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Fragwürdiger Fortschrittsglaube

Rektoratsrede, gehalten am 21. November 1964 an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule
Polygraphischer Verlag AG. Zürich 1965

Hochansehnliche Festversammlung,

Wenn irgendwo ein Gebäude, das zum vertrauten Bild der Stadt gehörte, der Verkehrssanierung weichen muß, oder wenn ein moderner Verwaltungsapparat die Aufgaben übernimmt, die zuvor ein origineller Kauz auf seine Art schlecht und recht erledigte, oder ganz allgemein, wenn wir Veränderungen der Lebensformen beobachten, die durch die Bedürfnisse der Maßengesellschaft erzwungen werden, so nehmen wir das nicht selten mit einem Ausdruck des Bedauerns zur Kenntnis. Manchmal wird aber diesem Bedauern noch der Nachsatz beigefügt, es sei ja letzten Endes unmöglich, den Fortschritt aufzuhalten. Solche Bemerkungen, die absichtslos hingeworfen werden, geben über das wirkliche Denken der Menschen, über ihr Lebensgefühl, sehr viel mehr Aufschluß, als was sie sagen, wenn ihr Wort ernst genommen werden soll. So verrät uns das, was wir soeben erwähnten, eine tiefe innere Zwiespältigkeit. Wir nennen eine Entwicklung Fortschritt, obwohl wir sie eher als unabänderlichen Ablauf denn als ein sinnvoll Gewolltes erleben.

Unter dem Fortschritt, von dem hier die Rede ist, versteht man die stetige Erweiterung menschlichen Wissens und Könnens und die Umgestaltung unseres Lebens, die daraus hervorgeht. Man verspricht sich davon eine Bereicherung und insbesondere auch die materielle Sicherung des menschlichen Daseins. Wenn uns aber wirklich die Erfahrung lehrte, daß unser Leben ein immer reicheres und freudvolleres wird, wie könnte jemand im Grunde seines Herzens bedauern, diesen Fortschritt nicht aufhalten zu können? — Die Erfahrung lehrt uns offenbar ein anderes.

Daß ihm der sichere Glaube an den Segen dieses Fortschrittes —ein Glaube, den er vielleicht sogar mit dem Munde bekennt —abhanden gekommen ist, gehört zum Typischen der geistigen Situation des

Mitteleuropäers. Hierin unterscheidet er sich — so scheint es jedenfalls dem Sprechenden —mindestens graduell vom Amerikaner. Dies ist mitbestimmend für unsere ganze Stellung innerhalb der modernen Welt.

Die Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist, wie wir alle wissen, maßgebend bestimmt durch die Mächte, die als eigentliche Sieger aus dem Ringen hervorgegangen sind, nämlich die Vereinigten Staaten und Rußland. Rußland aber lebt noch vollständig im 19. Jahrhundert, denn der Kommunismus ist ja die zur Absurdität gewordene Extremform des für jene Epoche so typischen Fortschrittsgedankens. Er will den Fortschritt mit Gewalt erzwingen. Aber auch der Amerikaner, weit davon entfernt, eine Tyrannei ausüben zu wollen, bekennt sich mit einer uns befremdenden Vorbehaltlosigkeit zum Glauben an die Menschheitsbeglückung durch den Fortschritt. Was Wunder, wenn seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges so etwas wie eine Renaissance des 19. Jahrhunderts im Gange ist, wobei allerdings die äußeren Formen von den früheren vollständig verschieden sind. Und was Wunder, wenn wir Mitteleuropäer dabei in mancher Beziehung nur mit halbem Herzen mittun, ist uns doch der ungebrochene Glaube nicht mehr verfügbar, der diese Entwicklung trägt.

Die Einsicht, daß dieser Fortschritt auch Gefahren in sich birgt, ist bei uns weit verbreitet, und zwar nicht nur unter denen, die selber keinen aktiven Anteil an seiner Verwirklichung haben und daher naturgemäß eher zur Skepsis neigen. Auch von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern wird dies gesehen und zugegeben. Nicht selten wird der Überzeugung Ausdruck verliehen, es müsse ein Gegengewicht gefunden werden gegenüber dem rein aufs Materielle hin orientierten Denken unseres durch technisch-wissenschaftliche Errungenschaften geprägten Zeitalters. Ganze Kongresse beschäftigen sich mit der Frage der Verantwortung des Ingenieurs gegenüber der menschlichen Gesellschaft. Die dabei geäußerten Gedanken und Vorschläge bleiben zwar fast stets im Allgemeinen stecken und stoßen kaum je bis zur praktischen Maßnahme vor. Das ist aber eigentlich sogar richtig, denn wer im Ergreifen bestimmter Maßnahmen das Entscheidende sähe, der ginge von vornherein am Wesen des Problems vorbei. Und doch bemächtigt sich unser angesichts dieses ganzen sogenannten Gedankenaustausches und der vielen wohlgemeinten

