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Vom Geist der Medizin

Rektoratsrede von

Prof. Dr. Hans Goldmann
Verlag Paul Haupt Bern 1965

Alle Rechte vorbehalten
Copyright ©1965 by Paul Haupt Berne
Printed in Switzerland
Druck: Paul Haupt Bern

Hochangesehene Festversammlung

Wenn ein Hochschullehrer dem Ende seiner Laufbahn sich nähert, so scheint es wohl verständlich, daß er nicht nur Rückblick auf seine eigene Tätigkeit hält, nicht nur zurückschaut, wie sich in immer rascherer Folge sein eigenes Fach entfaltet und verändert hat, sondern sich auch auf das Dauernde besinnt, das den Geist seiner Wissenschaft ausmacht. Sofort versteht man, daß hier nicht vom Geist der Ophthalmologie die Rede sein kann, sondern nur vom Geist der Medizin, vom Arzttum. Aber auch nicht von dem soll gesprochen werden, wie der Arzt vom Kranken aus erscheint, sondern wie er selbst sein Denken und Handeln sieht.

Wir wollen bei Einfachem beginnen. Am Anfang steht ein leidender Mensch, der die Hilfe eines andern Menschen anruft, und der Angerufene will helfen. So war es sicherlich schon in der primitiven Menschengesellschaft. Was steckt in diesem Verhalten? Zunächst, daß der Mensch ein soziales Wesen, ein Zoon politikon ist. Nur bei solchen Wesen besteht differenzierte Kommunikation, die anrufen kann, verstanden wird und Sympathie, Mitleiden erzeugt; Mitleid aber weckt Helferwillen. In der Welt der Primitiven ist jede Krankheit das Werk dämonischer Kräfte. Dämonen oder Götter können alle Arten von Übeln schicken.

Die Art der Krankheit ist darum fur den Primitiven nur von recht untergeordnetem Interesse. Der erzürnte Gott oder Geist, der versöhnt oder gebannt werden muß, interessiert. Wenn man erkennt, wer das Leiden erzeugt, ist der erste Schritt zur Heilung getan: Denn dann liegt es in der Macht des Menschen, dem Unheil wirkungsvoll entgegenzutreten, indem man die beleidigte Gottheit versöhnt.

Es ist ein weiter Weg von diesen Vorstellungen, die noch heute die Krankheitsauffassung primitiver Völker und Menschen beherrschen, zu den Sätzen, die die hippokratische Schrift über die heilige Krankheit, über die Epilepsie, einleiten: «Sie scheint mir», sagt Hippokrates, «in nichts göttlicher oder heiliger als die andern Krankheiten, sondern sie hat den gleichen Ursprung wie die andern». Von solcher Haltung beginnt im Grunde moderne Heilkunde. Man wäre versucht, nun damit fortzufahren, Krankheit allgemein zu definieren. Das ist schwer. Wichtiger für unsere Gedankengänge ist es, die Tätigkeit des Arztes zu umschreiben: Krankheit vermeiden und Kranken zu helfen.

Was setzt Helfen voraus?

Zunächst, dass Krankheiten klassifizierbar sind, daß es also Krankheitsbilder gibt. Nur Erfahrung gestattet, solche Bilder abzugrenzen. Sind die Bilder erkannt, so ist ihre Entstehung zu untersuchen. Der Weg dazu ist die Hypothese, die an einen bekannten Zustand angepaßt ist und einen noch nicht bekannten voraussagt. Trifft dieser ein, so ist die Hypothese vorläufig brauchbar. Das klingt außerordentlich klar, einleuchtend und nach echter Wissenschaft. In Wirklichkeit ist die Sache viel komplizierter, und darin unterscheidet sich —zumindest in einem Aspekt — Medizin von Naturwissenschaft: Die Probleme der Physik stellen sich Schritt für Schritt. Als man die ersten Erscheinungen der Elektrizität kennen lernte, existierte das Problem des elektrischen Stromes oder gar der elektrischen Wellen noch

