«Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes»*
Das Verhältnis des Menschen zu seiner eigenen Leiblichkeit ist
typisch und wegweisend für die Art, in der er dem Leben begegnet,
das zu bestehen ihm aufgegeben ist. Wir gehen dieser
Frage nach in den drei Bereichen, die das Fundament abendländischer
Existenz bilden: in Hellas, in Israel, in der neutestamentlichen
Gemeinde.
1.
Im griechischen Denken hat sich das Wort soma, «Körper», auf
einer ersten Linie so entwickelt, daß der Mensch seinen Körper
als etwas ihm Fremdes erfährt. Bei Homer bezeichnet das Wort
noch ausschließlich die Leiche, und kein einzelner Begriff umfaßt
noch die Gesamtheit des lebenden Menschen. Der Körper wird
also zuerst als ein Ding in der Außenwelt erlebt, über das man
gewissermaßen stolpert und das nie mein eigenes sein kann. Mindestens
seit dem 5. Jahrhundert kann auch, wie im Deutschen,
jedes leblose Objekt als «Körper» bezeichnet werden; doch bildet
das Griechische daneben nicht den Terminus «Leib», der nur dem
lebenden Menschen oder Tier zugehört. Schon vor Plato wird der
menschliche Körper als das Grab der Seele verstanden, ohne
Seele schlechter als Mist und ohne Beerdigungsfeierlichkeiten
wegzuwerfen. Hat Sophokles vom freien Sinn selbst im versklavten
Körper gesprochen, so wird Plato, vor allem in seiner
mittleren Periode, der begeisterte Sänger der ewigen, göttlichen
Seele, für die der Tod Freiheit bedeutet, weil der Körper sie fesselt
wie die Schale die Auster. Körperliche Gemeinschaft, folgert
der Komiker Alexis, ist bloße Lust; Ehe muß also seelische Gemeinschaft
werden. Wird solches Denken auch durch Aristoteles
und die Stoa überdeckt, so lebt es doch weiter, etwa bei Bion, und
flammt zur Zeit des Neuen Testaments wieder auf. So tauchen
bei Plutarch die alten Sätze vom Körper als dem Mühlenhaus der
Seele, in dem die Sklaven ihre Strafarbeit ableisten, wieder auf,
und dem Mann wird geraten, über seine Frau zu herrschen, wie
die Seele über den Leib herrscht, indem sie zwar für ihn sorgt,
aber seinen Lüsten nicht verfällt. Nur unterscheidet Plutarch von
der Seele, die dem Leib immer mehr oder weniger verfallen ist,
noch die Denkkraft, die als daimon hoch über ihm schwebend,
den Körper transzendiert.
Auf einer zweiten Linie entdeckt der Mensch sich selbst als
Individualität. Der Körper wird hier als der von der Seele durchwaltete
und so gestaltete erfahren. Spätestens seit Euripides kann
das Wort soma, Körper, auch die ganze Person bedeuten, so daß
es selbst für das Reflexivpronomen eintritt und schließlich zum
bloßen Zählbegriff absinkt. Doch kann auch die individuelle Gestalt
als das Entscheidende erscheinen, so daß man schließlich
vom «Körper» eines Sternbilds sprechen kann. Typisch für diese
Linie ist Aristoteles. Da für ihn jeder Körper durch Stoff und
Form bestimmt ist, ist die Seele als sein telos, sein Wozu zu bestimmen,
als die Entelechie, die erst aus formloser Masse ein
bestimmtes Etwas macht. Seele ist demnach das dem Körper
übergeordnete Gestaltungsprinzip, weder vor noch nach ihm
lebend. Die Stoa zieht daraus die Konsequenz, auch die Seele
körperlich zu denken, freilich als feinste Substanz, die alles durchdringt
wie Feuer rotglühendes Eisen.
Auf einer dritten Linie tritt der Körper als in sich geschlossener,
vollkommener Organismus in den Mittelpunkt des Interesses.
