Ueber das Zufällige, mit Bezug auf einige Zeiterscheinungen.

Eine Rectoratsrede.

Es ist ein bekannter Gegenstand der Verwunderung, wie aus den dem Wesen nach gleichen Bestandtheilen eines menschlichen Antlitzes die zahllosen Physiognomien sich bilden. Wenigstens ebenso wunderbar ist es, wie in zusammenlebenden Menschen aus wesentlich gleichen Wahrnehmungen und Begriffen doch für Jeden eine eigenthümliche innere Welt erwächst. Und wenn man bedenkt, dass, wie jeder Einzelne, so auch jede Genossenschaft, Geschlecht, Stamm, Volk, Zeitalter, Stand, oder wie sie sich sonst nennen mag, ihrerseits besondere Gestaltungen und Färbungen der Gedanken hervortreibt, so erscheint auch hier der Reichthum der wirklichen Erscheinungen in einer überwältigenden Fülle. In jedem Gedankenganzen nun giebt es Punkte des Anstosses. Da entstehen Wirbel im Strom, — von entgegengesetzten Seiten treffen Grundsätze und Erfahrungen zusammen; es ist, als müssten sich bleibende Stockungen und Widersprüche bilden, aber statt dessen entsteht eine neue Vorstellung als provisorischer Abschluss und die Gedankenbewegung geht beruhigt weiter. Jeder Mensch hat in seiner individuellen Gedankenwelt solche Knoten, aber auch die Zeitalter, die Lehrsysteme der Schulen, auch das allgemeine Gedankensystem der Menschheit hat solche Anstösse. Diese letzteren gehen natürlich durch alle Zeiten und Bildungsstufen

hindurch, sonderbare Begriffsbildungen, die so nothwendig erscheinen, dass Jeder sie in sich selbst reproducirt. Und doch wirbelt immer auf's Neue und heute wie vor Jahrtausenden das Denken an ihnen widerstrebend auf, als möchte es dieselben auflösen und in Fluss bringen oder gänzlich umgehen. Aber weder das Eine noch das Andere gelingt.

Es ist klar, dass an diesen Punkten Probleme ganz besonderer Art sich dem menschlichen Bewusstsein aufdrängen. Wenn auch deren Lösung in gewissem Sinn unmöglich wäre, das Verständniss des Problems ist doch allmählich zu gewinnen, und auch das ist schon des gesammelten Nachdenkens werth. Ich bitte Sie, mir zu erlauben, dass ich Sie in dieser Stunde an der Betrachtung eines solchen Begriffes festhalte, eines Begriffes, an dem gewiss schon Jeder in dieser Versammlung die Erfahrung gemacht hat, die ich oben andeutete.

Es ist der Begriff des Zufälligen. Jeder unter uns bedient sich desselben dann und wann, ich meine nicht nur, des Wortes in seiner Rede, sondern wirklich auch des Begriffes in seinen Urtheilen. . Gleichwohl ist auch Niemand unter uns, der nicht wüsste, dass dieser Begriff anrüchig ist, vielleicht Niemand, der ihn nicht irgendwie selbst für verwerflich, falsch, unbrauchbar hielte. Und so wie wir jetzt, so gebrauchten und beurtheilten ihn die Menschen schon vor Jahrtausenden. Das ist ein merkwürdiges Phänomen in dem allgemeinen menschlichen Gedankengewebe und würde eine umfassende und eindringende Untersuchung verdienen.

Zu einer solchen darf ich mich hier selbstverständlich nicht anheischig machen. Nur einige fragmentarische Andeutungen möchte ich Ihnen anbieten. Ich bin wir des Misslichen solcher Begriffserörterungen in wenig strenger Form und in gemessener Zeit wohl bewusst, aber einflussreiche wissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahre,

die ich später berühren will, drängen diesen Begriff dem allgemeinen Nachdenken auf; so darf ich mir denn wohl für diese Betrachtung mit besonderem Nachdruck Ihre wohlwollende Aufmerksamkeit erbitten.

Nur Einer unter den grossen Forschern des Alterthums hat diesem Begriff etwas abzugewinnen vermocht, das ist Aristoteles; denn was Epikur gelehrt hat, zeigt nur, dass er das gegebene Problem wahrnahm und gegen dessen Leugner behauptete. Von einer Vertiefung der Erfahrung und vollends von einem Verständniss des Gegebenen entfernt er sich seiner Grundrichtung nach beständig, während er sich ihm zu nähern meint. Aber es kann immerhin ein Verdienst heissen, dass er die Wirklichkeit eines gegebenen Räthsels nachdrücklich behauptet; er bemüht sich sogar, sie zu beweisen, indem das Dasein des zufälligen Geschehens in dem der Willkür vorliege. Seinen Anhängern späterer Zeit hat er mit diesem Gedanken ein Erbstück hinterlassen, das nur selten in Besitz genommen wurde. Eher wurde mit dem Zufall auch die Willkür beseitigt. Aristoteles nun nimmt die Untersuchung so auf, wie seine reiche Sprache sie ihm anregt. Sie giebt ihm mehrere Wörter an die Hand, die zum Theil das Nachdenken auf verschiedene Wege leiten. Auf einen Punkt aber legt er besonderes Gewicht, der ganz geeignet ist, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Es ist dies der Zusammenhang zwischen diesem allgemeinen Gedanken des menschlichen Bewusstseins und dem von ihm, dem Aristoteles, selbst in der Wissenschaft von der gegebenen Wirklichkeit so vielfach zur Anwendung gebrachten Begriff der Zweckursache. Indem er seine Untersuchung mit der Nachweisung beginnt, dass wir uns bewusst sind, wo wir das Prädicat des Zufalls anwenden, ein allgemein verständliches Urtheil auszusprechen, deckt er dann den Zusammenhang auf, in dem dieses Urtheil mit der Bezugnahme auf Zwecke, also mit der teleologischen Betrachtung

der Dinge steht. Von hier aus erscheint nun die Polemik der neueren Zeit gegen jegliches Zulassen der Zufallsvorstellung in einem besonderen Licht. Sie steht nämlich in Zusammenhang mit der Polemik gegen den Aristotelismus, insbesondere gegen dessen Lehre von den Zweckursachen. So ist hier der Kampf gegen eine uralte Vorstellung des allgemeinen Denkens verschmolzen mit dem Kampfe gegen einen Gedanken, der in seinem wissenschaftlichen Ausdruck der philosophischen Arbeit der Sokratischen Schulen angehört. Man bestreitet jene, als dem Vorurtheil des gemeinen Lebens entsprungen und durch die wissenschaftliche Forschung zu beseitigen, diesen letzteren umgekehrt als einen Gedanken, der aus dem idealisirenden Vorurtheil der philosophischen Denkart herstammt und durch die allgemeingültige Arbeit des nüchternen Verstandes wieder auszutilgen ist. Es entspricht das der Stellung, welche in unseren Tagen manche Männer der wissenschaftlichen Zunft dem Leben und der Philosophie gegenüber einnehmen. Mit den alten Vorurtheilen des Lebens sollen jetzt auch die Wahnbilder der philosophischen Denkart, die nur die letzte Form der alten unbewussten Poesie ist, zergehen und aufhören, mit der unwissenschaftlichen Theologie der Meinung auch die wissenschaftliche der Metaphysik.

Aber vielleicht möchte mir hier Jemand in's Wort fallen: "Wie? Das Bestreiten jeglicher Zufälligkeit soll mit dem Streit gegen theologische Begriffe zusammenhängen? Vielmehr das Gegentheil! Schon die Frömmigkeit, vollends aber die wissenschaftliche Theologie zwingt uns ja, von vorn herein in der Welt für nichts Zufälliges eine Stätte zuzulassen."

Wenn eine solche Einrede wirklich gemacht wird, so ist sie ein Beweis dafür, dass neben der besonderen Form der Polemik gegen das Zufällige, wie sie uns aus der Wissenschaft der letzten Jahrhunderte stammt, jene alten berechtigten Bedenken der Menschheit

einhergehen, deren ich schon früher Erwähnung that, nur dass diese sich ihres Unterschiedes von jenen wissenschaftlichen Streitsätzen schärfer bewusst werden dürften. Zu solcher Aufklärung möchten meine Bemerkungen etwas beitragen. Dies zur vorläufigen Verständigung; nun laichen Sie mich an die Arbeit gehen.

Was nennen wir zufällig? — Nicht zunächst Dinge, sondern Ereignisse, Dinge nur in übertragener Weise, sofern jedes gewordene Ding in Ereignisse aufgelöst und sein Dasein als eine Verbindung von Ereignissen betrachtet werden kann. Ein Geschehen nun ist zufällig, wenn an demselben eine Grundlosigkeit, Mangel in Bezug auf die Verursachung empfunden wird. Aber wie ist also dergleichen möglich? Da, wo völlig getrennte und gegen einander gleichgültige Ereignißreihen zusammenstossen.

In der einen wie in der andern dieser Linien war allerdings der Zustand jedes Augenblicks völlig begründet; aber da sie ohne alle innere Beziehung zu einander sind, bleibt doch das Zusammentreffen, sofern dieses etwas Anderes und mehr ist als nur ein Punkt in jeder Linie, grundlos. Aber giebt es solche völlig selbständige Causalitätslinien? Auf dem Erfahrungsstandpunkt unzweifelhaft. "Zufällig begegneten wir uns —zufällig ging er vorüber." Schon in menschliches Leben ist aus verschiedenen Causalitäten dieser Art zusammengesetzt. "Zufällig", um mit Aristoteles zu reden, "bläst der Baumeister die Flöte und hat der Flötenbläser eine gebogene Nase." — Aber ist das nicht bloss empirischer Schein, wie das Aufgehen der Sonne? Sonst ist am Ende jedes Ding als Ding zufällig, d. h. seine Einheit unvollkommen begründet, ein Zufall. Vieles an sich gegen einander Gleichgültiges, hat zu seiner Entstehung zusammengewirkt.

Aber so meinen wir es doch nicht. Niemand will alle Wesen der Welt zufällig genannt wissen, am wenigsten gerade die wichtigsten,

wohl gar die weit selbst. — Aber wie meinen wir es denn? Ist denn Alles gleich sehr vollkommen begründet, also Alles durch und durch nothwendig? — Woher denn jenes sonderbare Prädicat? Es will doch offenbar allgemein menschliche Erfahrungen aussprechen helfen. Wäre denn zwischen Nothwendigkeit aller Erscheinungen und Zufälligkeit aller Dinge die Wahl zu treffen? Starre Einheit, die alles Leben zum Schein macht, oder ein Auseinanderfallen des Vielen, bei dem die Welt zum blossen Namen herabsinkt?

Hier tritt nun die alte Weisheit herzu. Freilich, — gäbe es nur eine Ursachlichkeit und Begründung, so wäre alles, was in der Welt Grundlosigkeit heisst, täuschender Schein; anders aber, wenn es mehrere Ursachen oder Principien giebt. Dann kann ja ganz wohl eine Einheit, ein Wesen von unten her vollkommen verursacht erscheinen, aber von oben her fehlt eine Begründung seines Daseins. Oder umgekehrt, was von den vielen Punkten des Umkreises aus in gleichgültigem Nebeneinander fortgetrieben wird, kann zugleich, von einem Mittelpunkt aus gelenkt, in diesem bereits zu der späteren Einigung in Verhältniss stehen.