überhaupt nicht. Jedes Problem tauchte meist erst dann auf, wenn man schon nahe vor seiner Lösung stand. Ganz anders bei der Medizin. Im Altertum hat es praktisch die gleichen Krankheiten gegeben wie heute. Auch damals litt man an Schwindsucht und Rheuma, man starb an Wassersucht und Krebs. Kindbettfieber und Epidemien rafften die Menschen in ihrer Blüte dahin. Alle die Kranken und Leidenden schrien nach Hilfe, Hilfe, die nur möglich ist durch Verstehen des Krankheitsgeschehens, Verstehen jetzt und heute, nicht in Jahrhunderten. So musste sich der Arzt zu seinem spärlichen Wissen eine vollständige Theorie, ja eine Philosophie von Gesundheit und Krankheit machen, die jede Krankheit begreifen liess und Anweisung für therapeutisches Vorgehen gab. Die Theorie war diffus, so diffus, dass sie schwer zu widerlegen oder zu beweisen war, aber gerade darum vieles, ja alles zu erklären schien. Bestand sie zwei Generationen, so war sie geheiligte, unumstößliche Wahrheit. Nirgends so sehr, wie an der Geschichte der Medizin kann man lernen, wie unrichtig es ist, zu meinen, daß wir in unserem Wissen stetig fortschreiten. Vielmehr glauben wir immer, zu wissen. Der Neuerwerb echten Wissens ist stets mit einer Sysiphusarbeit an Überwindung alten — geheiligten — Scheinwissens verknüpft. Wie schwer ist der Weg gerade in der Medizin mit ihrem ehrwürdigen und durchaus berechtigten Grundsatz: «primum non nocere». Schade ich nicht, wenn ich anders handle als große Vorfahren? Dazu kommt noch, daß, was bisher nicht geheilt werden konnte, bald die Etikette «unheilbar» bekommt. Das ist ungefähr das Schlimmste, was geschehen kann; denn es stempelt den, der sich gegen eine solche Krankheit versucht, zum Phantasten und den, der ihr den Lauf lässt, zum ernsten Vertreter der Zunft. Dabei ist die Frage durchaus berechtigt, woher wir den Mut nehmen, zu glauben, alles verstehen und alles beeinflussen zu können. Doch das ist eine metaphysische

Frage, die wohl kaum zwingend beantwortet werden kann. Aber praktisch ist der einzig richtige Standpunkt der, a priori die Beeinflußbarkeit jedes Leidens zu postulieren und alles daran zu setzen, sie herbeizuführen.

Ist unser Wissen über die Pathogenese einer Krankheit gering, so kann uns Erfahrung ausser der Diagnose noch etwas Wichtiges bieten, ohne Hypothesen in Anspruch zu nehmen: die Prognose, die Voraussage über den wahrscheinlichen weiteren Verlauf des Leidens.

Schließlich braucht Helfen noch mehr als nur Kenntnisse von Krankheiten. Vertrauen des Kranken, nicht nur in die Kunst des Arztes, sondern das Gefühl der Geborgenheit in seiner Hand. 500 Jahre vor Christi Geburt, ohne Kenntnis des Dekalogs, ohne Wissen um ein göttliches Gebot der Liebe des Nächsten, wie es das 3. Buch Mose postuliert und das Christentum neu betont und gepredigt hat, schwört der griechische Arzt den hippokratischen Eid: nach bestem Wissen und Vermögen seine Kunst nur zum Heile der Kranken anzuwenden, niemandem tödliches Gift zu reichen, auch nicht, wenn er darum bittet; auch keinen Rat über solche Gifte zu erteilen; keine Abtreibungsmittel zu geben; nie Patienten sexuell zu missbrauchen; Geheimnisse, die sein Beruf ihn erfahren läßt, strikte zu bewahren.

So waren schon im klassischen Altertum alle Ansätze gegeben, den Geist neuzeitlicher Medizin anzubahnen. Diese Tradition wurde erfolgversprechend vom Hellenismus aufgenommen und weitergeführt. Naturphilosophen hatten postuliert, dass nur das Denken Mensch von Tier unterscheidet. Hellenistische Ärzte trieben eifrig Anatomie und Physiologie am Tier.

Da brachen jüdisch-christliche Gedanken in die hellenische Welt ein, und damit tauchten Probleme auf, die man bisher nie in Erwägung gezogen hatte. Was ist der Sinn von Krankheit, Elend und Tod im Heilsplan Gottes? Die einfache Formel der

Sündenvergeltung wird schon im Buche Hiob abgelehnt. Also muss Krankheit in Gottes Ratschluss einen andern Sinn haben. Vielleicht soll uns nur Gelegenheit zu Mildtätigkeit und zu Erbarmen gegeben werden; vielleicht soll durch Krankheit des Menschen Kraft erprobt werden, Prüfungen zu bestehen. Vielleicht ist uns Menschen Gottes Plan überhaupt nicht verständlich. Sei dem, wie ihm wolle; darf man Gottes Willen, verstanden oder unverstanden, durchkreuzen, indem man sich vergibt, Krankheiten —nicht durch demütige Bitte um göttliche Gnade, sondern durch menschliches Handeln —heilen zu wollen? Das Problem und der Versuch, es zu lösen, sind sehr schön in einem talmudischen Midrash behandelt, den ich Ihnen erzählen will:

