 25. Gesetzmässigkeit, Entwickelungsgesetze, Ideal- und Real-Gesetze; Inhalt, Prozess und Gesetz.

Wir dürfen diesen Versuch einiger synthetischen Gedanken nicht schliessen, ohne die Grundlage aller psychologischen Erklärung der Geschichte ins Auge zu fassen: gibt es eine Gesetzmässigkeit der historischen Thätigkeit, und von welcher Art ist sie?

In dem Zusammenhang, in welchem diese Fragen uns hier entgegentreten, bedarf es wohl kaum der Erwähnung, dass weder dialektische, noch auch teleologische Gesetze der historischen Entwickelung der Menschheit das sind, was wir suchen.

Soll Gesetzmässigkeit etwas mehr bedeuten, als ein bloss summarisches, mehr oder minder willkürliches Zusammenfassen des historischen Verlaufs unter Kategorieen des Zwecks, soll sie etwas Anderes sein, als eine geistreich spielende und schielende Betrachtung und Anordnung der Geschichte nach gewissen metaphysischen Kategorieen, so kann es sich nur um die Erkenntniss derjenigen Gesetze handeln, welche thatsächlich den causalen und genetischen Zusammenhang des geschichtlichen Lebens ausdrücken. *)

Die nächste Frage ist nun aber wesentlich diese: gibt es Gesetze der Entwickelung des objectiven Geistes (§. 6), dergestalt, dass die Entfaltung seiner Erscheinungen in seinem Inhalt begründet ist, in dessen Wesen und Natur es gelegen ist, in solcher und solcher Weise von Stufe zu Stufe fortzuschreiten? oder besteht alle Gesetzmässigkeit nur in dem eigentlichen Geschehen, in den Prozessen, dergestalt, dass unsere Betrachtung von dem objectiven Inhalt des Geisteslebens zurückgeleitet wird zu dem Subject als dem Träger desselben, in dessen Thätigkeit die Gesetze ihren Sitz und ihre concrete Erfüllung haben?

Wir bejahen die letztere Frage und verneinen die erste. Eine genauere Prüfung der Thatsachen des individuellen und des geschichtlichen Geisteslebens zeigt, dass es für das geistige Dasein überhaupt nur, wie wir sie kurzweg nennen dürfen, psychologische Gesetze gibt; Gesetze aber der Entwickelung irgend welchen geistigen Gehalts sind entweder gar nicht vorhanden, oder nicht erkennbar, oder sie sind eine blosse Umschreibung und fallen zusammen mit den Gesetzen des Geschehens.

Zwar in der Ausführung der Prozesse, in der Anwendung der Gesetze ist der jemals gegebene Inhalt, von welchem aus und zu welchem hin sie stattfinden, nicht ohne Bedeutung, (und wir werden sie weiterhin näher bestimmen); allein der Prozess vollzieht sich nicht durch den Inhalt, sondern nur an ihm; das Gesetz hat seine Wirksamkeit und seine Bestimmtheit nicht aus der Erscheinung, sondern in ihr. Die Bedeutung des Inhalts *) einer gegebenen Erscheinung (welche sich zum Gesetz immer wie ein Besonderes zum Allgemeinen verhält —auch wenn die Erscheinung für uns zur Repräsentation des Gesetzes nur einmal gegeben wäre) ist für die Psychologie als erklärende Wissenschaft nur die, dass erkannt wird, welches Gesetz oder welche Combination von Gesetzen dabei zur Anwendung gekommen ist.