Beteuerungen ein Gefühl tiefer Enttäuschung. Das außerordentliche Maß der grundsätzlichen Einhelligkeit unter Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, das bei solchen Gelegenheiten zutage tritt, beruhigt uns keineswegs. Es ist in Wahrheit das verräterische Zeichen unserer Hilflosigkeit. Die vielen Bekenntnisse zu einer Respektierung der menschlichen Person in ihrer Ganzheit — jener Ganzheit, die auch das Gemüt, das Seelische, das Musische wie auch das Abgründige einschließt — haben oft den Charakter ehrlicher Lippenbekenntnisse. Ehrlich sind sie, weil man wirklich wünscht, der Entseelung Einhalt zu gebieten. Lippenbekenntnisse sind sie, weil man sich keine Vorstellung davon machen kann, wie das, wozu man sich bekennt, verwirklicht werden kann. — Wenn wir so oft nach vielen schönen Worten in den Alltag zurückkehren und weiterfahren, als ob nichts geschehen wäre, so ist das nicht ein Zeichen unserer Unwahrhaftigkeit und Trägheit, sondern es verrät eben diese unsere Hilflosigkeit.

Daraus wird deutlich, daß die Vorstellung, es bedürfe nur eines Gegengewichtes, es müsse neben diesem Fortschritt gewissermaßen noch ein Fortschritt anderer Art einhergehen, unzulänglich ist. — Auch der wohlgemeinte Hinweis auf die Notwendigkeit einer moralischen Höherentwicklung hilft uns praktisch nicht weiter. — Naturwissenschaft und Technik sind ihren Ursprüngen nach und auch nach dem, was sie zu sein beanspruchen, etwas viel zu Revolutionäres, als daß man da so leicht Ausgleich und Ergänzung schaffen könnte. Hat in einem von der Gedankenwelt des Christentums geprägten Abendland die Naturwissenschaft etwa das Ziel verfolgt, jenes metaphysisch bestimmte Weltbild noch zu ergänzen durch ein Wissen über die Natur? —Hat man, nachdem die Sicherung des Seelenheils in einer jenseitigen Welt eine so zentrale Bedeutung im Denken der Menschen hatte, nun auch noch zusätzlich versucht, das Diesseits durch technische Errungenschaften zu verschönern und zu bereichern? —Eine solche Darstellung wäre nicht nur völlig unzutreffend, sondern geradezu lächerlich.

Das Ziel der Naturwissenschaft war von Anfang an nicht die Befriedigung einer harmlosen Neugier. Sie wollte vielmehr den Menschen durch ein wohlfundiertes Wissen über die Welt zu jener inneren Sicherheit und Überlegenheit hinführen, die zu suchen er durch die

Jahrtausende hindurch nicht müde geworden ist. Die Lehren der Naturwissenschaft gipfeln wieder und wieder darin, daß sie uns sagt: «Hier ist kein Wunder und kein Geheimnis; hier sind nur verstehbare Zusammenhänge.» Und dahinter vermeinen wir zu hören: «Du, Mensch, bist keinen unsichtbaren Mächten ausgesetzt, und selbst wo dich das Unglück trifft, ist es nicht abgründiges Verhängnis, sondern Mechanismus.» —Wie wir alle jeden Tag erfahren, begnügt sich diese Naturwissenschaft nicht damit, zu lehren, sondern sie handelt auch, indem sie mit technischen Mitteln machtvoll diese Welt umgestaltet. So sind wir von einer Wirklichkeit umgeben, die uns auf Schritt und Tritt das eine eindrücklich werden läßt: Nicht der Glaube, sondern die Technik versetzt Berge.

Man hat schon vom Prozeß der Desillusionierung gesprochen, der durch Naturwissenschaft und Technik herbeigeführt werde. Damit wird ihr revolutionärer Charakter mit unüberhörbarer Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Leuchtet nicht hinter dem Wort Desillusionierung ein Totalitätsanspruch hervor? Was da als Illusion bezeichnet wird, sind nicht nur einige traditionelle Vorstellungen, sondern es ist damit auch vieles gemeint, was die Geisteswissenschaften als ihren eigentlichen Gegenstand betrachten, ja es wird damit nicht selten das Geistige überhaupt anvisiert.