Rabbi Ismael und Rabbi Akiba gingen durch die Straßen Jerusalems. Ein Mann ging ihnen nach, um etwas von ihrem gelehrten Gespräch zu erlauschen. Sie trafen einen Kranken. «Meister», sagte der zu den Rabbis, «was muß ich tun, um geheilt zu werden?» «Das und das mußt Du tun, und Du wirst genesen», antworteten sie. Da mischte sich der Mann ein, der jenen nachgegangen war. «Wer sandte diesem armen Mann die Krankheit?» Sie antworteten: «Der Heilige, gepriesen sei er.» Da sagte der Mann: «Ihr mischt Euch in etwas, was Euch nichts angeht. Gott hat gestraft, und Ihr wollt heilen! Handelt Ihr nicht gegen seinen Willen?» «Was ist Dein Beruf?», fragten darauf die Rabbis. «Ich bin ein Landmann, seht Ihr nicht das Rebmesser in meiner Hand?» «Wer schuf den Weinberg?», fragen sie ihn. «Der Heilige, gelobt sei sein Name.» Da sagten die Weisen: «Du schaltest in dem Weinberg, der nicht Dein ist? Er schuf den Weinberg und Du schneidest die Reben.» Der Bauer antwortete: «Würde ich nicht gehen und alles Unkraut schneiden und wegräumen, sicherlich gäbe der Weinberg nicht die geringste Frucht.» «Dann, Du Narr, hast Du nicht bei Deiner Arbeit gehört, was geschrieben steht: ,Des Menschen Tage sind wie das

Gewächs der Felder'. Genau wie der Weinstock ohne Pflege nicht gedeiht und Frucht trägt, sondern stirbt, so ist es mit des Menschen Leib. Der Mensch braucht Kräuter und der Arzt, der ist der Winzer.»

Trotz aller klugen Versuche, das Arzttum zu rechtfertigen, blieb offenbar Ambivalenz und Mißbehagen. Jedenfalls war geistlicher Trost und Mildtätigkeit gegenüber den Kranken wichtiger als tatkräftige Fortsetzung der hellenischen Tradition, die nur allmählich, fragmentarisch und verzerrt über arabische und hebräische Übersetzungen wieder in der abendländischen Welt Eingang fand; dann aber wurde jedes Wort als unumstößliche Wahrheit betrachtet, und nicht einmal der Augenschein war imstande, offensichtliche Irrtümer zu korrigieren. Die grosse medizinische Tradition war versandet. Erst der frische Wind der Renaissance gab neue Impulse. Es bedurfte aber grossen Mutes, meist begleitet von den schwersten Gewissensqualen, von den geheiligten alten Vorschriften abzuweichen und neue Wege zu suchen.

Ständige Gewissensnöte beim Beschreiten neuer Wege gehören zur Haltung des echten Arztes, zugleich mit dem Zwang, diese neuen Wege zu suchen, wenn die alten versagt haben. Jene inneren Konflikte haben nichts mit Religiosität, jedenfalls nichts mit einem bestimmten Glauben zu tun. Ich habe sogar öfter gesehen, daß sie schwerer von ungläubigen, atheistischen Ärzten getragen werden als von gläubigen, die sich nur als Werkzeug in Gottes Hand fühlen und so einen guten Teil der Verantwortung nicht zu tragen brauchen.

Eindrücklich hat die schweren Seelennöte, in die der Arzt gerät, der gezwungen ist, vom Hergebrachten abzuweichen, ein großer Chirurg der Renaissance geschildert, AMBROISE PARÉ — übrigens ein tief gläubiger Mann. In einem italienischen Feldzug hatte er nach einer Schlacht viele Schußwunden zu behandeln.

Er hatte von seinen Lehrern gelernt, dass Schusswunden vergiftet seien und deshalb mit kochendem Holunderöl ausgegossen werden müssten. Da die Prozedur sehr schmerzhaft war, hatte er die Technik der älteren Chirurgen genau beobachtet, um es ja richtig zu machen. Zu seinem Schrecken ging ihm aber wegen der vielen Fälle mitten in der Behandlung das Öl aus, und er konnte die übrigen Verwundeten nur mit einer Salbe verbinden. Paré verbrachte in Seelenqualen eine schlaflose Nacht. Schon beim Morgengrauen war er wieder bei seinen Patienten. Zu seinem Erstaunen und zu seiner unendlichen Erleichterung fand er die Wunden der mit Salbe Behandelten ruhig und schrnerzfrei, während die mit kochendem Öl verbrannten Wunden entzündet und schmerzhaft und die Verwundeten selbst im Fieber waren. Solche Erlebnisse halfen, auch in der Medizin die Mauer der Tradition zu durchbrechen, die der ehrwürdige Grundsatz «primum non nocere» besonders dick und hoch gemacht hatte.

Langsam setzte sich so die Erkenntnis durch, dass es nur eines gibt: die Beobachtung, die eigene, gewissenhafte Beobachtung, die sich vor keiner Autorität zu beugen hat. Beobachtungen ergeben aber noch kein zusammenhängendes Wissen. Sind medizin-philosophische Systeme wirklich das einzige Mittel, ein zusammenhängendes Wissen aufzubauen, und wirksame Instrumente, dieses Wissens zu vermehren? Jahrhunderte von Erfahrungen und Enttäuschungen waren notwendig, schließlich zu erkennen, dass diese Frage verneint werden muß.