Seit Demokrits berühmtem Wort vom Menschen als dem
kleinen Kosmos, seit Platos, vielleicht von Thales beeinflußtem,
Satz vom Kosmos als einem beseelten, von göttlicher Vernunft
durchwalteten Lebewesen bricht dieses Thema nicht mehr ab.
Ist schon für Plato der Kosmos Abbild Gottes, Einziggeborener,
ja sichtbar gewordener Gott, so bekommt die Sicht des Kosmos
als eines wohlgegliederten göttlichen Leibes ergreifende religiöse
Tiefe im Zeushymnus des Kleanthes, in den orphischen Fragmenten,
einem unsicheren, aber jedenfalls vorchristlich bezeugten
Aischylosfragment, bei Plutarch. Daß Kosmos und Gott eines
sind, ist so verbreitet, daß es selbst ins griechische Alte Testament
eindringt und daß Philo um die Zeitwende den göttlichen
Logos als Haupt des Weltleibes bezeichnen kann. Ähnliches gilt
von der Betrachtung des Staates. Ist die vollkommene Gliederung
des Leibes für Plato noch bloßes Bild für den Staat, so folgert
doch schon Aristoteles daraus die Priorität des Staates vor dem
Einzelnen. Plutarch redet von den Galliern als einem starken
Leib, der ein Haupt suche, während Seneca auf lateinischem
Sprachgebiet zur Zeit des Neuen Testaments den Staat geradezu
als Leib des Kaisers, diesen als Haupt oder Seele des Imperiums
bezeichnen kann. Doch gilt dies auch für den allgemeinen Sprachgebrauch.
Hat schon Plato festgestellt, einheitliche Komposition
sei das für den Leib Charakteristische, so daß eine wohlgegliederte
Rede ihm gleichen müsse, so erklären die Stoiker, daß Heer oder
Volk oder ekklesia —für den Stoiker die staatliche, für den Christen
wenig später die christliche Gemeinde —einen einzigen Leib
bildeten, obwohl sie aus vielen Einzelleibern bestünden. Der Mythos
vom zerstückelten und wieder zusammengefügten Dionysos kann
daher auf den Wein ausgedeutet werden, der aus vielen Früchten
zu einem Leibe zusammenfließt. Der Dichter muß seinen Stoff zu
einem Leib gestalten, und der zerrissene Peloponnes soll wieder
zu einem Leibe werden. Ja, vom «Leibe» eines Schriftstücks
können Vorwort und Unterschrift unterschieden werden.
So kann der griechische Mensch um die Zeitwende herum sich
selbst finden 1. in seinem innersten göttlichen Kern, für den der
Körper nur Gefängnis, bestenfalls Anreiz zu höherem Streben ist,
2. in seiner Individualität, in der er sich vervollkommnet als ein
Künstler, der die Masse zur perfekten Form gestaltet, 3. in seiner
naturhaften Verwandtschaft mit dem großen Leib des Kosmos
oder des Staates, der letztlich mit Gott identisch ist.
2.
Der Mensch des Alten Testamentes denkt natürlich nicht vollkommen
anders. Sonst wäre ja ein Gespräch zwischen Menschen
verschiedener Kulturen unmöglich. Doch finden sich entscheidende
Unterschiede. Sie sind darin zusammengefaßt, daß der
Hebräer überhaupt kein Wort für «Körper» zur Verfügung hat.
Ware die Erzählung von der Erschaffung des Menschen aus einem
Lehmkloß, dem Gott die Seele einhaucht, auf jener ersten Linie
griechischen Denkens durchaus denkbar, so doch kaum ihr
Schlußsatz: «So wurde der Mensch zur lebendigen Seele.» Hier
hat der Mensch keine Seele, er ist Seele, und zwar gerade in Fleisch
und Blut. Er kann sich unter verschiedenen Aspekten betrachten.