Was soeben gesagt wurde, mag als eine Charakterisierung des Geistes der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts erscheinen. Bekanntlich sind in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem durch die Erkenntnisse der Physik ältere Anschauungen tiefgreifend erschüttert und umgestaltet worden. Dem Sprechenden will aber scheinen, diese Erschütterung sei — wenn man aufs Ganze sieht, also nicht etwa nur auf die Grundlehren der Physik selbst — erstaunlich wenig nachhaltig gewesen. Und insbesondere ist doch seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Rückentwicklung in dem, was man das allgemeine wissenschaftliche Bewußtsein nennen könnte, unverkennbar. Dies wiederum strahlt aus auf das Zeitbewußtsein überhaupt. Ich erwähne nur das Stichwort Kybernetik. Gegen Kybernetik als Wissenschaft ist natürlich nichts einzuwenden, solange man sie nicht auffaßt als den endlich gefundenen Schlüssel zum wahren und eigentlichen Weltverständnis. Wenn uns aber etwa von

gewisser Seite die Ungeheuerlichkeit vorgesetzt wird, daß zwischen dem Menschen als denkendem Lebewesen und einer in fernerer Zukunft zu schaffenden elektronischen Denkmaschine kein wesentlicher Unterschied mehr bestehen werde, da beide — wie alles Existierende überhaupt — darin aufgehen, materielle Struktur plus Information zu sein, so erkennen wir diese Rückkehr zum 19.Jahrhundert mit unmißverständlicher Deutlichkeit.

Die Meinung, der Konflikt zwischen der Naturwissenschaft und dem Geistigen — wobei man ja namentlich auch an das Religiöse denkt — sei heute restlos beigelegt, ist im Hinblick auf die gegenwärtige praktische Situation viel zu optimistisch. So harmlos liegen die Dinge nicht, daß man nur auf die Zuständigkeitsgrenzen der Wissenschaft hinweisen könnte. Es besteht eben alles andere als Einigkeit darüber, wo diese Zuständigkeitsgrenzen liegen und ob es solche überhaupt gibt. Ich will hier die Schau der Dinge skizzieren, wie sie für den typisch ist, den ich als den «eingefleischten Naturwissenschaftler» bezeichnen möchte. Für ihn ist die Naturwissenschaft nicht eine besondere Weise des Suchens nach Erkenntnis, welche die materielle Wirklichkeit zum Gegenstand hat und ebendiese mit den angemessenen Mitteln zu erforschen sucht. Vielmehr sieht er in Naturwissenschaft und exakter Wissenschaft allgemein — also in dem, was der Angelsachse «science» schlechthin nennen würde — nicht mehr und nicht weniger als die Hochform des gesunden Menschenverstandes. Diesem gesunden Menschenverstand ist insbesondere selbstverständlich immer nach seiner Ansicht —, daß nur das Realität besitzt, was objektiv beobachtet oder aus Beobachtungen zwingend erschlossen werden kann. — Diese Betrachtungsweise impliziert den Totalitätsanspruch der Naturwissenschaft. Es ist zuzugeben, daß sie uns selten in absolut konsequenter Form entgegentritt. Trotzdem ist das moderne Denken nachhaltig davon beeinflußt.

Die meisten Naturwissenschaftler und Ingenieure vertreten zwar nicht eine materialistische Weltanschauung, sondern sind gerne bereit, den anderen Bereichen des menschlichen Geisteslebens ihren Platz an der Sonne zu lassen. Ja gerade unter den Ingenieuren gibt es sehr viele, die sich der Gefahren einer immer ausschließlicher durch Naturwissenschaft und Technik bestimmten Zivilisation bewußt

sind und Hand bieten möchten zu eben jenem Ausgleich, von dem schon gesprochen wurde. Das beruht aber keineswegs notwendig darauf, daß sie die Denkformen, die ich soeben als die des eingefleischten Naturwissenschaftlers bezeichnete, wirklich überwunden hätten. Häufig handelt es sich dabei eher um eine Gedankenlosigkeit in grundlegenden Fragen, bei der die tiefliegenden Widersprüche gar nicht bemerkt werden. Oder aber —und dies scheint mir für den europäischen Wissenschaftler besonders typisch zu sein — er nimmt den Widerspruch durchaus wahr, aber die sittliche Verantwortung hindert ihn daran, konsequent zu sein, weil ihn dies zum Nihilismus führen würde. So hat er zwei Bereiche in seinem Denken. In jedem ist er wahrhaftig, und doch liegt zwischen beiden eine unüberbrückbare Kluft. Dieser Zwiespalt überschattet selbst sein Tagwerk, denn er arbeitet mit an einem Fortschritt, an dessen Segen er nicht glaubt.