Hier angelangt, ist es nicht uninteressant, die Eigenarten solcher medizin-philosophischer Systeme der Diagnostik und der Therapie zu analysieren. Sie haben zwei Ausgangspunkte: 1. Das Verlangen, sofort, vor jeder genaueren Einsicht durch Erfahrung oder Experiment, einen Leitfaden zu haben, von einem einfachen naturphilosophischen Ausgangspunkt her die Phänomene

aller Krankheiten zu erklären. Dieses Verlangen paart sich mit dem Glauben, dazu imstande zu sein. Es wird also im Grunde dem Geist des Menschen eine unerhörte Leistungsfähigkeit und Macht a priorischer Erkenntnis zugeschrieben. Das klassische System, das auf solchem Boden erwuchs, war die antike Säftelehre, die alle Krankheiten als Dyskrasien, unharmonische Säftemischungen, erklärte. Bis ins 19. Jahrhundert galt sie als Grundpfeiler ärztlichen Wissens. Im Beginn der Neuzeit waren die Iatrophysiker, die Iatrochemiker und die Iatromathematiker Anhänger entsprechender Systeme, die alle nun historische Curiosa geworden sind. Geblieben ist aus jener Zeit ein pejorativer Name: «Schulmedizin», der also jemanden, bitte beachten Sie dies genau, die Etikette aufprägt, an eine Schulmeinung zu glauben, nicht etwa in einer Schule etwas gelernt zu haben — oder haben Sie je gehört, daß ein gelernter Physiker, ein Schulphysiker also, schlechter als ein ungelernter ist?

Neu entstanden sind die Systeme der Osteopathen und Chiropraktiker, Schulen im Sinne jener erwähnten Schulmedizin., die alle Krankheiten auf Wirbelverschiebungen zurückführen.

Ein zweiter Ausgangspunkt solcher Systeme sind Vorstellungen von Gottes Allgüte. Zwar ist Krankheit und Tod in die Welt geschickt worden, aber Gott hat zugleich die Wege zur Erkenntnis und Heilung mehr oder weniger deutlich gezeigt. Prototyp dieser Lehre ist die Signaturenlehre: Die Heilpflanzen tragen Zeichen, für welche Krankheit sie taugen; ein nierenförmiges Blatt für die Niere, ein Äuglein auf der Blüte —ein Augentrost. In diese Gruppe gehört von modernen Systemen die Homöopathie. Sie erweitert einige Beobachtungen dahin, daß jedes Heilmittel in winzigen Dosen jene Symptome — also nicht Krankheiten —heilt, die es in hohen hervorruft, Hieher gehört auch die Augendiagnose, die behauptet, daß jedem Körperteil eine bestimmte Stelle der Iris des Auges entspricht; diese verändere

sich, wenn jenes Organ erkrankt. So wäre es leicht, den Sitz einer Krankheit am Auge abzulesen.

Der Exkurs hat Ihnen illustriert, welche Wege die wissenschaftliche Medizin als ungangbar verlassen hat. Was blieb, war Verzicht auf ein sofortiges Wissen, aber die Hoffnung auf eine immer zunehmende, gesicherte Erkenntnis, erworben durch genaue Beobachtung und durch das Experiment, das heisst Naturwissenschaft als Methode der Erforschung der Lebensvorgänge im gesunden und kranken Organismus. Nun ist die Basis breit geworden.

Nicht nur Mathematik, Physik und Chemie, Botanik und Zoologie, Mikrobiologie und Vererbungslehre, Anatomie und Physiologie treten in den Dienst der heilenden Medizin; die präventive Medizin greift selbst wieder, bemerkt oder unbemerkt, ununterbrochen ins Leben jedes von europäischer Kultur auch nur berührten Menschen ein. Sie überwacht Luft, Wasser und Boden, Fabriks- und Wohnräume, schützt vor schlechter Nahrung, vor gefährlichen Medikamenten, belehrt über falsche und richtige Ernährung des Säuglings, des Sportmanns, der schwangeren Frau und des alten Mannes, verhütet Epidemien und wird dafür hochgepriesen, dämmt schließlich die Kindersterblichkeit so sehr ein, daß sie Geburtenregelung predigen muß und erregt dadurch Ärgernis. In den 120 Jahren, die die Medizin Ernst damit gemacht hat, angewandte Naturwissenschaft zu sein, ist sie von Triumph zu Triumph geschritten. Es hat sich viel geändert. Die am Krankenbett über die Diagnose in schlechtem Latein streitenden Arztfiguren Molières gibt es nicht mehr. Selten ist eine Diagnose zweifelhaft. Geblieben ist, wie vor zweieinhalbtausend Jahren: jene Ethik, die den bedingungslosen Einsatz des Arztes bei Tag und Nacht fordert und der heute, wie je so nachgelebt wird, daß die Krankheit, an der die Ärzte am häufigsten sterben, der Herzinfarkt ist, die typische Stresskrankheit. Geblieben

ist die Ehrfurcht vor dem Leben, selbst in seiner elendesten Form. Sie ist Frucht des täglichen Erlebens, das sich uns tiefer und tiefer einprägt, je älter wir werden, Wunder und Tragik, daß das Leben aus dem unendlichen Nichts des Vorher entsteht, um ins unendliche Nichts des Nachher zu versinken, dass also jede Zeitspanne, die dem Tode abgewonnen wird, das kostbarste Geschenk ist, das Menschen einander geben können.