Er kann sagen: «Ich bin begrenzt, vom Tode bedroht, ich bin
,Fleisch'.» Oder er kann sagen: «Ich bin lebendig, zu Aufgaben
gerufen, für noch ungeahnte Möglichkeiten der Zukunft offen, ich
bin ,Seele'.» Aber immer ist er als Ganzer dabei. Er kann sich
nicht aus seinem Körper in seine Seele zurückziehen. Er muß die
Doppelheit von Vergänglichkeit und Lebendigkeit ungemildert
aushalten. Er muß es, weil er weiß, daß der Mensch überhaupt
nie für sich allein betrachtet und analysiert werden kann, ist er
doch immer Mensch vor Gott und daher auch Mensch mit dem
Mitmenschen zusammen. Daher ist nicht nur in der primitiven
Erzählung von 1.Mose 2, sondern auch in späten Stellen der
Psalmen (104, 29) und des hob (27, 3; 34, 14f.) daran festgehalten,
daß die Seele Gottes eigener Atem ist und bleibt und daher
aus dem Menschen entweicht, sobald Gott seinen Atem wieder
einzieht. So ist die Vorstellung von einer den Tod überlebenden
Seele ausgeschlossen. Es macht geradezu die Einzigartigkeit
Israels allen andern Religionen gegenüber aus, daß es seinen
Glauben und seinen Gehorsam ausgehalten hat ohne die Vorstellung
eines Lebens nach dem Tod. Wenn in späten Stellen am
Rande des Alten Testaments die Gewißheit wächst, daß Gott
selbst über den Tod hinaus Herr des Menschen bleibt und ihn zu
sich erweckt, dann ist doch die Kontinuität weder im Leib noch
in der Seele des Menschen gegeben, sondern allein in der unbegreiflichen
Treue Gottes. So ist der Tod hier ganz radikal verstanden
als Ende von Seele und Leib, noch radikaler aber Gottes
Ja zum Menschen, das ihn als Ich vor Gott nicht vernichtet werden
läßt, also die Auferweckung von griechisch gesprochen —
Leib und Seele.
Auf der zweiten Linie ist festzustellen, daß der alttestamentliche
Mensch auch die ihn von anderen unterscheidende individuelle
Gestalt nicht für wichtig hält. Freilich gibt es Einzelgestalten
wie Abraham, der in ein unbekanntes Land wandert,
wie Mose, dem Gott im feurigen Busch begegnet und ihn, all
seinen Widerständen entgegen, in eine Führerschaft hineinzwingt,
wie Amos, der von der Herde weg zum Propheten berufen
wird. Aber immer beruht solches Herausgenommensein auf dem
Ruf Gottes, der nie in der Individualität des Menschen gründet.
Einzig von Saul heißt es, er habe jedermann um eines Hauptes
Länge überragt (1.Sam. 9, 2), und gerade seine Wahl hat sich
als unheilvoll erwiesen. Vor allem aber bleibt der Herausgerufene
in einem solchen Maße Repräsentant seines Volkes, daß in jüdischen
Schriften zur Zeit des Neuen Testamentes oft überhaupt
nicht mehr unterschieden werden kann, ob vom Einzelnen oder
vom Volk die Rede ist. Ganz Israel gerät an den Rand des Abgrunds,
weil Achan gefrevelt hat, verfällt der Pest, weil sein
König gesündigt hat, wird gerettet, weil er sich bekehrt, so daß
im ersten Jahrhundert vor Christus sogar gesagt werden kann,
Gottes segnende Hände ruhten durch die Jahrhunderte hindurch
auf dem Scheitel Jakobs. Wenn Gott einen Menschen herausruft
aus dem Volk, dann immer für dieses Volk. Daran hat Israel im
babylonischen Exil gelernt, daß seine eigene Erwählung nur als
Erwählung für die ganze Menschheit verstanden werden kann.
Das macht bis heute die unvergleichliche Kraft des zweiten
Jesaja aus.