Auf diesem Hintergrund wird klar, daß das Problem, zum einseitig materiell-zivilisatorischen Fortschritt ein geistiges Gegengewicht zu finden, keine Lösung hat. Der Totalitätsanspruch des naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsgedankens räumt allem anderen bestenfalls noch zweitrangige Bedeutung ein; dann ist es indessen kein Gegengewicht mehr. Diesen Anspruch aber fallenzulassen, bedeutet nicht, von einer gewissen Übertreibung Abstand zu nehmen. Es bedeutet vielmehr das Eingeständnis, daß Naturwissenschaft und Technik nicht das sein können, was sie ursprünglich sein wollten und als was sie uns heute wieder angepriesen werden: die eigentlichen Befreier der Menschheit, geistig und materiell.

Worin aber besteht die Bedrohung des Menschen durch seinen eigenen Fortschritt, die abzuwehren sich als so außerordentlich schwierig erweist? — Dem oberflächlichen Denken mag scheinen, sie bestehe in der Möglichkeit eines Nuklearkrieges. Diese Antwort ginge aber weit neben dem Kern des Problems vorbei. Übrigens ist es erstaunlich, mit welchem Erfolg wir uns eingeredet haben, diese Gefahr sei gar nicht real. Wir rechnen faktisch nicht mit dieser Möglichkeit. —Daß wir uns aber trotzdem bedroht fühlen, zeigt, daß die Gefahr tiefer liegt und ein Krieg nur die Folge dieses tiefer Liegenden wäre. Die Beunruhigung, die wir schon als eine eigentliche Not bezeichnen

müssen, liegt nicht in dem Ungesichertsein unseres leiblichen Lebens, sondern in der Sinnlosigkeit unseres Daseins. Wir selbst fühlen uns in Frage gestellt und unserer Würde beraubt durch das sinnlose Treiben, in das wir eingespannt sind. Daher verfluchen wir in unseren Herzen einen Fortschritt, der uns die Sinnfülle nimmt und uns erbärmliches Wohlergehen zum Ersatz dafür anbietet.

Man versuche nicht, die Sinnfrage mit tausend gescheiten Argumentationen über ihre Unlösbarkeit beiseitezuschieben. Sie wird als real erlebt. Sinnloses Leben ist leeres, verfehltes Leben. Wer unecht und unwahrhaftig genug ist, in solches einzuwilligen, hat sich mit dem Gemeinsein abgefunden. Die Sinnlosigkeit ist nicht dadurch gegeben, daß der Sinn nicht begrifflich faßbar und in Worten ausdrückbar ist, sondern durch die Unechtheit. Diese ist aber weithin kennzeichnend für die moderne Welt. Dies ist für viele Menschen eine tiefe Enttäuschung. Wie wenig es hier um ein rein akademisches Problem geht, das wir im praktischen Leben übergehen könnten, mag folgender Hinweis beleuchten.

Gesetzt der Fall, es trete ein Fanatiker auf, der eigentliche — d. h. außerwissenschaftliche, außertechnische, außerwirtschaftliche — Ziele setzte, Ziele allerdings, die eben aus seinem Fanatismus entspringen. wird ein solcher nicht eine außerordentliche Verführungskraft ausüben können, und zwar nicht so sehr auf die Gemeinen, die nur kleine, egoistische Interessen kennen, sondern vor allem auf hochgemute, edle Naturen? Werden nicht gerade sie der Illusion leicht erliegen, hier sei nun endlich einmal wirkliche Ernsthaftigkeit, hier gehe es um ein Wesentliches, hier also sei Sinnfülle, nach der sie sich immer gesehnt haben? Könnten sie nicht selbst versucht sein, mit Nietzsche zu sagen «Lieber bös getan als klein gedacht»? — Gerade dies ist doch in Deutschland vor etwa dreißig Jahren geschehen. Menschen, die weit davon entfernt waren, Verbrecher zu sein, legten sich Entschuldigungen für die Untaten des Regimes zurecht, weil sie glaubten, durch den Nationalsozialismus aus der Sinnlosigkeit des modernen Lebens ausbrechen zu können. So real ist das Problem der Sinnfülle für den Menschen.