Dann erscheint die Zufälligkeit auf einmal als zulässig und denkbar. Sie leugnet nicht jede Begründung, sondern nur einen Theil, ein Glied derselben vermisst sie.

Den Hintergrund dieser Gedanken bildet eine berühmte Lehre der griechischen Metaphysik. Die höchsten Ansichten der Alten beruhen stets auf einfachen Betrachtungen. Daraus entspringt ihre Lebenskraft, mit der sie durch die Jahrtausende hindurch sich immer wieder verjüngen. Aber diese ungekünstelte Grossheit der Grundgedanken schliesst ebenso wenig die höchste Feinheit der Entwickelung derselben aus, als ihre kühnste Formulirung in schwer zugänglichen Abstractionen. Beides tritt bei Aristoteles hell hervor, die hohe Einfalt der Grundlagen und die Kunst der wissenschaftlichen zünftigen

Arbeit. Es ist die ehemals allgemein bekannte und viel gepriesene Lehre von den vier Ursachen, die ich hier kürzlich zu erörtern habe.

Was suchen wir, wenn wir ein gegebenes Ding ganz verstehen wollen? Als ein Daseiendes würde es nur ein Auffassen fordern. Das Werden ist es, welches die Arbeit des Erklärens und Ergründens hervorruft. Aus welchen Grundelementen ist nun die Frage nach dem wirklichen Werden der Dinge zusammengesetzt? Um das zu erkennen, wird man ein Gewordenes scharf in's Auge fassen müssen, und zwar wird dieses ein Ding sein müssen, an dem das Werden möglichst vollständig erkennbar ist, vor Allem also auch ein wirklich zu Stande, zur Vollendung gekommenes Ding; denn vom Bekannteren muss unsere Erkenntniss zum Unbekannten fortschreiten. Solche Dinge aber sind die Werke menschlichen Kunstfleisses.

Aber führt das nicht direct zum Anthropomorphismus? Liegt hier nicht der Wahn zu Grunde, dass das Reich der Wahrheit im Menschen zu finden sei? Wir suchen ja die Erkenntniss der natürlichen oder doch der grossen Dinge, aus denen die Welt besteht, nicht der künstlichen, die freilich gar leicht erklärbar sind. —Daraus würden die Alten vorläufig etwa Folgendes erwidern: auch die Kunst gehöre zur Natur und auch der arbeitende Mensch zur wirklichen Welt. Sind also in der Kunst und in der Arbeit Principien erkennbar, die sich nicht auf andere zurückführen lassen, so gehören auch diese zu den Principien der Welt, und wir sind berechtigt, uns überall in den weltlichen Erscheinungen nach ihnen umzusehen. In welchem Umfang dieselben in ihnen wirksam sind, muss die Erfahrung lehren. Dadurch aber, dass sie etwa nur in einer engeren Sphäre sich offenbaren, hören sie nicht auf, ursprüngliche zu sein. Eben diese Sphäre der Wirklichkeit könnte ja doch ohne sie nie verstanden werden. Freilich wird hierbei vorausgesetzt, dass man im

Ernst ein Werden behauptet. Bei den menschlichen Werken ist ja dies wirklich der Fall. Sie waren nicht da, bevor sie entstanden. Bezweifelt man insgeheim die Wahrheit des Werdens, wie das in Bezug auf die natürlichen Wesen wohl vorkommt, indem man etwa meint, es gebe da nur Veränderungen in den äusseren Verhältnissen, in der Stellung, Figur, Grösse, dann fällt natürlich auch die eigentliche Erklärungsarbeit hinweg. Mit dem Räthsel verschwindet die Lösung.

Das Gebäude, in dem wir versammelt sind, wie ist es zu Stande gekommen? Ohne die Steine und das Holzwerk, und was sonst als Material darin verarbeitet ist, wäre es nicht da. Man kann sogar mit einem gewissen Rechte behaupten, es bestehe ganz und gar eben ans seinem Material und ausser diesem sei gar nichts darin zu finden. Das Nachdenken aber führt sogleich weiter. Die Arbeit aller derer, die jene Stoffe herbeischafften und zusammenfügten, auch sie ist in diesem Gebäude zu dauerndem Sein niedergelegt, also die Stoffe und die bewegenden Kräfte. Aber diese allein hätten das Haus nicht hervorgebracht; denn sie wären gar nicht zusammengekommen und so wären die Steine nie Material dieses Hauses und die kräftigen Männer nicht Arbeiter an demselben geworden, wenn nicht der Plan des Baumeisters vorhanden gewesen wäre, der jedem Stein und Balken seine Gestalt und seinen Ort bestimmt hat, der also alle Bewegungskräfte leitete und beherrschte. Endlich aber, dieser Plan selbst wäre nie entstanden, der Geist des Baumeisters nicht angeregt worden, wenn nicht der Zweck dagewesen wäre, dem dieses Gebäude gewidmet ist. Dieser Zweck war es, der in dem Willen der Besteller Ursache ward, das Zusammenwirken jener drei Elemente hervorzurufen, der die fortbildende Kunst des Baumeisters, die Kräfte der Arbeiter und die mannichfaltigen Baustoffe vereinigte.

In dieser einfachen und verständlichen Erwägung sind nun alle die Gesichtspunkte bezeichnet, die bei der Erklärung dieses gewordenen Dinges in Betracht kommen. Jedenfalls also wird ihre Anwendbarkeit bei jedem gewordenen und werdenden Dinge versucht werden können. Dabei ist es ganz richtig, dass, wo Producte der Natur oder der Geschichte ergründet werden sollen, diese Gesichtspunkte in sehr allgemeinen Begriffen gedacht werden müssen. Es mag Schwierigkeit haben, so einfache Abstractionen in unsere Gedanken zu fassen. Wie haben nicht Platon und Aristoteles den Gedanken der Materie verfeinert, indem sie ihn mit dem der Möglichkeit, der Grösse, des relativ Nichtseienden identificirten! Und sodann, wie schon erwähnt wurde, die Erfahrung wird entscheiden müssen, welche von diesen Grundbegriffen sich in jedem gegebenen Fall als unbrauchbar erweisen. Da kann es kommen, dass man zweifelt, ob z. B. der Begriff der Materie oder des Stoffes in irgend einem natürlichen Werden dem wahren Verständnis Hülfe bringe, ob da nicht Alles Kraft sei und Bewegung ohne ein Bewegtes, Trägen, Widerstehendes; ebenso, ob wirklich feste Formen, Ideen, in der Natur sind, die den Gegenstand einer wahren Wissenschaft bilden, oder ob, wie der Stoff, so die Form in der Natur keine Wahrheit hat und Alles nur Fluss und Uebergang und Metamorphose ist. So kann man zweifeln und fragen. Aber da nun doch einmal daseiende Wesen als Erzeugnisse des Werdens überall der Erfahrung sich darstellen, so wird jener Zweifel immer wieder einer andern Bemühung Platz machen, entweder derjenigen, jene Grundgedanken, statt sie zu verwerfen, den Aufgaben entsprechend zu bearbeiten und auszubilden, etwa auch sie zu berichtigen und besser zu formulirt, oder dem Versuch, nach dem tiefer erkannten wissenschaftlichen Bedürfniss ein neues, besseres System solcher Principien des Weltverständnisses aufzustellen. Aber stets werden wir darauf

hinauskommen, in dem Werden der Welt mehrere Principien, höhere und niedere, zum Herrschen und zum Dienen bestimmte, ideale und reale, zu unterscheiden, — wohlgemerkt, in der Welt als solcher, in diesem ungeheuren Bau von Verwandlungen selbst, Principien daher, deren keines mit dem Herrn der Welt zu identificiren ist. Versucht man das mit dem idealen, so wird das andere von selbst das absolute Nichts und es kommt Pantheismus heraus, d. h. eine unmögliche Lehre. Neigung dazu ist in unserer heutigen Weisheit, selbst in der christlichen, weil sie im Gegensatz zum Alterthum die Welt gern idealisirt, wie ich später ausführen will.

Dieses sind die Gedanken, die neben anderen als leitende Grundbegriffe den Aristotelismus der früheren Zeitalter charakterisiren. Es ist bekannt, dass sich die neuere Wissenschaft im siegreichen Kampfe gegen die Lehren der Aristotelischen Schulen gebildet und ihre Methode und ersten Resultate festgestellt hat, auch das, dass dieser Sieg zu den folgenreichsten Ereignissen in der Geschichte des geistigen Lebens unserer Völker gehört. Das wäre nun wohl kaum der Fall, wenn der Sturz des Aristotelismus nichts Anderes bedeutete als die Beseitigung einer Anzahl von kosmologischen Irrthümern. Aber er enthielt noch etwas ganz Anderes, nämlich das Aufgeben einer wissenschaftlichen Forschungsart, nicht das Vertiefen derselben oder ein ursprüngliches Neugestalten, sondern das Abwerfen des höchsten Gliedes in dem Ganzen der bisher betriebenen Erkenntmassarbeit.

Es war zunächst nur die Lehre von den Zweckursachen, die man beseitigen zu müssen glaubte. Es hat einige Zeit gedauert, ehe man erkannte, dass mit der Wahrheit des Zweckbegriffes auch die der Formen oder Ideen hinfalle, und noch jetzt wird das von Vielen bezweifelt. Mit dem Formbegriff verliert aber auch der antike Begriff der Materie seine Begrenzung und auch er löst sich

auf. Es bleibt also nur der Gedanke der Mechanik, die bewegende Kraft, als Princip übrig; Materie, Form, Zweck fallen hin. Und so wären wir wieder bei jener starren, tödtenden Einheit der Welt angekommen, aus welcher die alte Weisheit uns einen Ausweg bahnen wollte.

Als sich im Anfang der neueren Geschichte eine selbständige Naturforschung und eine begrenzte Philosophie in inniger Gemeinschaft entwickelten, war beiden das Bestreben eigen, ihr Gebiet gegen das der geschichtlichen menschlichen Dinge abzuschliessen. Jede Beschränkung bringt neben den Vortheilen auch Gefahren mit sich und ruft leicht Missverständnisse und Irrthümer hervor. Man braucht nicht beim Nachdenken den Geist oder das Gute zu Gegenständen der Untersuchung zu machen, aber nachdenken kann doch nur der Geist und das Nachdenken kann nur lebendig erhalten werden durch das Gut der Erkenntniss, das uns vorschwebt. Der Geist ist es, der in jeder Wissenschaft die Fragen stellt, und er ist es auch, der sie beantwortet, indem er den fremdartigen Gegenstand zwingt, ihm dabei behülflich zu sein. Desshalb ist es unmöglich, dass ein Erkennen zu Stande kommen sollte, das nicht vom teleologischen Wesen der Forschung und von der Natur des Geistes mitbestimmt wäre. Der Geist kann nicht nur ein besonderes Ding neben anderen Dingen sein; wäre das, so gäbe es keine Wissenschaft.