Auf der dritten Linie endlich wird sichtbar, daß der alttestamentliche
Mensch weder sieh selbst noch seine Welt als etwas
ansehen kann, das in sich selbst betrachtet einen Sinn hatte,
geschweige denn einen abgerundeten, vollkommenen Organismus
darstellte. Die herrlichsten Naturschilderungen wie im 104. Psalm
berichten doch nur von dem Geschehen, das Gottes Walten abbildet,
von den Bergen, die sich auftürmen, um den Gemsen
Zuflucht zu geben, den Walfischen, die Gott geschaffen hat, damit
sie im Meer spielen können, der Erde, die erbebt, wenn Gott sie
nur anschaut. Und wo der Mensch sich selbst zum Gegenstand
der Betrachtung wird, kann er nur feststellen: «Ich danke Dir
dafür, daß ich wunderbar erschaffen bin; wunderbar sind Deine
Werke, das erkennt meine Seele wohl» (Ps. 139, 14).
So versteht sich der Mensch hier in radikalem Sinn als Menschen
vor Gott. Gott ist sein Leben und Gott ist sein Tod. Er hat
nicht einmal ein Wort für seinen Körper. Denn erstens unterscheidet
er ihn nicht von der Seele. Nicht in seinem Inneren, nur
außerhalb seiner, in Gott, findet er sein Leben für die 70, 80 Jahre
seines Lebens und — am Rande des Alten Testaments —auch darüber
hinaus. Was ihn, zweitens, von andern unterscheidet, ist
höchstens Gottes souveräner Ruf; aber gerade der stellt ihn in
ausgezeichnetem Sinn in ein Leben für alle hinein, das mit allen
andern zusammen gelebt wird. Er ist nicht «Leib», abgegrenzt
vom Leib des andern; er ist «Fleisch», mit allen andern zusammen.
So kann er, drittens, die Einheit seiner selbst auch nicht im
Gedanken des in sich geschlossenen Organismus finden, sondern
nur als das sichtbar gewordene Wirken Gottes. Daß in Israel nicht
wie in Griechenland die objektivierende Naturwissenschaft und
Medizin, sondern die Sprache als das Miteinander und Zueinander
des Ich und des Du, das Recht als die Ordnung dieses Miteinander
von Gott und Mensch oder Mensch und Mitmensch, vor allem
aber die Geschichte als das Nachdenken über Gottes Walten und
das Miteinander der Menschen und Völker entwickelt wurde, ist
einsichtig. Für das Alte Testament ist der Mensch, was er ist,
nicht in seinem Wesen, sondern in seiner Relation zu Gott und
Mitmensch.
3.
Das Neue Testament ist ein von Israeliten geschriebenes griechisches
Buch. Wie sehr es auf dem Boden des Alten Testamentes
lebt, zeigt sich schon darin, daß das Wort «Leib» nur auf einer
einzigen, dann freilich überaus wichtigen Linie eine Rolle spielt.
Nie wird der Leib degradiert, etwa zugunsten der Seele. Nie wird
er aber auch vergöttert oder in seinem vollkommenen Organismus
als sichtbar gewordener Gott verstanden.
Außerhalb der Paulusbriefe spielt das Wort überhaupt nur in
den Abendmahlsworten eine Rolle. Paulus, der sie etwa im Jahr 52
zitiert, läßt noch die gar nicht parallele Urform erkennen: «Dies
ist mein Leib —dies ist der neue Bund in meinem Blute.» Er hat
auch die kleine Notiz bewahrt, daß der Kelch erst nach dem Mahl
gereicht wurde, also durch eine ganze Mahlzeit vom Austeilen des
Brotes getrennt. Die beiden Worte standen also ursprünglich
gesondert und sind auch gesondert zu interpretieren. Sonst müßte
nicht vom «Leib», sondern vom «Fleisch» die Rede sein, das ausnahmslos
der Komplementbegriff zu «Blut» ist. Anders als im
Hebräischen hat es im Aramäischen Jesu ein Wort für «Leib»
gegeben, das zugleich das Selbst, das Ich, die Person bezeichnete.