Wir alle wissen übrigens aus eigener Erfahrung, daß es den Unterschied zwischen Sinnvoll und Sinnlos wirklich gibt. Wer in irgendwelcher

Weise ein Werk schafft, wird dieses Tun als beglückend sinnvoll erleben. Wer nach einer neuen Erkenntnis sucht, wird überzeugt sein, daß dies einer großen Anstrengung wert sei; niemals wird er denken, seine Zeit sinnlos vertan zu haben, solange es ihm wirklich um die Wahrheitsfindung geht. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Immer ist es die Echtheit des Bemühens, die im Einzelfalle Sinnfülle gewährleistet. Daraus könnte aber keinesfalls geschlossen werden, es könne somit wieder alles sinnvoll gemacht werden, denn es gibt sehr vieles, was eben diese Echtheit von vornherein ausschließt. Dahin gehört z. B. alles künstliche Schaffen von Bedürfnissen und alles Manipulieren der Menschen, wie es ein modernes Managertum mit einer erschreckenden Selbstverständlichkeit tut.

Wenn also von der Sinnlosigkeit des Lebens in der modernen Welt gesprochen wurde, so bedeutet das nicht — zum guten Glück nicht — daß jede einzelne Tätigkeit notwendig den Stempel dieser Sinnlosigkeit tragen müsse. Allerdings dringt das sinnentleerte Treiben von allen Seiten auf uns ein und sucht uns aus den Oasen der Sinnfülle zu vertreiben. Im Gesamten, im großen Zusammenhang, ist die Sinnfülle nicht mehr gegeben, weil hier eben die Echtheit fehlt. Ist man nicht oberflächlich, so kann man nicht mehr ehrlich sein, wenn man sagt, ein endloses Weiterschreiten in der Richtung, die wir eingeschlagen haben, führe zur Menschheitsbeglückung. Die Erfahrung bestätigt das nun einmal nicht. Wir müssen im Gegenteil doch gerade in unserem Lande feststellen, welche Verheerungen die wirtschaftliche Prosperität in den Herzen der Menschen angerichtet hat. Damit wird nicht behauptet, Armut sei ein Zustand, den man ruhig auf sich beruhen lassen könne; aber zwischen ihr und einem Leben, das in sinnloser Hast und Verschwendung dahinrast, gibt es doch wohl eine menschenwürdige Daseinsform. Die Notwendigkeit eines ständigen wirtschaftlichen Wachstums scheint oberstes Dogma der Wirtschaftsfachleute zu sein, doch nicht deshalb, weil sie allen Ernstes überzeugt wären, daß daran das wahre Glück der Menschen hänge, sondern darum, weil es ihnen offenbar als die einzige Variante zur Katastrophe erscheint. Gerade an diesem Punkt — aber an tausend anderen ebensosehr — wird eines unabweisbar deutlich: Das Vertrauen in die Vernunft des autonomen Menschen hat sich als ungerechtfertigt

erwiesen. Dies ist eine harte Aussage. Wir würden aber nicht zögern, ihr zuzustimmen, wenn wir selbst unbeteiligt wären.

Wir können das, was man Fortschritt nennt, nicht mehr als wahren Fortschritt erleben, weil es uns in diese Leere und Unwahrhaftigkeit hineingeführt hat. In dieser Welt, die wir in einem früher nie geahnten Maße durch unser Wissen und Können beherrschen, ist uns etwas abhanden gekommen, dessen wir als Menschen zutiefst bedürfen. Wie könnten wir sonst gerade jetzt, wo wir so erfolgreich sind, uns betrogen fühlen und in einem solchen Maße zur Unechtheit hingedrängt sein? Was fehlt dieser komplizierten und perfektionierten Menschenwelt, in der wir über so unendlich viele Einsichten verfügen und alles so sinnreich einrichten, daß sie uns so leer und drohend anstarrt? — Das was fehlt, läßt sich mit einem einzigen Wort nennen: Es fehlt die Gnade. In dem Maße, als unser Dasein gnadenlos ist, fällt es der inneren Unwahrhaftigkeit anheim und wird dadurch sinnentleert.