Aber auch in der Natur als Forschungsgegenstand hat doch das Zweckprincip seine unvertilgbare Stätte. Wer hält nicht in voller Wahrheit das Auge für ein Werkzeug? Es ist klar, dass, wer das Bewusstsein von Zwecken und Mitteln nicht hätte, nie ein Auge begreifen könnte, gesetzt auch, wenn das möglich wäre, dass er alle mechanische Wissenschaft besässe und das wunderbare Gebilde ganz nachzuahmen vermöchte. Er würde eben nie wissen, was er mache. Wie uns erst die Mathematik die Krystallformen aus den

mathematischen Formbegriffen verstehen lehrt, obgleich kein menschlicher Mathematiker sie gemacht hat, so wird uns das Verständniss der Sinne und der Sinnenwelt erst eröffnet durch eine Forschung, die Zwecke und Mittel kennt, obgleich keine menschliche Kunst jene formte.

Aber Sie werden schon lange fragen, wohin denn der Begriff des Zufälligen gerathen sei, den ich untersuchen wollte.

Ich habe ihn nicht aus den Augen verloren und will jetzt wieder zu ihm einlenken.

Schon früher ist der Einwendung gegen die Teleologie in der Welt gedacht worden, daß doch das zweckliche Verhältniss keineswegs alle Dinge in der Erfahrung unter einander verbindet. Das ist ganz richtig und war natürlich auch den Alten nicht entgangen. Vieles scheint weder Zweck noch Mittel zu sein und Vieles sogar sehr unzweckmässig. Ich wiederhole, dass das der Ursprünglichkeit dieses Princips keinen Eintrag thut, wohl aber seiner empirischen Allgemeingültigkeit. Letzte absolute Geltung wird es behalten, da es Princip ist, aber in den Beziehungen der vorübergehenden Erscheinungen begrenzter Sphären werden wir die Wirklichkeit immer erst darauf ansehen müssen, wie weit in ihr die teleologische Macht erkennbar ist.

Hier nun eben tritt das Zufällige seinem ganzen Sinne nach hervor. Wo die Wirksamkeit der Zweckursache fehlt, da doch an sie gedacht, sie also vermisst wird, oder wo ein Ereigniss einer teleologischen Wirkung ähnlich sieht, da doch in Wirklichkeit der durch dasselbe erreichte Zweck in keiner Weise Mitursache desselben war, da ist ein Zufall. Hier decken sich die Ursachen der weltlichen Erscheinungen nicht. Es sind gleichsam Lücken und Mängel in dem Gefüge der Begebenheiten, dieselben sind nur unvollkommen begründet. Nicht in den Bewegungsvorgängen der wirkenden Ursachen fehlt etwas, vielmehr diese lassen keine leeren Räume zu, weil sie die

niedrigsten und somit schlechthin allgemeinen sind. Aber das Eingreifen der Ideen und Zwecke, des Verstandes und des Guten setzt vielfach aus und diese Zwischenräume werden durch gute und böse Zufälle angefüllt. Es ist ein böser Zufall, wenn Jemand im Dunkeln über etwas stolperte, das da lag, aber nicht da liegen sollte, und sich ein Auge ausfiel. Was den Mechanismus betrifft, so hatte da freilich Alles seinen völlig zureichenden Grund. Aber die Zweckursache fehlte und ihr Wirken vermissen wir. Und wenn ein längst nicht mehr gesuchtes Schriftstück, an dessen Dasein etwa das Lebensglück eines Menschen hängt, durch eine ohne jeglichen Bezug darauf vorgenommene Zertrümmerung eines Schreins wieder zum Vorschein kam, so ist das ein glücklicher Zufall, eben weil der teleologische Bezug, der sich aufdrängt, die Abwesenheit des Zweckes als einer Ursache scharf ins Licht stellt.

Es ist natürlich, dass dieser Gedanke des Zufalls vorzüglich im menschlichen Leben seine Stätte hat. Während die Natur ihre sicheren Wege geht, wird das menschliche Leben vom Schicksal, von Zufälligkeiten durchkreuzt. Denn je mehr sich die Gedanken des Guten und Besseren aufdrängen, desto leichter wird ihre Wirksamkeit vermisst.

Auch was Aristoteles bei Aelteren gefunden hat, wonach der Zufall etwas Göttliches oder Dämonisches zu sein scheine, wird hier verständlich. Wie bei den Alten, so ist auch bei uns dieser Gedanke wohlbekannt. Es hat schon Jeder gewissen Ereignissen gegenüber den Eindruck empfunden, der sich in jenem Urtheil ausspricht, wie nämlich auf ganz unberechenbare Weise durch ein Zusammentreffen von Vorgängen, die offenbar ganz ohne inneren Bezug auf einander waren, das Erreichen eines Zweckes ermöglicht wurde, der nur gerade hier und jetzt erreicht werden konnte, — wenn nicht, dann nie und nirgends wieder. Da steigert sich der Zufall zum wunderbaren Geschick.

In uns wird ein Gefühl aufgeregt, das zwischen Andacht und Grauen hin und her schwankt. In der That kann das Gefühl des Göttlichen nicht da rein auftreten, wo eine Wahrnehmung mangelhafter Beziehungen zwischen den bedürftigen Wesen dieser Welt den Hintergrund des Bewusstseins bildet. und doch ist es auf der anderen Seite eine Hindeutung auf eine überweltliche Macht, dass, auch wo die weltlichen Dinge wirklich von idealen Kräften verlassen erscheinen, doch in ihnen ein Gelingen möglich ist, das über den erkennbaren Zusammenhang hinausgreift. Durch eine in allen Stücken teleologisch geordnete Welt könnte uns nie ein so starkes Gefühl von der Lebendigkeit ihres Herrn erweckt werden als durch eine solche, in der das Zufällige in's Erhabene verklärt werden kann, wie auch für uns Menschen sich wohl darin die vollkommenste Lebensgestaltung ahnen lässt, dass das Leben Zufälle und Unsicherheit aller Art einschliesst.

Aus diesem Zusammenhang nun, in welchem der Gedanke des Zufälligen mit dem des Idealen steht, folgt von selbst, dass das Bekämpfen der Idealursachen in der Wissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts auch ein Bestreiten des Begriffes zufälliger Erscheinung mit sich führte. Das ist nun in der That der Fall. Von da an wurde es gebräuchlich, diesem Begriff jegliches Recht in einer auf wahres Verständniss der Erscheinungen gerichteten Geistesarbeit abzusprechen. Während die Wissenschaft denselben bis dahin in verschiedenen Beziehungen meist unbedenklich gebraucht hatte, wurde er nun aus der Forschung als ihrer unwürdig verbannt. Keiner der grossen Repräsentanten der neueren Wissenschaft vertritt diese Abneigung entschiedener als Spinoza. Ihm gegenüber zeigt Bacon eine feinere Kritik. Aber bei Spinoza sieht man auch zugleich sehr deutlich, wie diese Beseitigung des alten Begriffes gemeint war. Ich meine ihren Zusammenhang mit dem Streit gegen die Teleologie. Wie er den Begriff des Zufälligen für nichtig erklärt, so sind ihm auch die Endursachen,

die er aus der Volksmeinung sehr grob sich verdolmetscht, Erdichtung und Tollheit, die die Natur umstürze und das Unterste zu oberst stelle. — Bacon, dem ganz andere Kenntnisse aus der alten Schule zu Gebote standen, der auch ein viel regeres Wissensbedürfniss hatte, als Spinoza, und umsichtiger und geistreicher war, beginnt mit ähnlichen Sätzen, dann aber macht sich sein weiter Sinn geltend, es drängen sich ihm Betrachtungen anderer Art auf, und indem er die Theilung der Wissenschaften bedenkt, fasst er Ansichten, die, ernstlich vertreten und weiter verfolgt, für unser ganzes geistiges Leben sehr förderlich hätten werden können. Er will nämlich nun nur die Erforschung der Form- und Zweckursachen aus der Physik ausgeschieden wissen, sie soll das Gebiet der Metaphysik bilden.

So lässt sich denn auch Bacon die Zufälle nicht aus der wirklichen Welt streichen; er spricht die Ueberzeugung aus, dass der Zufall nicht altere und dass er in der Welt noch manche erwünschte Dinge gebären werde.

Bei der immer zunehmenden Erkenntniss von der Bedeutung der Mathematik für die Naturwissenschaft gewannen die allgemeinen Tendenzen der Cartesianischen Schule, die Spinoza am strengsten vertrat, zunächst die Oberherrschaft. Trotz der Einreden Leibnitzens wurde von den energischeren Geistern die Zweckursache als ein krankes Gebilde der Wissenschaft abgeschnitten, mit ihm natürlich auch der Gedanke des Zufälligen als ein Auswuchs an diesem Auswuchs. Als eine Voraussetzung strenger Wissenschaft ging das dann in die allgemeine Ueberzeugung der Denkenden über. Wenn Lessing die Gräfin Orsina ausrufen lässt "Zufall ist Gotteslästerung —nichts unter der Sonne ist Zufall," so ist das wohl nur eine religiöse Formulirung jener wissenschaftlichen Ansicht.

Das kann man nun freilich bezweifeln — wirklich klingt in seinem Zusammenhang das Wort nicht gerade Spinozistisch. Viele

werden einen schönen Ausdruck reiner Frömmigkeit darin zu vernehmen glauben. Wäre es dennoch zugleich ein Gedanke eines wissenschaftlichen Systems, so werden Sie sich freuen, dass hier ein grosser Grundsatz dem wissenschaftlichen Mann mit dem Christen gemein ist.

In der That ist hier ein sonderbarer Punkt, in dem der fromme Glaube mit dem Naturalismus der letzten Jahrhunderte nahe zusammentrifft. Wie das zugeht, ist nicht schwer einzusehen.

Leugnet etwa auch die Frömmigkeit das Wirken der Ideale? Ganz im Gegentheil, sie hat ihren Frieden in der Ueberzeugung, dass die Welt mit Allem, was in ihr wird, aus dem allgütigen Geist herstammt. Es ist einleuchtend, dass man von dieser Betrachtung aus in Bezug auf das Zufällige zunächst zu einem gleichen Resultat zu kommen scheint wie jenes, das aus der Leugnung der idealen Ursachen hervorging; denn eben aus der Mehrheit der Grunde erwuchs die Dankbarkeit zufälliger Vorgänge. Für diese gilt es also gleich, ob man die Ideale oder die Materie leugnet. Du christliche Frömmigkeit unserer Tage hat in der That trotz aller Verschiedenheiten der Meinungen manches Gemeinsame, das ihr aus dem geistigen Leben dieses Zeitalters stammt. Dazu gehört die starke Abneigung gegen jegliches wie auch immer bestimmte dualistische Element in der Weltansicht. Sie hat nicht Unrecht, den Keim zu dualistischen Gedanken auch in jener Lehre von den vier Ursachen zu finden. In der niederen Hälfte derselben, besonders aber in dem antiken Begriff der Materie findet sie einen Rest des Heidenthums. Von diesem will sie die Lehren der Sokratischen Schulen reinigen und sie so zur echten Weisheit verklären. Aus dem Guten allein, ohne alles Herbeiziehen eines Nothwendigen, eines dunklen ονχ άνεν, ohne Materie soll das ganze Werden der Welt verständlich sein.