So hat die älteste Form der Abendmahlsworte wohl das Brot als
das Pfand der dauernden Gegenwart des Herrn, den Kelch als das
Pfand des im Tode Jesu neu geschlossenen Bundes Gottes mit
den Menschen verstanden. Bald aber ist aus praktischen Gründen
die gemeinsame Mahlzeit vorweggenommen worden, so daß die
zwei Worte bei der Austeilung von Brot und Wein nachher nahe
zusammenrückten. So sind sie auch sprachlich immer mehr einander
angeglichen worden, bis sie Markus, etwa fünfzehn Jahre
nach Paulus, in der stark parallelisierten Form zitiert: «Dies ist
mein Leib — dies ist mein Blut des Bundes, vergossen für viele.»
Zum erstenmal in der Sprachgeschichte rückt damit das Wort
«Leib» direkt neben das Wort «Blut» und wird damit —wofür es
auch im Griechischen einige wenige Ansätze gibt —als das verstanden,
was Jesus für die Menschen hingegeben hat. Sonntag
für Sonntag in der Stunde, die den Höhepunkt seines Lebens ausmacht,
hört jetzt der Christ diese beiden Sätze nebeneinander
und assoziiert darum mit dem Wort «Leib» nicht mehr die Vorstellung
einer in sich abgeschlossenen Person, eines gegliederten
Organismus, sondern die der Hingabe: «mein Leib — mein Blut,
gegeben für viele». So lernt der Christ am Handeln seines Herrn
den Leib als das Mittel des Dienstes an vielen verstehen. Der Leib
wird für ihn in erster Linie zur Möglichkeit der dienenden Begegnung
mit Gott und seinen Mitmenschen. In eigentümlicher
Weise hat sich also die Erkenntnis des Alten Testaments, daß der
Mensch, was er ist, weder in seinem göttlichen Kern noch in
seiner Individualität noch in seiner Einfügung in einen vollkommenen
kosmischen Organismus ist, sondern in seinem Verhältnis
zu Gott und Mitmensch, gerade in dem dort fehlenden
Wort «Leib» durchgehalten. Aber dieses 'Wort bringt zugleich
die Frucht jahrhundertelangen griechischen Denkens mit sich
und führt damit zu ganz neuen, noch ungeahnten Einsichten.
Wo die Weiche für das Denken mindestens der nächsten zwei
Jahrtausende gestellt wurde, läßt sich noch deutlich nachweisen.
Klammert man den rein technischen Gebrauch von soma für
«Leiche» oder «Sklave» aus, so findet sich das Wort in den paulinischen
Schriften, die nur einen Fünftel des Neuen Testaments
ausmachen, 91mal, in allen andern nur 33mal. Aber noch weit
interessanter ist ein zweites. Lassen wir einmal die in ihrer Echtheit
umstrittenen Briefe an die Kolosser und Epheser, die auf
alle Fälle ein späteres Stadium darstellen, beiseite, dann finden
wir in den beiden Korintherbriefen und in dem ebenfalls in Korinth
geschriebenen Römerbrief 69 Stellen, in allen andern nur
5. Korinth ist also der Tiegel, in dem sich das paulinische Verständnis
des Leibes formte. Hier begegnete dem Apostel nämlich
ein extrem hellenistisches Christentum. Hier wurden Taufe und
Abendmahl als Sakramente verstanden, die göttliches Leben verliehen.
So war keine Auferstehung mehr nötig; der Tod war nur
die Befreiung der schon vergotteten Seele. Ekstatische Zungenrede
war höchste Gottesgabe. Dem Leib war alles erlaubt, der
Umgang mit der Dirne wie die Brüskierung des schwächeren Bruders.