Hier liegt der Grund des Versagens der vielen gutgemeinten Bemühungen, den Menschen aus seinen selbstgeschmiedeten Ketten zu befreien. Nicht nur haben Technik und Naturwissenschaft aus sich selbst nicht die Kraft zur Menschheitsbeglückung, die man ihnen gerne zutrauen möchte, eine Hoffnung, an die sich selbst heute noch so viele Menschen klammern. Es wäre ebenso illusorisch, die entscheidende Wendung zu erwarten von einem Wissen über den Menschen oder über die menschliche Gesellschaft. Wie sollte uns in solcher Lage etwa die Psychologie helfen können? Hier bemüht sich der autonome Mensch um ein Selbstverständnis, das aber so oder so nicht anders ausfallen kann, als daß er sich als ein durch äußere Umstände und fundamentale Gegebenheiten seiner Natur Bestimmter und gesetzmäßig Reagierender versteht. Damit wird gerade das, was ihn zuinnerst bewegt, relativiert. Durch eine solche Botschaft wird derjenige, der ohnehin in der Gnadenlosigkeit lebt, noch tiefer in diese hineingestoßen, selbst wenn er so den Weg fände, sich zu beruhigen und seinen beklagenswerten Zustand besser zu ertragen. Es ist denn auch nicht von ungefähr, wenn der Mißbrauch dieser Wissenschaft offen propagiert wird. Wir können in unseren Zeitungen Inserate lesen von Instituten, die sich anbiedern, uns darüber zu informieren, wie man psychologische Erkenntnisse in den Dienst geschäftlicher

Propaganda stellen könne. Diese empörende Mißachtung der Menschenwürde ist selbstverständlich nicht der Psychologie zur Last zu legen, aber das Beispiel zeigt doch, daß auch dieses Wissen uns keineswegs vor der Enthumanisierung schützt, kann es doch geradezu in ihren Dienst gestellt werden.

Wie sehr nun aber der herkömmliche zivilisatorische Fortschrittsglaube an Überzeugungskraft verloren hat, wie sehr er durch die Erfahrung widerlegt ist, so darf dies doch nicht eine Ablehnung von Naturwissenschaft und Technik an und für sich bedeuten. Daß dies verfehlt wäre, wird uns sogleich klar, wenn wir uns die Frage stellen, ob wir im Ernst und ehrlich wünschen könnten, die Menschheit möge ihre ganze naturwissenschaftliche Erkenntnis wieder verlieren und es möge ihr damit auch ihr ganzes verfeinertes technisches Können wieder abhanden kommen. — Das müßte man im allgemeinsten Sinne verstehen; es würde also z.B. auch die ganze Medizin dazugehören. — Ein solcher Wunsch wäre offensichtlich völlig absurd. Man könnte ihn ebensowenig in Wahrheit hegen, wie man als reifer Mensch wünschen kann, wieder zur Unwissenheit seiner Kindheit zurückzukehren. Man mag sich nach der Geborgenheit oder der jugendlichen Lebensfrische der Kindheit zurücksehnen. Die Unwissenheit kann man sich nicht als Idealzustand zurückwünschen.

Darin aber, daß der bloße Gedanke an ein Zurück völlig undiskutabel ist, erweist sich, daß mit der Naturwissenschaft eine geistige Errungenschaft vorliegt, die wir nicht nur nicht aufgeben wollen, sondern die aufzugeben auch menschenunwürdig wäre. Die Menschheit, die einmal angefangen hat, Naturwissenschaft zu betreiben, hat nicht die Wahl, von dieser Weise des Erkennens wieder abzugehen, denn die so gewonnene Erkenntnis ist zwingend. Ihr zwingender Charakter bestätigt sich bei der Probe aufs Exempel in der Technik. Aber nicht nur diese Gewißheit, zu der sie führt, macht ihre Größe aus. Sie kann auch in anderer Beziehung eine große Lehrmeisterin der Wahrhaftigkeit sein. So manches von einem stolzen Menschengeist kunstreich und großartig errichtete Gedankengebäude, das gesicherte Wahrheit zu sein in Anspruch nahm, ist durch die Naturwissenschaft zunichte gemacht worden. Sie hat damit das allzugroße Selbstvertrauen des menschlichen Denkens, das uns immer wieder dazu verleitet

hat, mit Worten Systeme zu bauen, erschüttert. Große Naturwissenschaftler sind übrigens gerade dadurch auch immer wieder davor bewahrt worden, den Totalitätsanspruch für die Naturwissenschaft geltend zu machen, da sie ihn als unwissenschaftlich erkannten. Jener, dem dieser Anspruch aus dem gesunden Menschenverstand kommt, traut eben diesem gesunden Menschenverstand zu viel zu.