Hier freilich stehen wir, um das Platonische Bild zu gebrauchen,

vor einer Welle, die uns über den Kopf geht. Lassen Sie mich mit ein paar Sätzen hindurchbrechen. Dass Gott nicht als ein beschränkter Herrscher gedacht werden kann, ist gewiss richtig. Der Eine, der wirklich der Regent der Welt ist, der hat alle Vielheit unter sich, auch die der höchsten Principien. Aber auch Aristoteles schliesst seine methaphysischen Untersuchungen mit dem Worte ab: "Nur einer sei Herrscher!" Dass gleichwohl die Welt der Erfahrung ein Geschehen einschliesst, das nicht aus dem reinen Ideal stammt, ist durch das Böse gewiss, für den nämlich, der den Unterschied zwischen Gutem und Bösem ernstlich nimmt. Ich meine nicht bloss im Leben, was freilich die Hauptsache ist (und der Fall sein kann trotz aller Irrthümer der Theorie), sondern auch in der Wissenschaft. Da tritt denn sofort das Bedürfniss in's Licht, die Schöpfung, damit ich mich an gebräuchliche Formeln halte, von der Weltregierung zu unterscheiden. Sowie man aber diesen Gedanken in seine Tiefe verfolgt, findet man da die Unterscheidung höherer und niedrigerer Weltprincipien wieder. Und damit ist auch der Raum für das Zufällige in Leben und Geschichte wieder gefunden.

Aber vielleicht will der Glaube gar nicht, dass ihm ein solcher Raum aufgedeckt werde? — In der That, der ganz ungetrübten, kindlichen Frömmigkeit hat die Philosophie nichts zu sagen. Jene bedarf ihrer nicht und diese schweigt gern, wo ihre Belehrung gar nicht verlangt wird; denn höchstens vermag sie doch nur das Dunkel, das uns umgiebt, etwas zu lichten, nicht aber dasselbe in hellen Tag zu verwandeln. Wie sollte sie also dem, der die dunklen Gebiete der Wirklichkeit gar nicht als solche verspürt, ihre Hülfe anbieten wollen? Wer im Licht der Sonne wandelt, der bedarf keiner Fackel. Und dies ist sehr ernstlich von mir gemeint. Es giebt Gemüther, in denen Angst und Sorge nicht mehr auskommen. In dem Bewusstsein solcher Seelen hat wirklich der Gedanke des Zufälligen keine

Stätte mehr; sie leben schon im Jenseits, und da sind ihnen die Härten und Lücken dieser Welt schon unsichtbar geworden.

Aber solche Menschen sind selten. Meistens bleibt auch bei wahrem Vertrauen doch bei manchen Ereignissen, die wir zufällig zu nennen pflegen, ein Gefühl von Unbefriedigtheit, ja von Grauen in der Seele, und wo das der Fall ist, da tritt auch ein Sinnen und Grübeln hervor. Man will jenes Wort nicht und kann sich doch seiner nicht entschlagen. Solchen Bedürfnissen kann das unterscheidende und begränzende Nachdenken einigen Dienst leisten. Es kann uns, von den angedeuteten Gedanken ausgehend, lehren, dass der Begriff des Zufälligen nichts Höheres, aber auch nichts Geringeres ist als eine Erfahrungsvorstellung der beurtheilenden Beobachtung, gerade so wahr wie alle abstracten Erfahrungsprädicate dieser Art, die dem Reiche des Lebens und der Geschichte angehören. Denn zu diesen gehört sie, — sie beruht auf dem Bewusstsein von Höherem und Niederem, Zweck und Mittel, Idealem und bloss Natürlichem, und war auf diesem Bewusstsein, wie dasselbe aus der unverklärten Wirklichkeit entspringt. Denn da sehen wir ideale Mächte des Guten und des Geistes, der Seele und des Lebens wirklich in Kampf und Arbeit und von Gleichgültigkeit und Widerstreben umringt. Zunächst so in der menschlichen Geschichte und freilich hier allein uns ganz verständlich, dem forschenden Denken zu bewusster Nachbildung offen liegend; denn da arbeiten der gute Wille, die sittlichen Ideale, indem Seelen- und Körperkräfte von denselben ergriffen, erfüllt, geheiligt werden, an dem Material des natürlichen Menschen. Und uns ist beides ganz erkennbar, denn beides ist ja in uns selbst, die wir an dem geschichtlichen, sittlichen Leben Theil haben. Aber in der Natur ist schon ein verwandter, vorbildlicher Kampf nach der vollen und höchsten Lebensoffenbarung, und gleichgültige Kräfte verrichten dabei kalt, innerlich unbetheiligt, ihren vorübergehenden Dienst, und auch da

misslingt noch Vieles und Lücken des teleologischen Zusammenhangs liegen nackt vor unseren Augen da. Ganz ähnlich, wie, wo ein Verbrechen sich ereignet, wir mit Recht etwas vermissen, nämlich die Tugend, vielleicht auch das wache Auge der Obrigkeit, so vermissen wir auch die Krafthülfe, deren das ideale Wesen bedurft hätte, wenn im Mutterleibe Zwillinge zusammenwachsen oder wo sonst ein verfehltes Gebilde uns die Mängel dieser Welt aufdeckt. Dass wir aber dennoch jenem Kopfschütteln einer zu kräftigen Frömmigkeit nicht nur persönliche, sondern auch objective Wahrheit zuschreiben können, das kommt daher, dass wir theils erkennen, theils ahnen, einmal, wie das in der Weltherrschaft Gottes nichts ändere, sodann, wie die wirklichen teleologischen Mängel in den einzelnen Dingen dieser Welt den Gedanken von der höchsten teleologischen Vollkommenheit des Ganzen keineswegs ausschliessen. Nur dass jene dadurch in keiner Weise zu bloss scheinbaren Mängeln werden. Es vollzieht sich in der Welt eine innere allgemeine Arbeit, deren Geheimniss sich uns in der Geschichte unseres Geschlechts, die auf den freien und guten persönlichen Geist hinzielt, einigermassen enthüllt.

Aber warum Ruhe ich mich, dem Gedanken des Zufälligen ein gewisses beschränktes Recht zu vindiciren? — Weil die Anerkennung dieses Rechtes zusammenhängt mit der der idealen Gründe in dieser Welt. Daher kommt es, dass dieser Begriff, der dem höheren menschlichen Urteilsvermögen angehört und unter uns im allgemeinen Bewusstsein lebendig ist, einer unvollkommenen Betrachtungsart der höheren Dinge gegenüber eine treffende, abwehrende Kritik übt. Gewinnt nun die Behauptung allgemeine Geltung, dass es mit dem Begriff des Zufälligen nichts, dass er für das Erkennen ganz unbrauchbar ist, so wird diese natürliche Kritik an sich selbst irre. Das Bewusstsein selbst aber ist nicht auszutilgen. So wirkt es nun wie ein Strom, dem man sein altes Bett abdämmt; der bricht über

Damm und Ufer und überschwemmt die ganze Ebene. Auf diesem Punkte stehen wir mit diesem Gedanken. Er droht über alle Wirklichkeit auszubrechen, und indem dann auch zwischen Nothwendig und Zufällig die Schranke zerbricht, unser ganzes Gedankenleben zu verschwemmen. Während die Wissenschaft sich der mechanischen Nothwendigkeit freut, meint das allgemeine Bewusstsein, sich eben beruhigen zu müssen bei dem ihm unvertilgbaren Gedanken von der Zufälligkeit aller Dinge. — Hier wende ich mich nun unserer neuesten Wissenschaft zu.

Die religiöse Abweisung des Zufälligen ist ihrem Ursprunge nach gerade entgegengesetzt der naturalistischen. Jene geht von dem Glauben aus, dass Alles in der Welt aus Zweckursachen, nämlich aus dem reinen Stoff göttlicher Absichten, verstanden werden müsse, diese von dem Grundsatze, dass die Zweckursache ein widersprecher Begriff, also unmöglich sei; jene stellt eben das Zufällige beni Absichtlichen entgegen, diese dem Nothwendigen. Aber indem beide Strömungen sich doch darin vereinigten, überall eine vollständige Begründung der Erscheinungen zu behaupten, so erwuchs daraus dem Gedanken von der principiellen Einheit aller Wirklichkeit und einer gewissen Idealisirung der Welt eine Macht, wie er sie noch nie gehabt hat; denn darin wenigstens schienen sich die Theologie und die philosophische Physik einig. Es wurde jetzt möglich, an eine Verschmelzung zwischen Religionslehre und Naturalismus zu denken, wie sie in der deutschen Philosophie nach Kant allmählich zu gelingen schien. In Kant selbst war der dualistische Gedanke, das Unterscheiden des Realen vom Ideal, kräftig gewesen. In Schelling arbeitete das Bewusstsein von der Mehrheit der Principien in dem Einen sich früh durch, und noch am Abend seines Lebens hat er sich des ihm heller als irgend einem Zeitgenossen aufgegangenen Verständnisses der Aristotelischen vier Ursachen gefreut. Fichte und Hegel waren es, die am stärksten auf

eine vollkommen einheitliche Erklärung aller Dinge drangen. Jener —so kann ich mich hier wohl ausdrücken — leitet sie aus der practischen Vernunft ab, also aus dem Aristotelischen Zweckprincip, dieser aus der theoretischen Vernunft, welche als das Princip der Formen oder Begriffe betrachtet werden darf. So entstand jene eigenthümliche geistige Atmosphäre, in der Schleiermacher mit seinen herrlichen Arbeiten für die Glaubenslehre das begeisterte Lob Spinoza's, das er in seiner Jugend verkündigt, immer noch vereinigen konnte und in der unser grösster Dichter bei diesem poesielosesten aller Philosophen Licht und Beruhigung fand. Was bei ihnen gleichzeitig Raum hatte, trat bei Anderen successiv ein. Wir haben es erlebt, wie Männer, die in Hegel's Schule gelernt hatten, alle Wirklichkeit aus Ideen abzuleiten, aus dem reinen Geist mit grosser Leichtigkeit zum derbsten Materialismus umsprangen, und zwar fast ohne das Bewusstsein, dass eine Veränderung in ihren Gedanken vorgegangen sei. Und nicht nur bei Einzelnen, — im Grossen und Ganzen unseres wissenschaftlichen Lebens hat etwas Aehnliches stattgefunden. Nachdem wir in einer Verherrlichung der Wirklichkeit geschwelgt hatten, die sie ganz idealisch erklärte, ist überraschend schnell in der öffentlichen Meinung eine völlige Umkehr eingetreten, und zwar so, dass man glaubt, die Wirksamkeit wahrer Ideale als ein längst überwunden Vorurtheil belächeln zu dürfen. Alles Derartige soll nur als vorübergehende Figur und Wirkung der Naturkräfte behandelt werden, nicht im Sinne Bacon's, einer Theilung der wissenschaftlichen Arbeit entsprechend, sondern diese Kräfte sind das einzig Wesenhafte, deren Kenntniss allein also wahres Wissen, und dieses soll gelten, wie in der Natur, so auch in der Geschichte. Alle Principien der Beurtheilung und Werthschätzung nur relativ, bedingt, also ohne Wesen und ursprüngliche Macht; diese komme nur den wirkenden Ursachen zu. Diese also die Wahrheit, jene der nach Naturgesetzen wechselnde

und also auch durch Kunst so oder so erzeugbare Schein. Und überall stimmen Männer, die die idealistische Schule durchgemacht haben, dem unbedenklich und rückhaltslos zu, als wäre das eigentlich immer ihre eigene Meinung gewesen. — Ich denke, dieser merkwürdige Umschlag in der wissenschaftlichen Sinnesart zeigt deutlich, was ich mit der Behauptung meine, dass das Uebertreiben der Tendenz, alles Werden schlechthin nur aus einem Princip oder aus einer Principienart und in einer Richtung zu erklären, das Verwerfen also einer jeglichen Mehrheit von Erklärungs- und Werdegründen dem wissenschaftlichen Nachdenken einen Hintergrund giebt, in dem auch die höchsten Unterschiede keine Festigkeit mehr haben, sondern haltlos in einander zerfliessen. Leichter Wechsel der Gesinnung offenbart deren Oberflächlichkeit. Eine Welt, die aus einem Element, in einer Richtung gewebt ist, hat keine Tiefe. Einer solchen Welt gegenüber muss die wissenschaftliche Gesinnung oberflächlich bleiben. Tiefe ist nur, wo Geheimniss ist. Der Ernst der Forschung setzt Geheimniss voraus, der höchste Ernst aber deutet zugleich auf einen wahren und höchsten Kampf. Der Mann, dem das Leben kein Geheimniss birgt, ist ein armer Mann.