Sind die Dithyramben auf die naturwissenschaftliche Medizin, die wir gesungen haben, ohne Einschränkung berechtigt?

Wollen wir darauf eine Antwort finden, so müssen wir uns fragen, wie arbeitet, was leistet naturwissenschaftliche Methode. Zunächst sind einmalige Ereignisse kaum Objekt der Naturwissenschaft. Die Gleichartigkeit, das Wiederholbare interessiert. Die Naturwissenschaft analysiert, zerlegt komplizierte Vorgänge in übersehbare Geschehnisse, die so betrachtet werden können, als ob Änderungen in ihnen unter Konstanthalten der Umgebung möglich wären oder Änderungen der Umgebung, die dabei auftreten, vernachlässigt werden könnten. Im allgemeinen können naturwissenschaftliche Untersuchungen so durchgeführt werden, daß die Beobachtung selbst das untersuchte Objekt nicht verändert; nur im Subatomaren kann der Vorgang der Beobachtung vom beobachteten Phänomen auf keine Weise getrennt werden. Statistik ist das mathematische Werkzeug, das für biologische, also auch für medizinische Zwecke zur Verfügung steht.

Sehen wir zu, wie weit die Objekte der Medizin —verzeihen Sie diesen Ausdruck für den Patienten —wie weit also die Objekte der Medizin brauchbare Objekte der naturwissenschaftlichen Methode sind. Auch die Medizin hat an einmaligen Ereignissen kein allzu grosses Interesse, aber es fällt bei so komplexen und vielfältigen Erscheinungen, die ein Kranker darbietet, schwer, die Bedeutung einmaliger Phänomene im Gesamtbild

zu erkennen und zu wissen, ob sie vernachlässigt werden dürfen. Ja noch mehr. Was uns entgegentritt, ist nicht eine Krankheit sondern eine Menge von Erscheinungen, von denen nur einige wenige sich uns direkt aufdrängen, andere sehr wenig auffällig sind. Oft sind gerade die wenig auffälligen für die Diagnose einer Erkrankung besonders wichtig. Ich erinnere mich, wie erstaunt ich als Student war, als man mir bei einem Patienten mit Typhus abdominalis ein paar winzige Punkte auf der Bauchhaut als sicheres Indiz der Erkrankung zeigte. Wann wurden sie das erste Mal beobachtet und nicht übersehen? Wenn in der beschreibenden Botanik Spezies und Subspezies nach gewissen, oft geringen Merkmaldifferenzen abgegrenzt werden, hat der Untersucher eine Serie von Exemplaren gleichzeitig vor sich, so daß er leicht das Gemeinsame herausfinden kann. Dem Arzt bietet sich eine solche Möglichkeit nur bei Epidemien. Dort bleibt das erstmalig Beobachtete nicht einmalig. Sonst aber treten Einzelfälle an den Arzt heran, oft in sehr erheblichem zeitlichem Abstand voneinander. Das erstmals Beobachtete kann ein unwichtiges Einzelereignis oder erste Beobachtung einer Regel sein. So bleibt nur übrig, ohne Wertung alles zu registrieren, was eine peinlich genaue Beobachtung des Kranken ergibt und alles aufzuschreiben, so aufzuschreiben, daß selbst ein anderer, wenn er bei einem anderen Kranken eine gleiche Veränderung sieht, sie als gleich erkennt. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben einer Krankengeschichte. Krankengeschichten werden seit der hippokratischen Zeit von gewissenhaften Ärzten geführt und machen möglich, allmählich Krankheiten zu klassifizieren. Noch mehr. Wir haben eben auseinandergesetzt, wie schwer oft ein Einzelsymptom in seiner Bedeutung zu bewerten ist, aber das Wort «Einzelfall» bezieht sich nicht nur auf Symptome. Es ist auch auf den Kranken und seine Krankheit als Ganzes anzuwenden. Wie wäre eine Krankheit ausgegangen, wenn man einen

anderen Behandlungsweg eingeschlagen hätte? Das Experiment ist bei einem Patienten unwiederholbar, und wenn es wiederholt wird, das heisst dieselbe Krankheit ein zweites Mal bei der gleichen Person auftritt, verläuft sie anders, als das erste Mal. Die Vorgeschichte spielt eine wichtige Rolle. So kann uns hier nur die große Zahl von Fällen, bei der wir gerade von Besonderheiten des Einzelfalls absehen, Aufschlüsse geben, Aufschlüsse, die aber eben nur statistische Gültigkeit haben.