Solcher Theologie entgegen hat Paulus mit letzter Radikalität
gerade den Leib verteidigt als den Ort, an dem der Glaube
gelebt werden muß. Schuldig an Leib und Blut des Herrn, die
doch auch für den Bruder hingegeben wurden, wird man beim
Abendmahl durch die Mißachtung des Mitmenschen, nicht etwa,
wie die Stelle oft mißverstanden wird, durch mangelnde Verehrung
des Sakramentes. Darum taucht das Stichwort «Leib»
auch überall dort auf, wo Paulus von der Aussageform, also von
der Verkündigung der Gnade Gottes, in die Befehlsform, also zur
Aufforderung zum Leben des Glaubens, übergeht: «Auf Grund
der Barmherzigkeit Gottes rufe ich euch auf, eure Leiber Gott als
lebendiges Opfer darzubieten» (Röm. 12, 1). «Teuer seid ihr erkauft,
verherrlicht also Gott an eurem Leibe» (1. Kor. 6, 20). Erst
in seiner Leiblichkeit, in der es einen fruchtbaren Austausch mit
Gott und Mitmenschen gibt, erreicht der Mensch die Ganzheit
seiner Person. Darum liegt Paulus auch so viel an der Auferstehung
des Leibes, den er deutlich unterscheidet vom Fleisch, das
zugrunde geht. Da der Mensch erst voll Mensch wird im Gegenüber
zu Gott, liegt über seinem Leben auch eine unerhörte Hoffnung.
Freilich wurzelt diese Hoffnung nicht in seinem der Krankheit
und dem Tod unterworfenen Fleisch, auch nicht in seiner von
Ängsten und Versuchungen bedrohten Seele, wohl aber in der
Wirklichkeit Gottes. Das Ja Gottes zum Menschen als Leib gewordener
Person, das ihn als ein Du neben dem Ich Gottes leben
läßt, ist stärker als der Tod. Das heißt Auferstehung des Leibes.
Aber in noch ganz anderer Weise wird der Begriff «Leib» jetzt
zukunftsträchtig. Schon vor Paulus hat die Gemeinde in Bildern
auszudrücken versucht, daß sie ihr ganzes Leben Jesus verdankte.
So bezog sie das alttestamentliche Bild von Israel als dem Weinstock
Gottes auf Jesus als den einzig wahren Weinstock, an dem
die Glaubenden nur teilhaben als die Zweige am Stamm der Rebe.
Oder sie sprach von Jesus als dem neuen Adam, in dem die Gemeinde
als eine neue Menschheit das Leben finde. Ist für Paulus
nun der Leib Christi in erster Linie der für die Welt hingegebene
Leib, dann kann er sagen, daß der Mensch sein Leben in diesem
Leibe Christi finde. Das braucht noch nicht mehr zu bedeuten,
als wenn ein Jude erklärt, im Leibe Abrahams seien schon die
kommenden Generationen Israels gesegnet worden. Aber hier
werden nun die Jahrhunderte griechischer Denkarbeit fruchtbar.
Nicht nur liegt für Paulus die Vorstellung bereit, daß die ganze
Welt der Leib Gottes sei, dem alle Kraft und Leitung von seiner
göttlichen Seele oder seinem göttlichen Haupte zufließe. Es liegt
außerdem ein weitverbreiteter Sprachgebrauch vor, nach dem
«Leib» auch die vollkommene Einheit einer Gruppe, zum Beispiel
der Gemeinde, bedeutet. Von all diesen Voraussetzungen her
kommt Paulus zur Beschreibung der Gemeinde als des «Leibes
Christi». Sie ist ja die Schar derer, die ihr ganzes Leben Christus
verdanken, genauer: dem für sie hingegebenen Leib Christi, der
mit seinem Segen und mit seiner Forderung der Nachfolge noch
immer über ihrem Leben steht. Er ist gewissermaßen der «Raum»,
in dem sich ihr Leben jetzt als ein freies und verantwortliches
abspielt. Was das bedeutet, das sagt Paulus in den schon längst
bereitliegenden Aussagen vom Leib als dem göttlichen Organismus.
Die Rede vorn Leib Christi ist zuerst und vor allem Aufruf
an die Gemeinde, in solcher Einheit zu leben, also zu erkennen,
daß jedem Glied seine besondere Gabe zum Wohl des ganzen
Leibes gegeben ist, daß keines sich minderwertig fühlen oder sich
über das andere erheben kann. Denn wie im menschlichen Leib,
so sind auch in der Gemeinde oft die gar nicht spektakulären, unscheinbarsten
Dienste die wichtigsten.