Das Anschwellen dieser einseitigen Denkungsart wird nun unter uns ganz ungemein verstärkt durch den Einfluss wissenschaftlicher Productionen bedeutender englischer und französischer Schriftsteller. Denn indem diese bei ihren Untersuchungen freier sind von polemischen Hintergedanken gegen eine falsch idealisirende apriorische Vorstellungsweise, wie sie unter uns eine Zeit lang herrschend zu werden drohte, so zeigt sich bei ihnen die naturalistische Forschung oft gesunder oder doch unmittelbarer, weniger negativ, daher frischer und anziehender. Unter uns aber bemächtigt sich dann das allgemeine Interesse solcher Arbeiten mit besonderer Vorliebe; sie werden dazu verwandt, die idealen Nachklänge aus unserer letzten Vergangenheit vollends zum Schweigen zu bringen.

Werke dieser Art von weitgreifender Wirksamkeit und die höchsten Interessen berührend sind in unseren Tagen erschienen und viel besprochen worden, sowohl in der Naturwissenschaft als in der Geschichte. Die erregende Wirkung derselben ist weit über die Grenzen der Schule und des strengen Studiums hinausgegangen. Ich denke hierbei einerseits an die Untersuchungen, die sich auf die Entstehung des Menschen beziehen und die aus Darwin's glänzender Arbeit hervorgegangen sind, andererseits an die Reform der Geschichte, die August Comte und seine Freunde in Frankreich und England anstreben und die man durch das Buch von Ernest Rénan, freilich sehr unvollkommen, vertreten heissen darf. Diese Arbeiten waren es auch, die mir vorschwebte, als ich vorhin vom Einstürzen des Dammes sprach, der das Reich der Nothwendigkeit von dem des Zufalls trennt. Gestatten Sie mir von meinem Standpunkt aus über diese Gegenstände noch eine kurze Betrachtung. Zuerst über das Unbefriedigende, Verwirrende und Täuschende in den Consequenzen, die aus jenen naturhistorischen Untersuchungen gezogen worden sind und die allerdings in den mangelhaften Grundgedanken derselben angelegt erscheinen; sodann über ebendieselben Mängel, weil sie in der Geschichtsauffassung Rénan's und seiner Lehrer erkennbar sind.

Es kann Ihnen auffallen, dass ich scheinbar weit auseinanderliegende wissenschaftliche Versuche einander nähere. Aber dass Meinungen derjenigen Darwin'schen Schüler, die wenigstens eine von den Grenzfragen der Untersuchung, die Entstehung des Menschen, mit besonderem Eifer in's Auge gefasst haben, mit der Darlegung Rénan's über die Entstehung der Kirche Verwandtschaft haben, ist in die Rügen fallend. Die beiden Grenzuntersuchungen der Darwin'schen Arbeit, welche bekanntlich nur die Entstehung der vielen Pflanzen- und Thierarten betrifft, sind ja die über die Entstehung der organischen Natur und die über die Entstehung der Menschen; denn auch der

Mensch, gesetzt auch, er bilde eine neue Ordnung, ein Reich, oder wie sonn man die höchsten Eintheilungsglieder nennt, ist doch in der gebräuchlichen Terminologie eine Art. lind so wird auch das ganze Pflanzenreich oder das der Organismen überhaupt dem Artbegriff noch angehören, wie ja jedenfalls das unterste aller Gewächse eine Art bildet und also die Entstehung eben dieser Art in Untersuchung gezogen werden muss. Wenn man nun diese Begriffsreihe bildet: das organische Leben, der Mensch, die Kirche, —so ist es nicht schwer, hierin die drei idealen Principien späterer Aristoteliker empirisch wieder zu erkennen: die Seele, den Geist und das Gute. Meint man nun die Frage aufwerfen zu müssen nach der Entstehung des Guten, des Geistes und der Seele und hat man sich einmal daran gewöhnt, unter Entstehung die äusserliche Vermittelung der Erscheinungen zu verstehen, wo dann das Höhere immer aus dem Niedrigeren wird, so bleibt natürlich nichts Anderes übrig, als das Gute aus dem Geist, den Geist aus der Seele und diese aus der Materie zu erklären, da diese wirklich von den vier Ursachen die unterste und letzte ist. Statt jener Ausdrücke können wir auch so sprechen: die Kirche wird aus dem Menschen, der Mensch aus dem Thier, das Lebendige aus dem Leblosen.

Ich führe Sie hiermit wieder an die alte Theilung der idealen und realen Principien zurück und damit auch an den Begriff, von dem aus ich diese Betrachtung vornehme, an den des Zufälligen. Ich glaube nun wirklich, dass an diesem Begriff, eben wenn man ihm nicht von vorn herein allen wissenschaftlichen Werth abspricht, das allgemeine Bewusstsein am leichtesten sich wieder in's Klare und Echte herausarbeitet aus der Verwirrung, in der dasselbe vielfach gefangen ist. Dass die ganze Mannichfaltigkeit des Lebendigen als völlig zufällig erscheine, das ist ein Vorwurf, den schon der Darwin'schen Theorie selbst, trotz ihres schönen Festhaltens an äusserlicher Teleologie,

auch Freunde derselben oft gemacht haben. Mit Recht! Der Sinn dieses Vorwurfs ist dieser: Zufällig ist, wie wir sahen, ein Vorgang, der das Bewusstsein idealer Ursachen in uns erweckt, bei dem aber zugleich ihr Wirken so oder anders vermisst wird. Nun ist aber einmal durchaus nicht zu leugnen, dass die organische Welt im Ganzen in uns das Bewusstsein der Ideen und einer idealischen Absichtlichkeit hervorruft. Eben deshalb hat man ja von jeher in ihr Begriffe zu finden und zu ordnen gesucht, in denen man Wahrheit voraussetzte. — Ist nun die ideale Ursachlichkeit in der Natur ganz auf die Seite gestellt, so wird sie nothwendig beständig vermisst werden. Das heisst aber gar nichts Anderes, als dass das ganze Reich der Organismen, wie nothwendig auch immer alle seine Wandlungen sein mögen, doch durch und durch zufällig ist. Denn, wie gesagt, wenn man diesen Begriff auch aus der Wissenschaft verbannt, aus dem Bewusstsein verbannt man ihn nicht, und da übt er eine förderliche, scheidende Kritik über eine dem Idealen sich ganz entfremdende Forschung. Wo einer wissenschaftlichen Lehre gegenüber uns ein Reich von höherer Wirklichkeit als zufällig erscheint, da ist dasselbe eben nicht hinreichend ergründet. An diesem Vorwurf aber, wenn er erwogen wird, bricht sich dann von selbst jene falsche Durchführung der Darwin'schen Theorie über ihre letzten Grenzen hinaus, jenseits deren sie gar keine Wahrheit mehr hat. Volle Wahrheit hat sie nur da, wo wirklich im Reiche des Organischen zufällige, d. h. ideenlose Gestaltung ihr Wesen treibt. Wo das der Fall ist, da ist gar nichts weiter zu erkennen, als was diese Untersuchungsweise uns finden lehrt. Wo die Idee selbst waltet, wo das Ideal der Natur, welches die lebendige Seele ist, in festen Stufenerscheinungen auf Grund des Naturgesetzes sich offenbart, da lehrt uns jene Forschung nur die eine Seite der Sache ergründen und in's Licht stellen, nämlich wie durch äusserliche Vermittelung in allmählichen Uebergängen die bleibenden

Harmonien des lebendigen Chors erreicht werden; die andere Seite bleibt unberührt. . Ganz falsch aber wird diese Theorie eben deshalb da, wo wir ganz auf diese Seite, d. h. vor das Innerliche, vor die idealen Principien selbst, treten. Die Seele oder das Princip der Selbstbewegung des Lebens und der Geist als das Reich der Begriffe, des Erkennens, der Wahrheit, die entstehen überall nicht in der Welt, vielmehr ja die Welt entsteht in ihnen, geschweige denn, dass sie aus der Materie durch äusserliche Vermittelung und allmählichen Uebergang werden und erklärt sein könnten. In diesem Sinn also sind allerdings der Mensch und das Organische trotz aller ihrer Vermittelungen und Materie doch durchaus ursprüngliche und einfache Wesen, und wie auch immer zubereitet, plötzlich, und wenn man das ein Wunder nennen will, ein Wunder bleibt doch ihr Durchbruch in diese Welt des Raumes und der Zeit. Und hier ist nun das Missverständniss in unserem Denken ganz auszutilgen, das doch auch Darwin selbst befangen zu halten scheint, als ob nämlich der alte Satz, dass es in der Natur keine Sprünge gebe, nun wirklich die ganze Wahrheit des Seins und des Werdens in der Natur umfasste, da er doch gar nichts Anderes aussagt, als dass die Natur in ihrem Sein vom Raum und im Werden von der Zeit als reinen continuis getragen werde, dass ihr daraus also durchaus unabweisliche Grundbedingungen für ihr ganzes sinnliches Dasein und Werden erwachsen. Dass aber die wirkliche, die quantitative Natur selbst doch auch ihrem Dasein nach schon in Sprüngen steht, nämlich in der Zahl, das ist ja das Wahre der Atomistik, die doch jetzt so allgemein geschätzt wird, und dass das auch von allem wirklichen Werden gilt, hat schon Aristoteles schön angedeutet, wenn er uns sagt, das Jetzt sei nicht Zeit. Auch in der Erscheinung ist das Neue immer ein Sprung und die Natur geht auch in diesem Sinne immer in Sprüngen; sie würde eben keine wirklichen Bewegungen einschliessen ,

sondern nur mögliche oder ideelle, wenn keine Sprünge wären. Das aber verdeckt man sich oft mit einer sonderbaren Kunst; man macht sich die qualitativen Entfernungen, die Unterschiede, möglichst klein, rückt in Gedanken nun noch etwas weiter zusammen, nun sieht man sie wirklich gar nicht mehr und meint, der Uebergang sei gesunden, und während man da das wesenhafte Einfache, die Principien verliert, will man sie gerade im Quantitativen allein als Atome gefunden haben.