Das Gesagte führt uns zum nächsten Kriterium. Das untersuchte Objekt, das unter bekannten Umgebungsbedingungen betrachtet wird, ist ein erkranktes Organ oder Organsystem. Aber eine solche Abgrenzung ist eine nur sehr bedingt berechtigte Annahme. Krank ist der ganze Mensch, die Person. Diese Person ruft den Arzt um Hilfe an und erwartet sie von ihm. Darum last sich die Beziehung Arzt-Patient, also Beobachter-Objekt, aus dem hier stattfindenden Experiment gar nicht ausschalten. Gerade da hat sich die statistische Methode besonders bewährt. Sie hat zur Untersuchung der Wirksamkeit von Medikamenten Vorgehen erfunden, die gestatten, die Wirkung der Person des Arztes auszuklammern. Geht man so zu Werke, dann tritt oft zu Tage, daß ein Wirkstoff und eine wirkungslose Verschreibung die Beschwerden des Patienten gleich gut beeinflusst haben: was hier gewirkt hat, war die «Droge Arzt». Ist nun also die Statistik für den Arzt eine völlig adäquate Methode? Sicher ist sie das für den Experimentator, den Physiologen, den Pharmakologen, den experimentellen Therapeuten. Ein Medikament, das die Sterblichkeit einer Krankheit von 80 % auf 20 % reduziert, ist ein gutes Heilmittel. Aber überlegen wir uns, was es für Arzt und Patient bedeutet, wenn sie wissen, dass 80 % überleben und 20 % sterben. Der Patient stirbt nicht zu 20 % und überlebt zu 80 %. Er stirbt oder lebt. Den Toten gehen die 80 %, den Überlebenden die 20 % nichts an. Was der Arzt erstreben

muß, ist die Kenntnis des genauen, nicht des wahrscheinlichen Verlaufs der Krankheit im Einzelfall. Werden wir das erreichen, können wir das erreichen, wenn die Medizin als angewandte Naturwissenschaft lange geduldig wartet, bis die Grundlagenwissenschaften weit genug fortgeschritten sind — oder wird nicht eben schließlich eine Grenze erreicht, wo der Mensch erkennen muß, das Gottähnlich nicht Gottgleich bedeutet? Eines muß aber hier betont und festgehalten werden: Vor all den verlassenen medizinischen Systemen zur Erklärung der Pathogenese von Krankheiten hat uns die Naturwissenschaft nicht nur äußerst wirksame Methoden zum Verständnis pathologischer Prozesse geliefert; sie gestattet zugleich, auch die Grenzen dieser Methoden zu erkennen. Dort aber, wo wir diese Grenzen sehen, stehen wir im Grunde vor dem gleichen Problem, wie die Ärzte vor 2000 Jahren, jetzt und heute zu helfen, selbst wenn unsere Kenntnisse unvollkommen sind. Der Kranke kann nicht warten, bis Naturwissenschaft für uns alle Probleme gelöst hat. Darum bleibt der Arzt auch heute noch in vielem auf Intuition, ja auf Phantasie angewiesen, aus lückenhaftem Wissen und ungenügender Erfahrung sich ein Bild von der Krankheit eines Menschen zu machen und den Weg zur Heilung selbst dann zu finden, wenn naturwissenschaftliche Methode keine klare Anweisung geben kann. Aus Beobachtung, Wissen, Erfahrung und Intuition muß der Arzt dann zur Entscheidung kommen, muß handeln und die Last der Verantwortung tragen, weil nur Wagnis Hilfe verspricht. Darum ist die Medizin auch heute noch ärztliche Kunst. Der Arzt nähert sich dem Historiker, der aus lückenhaften Dokumenten die Gesamtschau einer Zeit vor uns entstehen lässt; aber während jene Zeit weder mit Protest noch mit Zustimmung zur Darstellung des Historikers Stellung nehmen kann, beweist oder widerlegt der Verlauf einer Krankheit das Bild, das der Arzt sich von ihr gemacht hat.

Es ist vorhin ein wichtiges Stichwort gefallen, die Person des Kranken. Diese Person stellt eine Einheit dar, in der alle Teile in Wechselwirkung stehen. Es läßt sich ohne Simplifizierung kein krankes Organ allein betrachten. Vor allem begreift der Kranke sich selbst als Einheit, die vom Psychischen her dominiert wird. Noch mehr, es gibt Krankheiten, denen kein anatomisches Substrat entspricht, zum Teil ohne körperliche Begleiterscheinungen, zum Teil mit solchen verbunden —Psychosen und Neurosen. Dazu kommen noch Leiden, bei denen seelische Störungen zu anatomisch feststellbaren, körperlichen Erkrankungen führen, zum Beispiel die Ulcus-Krankheit, das Magen- und Zwölffingerdarm-Geschwür. Man spricht von psychosomatischen Krankheit.