Aber die Entwicklung muß ja weitergehen. Ist der Leib in der
neutestamentlichen Gemeinde in der Nachfolge Jesu einmal als
das Mittel des Dienens für andere verstanden, dann kann die Gemeinde
nicht bei der Betrachtung ihrer selbst und ihres harmonischen
Zusammenlebens stehenbleiben. Dann muß sie verstehen,
daß sie als der Leib Christi eben die Schar ist, in der Christus
der Welt dienen will. Der, der in seinem ganzen irdischen Leben
mit seinem Leib nicht groß werden, sondern allen dienen, ihn
nicht verherrlichen, sondern für alle hingeben wollte, der kann
auch die Gemeinde als seinen Leib nicht dazu in die Welt schicken,
daß sie selbst groß und herrlich werde, sondern daß sie dieser
Welt diene und sich für sie hingebe. Dieses Stadium ist im Kolosser-
und im Epheserbrief erreicht, wiederum in höchst interessanter
Auseinandersetzung mit einem Mißverständnis, das von
einer einseitigen Betonung der hellenistischen Wurzeln des Bildes
herrührte.
4.
Damit könnte ich schließen. Ein erstes Mal ist die Wahrheit,
daß ein konsequent durchgedachter Irrtum wie der in Korinth
für die Entwicklung der Kirche fruchtbarer wurde als alle Wiederholung
orthodoxer Richtigkeiten, geschichtliche Wirklichkeit
geworden, allerdings in der ebenso konsequenten Antwort eines
scharfen theologischen Denkers, wie es Paulus war. In ihm hat die
lange Geschichte des Nachdenkens über die Leiblichkeit des Menschen
ein vorläufiges Ziel gefunden, das für kommende Jahrhunderte
äußerst fruchtbare Ackererde darbot. Soll sich aber der
Wissenschaftler nicht dem Vorwurf aussetzen, daß er sich in die
Geborgenheit früherer Jahrhunderte verkrieche, um den Forderungen
seiner Zeit zu entgehen, muß er wenigstens thesenartig
zum Schluß noch andeuten, wie er persönlich etwa die Bedeutung
seiner Ergebnisse sieht. Sie werden dabei von mir keine Feld-,
Wald- und Wiesentheologie erwarten, die nur wiederholt, was
jedermann sowieso schon sagt, die zwar «Gott» sagt, aber nur
den guten Menschen meint, wobei dann gewöhnlich der jeweilige
Zeitgeschmack bestimmt, was das bedeutet. Ich meine allerdings
Gott, und meine darum erstens, daß aus dem Evangelium lebender
Glaube die Brunnstube ist, aus der nicht nur dem Abendland,
sondern der Welt überhaupt das befruchtende Wasser zuströmt,
von dem abgeschnitten sie schließlich zum Tod verurteilt wäre.
Aber ich kann als Neutestamentler nicht vergessen, daß der erste
Glaubende unter dem Kreuz Jesu kein Jünger war, sondern der
heidnische Offizier, der die Exekution leitete; einer von denen,
die keine Angst haben vor den militärischen und politischen Aufgaben,
bei denen man seine Hände nicht immer rein behalten
kann (Mark. 15, 39). Ich kann ebenso wenig das Gleichnis Jesu
vom letzten Gericht vergessen, nach dem die wahren Jünger jene
sind, die den Hungernden, Frierenden, Gefangenen den Liebesdienst
taten, ohne zu wissen, daß in ihnen Jesus selbst zu ihnen
kam, während die Verworfenen meinen, sie hätten sich nichts
zuschulden kommen lassen in ihren religiösen Pflichten (Matth. 25,
31-46). In der Rede vom Leibe Christi geht Paulus einmal so weit,
daß er erklärt, dem einen sei der Glaube als besondere Gnadengabe
geschenkt, dem andern die starke Tat (1. Kor. 12, 9f.).
Natürlich spricht Paulus hier nur von der christlichen Gemeinde.