Es liegt nicht im Inhalt selbst als solchem (und seiner

Entwickelung) eine Gesetzmässigkeit, sondern nur in der Vollziehung desselben, in dem Prozess seiner Erscheinung findet sie statt. Wenn wir also in vielen Fällen sagen; aus irgend einer historischen Lage folgte ein gewisses historisches Ereigniss, aus irgend früheren Anschauungen folgte eine spätere Denkweise u. dgl. mit Nothwendigkeit, so bedeutet diese Nothwendigkeit nichts Anderes, als dass das Subject, der öffentliche Geist — beziehungsweise die einzelnen Geister — nach allgemeinen Gesetzen einen psychologischen Prozess vollziehen werde, dessen Resultat das gegebene ist. Nur erst wenn wir uns alle ursprünglichen Bedingungen gegeben denken, alle später irgend woher hinzutretenden (sofern sie nicht schon aus der blossen Verkettung jener mit: dem; gesetzmässigen Verlauf fliessen) hinzunehmen: nur dann können wir uns Inhalt und Gesetz in Einheit concret denken und von einer gesetzmässigen Entwickelung des Inhalts reden: nur dass die analysierende Betrachtung uns auch dann noch zu zeigen hätte, dass die Gesetzmässigkeit eben nicht an dem Inhalt haftet und aus ihm verstanden wird, sondern nur an und in ihm erkannt wird.

Um dies zu erhärten, müssen wir den Kreis unserer Betrachtung erweitern, und die Frage nach der Existenz von Entwickelungsgesetzen überhaupt zu beantworten suchen.

Von Entwickelungsgesetzen redet man beim Leben der Pflanze, des Thieres, des Menschen — als anthropologischen Wesens, der Seele — als psychologischen Wesens; endlich auch von Entwickelungsgesetzen eines gegebenen geistigen Inhalts, eines Complexes psychischer Elemente, welche wir den objectiven Geist genannt haben. In gleicher Weise würde man dann weiter entweder im Volksgeist als Volksseele, als Subject und Träger des geistigen Lebens, oder im Inhalt desselben, im objectiven Geist solche Gesetze annehmen.

Am ehesten wird man geneigt und berechtigt sein, Entwickelungsgesetze für jene ersteren niederen Wesen anzunehmen, und je höher wir steigen, desto weniger. In dem Leben der Pflanze sehen wir zweierlei Arten von Gesetzmässigkeit; die eine drückt ein Entwickelungsgesetz aus, die andere allgemeine Gesetze des Prozesses. Dass die Eichel, wenn sie zum Wachsthum

gebracht wird, immer eine Eiche erzeugt, dass diese sich in ganz bestimmten Stadien und Stufen bis zur Vollendung des Wachsthums entfaltet, dass sie diese bestimmten Formen annimmt, dann in regelmässiger Wiederkehr jedes Jahr auf gleiche Art Blätter, Blüthen und Früchte erzeugt, einen Jahresring ansetzt, dies ist ihr Entwickelungsgesetz. Daneben aber gibt es für jeden einzelnen Prozess, der sich vollzieht, und für jeden Theil eines solchen Prozesses gewisse allgemeine pflanzenphysiologische Gesetze. Die Eichel, durch Berührung mit bestimmten zusagenden Säften bei einem bestimmten Temperaturgrad wird gesprengt; durch den endosmotischen Prozess wird ein chemischer Prozess eingeleitet, dieser hat eine Erweiterung, dann eine Theilung der Zellen zur Folge u. s. w. All dies einzelne Geschehen vollzieht sich nach Gesehen. Nun aber ist die Frage diese: soll man sagen, dass das Entwickelungsgesetz als das einheitliche alle diese Gesetze des Prozesses in den Dienst nimmt und sich dadurch vollzieht, oder dass das Entwickelungsgesetz ein durch die genauere Erkenntniss der Gesetze der einzelnen Prozesse überflüssig gewordener Gedanke ist? denn die ganze Gesetzmässigkeit des Lebens der Eiche ist vollkommen in jenen Prozessen gegeben, sobald wir nur die Bestimmtheit der ersten Bedingung in der Form der Eichel mit hinzudenken. Bei genauer Erwägung der Thatsachen wird man leicht sehen, dass und weshalb wir uns für die letztere Anschauung entscheiden. Gesetze (im Sinne der Naturwissenschaft) müssen sich wirklich und immer und gleichmässig erfüllen; dies aber ist nicht der Fall für die sogenannten Entwickelungsgesetze; trotz derselben finden wir die Exemplare einer Gattung in den mannichfaltigsten Abweichungen von einander; allerdings aus bestimmten Ursachen, nach bestimmten Gesetzen, welche in den einzelnen Prozessen der Entwickelung sich geltend machen. Aber eben daraus folgt, dass das sogenannte Entwickelungsgesetz nur der Ausdruck für einen mittleren Durchschnitt des Resultats, für einen gewissen in der Gränze von allerlei Variationen sich bewegenden Typus der Erscheinung ist. Nicht also von dem ursprünglich gegebenen Inhalt eines realen Wesens allein als von einem wahrhaften Gesetz seiner Entwickelung ist diese bedingt, sondern eben so sehr von allerlei