So ist es nun gewiss kein Zweifel, dass ich vom Adler zur Nachtigall mit geringer Anstrengung der Phantasie, nur dass ich dieselbe Operation recht unermüdlich wiederhole, die Gestaltübergänge mir vorstellig machen kann. Dasselbe kann ich stereometrisch durchführen durch alle Gewebe dieser thierischen Körper hindurch. Dass ich mich aber da in einer Arbeit beende, die, statt Licht und Erkenntniss zu gewähren, mich, wenn ich mich ihr allein überlasse, in's Dunkel, nämlich eben in das reine leere continuum, führt, das wird erst ganz einleuchtend, wenn ich diese Prozedur wirklich einmal über alle Unterschiede hindre, und der Begriff der Art erlaubt, ja fordert es zuletzt, da ich aus jeder Differenz einen Artbegriff bilden kann. Da ist denn das Ende von diesem Liede ja einleuchtenderweise dieses, dass Alles einerlei, dass alle Unterschiede nur auf äusserlichen, ganz kleinen, unbedeutenden, wesenlosen Veränderungen beruhen, dass also die Wahrheit nur das reine, unterschiedslose Eine sei.

Wenn so die ordnende und beschreibende Botanik und Zoologie viel von ihrem wissenschaftlichen Werth verlieren, so könnte der Wissenschaft vom Lebendigen dafür ein Ersatz erwachsen in der Eroberung, die sie gerade von diesem Gedanken her unternimmt. Indem sie sich selbst zu einer pragmatischen Geschichte der Organismen gestaltet, kann sie hoffen, .du ganze Geschichte mit sich zu vereinigen und sie zu einer Provinz der Naturkunde zu machen .

In Frankreich und England kommen manche Elemente einer neuen Theorie von der Geschichte und von der wahren Historiographie der Zukunft jenem Gedanken auf halbem Wege entgegen. Thucydides und Tacitus, Macchiavelli und Gibbon haben von der geschichtlichen Wissenschaft noch kein Bewusstsein gehabt. Dies wird gläubige; wenn man die Geschichte als die letzte Abtheilung der Naturforschung auffasst, denn Physiker waren ja diese Männer nicht.

Der Grundgedanke dieses neuen Geschichtsbegriffes ist leicht zu verstehen. Wie über die beschreibenden und classificirenden Naturwissenschaften die physikalisch erklärende Untersuchung sich erhebt, so soll auch der erzählenden Chronik die causale Erklärung folgen. Das ist nun freilich nichts Neues, wir haben das seit alter Zeit die pragmatische Forschung genannt. Das Neue aber ist nun dieses: wie dort die Beschreibung der Organismen ihre Selbstschätzung sehr herabstimmen soll, so wird vollends der geschichtlichen Erzählung und Schilderung ihr Werth anders gemessen; denn diese bleibt ja beim Individuellen stehen. Und so geschah es, dass bis dahin auch die erklärende Pragmatik sich an das Individuelle hielt; so aber gelangt man nicht zur Wissenschaft. Wie wir in der Naturforschung die bleibenden und regelmässig wiederkehrenden Erscheinungen, zu denen auch die Arten gehören, beschreiben und eben sie zu erklären suchen, so muss auch in der Geschichte eine allgemeine Pragmatik gesucht werden, und wenn schon die Arten und Gattungen eine aus der anderen durch ganz unmerkliche und zufällige Veränderungen hervorgehen, wie viel unwichtiger werden die Differenzen sein, aus denen die Individuen der Geschichte sich bilden! Es gilt auch hier, zu den allgemeinen Wirkungskräften und zu den ursprünglichen Naturgesetzen vorzudringen, aus denen dies Erscheinungsgebiet, ein: für allemal erklärt und begriffen, aufgeschlossen vor uns da liegt. Wie wir den Winden ihre Drehungsgesetze ablauschen, weil wir die Bewegungsursachen

kennen, so werden wir auch den menschlichen Geschichten —nicht nur einer einzelnen, sondern allen möglichen — und für alle Zeiten der gegenwärtigen Weltordnung ihre Bahnen im Voraus berechnen lernen. Die Tafeln der Criminalstatistik deuten dergleichen an. Dann wird freilich die alte Erzählungsform so überflüssig sein, wie sie es schon jetzt fur das Aufgehen und Niedergehen der Gestirne ist.

Wenn nun wirklich das in dieser Forschungsweise Erreichbare, dessen Werth ja keineswegs so ganz unbekannt und wahrlich nicht in Abrede zu stellen ist, weit über die echte, individuelle, aber zugleich verständige und mit idealem Urtheil durchleuchtende Geschichtserzählung eines grossen Historikers gestellt wird, so würde wohl kaum zu einer anderen seit in Deutschland das allgemeine Bewusstsein sich irre machen lassen; denn dass in der Geschichte das durch und durch Individuelle, das in ihr in seinen höchsten Formen, in willenskräftigen Persönlichkeiten und Gesellschaften, zu oberst in der der Menschheit selbst, in grossen Thaten und Leiden eines wahren Werdeprocesses offenbar wird, den unvergleichlichen Reiz hervorbringt, den das geschichtliche Wissen für den menschlichen Geist hat, das drängt sich der Reflexion sehr leicht auf. Nicht dass da Alles so ganz natürlich zugeht und eben gar nicht anders sein kann, ist das eigenthümlich ergreifende Licht, das der Geschichte als solcher angehört und das ihre Erzählungen ewig jung erhält. Nicht die Bestätigung von der Geltung allgemeiner empirischer Naturgesetze, sondern vielmehr das so ganz unverkennbare Zusammenstossen der höchsten irdischen Natur, des inneren Menschen, mit idealen Gesetzen, besser mit idealen Mächten, die die Unbedingtheit Gottes widerspiegeln, — das ist es doch, was uns in dem dramatischen, tragischen Gang des geschichtlichen Lebens die Seele erschüttert. Wie gesagt, daran würde sonst Niemand leicht irre werden, aber in unseren Tagen stehen wir auch

auf diesem Gebiete, besonders in wissenschaftlichen Kreisen, unter dem Einflusse einer gewissen Strömung. Ich meine besonders uns, die wir nicht Geschichtsforscher sind. Wie in der Naturwissenschaft die Reaction gegen die Naturphilosophie vielfach fühlbar ist, so auch im geschichtlichen Denken die Gegenströmung gegen die idealische Construction der Geschichte. Jeder weiss, wie Fichte und Hegel an dieser Aufgabe gearbeitet haben; es war wirklich Neues in dieser Betrachtungsweise, und ihre Nachwirkung bleibt. Wir haben da gelernt, das Ideal selbst geschichtlich aufzufassen und in der Offenbarung des an sich Einfachen Stufen und Seiten zu erkennen, wie das einfache Licht sich in Farben bricht. Aber wenn nun die geschichtliche Wirklichkeit mit den Metamorphosen des Guten identificirt wurde, so war das ein Irrthum, wie wenn Einer in einer Landschaft nur das Farbenspectrum sähe. Gegen das Idealisiren der Geschichte ist die Einrede noch viel dringender nothwendig als gegen das Idealisiren aller natürlichen Erscheinungen. Unsere Geschichtsforscher haben dieselbe auch sofort geltend gemacht. Wie sie überzeugt blieben, dass Vieles in den menschlichen Dingen anders war und ist, als es sein sollte, so werden sie auch ungeachtet jener Ableitung der geschichtlichen Veränderungen aus der reinen Idee nach wie vor von den Fragen beunruhigt, welche die der alten Pragmatik sind, wie nämlich nun in der anschaulichen Wirklichkeit jene Veränderungen vor sich gegangen seien, wie vorbereitet, vermittelt, durchkreuzt, bekämpft sie endlich zum Durchbruch gekommen. Es ist das eben wieder die Untersuchung der wirkenden Ursachen nach dem Sprachgebrauch der Alten; die wird uns in der That weder erspart noch erleichtert durch jene idealische Betrachtung, und je hochfahrender diese den ganzen wahren Werth des geschichtlichen Wissens allein für sich in Anspruch nahm, desto mehr drängte sich allmählich auch dem allgemeinen Bewusstsein der Vorzug jener strengen und schweren Forschungsarbeit auf.

Das ist nun der Punkt, an dem wir uns in Deutschland mit unserer geschichtlichen Theorie eben jetzt befinden, und darin finde ich allerdings etwas, was jenen französisch-englischen Gedanken, die ich vorher charakterisirte, förderlich ist und ihnen unter uns eine Stätte bereitet. Wir sind eben mit gutem Grund davon durchdrungen, dass doch ein gesunder, umsichtiger und in die Tiefe dringender Pragmatismus die erste Methode der Geschichtsforschung sei; von einer jeden apriorischen Phraseologie wenden wir uns müde und unmuthig ab. Da tritt nun jene Vorstellung von einer allgemeinen Pragmatik, nicht der einzelnen Begebenheiten, sondern der menschlichen Gattung und ihrer abstracten typischen, d. h. immer wiederkehrenden, Schicksale, ihres allgemeinen Lebensgehalts, vor uns hin. Diese eröffnet die Aussicht auf eine Wissenschaft, die, pragmatisch, auf ebener Erde einhergehend, streng erfahrungsmässig, doch zugleich mit jener idealen Geschichte der Philosophen das gemein hat, dass sie uns aus der Niederung der grenzenlosen und unbedeutenden Einzelheiten auf die Höhe allgemeiner Sätze und Begriffe, echter Wissenschaft führt. Sollte das nicht anziehen, gerade unter uns recht eifrige Adepten finden, verworrene Hoffnungen auf eine bis dahin nie geahnte höhere Geschichtswissenschaft, auf eine wahre, nämlich empiristische Philosophie der Geschichte aufregen?

Etwas der Art hat schon begonnen. Ein ehemals sehr begeisterter Anhänger der Lehre Hegel's hat uns ein englisches Werk, das der bezeichneten Richtung, freilich in theistischer Auffassung, die Welt als eine Maschine Gottes betrachtend, angehört, übersetzt und dringend empfohlen. Die französischen Arbeiten, consequenter und wissenschaftlich höher stehend, atheistisch, sind noch wenig zu uns vorgedrungen, aber gewiss wird August Comte auch unter uns einmal manche Bewunderer zählen. Beide, Comte und Buckle, waren bedeutende energische Forscher, jener ein gewaltiger Autodidakt, an grosse

Aufgaben mit einseitiger, aber ungewöhnlicher Begabung in unermüdlicher Arbeit hingegeben, dieser — so viel ich sehe — mit aufrichtigem Ernst und mit Fleiss die ihm aufgegangenen bedeutenden Gedanken bis zu seinem frühen Tode verfolgend.