Es gibt nicht nur eine aufklärerische Überheblichkeit, sondern auch eine aufklärerische Demut. Auch zu ihr kann uns die Naturwissenschaft hinführen, und sie hat manchen Wissenschaftler dazu hingeführt. Hier wird ein Verzicht geleistet auf eine Selbstüberschätzung des menschlichen Geistes, der gerade die Philosophie immer wieder zum Opfer gefallen ist. So hat die Naturwissenschaft dazu beigetragen, daß der Mensch majorenn geworden ist, indem ihm mindestens in bestimmter Beziehung seine Grenzen bewußt geworden sind. Dies ist das andere Gesicht der Naturwissenschaft. Es ist leider — aber verständlicherweise — nicht dieses, das zumeist gesehen wird, denn so kann nur denken, wer nicht von der Wissenschaft beherrscht wird, sondern über ihr steht.

Ebenso undiskutabel ist es, auf hochentwickelte Technik verzichten zu wollen. Das wird vielleicht besonders deutlich, wenn wir uns das Problem in Form der folgenden Frage vorlegen: Wäre es menschenwürdig, die Dinge des praktischen Lebens in einer umständlichen und primitiven Art an die Hand zu nehmen, wenn uns die Intelligenz gegeben ist, es gescheiter zu machen? —Fühlen wir nicht, daß wir damit geradezu unsere Bestimmung verfehlten? Wo der Mensch die Pflicht, die ihm aus seiner Intelligenz erwächst, versäumt, entsteht jenes namenlose Elend, das heute noch in den sogenannten Entwicklungsländern herrscht.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auf die Frage der Sinnfülle in der Arbeit des Ingenieurs, die mir naturgemäß besonders naheliegt, nochmals zurückkommen. — Der Beruf des Ingenieurs steht dabei übrigens stellvertretend für sehr vieles andere. — Wir sagten, solche Arbeit, bei der ein Werk geschaffen wird, sei sinnvoll, weil in ihr Echtheit und Wahrhaftigkeit ist. Bei der eigentlichen technischen Aufgabe, dort wo es um die Sache geht, ist nur die redliche Auseinandersetzung

mit dem Problem möglich. Der Einwand ist naheliegend, es liege in der Schlußfolgerung, hier sei darum Sinnfülle, ein Selbstbetrug. Indem er sich in sein Fachproblem vertieft, sei dem Ingenieur zwar das bedrückende Gefühl der Sinnlosigkeit genommen, aber nur weil er zu sehr absorbiert sei. Er vergesse ganz einfach, daß auch sein Tagwerk Teil eines sinnentleerten Treibens und deshalb ebenso sinnlos ist wie alles andere, so sehr es ihn als solches befriedigen mag. — Die Art, wie wir die Arbeit erfahren, steht aber dieser Deutung entgegen. Die mit Liebe und Hingabe verrichtete Arbeit ist kein Narkotikum. Wäre sie dies, so wüßten wir es und würden sie im Grunde unseres Herzens ebenfalls verfluchen.

Der Grund, warum in wahrhaftigem Tun und Denken immer Sinnfülle liegt, besteht darin, daß Wahrhaftigkeit etwas ist, wozu unter allen Geschöpfen nur der Mensch fähig ist. Als ein Wahrhaftiger erkennen, schaffen, helfen, kämpfen, sich opfern, dies ist seine Bestimmung. Dadurch ist er über alle anderen Geschöpfe hinausgehoben. Seine Bestimmung leben —und nur dieses —ist sinnvoll und wird deshalb auch als sinnvoll erlebt. Darum darf auch die Behauptung gewagt werden, die mit liebevoller Hingabe an die Sache getane Ingenieurarbeit trage Sinnfülle in sich.

Aber auch die Sinnlosigkeit erweist sich von diesem Gesichtspunkt aus erst als das, was sie ist. Sinnloses Tun ist nicht nur einfach überflüssig. Es ist nicht harmlos in der Weise, daß es zwar unterbleiben könnte, aber auch nichts schadet, wenn es getan wird. Einwilligung in die Sinnlosigkeit ist die Absage an unsere Bestimmung; sie ist Betrug und Selbstbetrug, ja wahrer Verrat. Daher auch der dämonische Charakter alles Sinnlosen.