Bedingungen, welche hinzutreten müssen, von den Prozessen, welche sich je nach diesen Bedingungen vollziehen; dergestalt, dass das sogenannte Entwickelungsgesetz fast nur einen negativen Charakter hat; aus einer Eichel wird niemals eine Buche; in positiver Weise aber ist das ursprüngliche Wesen eine und eine wesentliche, oder sogar die wesentlichste Bedingung für die Bestimmtheit der ablaufenden Reihe von Erscheinungen, deren Gesetzmässigkeit aber im strengen Sinne des Wortes liegt nur in den einzelnen Prozessen, die sich an denselben vollziehen.

Immerhin wird man im Bereiche der Thier- und Pflanzenwelt mit einem gewissen Schein von Entwickelungsgesetzen reden können, und man wird in ihnen, je genauer ihre Darstellung den Thatsachen entspricht, die Erkenntniss eines Schemas gewinnen von dem mittleren Durchschnitt der Erscheinungen, welche an den Kern gewisser realer Wesen unter durchschnittlichen Bedingungen (für das Wachsthum) anschiessen. Der Werth solcher Erkenntniss aber wird immer geringer, je höher wir in der Reihe der sich entwickelnden Wesen hinaufsteigen. Angekommen bei der menschlichen Seele werden wir finden, dass ihre Entwickelung von so mannichfaltigen und vielfach individualisierten, theils physiologischen, theils psychologischen, und zwar speciell auch historischen Bedingungen abhängig ist, dass von einem allgemeinen Gesetz dieser Entwickelung gar nicht die Rede sein kann; man denke sich nur ein deutsches Kind vom Mutterleibe an unter die Papuas versetzt, oder einen kleinen Zulu unter die Deutschen, und man wird inne werden, ob von einem allgemeinen Entwickelungsgesetz des Menschen, oder gar von bestimmten Entwickelungsgesetzen für jeden Stamm geredet werden darf (vgl. oben §. 3 und §. 14). Was hier an Erkenntniss durch das Aufsuchen der allgemeinen Momente der Entwickelung in allen Menschen gewonnen werden kann, wird, bei aller gelehrten Formulirung, weit hinter dem Werth gewöhnlicher Menschenkenntniss zurückbleiben. Die einzelnen Prozesse also sind es, und die in diesen liegende Gesetzmässigkeit, durch welche überhaupt von einer gesetzmässigen Entwickelung der Seele gesprochen werden kann. — Vollends nun für irgend einen gegebenen geistigen Inhalt ein ihm innewohnendes Gesetz der Entwickelung

anzunehmen, ist völlig unstatthaft. Der geistige Inhalt kann nicht wie ein selbständiges reales Wesen angesehen werden, an und in welchem sich irgend welche Prozesse vollziehen; vielmehr ist er das Object und Product der Thätigkeit eines Subjects (der Seele), und alle Veränderung, welche an jenem Inhalt (objectiv gedachte irgend vorgehen soll, also auch alle Entwickelung desselben, vollzieht sich nur durch eine weitere Thätigkeit der Seele, und sie wird gesetzmässig nur durch die Gesetzmässigkeit, welche eben diese Thätigkeit selbst beherrscht. Gewisse Bedingungen für den Inhalt und Verlauf jeder weiteren Thätigkeit der Seele sind in einem früher gegebenen Inhalt derselben allerdings vorhanden, wie oben bereits vielfach gelehrt ist und sogleich noch in besonderer Weise bestimmt werden soll.