Freilich auch dem atheistischen Empirismus der Franzosen ist es noch bei weitem nicht gelungen, die naturalistische Geschichtsbetrachtung, die sociale Physik, rein durchzuführen. Auch hier wieder drängt es sich dem Bewusstsein viel zu mächtig auf, dass die Gebilde der Geschichte schlechterdings eine andere Betrachtung verlangen als die, nach welcher sie alle ohne Unterschied als ganz zufällige Producte sich darstellen müssten. Wohlverstanden, zufällig, obgleich naturnothwendig, zufällig eben in jenem höheren Sinne: nicht beabsichtigt, ohne ideales Princip. Gesetzt auch, dass wir die organischen Wesenklassen, die Formen des Lebens und der Seele uns so denken könnten, zufällig, d. h. nur durch äusserliche Verhältnisse verursacht, ohne inneres ideales Gesetz, — bei der Geschichte der Menschheit ist das doch auf die Dauer nicht mehr möglich. Man wird vielleicht diese Behauptung durchaus nicht einleuchtend finden, man wird etwa so sprechen: es sei wahr, dass in der Geschichte das Absichtliche seine unzweifelhafte Stätte habe, und in diesem Sinne, dass da Zweckursachen und Begriffe, also ideale Principien, wirksam seien. Aber diese Zwecke und diese Ideen seien ja nur Gedanken der Menschen, als solche seien sie durch die Natur hervorgebracht und also nothwendig und zufällig, nämlich der Causalität nach wohlbegründete, aber durchaus nicht weiter bezweckte Producte. Ursachen, Mächte seien sie also nur in einem untergeordneten Sinne, denn sie seien ja selbst nur Erzeugnisse der wirkenden, der natürlichen Ursachen. Es ist nun ganz richtig, dass, wenn man wirklich bei diesen Gedanken stehen bleiben könnte, die Behauptung, die ich aussprach, grundlos wäre; aber das eben ist unmöglich. Der einzelne mag so das innere

Wesen der Geschichte sich ertödten können, aber die Wissenschaft im Ganzen wird dahin nicht erniedrigt werden. Das ist die Kluft, welche die Geschichte von der Natur trennt. Der Natur gegenüber, auch dem Thierreich, kann ich immer jenen Beurtheilungen, dass Eins mehr sein soll und vorzüglicher als das Andere, oder überhaupt, dass Leben und Seele bejaht wird, die Wahrheit, wenigstens die Gewissheit absprechen. So that Cartesius. Aber der Geschichte der Menschheit gegenüber ist es ohne inneren Widerspruch nicht möglich, den thätigen Geist zu verleugnen, und der ist mit dem Guten verwachsen; mit ihm stellt sich das Bewusstsein von Schön und Hässlich, Gut und Böse, Erhaben und Scheusslich ein und auch Göttlich und Teuflisch steigen mit dieser Reihe empor. Indem wir so die menschliche Wirklichkeit anzuschauen innerlich gezwungen sind, zeigen sich hier Mächte, die stärker sind als unsere Gedanken und doch nicht äusserlicher Natur. Da sind Ideen, an denen die menschlichen Begriffe, Zwecke, an denen alle menschlichen Absichten, Gesetze, an denen die menschlichen Gesetze sich müssen messen lassen. Es schwebt eine höhere Absicht über allen menschlichen Plänen und Bestrebungen und die Idee der Wahrheit über aller menschlichen Wissenschaft, still und unwandelbar und majestätisch, wie der Himmel über der Erde. Dieses ist die ideale Voraussetzung des geschichtlichen Bewusstseins, und daran kann keine Theorie etwas ändern. Wer da meint, aus einem Princip, aus bloss wirkenden Ursachen die Geschichte verstehen zu wollen, der arbeitet vergeblich. Er wird dahin kommen, dass er die Geschichte gar nicht mehr wahrnimmt und ihren Leichnam für ihren Geist hält.

Eben wegen dieser inneren Unmöglichkeit einer rein naturhistorisch gedachten und erklärten Geschichte ist auch im französischen Naturalismus die geschichtliche Abtheilung der Naturwissenschaft immer noch von idealen Gedanken getragen und belebt. Das sind Reste

der beseitigten alten Weisheit mit ihren Form- und Zweckursachen, aber man ringt allerdings darnach, sie ganz in das Gewebe der Naturgedanken umzusetzen.

Aus dieser geistigen Atmosphäre ist das Buch Rénan's hervorgegangen. Nicht dass dieser ein Schüler Comte's heissen könnte oder dass er gerade beabsichtigte, einer besonderen Theorie von der Geschichtswissenschaft zu dienen, vielmehr respectirt er in freier und ganz persönlicher Weise; den deutschen Idealismus verwendet er in seiner Darstellung lieber als die empiristischen Formeln seiner Landsleute; sogar der teleologischen Ausdrücke bedient er sich, wie freilich auch die strengeren Denker es sich erlauben. Dennoch, was seiner Arbeit ihre Wirkung auch unter Deutschen, die doch Strauss gehabt hatten, verschaffte, das war der reine Pragmatismus der Darstellung, die Erklärung der geschichtlichen Wirklichkeit ganz aus natürlichen, d. h. aus von unten her wirkenden, aus innerlich mechanischen Ursachen . In den Intuitionen des Mythos war noch etwas von einer idealen, von oben her wirkenden, vorausbestimmenden Geistesmacht gewesen; hier war dieselbe beseitigt und Jeder fühlte, dass die idealischen Ausdrücke nicht die Bestimmung hatten, ihr wieder Eingang zu verschaffen. Sie gehören nur zur überlieferten Sprache und bilden den rhetorischen Schmuck.

Obwohl nun in diesem Werke nicht eine Darstellung aus jener allgemeinen Gattungspragmatik vorliegt, sondern ein Versuch aus dem in alter Weise erzählenden Pragmatismus, so ist dennoch die Bedeutung desselben für die empiristische Philosophie der Geschichte, nach der diese ein Glied der Naturwissenschaft ist, einleuchtend. Hier nämlich versucht sich der reine Pragmatismus, d. h. die eine jede andere Betrachtungsweise als unzulässig ausschliessende Erklärung des geschichtlichen Seins aus sogenannten natürlichen, d. h. mit Nothwendigkeit von unten her bewegenden Ursachen eines innerlichen

Mechanismus, an derjenigen geschichtlichen Wirklichkeit, die uns die höchste ist. Gelingt das Unternehmen, so erscheint eine andere Philosophie der Geschichte als die der Pragmatik oder der anthropologischen Naturgesetze, nämlich eine ethische, als überflüssig. — Ich denke auch, die Verwandtschaft dieser Bemühung mit jenen Versuchen, das Entstehen des Menschen aus der zunächst unter ihm stehenden Thierspecies ohne Hereinwirken eines neuen höheren Princips zu erklären, oder, in gleicher Weise verstanden, des Lebendigen aus dem Leblosen, drängt sich sofort wieder aus.

Aber freilich werden hier wohl Viele darauf aufmerksam machen, dass der Unterschied, um den es sich handelt, in diesem Fall doch ein ganz anderer sei als in jenen beiden. Hier sei ein Neues nun einmal gar nicht abzuleugnen und am Ende auch wirklich von Allen zugestanden, hingegen in der Begründung desjenigen geschichtlichen Lebens, das wir das christliche nennen, sei ein solcher Anfang nicht erkennbar und Rénan's Erklärung der Entstehung der Kirche sei daher weit zulässiger als die Erklärung des ersten Menschen aus einer natürlich, d. h. zufällig entsprungenen Modification in den Organen eines Affen oder als die Erklärung des Lebens aus einer glücklichen Combination von Leblosem. Sie sei nämlich doch nur in eine Linie zu stellen mit der Erklärung einer der vielen Arten aus einer anderen mit veränderten äusserlichen Verhältnissen oder mit der Erklärung irgend einer anderen geschichtlichen Wirklichkeit aus dem Vorausgegangenen. Sowie also für die Bildung der Arten des Lebendigen doch jedenfalls die Seele als Idealprincip ausreiche, so doch wohl auch für die Gestaltung und das Verständniss alles Geschichtlichen der Mensch als der Geist dieser Welt oder die natürliche Vernunft. Dieser seien allerdings Gesetze gegeben, nämlich die Grenzen in der Kraft des Erfahrens und die Schranken des Unmöglichen, und so auch natürliche unabweisliche Zwecke, nämlich in den Naturtrieben

und den mannigfaltigen Anlagen, belebt von der Fülle der Willkür und des Individuellen. Aber das Alles und überhaupt also alles Geschichtliche gehöre doch nur dem Gebiete des empirischen, des natürlichen Geisteslebens an, und wie die Thierwelt über die empirischen Seelen oder Ideen der verschiedenen Gattungen nicht hinausgehe, so gehe auch die Geschichte nicht hinaus über die Begriffe und Zwecke, über die Formen und Güter der empirischen, der irdischen Vernunft.

Hier bin ich an dem Gipfel der Betrachtung angelangt; erlauben Sie, dass ich ihn langsam erklimme.

Es ist wahr und sollte auf's entschiedenste eingeräumt und demgemäss verfahren werden, dass, um mich gleich so auszudrücken, der übernatürliche Ursprung der Kirche Christi, d. h. die vollkommen ideale Natur derselben, nicht wissenschaftlich bewiesen werden kann, nämlich weder philosophisch noch empirisch; empirisch deshalb nicht, weil ihre Zukunft noch unbekannt, speculativ nicht, weil die wirkliche Kirche oder das wirkliche Christenthum, oder wie sonst man dieses geschichtliche Wesen nennen will, etwas rein Idealisches nicht ist, überhaupt aber wissenschaftlich nicht, weil die Behauptung von der Göttlichkeit der innerlichen Kirche eine Glaubensbehauptung ist, zu der Wollen gehört, zuerst schon das: eine Kirche — ein nicht profanes, sondern heiliges Gemeinwesen — Wollen! — Deshalb ist es ungebührlich, dem Geschichtsforscher als solchem zuzumuthen, dass er ein Gläubiger sei, und seine Leistung nach dieser Forderung zu messen. Die wissenschaftliche Discussion hat einen anderen Boden als das seelsorgerische Verhältniss, das freilich das erhabenere ist. — Aber wenn auch in dieser Hinsicht manchmal ungeziemend geurtheilt wird, es ist doch keineswegs das Missfallen, das Rénan's Buch neben dem vielen Beifall erregt hat, auf die persönlich Glaubenden beschränkt, vielmehr unter den Forschern aus dem Gebiet der geschichtlichen Dinge haben, wie ich meine,

wenige rechte Freude daran gehabt, und es ist da nicht viel Lobens laut geworden, ohne viel Unterschied der eigenen religiösen Stellung. Wie geht das zu? — Ich meine so: Wir hatten seit geraumer Zeit gelernt, das rein pragmatische Erzählen unserer Religionsgründung, schon als dem wahrhaft gebildeten Geschmack widerstreitend, als nicht zum Ziele treffend, in einem ernsten und hohen Sinne als unschicklich zu betrachten. Das ist nun auch hier wieder von unseren Historikern empfunden worden. Dieses Gefühl hat einen tieferen Hintergrund, der uns weiter in's Innere zieht. Wir sehen nämlich offenbar die Sache so an, dass mit reinem Pragmatismus an die Person unseres Religionsgründers nur der treten dürfe, der entweder einer anderen Sittengemeinschaft angehört, oder selbst eine neue zu gründen und anzukündigen Willens ist. Jeder, bei dem das nicht der Fall ist, der trete zurück und schweige. In diesen Gedanken aber spricht sich ein gesundes unmittelbares Bewusstsein von einer unbedingten Zweckursache in der Geschichte, als von ihrem höchsten Princip, aus. Dieses aber ist der Grundgedanke einer ethischen Philosophie der Geschichte, die nicht empiristische Kenntnisse einiger besonderer Naturgesetze ist. Niemand hat dieses Bewusstsein je stärker gefördert und eine solche Wissenschaft tiefer zubereitet als Kant. Wenn die Artbegriffe der Natur auch alle zufällig sein möchten in der Geschichte, im sittlichen Leben des Geistes giebt es ein Ideal und Gesetze, die unbedingte Geltung haben; denn der gute Wille ist, wie Kant sagt, in der Welt und auch ausser der Welt das Einzige, was unbedingten Werth hat. An diesem Punkte daher trennen sich allerdings die Wege. Wer da meint, in der Geschichte wie in einem Naturleben mit nur relativen Gütern und Gesetzen, mit einer wandelbaren Sittenlehre auf blossem Erfahrungsgrund der Naturtriebe ausreichen zu können, dem schwindet die Grenze zwischen ihrem Reich und dem der Thierwelt hin. — Und auch das hat Kant weiter vortrefflich