Die sinnentleerte Geschäftigkeit, die tyrannisch auf uns eindringt und uns zu vereinnahmen sucht, kommt keineswegs in Vergessenheit, solange uns das interessante Fachproblem beschäftigt. Zugleich mit der menschenwürdigen und beglückenden Arbeit ist sie als der trostlose Hintergrund gegenwärtig. In dieser Spannung leben, sie ertragen und uns in ihr bewähren zu müssen, ist unser Schicksal. Es ist also keine Patentlösung gegeben, etwa so, daß man sagen könnte: Ich weiß mir selbst innerhalb meines engen Aufgabenkreises die Menschenwürde zu wahren, und alles übrige kann mich wenig

kümmern. Unsere Not ruft nach einer Lösung, die das Ganze ergreifen müßte. Wie aber soll diese gefunden werden?

Die Antwort auf diese Frage ist enthalten in der Aussage, durch die ich Ihnen meine Überzeugung zum Ausdruck brachte: Es fehlt die Gnade. Diese aber können wir nicht selber wirken. Da versagt alles Psychologisieren und erst recht alles Organisieren und Disponieren, und selbst ein noch so gut gemeinter simpler Moralismus wird sie nicht herbeizwingen können. Zwar verlangt sie gebieterisch unsere Bereitschaft, doch ist sie uns nicht verfügbar. Niemals dürfen wir uns vorstellen, sie werde uns eines schönen Morgens als ein Geschenk des Himmels in den Schoß gelegt werden. Sagen wir es offen heraus: Sie kann selbst in der Gestalt der Katastrophe einherkommen.

Mir will scheinen, es seien, wenn auch nur sporadisch, Zeichen der Bereitschaft der Menschen wahrzunehmen. Ich denke etwa an die spontan durchbrechende innere Haltung unseres Volkes während des ungarischen Aufstandes. Ich denke auch an eine bei erfreulich vielen unserer Zeitgenossen zu beobachtende typische Weise, anderen Menschen oder selbst Tieren, die in Not geraten sind, Hilfe zu bringen. Man spricht gelegentlich vom «Hirnherz» des modernen Menschen. Unser Handeln wird dabei geleitet von einer unsentimentalen, geradezu sachlichen Überlegung, etwa wie folgt: «Hier leiden Menschen. Hier leiden Tiere. Das Leiden anderer Lebewesen ist objektiv ebenso schlimm wie eines, das mich selber trifft, also muß geholfen werden.» Und nicht selten stellen wir unser verfeinertes Wissen und Können und unsere Fähigkeit, rationell zu disponieren, in den Dienst dieses Helfens. Daß solches auch gegenüber Tieren geschieht, mag man als aufs Ganze gesehen wenig wichtig betrachten. Aber wichtig oder nicht, es ist ein bedeutsames Symptom. Gerade bei der Hilfe an das Tier sind selbstsüchtige Nebenziele nicht im Spiel, denn selbst auf einen Dank können wir nicht hoffen, nimmt es doch nicht einmal wahr, daß ihm mit Absicht geholfen wurde. Der Mensch der Moderne, er der Haltlose, er der seelisch Verkümmerte, ist mit dieser Seite seines Wesens seinen in der Gehaltenheit durch geistige Werte lebenden Vorfahren weit überlegen. Hier bricht plötzlich eine großartige Echtheit hervor, die gerade darin sich zu erkennen gibt, daß jede metaphysische Begründung für diese Weise des Handelns fehlt. Hier steht

der moderne Mensch turmhoch über dem, der etwa keine Tiere tötet, weil er an Seelenwanderung glaubt. Hier kündet sich Fortschritt an.

Wir machten diesen kleinen Exkurs im Zusammenhang mit der Frage, ob da überhaupt Bereitschaft sei, so daß uns die Gnade erreichen könnte. — Für den Ungläubigen aber —und gerade er ist doch ein so repräsentativer Vertreter unserer Zeit — ist diese ganze Fragestellung völlig inhaltleer, denn die Gnade, das gibt es für ihn nicht. Worauf soll er seine Hoffnung setzen? — Ist er ehrlich, nimmt er die Dinge so, wie sie sich uns nun einmal präsentieren, sucht er das Faktum des Versagens des autonomen Menschen nicht wegzudiskutieren, so bleibt ihm — so will es mindestens dem Sprechenden scheinen — keine Hoffnung, die diesen Namen verdient. In dieser Hoffnungslosigkeit, in die er durch seine Ehrlichkeit geführt ist, steht er an der Schwelle des Glaubens.

Was wir Fortschritt nennen, ist noch kein Fortschritt. Es ist in vielen Teilen gut gewollt und wohl geraten. Als Ganzes aber wird es in den Händen des autonomen Menschen immer mehr Enthumanisierung und Dämonie. Nur Gott kann es zum Fortschritt wenden.