Zuvor aber haben wir eine naheliegende Einwendung zu prüfen.

Ist der objective Inhalt des Geistes nicht an gewisse Gesetze gebunden? gibt es nicht mathematische, gibt es nicht logische Gesetze? Sollte es nicht in demselben Sinne historische Gesetze geben, und der Volksgeist an sie gebunden sein, wie der Einzelgeist an die logischen und mathematischen? Die Frage ist mehr überraschend als berechtigt und fruchtbar.

Man überlege zunächst, was wir denn eigentlich suchen. Wir suchen Gesetze zu finden, nach denen die Geschichte sich wirklich vollzieht, die Volksgeister sich entwickeln; wir wollen die Thatsachen, die sich wirklich ereignen, in ihrer Gesetzmässigkeit begreifen. In diesem Sinne wollen wir wissen, ob es Gesetze gibt, an die der Volksgeist in seinem Leben gebunden ist.

In ganz anderem Sinne aber ist der Geist an logische Gesetze wirklich gebunden. Wenn nämlich die Gedanken des Menschen wahr, wenn sie richtig verknüpft sein sollen: dann muss logisch gedacht werden; und eben deshalb soll der Geist logisch denken. Er soll es, aber er muss es nicht; alle Menschen denken und denken immer; logisch aber denken wenige und selten. Mit einem Worte, die logischen Gesetze sind keine psychologischen. Alles Denken ereignet sich nach psychologischer Gesetzmässigkeit, aber es ist weit davon entfernt, immer den logischen Gesetzen zu entsprechen. Diese, die logischen Gesetze, sind nur ideale Vorschriften für das Denken; sie gelten absolut;

aber sie wirken nicht absolut; sie sind eben nicht reale Gesetze für das wirkliche, sondern ideale Gesetze für das wahre Denken.

Mit den mathematischen, den ästhetischen und ethischen Ideen, an welche der baensch gebunden ist, verhält es sich offenbar nicht anders. Sie sind allesammt nur Ideale für die betreffenden geistigen Ereignisse, als solche auch häufig von einwirkenden Kraft, aber sie sind nicht Gesetze, welche dieselben wirklich beherrschen. Sie bestimmen den Werth, aber nicht den wirklichen Verlauf des geistigen Geschehens.

Dass es in diesem idealen Sinne einer gewissen mustergiltigen Norm Gesetze der Entwickelung eines Volkes (wie eines Einzelnen) gebe, das soll nicht geläugnet werden. Sie werden zum Theil schon vorgetragen in den Staatswissenschaften, und sollten zum anderen Theil gelehrt werden in der Culturwissenschaft, einer Wissenschaft, die sich zur Gesammtheit des öffentlichen Culturlebens so verhielte, wie die Staatswissenschaft zu dem speciellen Theil der politischen Cultur sich verhält. Die Aufstellung einer solchen idealen Gesetzmässigkeit kann auch der Auffassung der Geschichte dienlich sein; sie gibt ihr Gesichts- und Zielpunkte, sie gibt ihr einen Massstab an die Hand, um das in der Geschichte Geleistete daran zu messen. Aber zur Erklärung der Geschichte kann sie nicht dienen, sie kann nicht an die Stelle der psychologischen Gesetze treten. Oder möchte man etwa heute noch an der Anschauung festhalten, nach welcher die Differenzen zwischen den Idealgesetzen des objectiven Geistes und dem wirklichen Geschehen im subjectiven Geist, die im Individuum so völlig unläugbar hervortreten, nur in diesem vorhanden sein, im öffentlichen Geist, in der Geschichte aber verschwinden sollen? Er wird immer wieder scheitern, dieser Versuch, die Geschichte als absolut gesetzmässig im Sinne jener Idealgesetze darzustellen, dergestalt, dass diese an die Stelle der real wirkenden Gesetze treten könnten; er wird scheitern und den flüchtigen Schein der Wahrheit, den er errungen hat, büssen durch die Beschämung, nicht bloss mit den Thatsachen der Geschichte leichtfertig umgegangen zu sein, um sie in die ideale Ordnung des vernunftmässigen Geistes zu bringen, sondern auch von dem wirklichen