ausgesprochen, dass das höchste aller geschichtlichen Ideale das eines sittlichen, die Menschheit umfassenden Gemeinwesens sei, eines Volkes Gottes, wie er es zu bezeichnen liebt. Wenn also ein solches irgendwann in der Menschheit hervortritt, so tritt in der Verwirklichung des höchsten Guten, des freien Geisterreichs, das Princip der Geschichte in die Erscheinung, und die Gründung einer solchen unbedingt werthvollen Wirklichkeit würde nicht erklärt werden können, ohne dass wir die Macht des höchsten idealen Wesens, die göttliche Macht selbst, in einer solchen Heldenseele thätig denken. Wo aber die unbedingte Endursache wirkt, da hat die Zufälligkeit gar keine Stätte mehr und der Pragmatismus ändert damit seine Natur, wie wir auch schon sonst in den geschichtlichen Dingen immer weniger von Zufälligkeit reden und an sie denken, je teleologischer die Erscheinung ist. Helden und Heroen sind uns von einer idealen Nothwendigkeit getragen, die etwas Anderes ist als der fatalistische Stern der doch immer zufälligen Naturnothwendigkeit. Nur je weniger heroisch, idealgültig, desto mehr sind für uns Alle zufällig die Begebenheiten der Menschenwelt.

Solche Gedanken nun, glaube ich, schon seit Platon in der Wissenschaft angelegt, besonders aber von Kant her noch lebendig nachwirkend, geben unserer deutschen Geschichtschreibung ihre ideale Haltung. Daher missfällt ihr die profane Darstellung einer Geschichte, die uns Allen wenigstens insoweit eine heilige ist, als wir über sie hinaus etwas Besseres nicht kennen. Das Entstehen einer Religion ist das Entstehen eines neuen sittlichen Lebens. Ob das christliche das unbedingt gültige, das vollkommene sei, das kann man sehr wohl bezweifeln; es handelt sich nicht um die Sittenlehre, sondern um das Leben selbst, und ob dieses einen unbedingt guten, d. h. einen göttlichen, einen heiligen Keim in sich trage, das kann man wissenschaftlich, allgemein gültig noch nicht wissen, sondern es nur persönlich

fühlen und fest glauben; denn es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, und es können noch neue Gestaltungen des Menschenlebens versucht werden. Aber was uns als das Beste gilt, soll doch von uns behandelt werden als das Gute und Göttliche selbst, denn für uns ist dies die Erscheinung eines Unbedingten.

Diese Ausstellung scheint nun um so mehr gegen Rénan berechtigt, weil er in seiner Hochschätzung des Christenthums fast weiter zu gehen scheint, als im Allgemeinen ein ideal gesinnter Historiker der christlichen Cultur als solcher ohne persönlichen Glauben es vermöchte. Dass nun hier sein Gefühlsausdruck wahrhaft sein wird, ist natürlich nicht zu bezweifeln; aber wir dürfen wohl die Theorie der Geschichte, der seine Darstellung angehört, hier etwas consequenter, als er selbst thut, verfolgen und festhalten. Im Kern seiner Gedanken wird auch er ihr treu bleiben. So dürfen wir wohl das schlechthin Unübertreffliche, ja das unbedingt Gültige, das hie und da dem leichten Fluss der Rénan'schen Rede entquillt, mehr für Blumen der Beredtsamkeit oder für Empfindungsausdrücke halten als für ganz durchdachte Behauptungen.

Denn die Theorie der Arbeit drängt sich doch wieder, wie schon ehemals, und so auch in allen Gleichdenkenden in der Beseitigung des Uebernatürlichen aus der menschlichen Geschichte zusammen. Wenn man nun diese Bestrebungen in ihre tieferen wissenschaftlichen Motive verfolgt, so handelt es sich dabei noch um etwas Anderes als um den Zweifel an gewissen geschichtlichen Ueberlieferungen. Auch die Frage nach der Thatsächlichkeit sogenannter Wunder überhaupt ist nach dem gewöhnlichen Verstande derselben etwas Untergeordnetes. Dergleichen könnte unmöglich ausreichen, um aus dem Behaupten oder Leugnen des Uebernatürlichen die Begrenzung scharf sich gegeneinander absetzender Gruppen in unserem gegenwärtigen geistigen Leben zu bilden. Das obige vielmehr ist der eigentliche, wenn auch nicht

immer verstandene Sinn dieses Ja und Nein, und daran scheiden sich in der That zwei Wege der Betrachtung, ob man nämlich in der Geschichte über den wirkenden Ursachen der physischen und psychischen Natur unbedingte, d. h. wahrhaft höchste, göttliche Zweckursachen, Mächte wahrnimmt und behauptet oder nicht. Zwecke, die nicht willkürlich aufgestellt, nimmt freilich, wie schon früher gesagt wurde, Jeder in ihr wahr; aber vielleicht sind diese alle nur empirischer Art, wandelbare Erscheinungen, wie alle Gebilde der Erfahrung ohne Ursprünglichkeit und ewige Wahrheit. Dieses ist wirklich die Beseitigung des Uebernatürlichen in der Geschichte, und da wird, wie sehr man sich auch sträube und Alles nothwendig und selbst ideal heisse, doch für das allgemein menschliche Bewusstsein die Weltgeschichte das Reich der lauteren Zufälligkeit; denn die Geschichte ist für uns nun einmal das höchste Erfahrungsgebiet. Schliesst nun auch dieses mit ganz empirischen, relativen Zwecken und Mächten ab, so steht es mit den idealen Principien, mit der Wahrheit und mit dem Guten doch so, dass sie nur im Endlichen Geltung haben, — umschlossen aber sind sie von der unendlichen Natur, der auch sie als Erscheinungen entquellen. Ist die Geschichte nicht wirklich an dem Eintritt ihres höchsten Gebildes mit Gott selbst in Verbindung, so ist doch alle ideale Absichtlichkeit der Zwecke nur eine liebliche Erscheinung, die, wie alle Herrlichkeit der Natur, einst in die ewige Nacht versinkt. Und dieses erkennend, sprechen wir es aus, dass die Geschichte aller Welten doch zuletzt nur zufällig sei, denn auch die Götter sind nur geworden, auch sie zufällig! Denn sie am meisten sehen wohl nach einer höchsten Endabsicht, nach einem wahren Idealprincip aus, aber es ist keines da, sondern statt dessen die rastlos im Dunkel webende Natur, die auch Religionen und Götter wie Thier- und Menschenarten bildet und zerstört.

Ist aber ein unbedingt Gutes über dem irdischen Leben wirksam,

so wird uns da, wo dieses sein höchstes Werk offenbar werden, die Hoffnung auf vollkommene Verklärung der Welt in dem menschlichen Gemüth und Willen Kraft gewinnen lässt, mit Grund das Bedürfniss sonst nicht gebrauchter Namen und Begriffe fühlbar werden. Der die Verwirklichung des Endzwecks der Geschichte zu beginnen vermocht, der ist aus dem überweltlichen Sein, nicht aus der Vergangenheit zu verstehen.

Dies ist das geschichtliche Wunder! Ihm verwandt ist jedes heroische Werk eines Gesetzgebers, Staatengründers, aber auch jede gute That, jeder sittliche Entschluss. Ueberall da ist Neues, ist Ursprüngliches. Wie die Natur, so geht auch die Geschichte in Sprüngen, aber freilich auch sie durch vollkommenste Vermittelung hindurch, meistens durch so leise Uebergänge, dass unserem Auge der Sprung sich verbirgt und wir erst beim Ueberblicken weiter Entfernungen seiner gewahr werden. Und diese Vermittelung gilt auch für das Höchste der geschichtlichen Wirklichkeit, für die Begründung einer Heiligung des Menschengeschlechtes zu einem Volke Gottes.

Ich will meine Betrachtung schliessen, aber es ist mir, als ob ich zum Schluss gefragt würde, warum ich dieselbe gerade um den so schwierigen und verwirrenden Begriff des Zufälligen habe sammeln wollen.

Ich hatte dazu folgenden Grund: einmal war es mir darum zu thun, eine Schwäche zu bezeichnen, an der mir in unserer Zeit das ernste Denken aller wissenschaftlichen Gruppen oft zu kränkeln scheint. Ich meine, ein Mangel an voller Redlichkeit im Auffassen des wirklich Gegebenen, wo es düster und hässlich ist, ein falsches Idealisiren der Welt zu einer auch im Einzelnen ganz nach dem Princip der Naturteleologie geordneten Erscheinung. Um so mehr wollte ich dieses hervorheben, je fester ich überzeugt bin, dass eine Vertiefung und ganz neue Durchforschung der teleologischen Wahrheit

uns sehr noth thut, ja vielleicht mehr als irgend etwas Anderes, weil unser wissenschaftliches Leben in Gefahr ist, mit dem Idealismus auch die Ideale selbst zu verlieren und damit sein eigenes Wesen zu zerstören. Ich wünschte deshalb darauf aufmerksam zu machen, dass die Erforschung der höchsten Dinge sich nicht von den wirklichen und noch nur unvollkommen verstandene Schwierigkeiten der Erfahrungswelt fern halten darf. Die Entdeckungen der Zeitgenossen fördern ergreifende Resultate an's Licht. Es sind gewonnene Kenntnisse darunter, bewiesen, unzweifelhaft, aber zugleich sind eben diese Kenntnisse für eine andere Betrachtungsart Probleme, die uns in ein Dunkel hineinblicken lassen, das kaum ein leises Dämmern erhellt. Aber auch das allgemein menschliche Bewusstsein trägt schon von Anbeginn solche Probleme mit sich herum. Wer diese alten lichtet, steht auch immer schon in Beziehung zu den neuen, und diese wie jene, sie sollen nicht verdeckt, beseitigt, sondern an's Licht gezogen und bearbeitet werden. Und mit der dringenden Aufforderung an unsere Commilitonen, nie an der Verschüttung, wohl aber nach dem Masse der Kräfte an der redlichen Bearbeitung der wissenschaftlichen Probleme dereinst Theil zu nehmen, darf ich dann auch die Ermahnung verbinden, für ein wahrhaft gedeihliches Mitarbeiten an dieser Aufgabe sich in den schönen Studienjahren auch dadurch vorzubereiten, dass sie eine klare und starke Ueberzeugung von dem idealen Wesen und Walten in dieser Welt in sich begründen und für das spätere Leben feststellen.

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Rektorats Reden © Prof. Schwinges
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