Dennoch wäre darüber nachzudenken, was es heißt, daß dem
einen besonders gegeben ist, immer wieder an der Quelle zu
schöpfen, dem andern, die Taten der Liebe und der Kraft zu
üben, die daraus wachsen. Warum sollte die Kirche sich nicht
freuen, daß zum Beispiel Spitäler von einem in wirklicher Verantwortung
handelnden Staat in ganz anderem Ausmaß gebaut
und unterhalten werden können, als sie das je könnte? Und warum
sollte sich dieser nicht freuen, daß es in diesen Spitälern ein paar
Schwestern gibt, die wirklich um Gottes willen ihren Dienst tun
und aus der Tiefe ihres Glaubens heraus Menschen trösten und
begleiten?
Neutestamentliche Lehre bewahrt zweitens vor Verachtung
wie vor Vergötterung des Leibes, also vor der Flucht in eine reine
Spiritualität wie vor einem Ästhetizismus, der über seinem Idealbild
den realen Menschen vergißt. Sie öffnet uns also für die leibliche
Wirklichkeit unserer Mitmenschen, auch für die unschöne,
verkrüppelte, schwer zu ertragende Leiblichkeit. Sie erinnert zugleich
daran, daß der Mensch nie losgelöstes Individuum ist,
sondern stets innerhalb einer größeren Körperschaft lebt.
Wir brauchen daher, drittens, in der evangelischen Kirche
eine neue Theologie vom guten Werk, in der wir uns heute mit
einer aufgeschlossenen römisch-katholischen Theologie treffen
würden. Es müßte darin sehr deutlich werden, daß kein gutes
Werk vor Gott einen Anspruch begründet, weil es immer nur aus
seinem Erbarmen fließt. Aber es müßte ebenso deutlich werden,
daß wir uns unter keinen Umständen aus dem Leiblichen in das
Nichtleibliche flüchten dürfen, also aus einem konkret in der
Leiblichkeit menschlichen Lebens gelebten Glauben in intellektuelle
Akrobatik, die nur allerlei für wahr hält, oder in eine Gefühlswelt
innerer Erlebnisse.
Viertens müßte die Gemeinde Jesu lernen, so als der Leib
Christi zu leben, daß sie zu einem Modell für alles mitmenschliche
Zusammenleben, zum Beispiel auch in der Gemeinschaft einer
Universität, wird. Sie müßte dann freilich aufgeben, ihre eigene
Größe und Herrlichkeit zu suchen. Sie müßte die Echtheit ihres
Willens zum Dienst als das Wichtigste ansehen, das es zu lernen
gilt. Was könnte es bedeuten, wenn eine solche Gemeinde immer
wieder Menschen in die politischen Gremien, in die staatlichen
Behörden, in die Studentenorganisationen und Dozentenschar
einer Universität entsendete! Menschen, die am Modell der
Jüngerschar Jesu gelernt hätten, daß wir nur gefragt sind, wieviel
wir gedient, nicht wieviel Ruhm wir erreicht, wie gut wir
den Menschen neben uns gesehen, nicht wie gut wir uns durchgesetzt,
mit welcher Treue, nicht mit welchem Glanz und welchen
Auszeichnungen wir unsere Arbeit getan haben. Das Modell
einer solchen Gemeinde brächte Männer hervor, die den Mut und
die Kraft hätten, gegen das Absinken der Universität zu einer
bloßen Lehranstalt mit Mammutklassen ohne zwischenmenschliche
Beziehungen anzukämpfen und dabei das Wohl der andern
über individuellen Erfolg zu stellen.
Solches Verständnis der Leiblichkeit des Menschen als der ihm
von Gott gegebenen und vor ihm zu verantwortenden macht
endlich frei, weltoffen, nüchtern und humorvoll. Denn es ist gut
für den Menschen, wenn weder sein Können noch sein Versagen,
weder die Möglichkeiten noch die Grenzen seiner Leiblichkeit das
Letzte sind, sondern Gottes Ja zu beidem, das als Hoffnung über
ihm und seiner Welt steht, stärker und mächtiger als der Tod.