Ideal menschlicher Thätigkeit und Entwickelung auch für die reine, der Zukunft als Lehrerin und unparteiische Richterin des Vergangenen gegenüberstehende Betrachtung so herabgestiegen zu sein, wie sonst nur die Wirklichkeit es pflegt im Drange der zusammenwirkenden Verhältnisse und in der Mischung der unlauteren mit den lauteren Motiven.

Wir werden also zur Erklärung der Geschichte, d. h. für die Zurückführung der Thatsachen auf ihre Ursachen keine in dem Inhalt als solchem gegebene, sondern nur diejenige Gesetzmässigkeit suchen, welche in den Prozessen wirklich enthalten ist und dieselben beherrscht.

Wie aber, haben wir schliesslich noch zu erwägen, verhält sich der Inhalt zu den Prozessen und zu den Gesetzen?

Durch flüchtige Generalisation treten uns auf den ersten Blick zwei entgegengesetzte Gedanken als scheinbar vollkommen berechtigt entgegen.

1. Jedes Gesetz, welches in irgend einem, psychischen oder physischen, Prozess seine Verwirklichung findet, ist völlig unabhängig von dem Inhalt der bestimmten Wesen, beziehungsweise der psychischen Elemente, auf welche es sich bezieht. Das Gesetz als solches gilt allgemein, und ist völlig gleichgültig gegen den Inhalt des Wesens, auf welchen es sich bezieht. Das Gesetz der Reihenbildung und Reproduction z. B. im Geiste, das der Apperception, der Verdichtung u. s. w. gilt für alle Vorstellungen, ihr Inhalt mag vorstellen, was er immer wolle; eben so gilt das Gesetz der Ausdehnung der Körper durch Wärme, des Falles oder der Schwere u. s. w. schlechthin für alle Körper, von welcher Art und Beschaffenheit sie sonst sein mögen. Kurz: die Natur des Gesetzes ist allgemein.

2. Das Gesetz ist ontologisch betrachtet, als wirkendes Gesetz immer in realen — physischen oder psychischen — Elementen wirksam; ausser diesen realen Wesen und ihrer Wirksamkeit ist es ein blosser, rein subjectiven Gedanke. Und nicht bloss an die Wirklichkeit der Wesen, sondern auch an die Bestimmtheit ihres Inhaltes ist es immer gebunden, darüber hinaus ist das Gesetz, als Gedanke gedacht, abstract, unwahr. So setzt das Gesetz der Bildung der Salze Säuren und Basen voraus, und kann nur an und in solchen sich erfüllen; das Gesetz

der Krystallisation, des Isomorphismus bezieht sich in allen seinen näheren Bestimmungen immer nur auf gewisse Körper. Ebenso im Gebiete des Geistes; die Sinnlichkeit bietet objective Bedingungen zu den Inhaltsvorstellungen; im räumlichen und zeitlichen Vorstellen und seiner Entstehung, im Selbstbewusstsein, in moralischen und ästhetischen Vorstellungen finden sehr verschiedene Gesetze ihre Anwendung. Kurz: die Wirkung der Gesetze ist eine besondere.

Wo ist nun die Wahrheit? und wie mag sich der Gesammtgeist dazu verhalten? Gibt es auch hier nur allgemeine Gesetze der Regsamkeit, Beweglichkeit, Zusammenwirkung, ohne Rücksicht auf den Inhalt? oder bilden Stände, herrschende und dienende, einen solchen aus dem Allgemeinen erzeugten besonderen Inhalt mit besonderen Gesetzen? Bilden Sprache, Sitten, Religion mit ihrem besonderen Inhalt specifische Gesetze, wie Prozesse?