Es heisst wohl offene Türen einrennen, wenn ich sage, dass das Wort «psycho-somatisch» nicht eine mystisch-metaphysische Beziehung ausdrücken soll. Was es meint, sei in einigen Sätzen zusammengefaßt: Das Psychische als solches, Summe subjektiver Erlebnisse, existiert nur einmal, nämlich bei mir. Meine Ausdrucksgebärden und meine Sprache werden von anderen verstanden und erwidert, woraus ich schliesse, dass auch bei ihnen dahinter die gleichen subjektiven Erlebnisse stehen. Die Ausdrucksphänomene beim andern sind an das Großhirn gebunden und somit ist anzunehmen, das meine psychischen Erlebnisse, die mit gleichen Ausdrucksphänomen einhergehen oder enden, sozusagen Großhirnprozessen komplementär sind. Es hat also nichts Erstaunliches, daß ein Organ, das Gehirn, auf ein anderes wirkt. Das eigentliche Problem liegt in der Organwahl, das heisst in welchem Organ sich die psychosomatische Erkrankung etabliert. Das Ergebnis solcher Überlegungen ist auch, daß psychische Leiden medikamentöser Behandlung zugänglich sein müssen; die therapeutischen Erfolge der letzten Zeit bestätigen dies. Noch einmal: nur aus Sprache und Gebärde des anderen,

dessen Gleichartigkeit mit mir ich anerkenne, erschließe ich gleiches psychisches Erlebnis. Es ist nicht nur für den Arzt, sondern für jeden wichtig, sich das ganz klar zu machen. Dann wird nämlich plötzlich der Satz: «Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst» merkwürdig schillernd und vieldeutig. Wer ist der Nächste? Wo breche ich die Analogie ab: bei meinem Bruder, bei meiner Sippe, bei meinen Glaubensgenossen, bei den Germanen, bei den Weissen, beim Menschen, oder nehme ich noch die Haustiere dazu? Ist nicht die tiefste Weisheit darüber in dem schönen Gleichnis von Tschuang-Tse enthalten von den beiden Weisen, die von einer Brücke auf spielende Fische im Wasser hinunterschauen. «Sieh, wie sich die Fische freuen», sagt der eine. Worauf der andere fragt: «Woher weist Du, daß sie sich freuen», und die Antwort lautet: «Aus meiner Freude über dem Wasser».

Von den komplizierten Gehirnvorgängen haben wir nur durch Sprache und Gebärde einerseits, durch eigene Introspektion andererseits Kenntnis. Vor etwa 100 Jahren hat der grosse Physiologe EWALD HERING folgenden Grundsatz ausgesprochen: Was die subjektiven Sinneserscheinungen darbieten, muß ein vollständiges und lückenloses Korrelat in physiologischen Vorgängen haben, insbesondere in physiologischen Vorgängen im Gehirn: Dieser Grundsatz, der HERING in schroffen Gegensatz zu gewissen psychologisierenden Ansichten von HELMHOLTZ brachte, hat sich, seitdem wir mit feinen neurophysiologischen Methoden die Vorgänge im Gehirn untersuchen und verfolgen können, für alle Erscheinungen des Gesichtssinnes als vollständig richtig erwiesen. Es ist nicht einzusehen, daß der Heringsche Satz nur für die Hirnprozesse gelte, die mit der Sinneswahrnehmung verknüpft sind. Wenn dem aber so ist, dann müssen die höchsten Funktionen des Zentralnervensystems nach Prinzipien verknüpft sein, die denen analog sind, die uns im Psychischen begegnen.

Hier sind Geschichte, Sinn, Motiv Leitprinzipien, denen gegenüber kausale und logische Verknüpfung zurücktritt. Vom Sinn der Krankheit in theologischer Sicht haben wir schon einmal gesprochen. Er stellte wirksames ärztliches Handeln in Frage. Jetzt begegnet er uns von Neuem und bietet Angriffspunkte für ärztliches Wirken. Vom Kranken her gesehen hat jede, auch durchaus organische Erkrankung eine Stellung in der Lebensgeschichte seiner Person und muss einen Sinn erhalten. Aufgabe des Arztes ist es, bei unheilbarer oder nicht völlig heilbarer Krankheit, dem Patienten zu helfen, wenigstens Sinngebung zu finden. Sprache wird zum therapeutischen Werkzeug.