Die Wahrheit ist diese: Jedes Gesetz ist seiner Natur und seiner Wirkung nach allgemein; es ist durchaus gleichgültig gegen das Exemplar, gegen den Stoff, auf welchen es sich bezieht, wenn es sich auf ihn bezieht. Dies eben ist für das Gesetz die einzige Bestimmtheit des Stoffes, dass es sich auf ihn bezieht, dass es ihn beherrscht. Und jedes Wesen, jedes Molecül, jede Seele, jedes psychische Element ist solchen allgemeinen Gesetzen unterworfen; nicht jedes solches Einzelwesen hat in sich, in seinem Inhalt, ein Gesetz des Daseins und der Entwickelung, sondern die Summe aller allgemeinen Gesetze, welche es regieren unter gegebenen Bedingungen, sind seine Gesetzmässigkeit, nach welcher es diejenige Reihe von Erscheinungen durchlaufen wird, für welche die Bedingungen in ihm und seinem Zusammentreffen mit anderen Wesen und Elementen gegeben sein werden. Das Gesetz aber ist auch nur in diesem Sinne allgemein, dass es alle Exemplare betrifft, welche darin eine Gattung bilden, dass sie ihm unterworfen sind; die Gesetze aber sind zugleich besondere, individualisierte, in so fern, als sie sich eben nur auf einen bestimmten Kreis von Wesen erstrecken. Eben deshalb und in diesem Sinne ist wiederum jedes Gesetz individualisiert.

Gesetz heisst überhaupt, dass für gewisse Bedingungen gewisse Erfolge nothwendig sind. Je bestimmter und beschränkter nun ihrem Inhalt nach diese Bedingungen sind, desto enger

ist auch das Gesetz, je weiter und minder bestimmt die Bedingungen, desto allgemeiner ist dasselbe. Die physikalischen Gesetze gelten allgemein, d. h. jedoch nur für alle Körper; die einzige Schranke des Gesetzes ist hier: die materielle Natur überhaupt. Aber schon die chemischen Gesetze betreffen immer nur gewisse bestimmte Stoffe. Allgemein also ist jedes Gesetz in seiner Sphäre; aber eben diese Sphäre ist für verschiedene Gesetze eine verschieden beschränkte.

Man kann ganz allgemein den Grundsatz aussprechen: je höher wir in der Stufenfolge der Wesensreihe emporsteigen, desto individualisierter werden die Gesetze, welche sie beherrschen, dergestalt, dass es dann sogar den Anschein gewinnt, als ob es für eine Gattung oder gar für Individuen ein besonderes Entwicklungsgesetz gäbe. Die früheren, allgemeineren Gesetze hören nicht auf, ihre Geltung zu haben, aber sie treten in den Dienst der besonders 'ten Gesetze; und diese finden ihrerseits ihre Existenz und Anwendung in den Wesen erst auf Grund der durch die relativ allgemeineren Gesetze gegebenen Gestaltung und Inhaltsbestimmung derselben.

Auch im geistigen Leben findet das Gleiche statt. Es gibt gewisse ganz allgemeine Gesetze für alle psychischen Elemente, wie die Reihenbildung und die Reproduction; aber erst auf die aus der Erfüllung dieser Gesetze in der psychischen Thätigkeit erzeugten Gebilde finden dann andere, höhere, individualisiere Gesetze ihre Anwendung. Wir können daraus die Lehre ziehen, dass der menschliche Geist einerseits überall der gleiche und derselben allgemeinen Gesetzmässigkeit unterworfen ist, während wir zugleich mit Zuversicht behaupten, dass gewisse psychologische Gesetze, des individuellen wie des öffentlichen Geistes, auf niederen Stufen der Cultur noch gar keine Anwendung finden. Die Aufgabe der Völkerpsychologie als Wissenschaft wird es daher sein nicht bloss die Gesetzmässigkeit des geschichtlichen Lebens überhaupt zu entdecken, sondern namentlich auch die Punkte zu suchen, wo und wie im Leben des menschlichen Geistes und der einzelnen Völker neue Gesetze desselben in die Erscheinung treten (vgl. oben §. 22, 4).