Immer wieder taucht in meinen Ausführungen, wie im wirklichen Leben des Arztes, das aufwühlende Problem auf, jetzt und augenblicklich helfen zu müssen, wenn gesichertes Wissen noch nicht erreicht ist, sicheres Wissen, das nur aus den Grundwissenschaften kommen kann. Was Wunder, dass immer schon Ärzte selbst Hand angelegt und diese Grundwissenschaften vorwärts getrieben haben, nicht nur Anatomie und Physiologie, sondern auch als Botaniker und Zoologen, als Chemiker und sogar als Physiker. Ich erinnere nur an ROBERT MEYER und HERMANN v. HELMHOLTZ. Wohin sich aber bei psychischen Leiden wenden oder bei Lähmungen, die unter Hypnose vorübergehend verschwinden, also im Psychischen ihre Ursache haben müssen? Wenn der Arzt auf die Psychologie als Grundwissenschaft zurückgriff, so wurde er enttäuscht. Sie lieferte keine Hilfsmittel zum Verständnis oder gar zur Behandlung solcher Leiden. So musste der Arzt selbst für seine Zwecke die Grundlagen einer neuen Wissenschaft errichten. Das geniale Werk SIGMUND FREUDs hat den Weg zu einer echten medizinischen Psychologie eröffnet. Kreiste der Helferwille des Arztes früher um den Kampf gegen Schmerz und Tod, ist erst jetzt ein anderer, ebenso grosser Feind des Menschen so recht erkannt worden — die

Angst. Sie zu bekämpfen, ist eine dankbare Aufgabe des Arztes geworden.

Wo sind wir hingelangt? Die Medizin, aus Helferwillen geboren, hat zwar ihre grössten Triumphe gesehen, seitdem sie die Wege angewandter Naturwissenschaft verfolgt, aber sie kann heute so wenig wie früher der Intuition des Arztes entbehren, sei es wo das naturwissenschaftliche Wissen noch nicht weit genug gediehen ist, sei es wo psychisches Leiden nach anderen Kategorien der Erhellung und der Behandlung verlangt, als Naturwissenschaft zu bieten vermag. So steht die Medizin zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Es hat Zeiten gegeben, wo man ein Studium der Logik als unerlässlich für die Vorbereitung zum Beruf des Arztes ansah. An der ersten Universität des Abendlandes, in Bologna, wurde im 13. Jahrhundert Medizin sogar modo Irnerii vorgetragen: Irnerius war ein großer Jurist dieser Universität. Heute muß man sich wieder darauf besinnen, daß Medizin mehr als Naturwissenschaft ist. Dieses Besinnen lehrt zugleich, daß die Geisteswissenschaften auch in unserer Zeit ihren Wert behalten haben, weil das brennende Interesse für das, was Menschen tun, was sie erschaffen, wie sie die Welt sehen, erleben und bauen, ob in ihren gesunden oder in ihren kranken Tagen, nie aufhören wird.

So ist es nicht unverständlich, daß bei der Frage der Reform des Medizinstudiums der Ruf nach Besinnung auf das humanistische Erbe laut wurde. Humanismus ist ein Schlagwort geworden. Den einen bedeutet es das Studium klassischer Sprachen, das von ihnen als unübertreffliches Bildungsinstrument gepriesen wird, anderen Beschäftigung mit Philosophie, Geschichte, Literatur und Erwerb einer allgemeinen Bildung. SARTRE geht sogar so weit, Marxismus, so wie er ihn sieht, Humanismus zu nennen. Dazu kommt noch, daß sprachliche Ähnlichkeit der Wörter Humanismus und Humanität jenem etwas von dieser

leiht. Betrachten wir die Wirklichkeit, so sehen wir, daß die Humanisten des 16. Jahrhunderts, also die echtesten Humanisten, mit wenigen Ausnahmen ihr Leben mit bösester Polemik gegeneinander und gegenseitigen Denunziationen verbrachten, daß der Kampf mit der lateinischen Grammatik nur selten etwas vom echten klassischen Geist vermittelt, den man besser aus BURCKHARDT kennen und lieben lernt, um ihn dann an guten Übersetzungen aus dem Griechischen zu geniessen. Der Neohumanismus, der die Humboldtsche Universität des 19. Jahrhunderts schuf, hat weder ihre Lehrer, noch ihre Schüler abgehalten, die Barbarei des 20. Jahrhunderts mitzumachen. Wenn schließlich Marxismus Humanismus sein soll, dann bestätigt das nur, daß Humanismus mit Humanität nicht notwendigerweise etwas zu tun haben muß. Was die Elite braucht, ist wohl Bildung auf breiter Grundlage, aber nicht eine vorwiegend rückwärtsgewendete; nicht Humanismus, vertiefte Kenntnis des Menschen tut not. Sie gibt uns vielleicht, ich sage vielleicht, Anhaltspunkte, aus genauem Verständnis der Menschennatur jene Krankheiten unserer Gesellschaft zu bekämpfen, die jeder wahren Bildung entgegenstehen: die Hast, die keine Muße erlaubt, und die Aggression, die immer wieder die höchsten Blüten der Kultur vernichtet.

Meine Damen und Herren. Ich begann damit, es stehe einem Manne, dem Ende seiner Laufbahn nahe, wohl an, zurückzublicken und das Dauernde, den Geist seines Berufes zu überdenken. Ich bin öfter vom Dauernden zum Zeitlichen geraten, hoffend, daß die Betrachtung des Zeitlichen hilft, das besser zu sehen, was der Dauer wert ist.