Ueber das Zufällige,
mit Bezug auf einige Zeiterscheinungen.
Eine Rectoratsrede.
Es ist ein bekannter Gegenstand der Verwunderung, wie aus
den dem Wesen nach gleichen Bestandtheilen eines menschlichen Antlitzes
die zahllosen Physiognomien sich bilden. Wenigstens ebenso
wunderbar ist es, wie in zusammenlebenden Menschen aus wesentlich
gleichen Wahrnehmungen und Begriffen doch für Jeden eine
eigenthümliche innere Welt erwächst. Und wenn man bedenkt, dass,
wie jeder Einzelne, so auch jede Genossenschaft, Geschlecht, Stamm,
Volk, Zeitalter, Stand, oder wie sie sich sonst nennen mag, ihrerseits
besondere Gestaltungen und Färbungen der Gedanken hervortreibt,
so erscheint auch hier der Reichthum der wirklichen Erscheinungen
in einer überwältigenden Fülle. In jedem Gedankenganzen
nun giebt es Punkte des Anstosses. Da entstehen Wirbel im Strom,
— von entgegengesetzten Seiten treffen Grundsätze und Erfahrungen
zusammen; es ist, als müssten sich bleibende Stockungen und Widersprüche
bilden, aber statt dessen entsteht eine neue Vorstellung als
provisorischer Abschluss und die Gedankenbewegung geht beruhigt
weiter. Jeder Mensch hat in seiner individuellen Gedankenwelt solche
Knoten, aber auch die Zeitalter, die Lehrsysteme der Schulen, auch
das allgemeine Gedankensystem der Menschheit hat solche Anstösse.
Diese letzteren gehen natürlich durch alle Zeiten und Bildungsstufen
hindurch, sonderbare Begriffsbildungen, die so nothwendig erscheinen,
dass Jeder sie in sich selbst reproducirt. Und doch wirbelt immer
auf's Neue und heute wie vor Jahrtausenden das Denken an ihnen
widerstrebend auf, als möchte es dieselben auflösen und in Fluss
bringen oder gänzlich umgehen. Aber weder das Eine noch das
Andere gelingt.
Es ist klar, dass an diesen Punkten Probleme ganz besonderer
Art sich dem menschlichen Bewusstsein aufdrängen. Wenn auch deren
Lösung in gewissem Sinn unmöglich wäre, das Verständniss des
Problems ist doch allmählich zu gewinnen, und auch das ist schon
des gesammelten Nachdenkens werth. Ich bitte Sie, mir zu erlauben,
dass ich Sie in dieser Stunde an der Betrachtung eines
solchen Begriffes festhalte, eines Begriffes, an dem gewiss schon Jeder
in dieser Versammlung die Erfahrung gemacht hat, die ich oben
andeutete.
Es ist der Begriff des Zufälligen. Jeder unter uns bedient
sich desselben dann und wann, ich meine nicht nur, des Wortes
in seiner Rede, sondern wirklich auch des Begriffes in seinen Urtheilen.
. Gleichwohl ist auch Niemand unter uns, der nicht wüsste,
dass dieser Begriff anrüchig ist, vielleicht Niemand, der ihn nicht
irgendwie selbst für verwerflich, falsch, unbrauchbar hielte. Und so
wie wir jetzt, so gebrauchten und beurtheilten ihn die Menschen schon
vor Jahrtausenden. Das ist ein merkwürdiges Phänomen in dem
allgemeinen menschlichen Gedankengewebe und würde eine umfassende
und eindringende Untersuchung verdienen.
Zu einer solchen darf ich mich hier selbstverständlich nicht anheischig
machen. Nur einige fragmentarische Andeutungen möchte ich
Ihnen anbieten. Ich bin wir des Misslichen solcher Begriffserörterungen
in wenig strenger Form und in gemessener Zeit wohl
bewusst, aber einflussreiche wissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahre,
die ich später berühren will, drängen diesen Begriff dem allgemeinen
Nachdenken auf; so darf ich mir denn wohl für diese Betrachtung
mit besonderem Nachdruck Ihre wohlwollende Aufmerksamkeit erbitten.
Nur Einer unter den grossen Forschern des Alterthums hat
diesem Begriff etwas abzugewinnen vermocht, das ist Aristoteles;
denn was Epikur gelehrt hat, zeigt nur, dass er das gegebene Problem
wahrnahm und gegen dessen Leugner behauptete. Von einer
Vertiefung der Erfahrung und vollends von einem Verständniss
des Gegebenen entfernt er sich seiner Grundrichtung nach beständig,
während er sich ihm zu nähern meint. Aber es kann immerhin ein
Verdienst heissen, dass er die Wirklichkeit eines gegebenen Räthsels
nachdrücklich behauptet; er bemüht sich sogar, sie zu beweisen, indem
das Dasein des zufälligen Geschehens in dem der Willkür vorliege.
Seinen Anhängern späterer Zeit hat er mit diesem Gedanken ein
Erbstück hinterlassen, das nur selten in Besitz genommen wurde.
Eher wurde mit dem Zufall auch die Willkür beseitigt. Aristoteles
nun nimmt die Untersuchung so auf, wie seine reiche Sprache sie
ihm anregt. Sie giebt ihm mehrere Wörter an die Hand, die zum
Theil das Nachdenken auf verschiedene Wege leiten. Auf einen
Punkt aber legt er besonderes Gewicht, der ganz geeignet ist, unsere
Aufmerksamkeit zu fesseln. Es ist dies der Zusammenhang zwischen
diesem allgemeinen Gedanken des menschlichen Bewusstseins und dem
von ihm, dem Aristoteles, selbst in der Wissenschaft von der gegebenen
Wirklichkeit so vielfach zur Anwendung gebrachten Begriff
der Zweckursache. Indem er seine Untersuchung mit der Nachweisung
beginnt, dass wir uns bewusst sind, wo wir das Prädicat des Zufalls
anwenden, ein allgemein verständliches Urtheil auszusprechen,
deckt er dann den Zusammenhang auf, in dem dieses Urtheil mit
der Bezugnahme auf Zwecke, also mit der teleologischen Betrachtung
der Dinge steht. Von hier aus erscheint nun die Polemik der
neueren Zeit gegen jegliches Zulassen der Zufallsvorstellung in einem
besonderen Licht. Sie steht nämlich in Zusammenhang mit der
Polemik gegen den Aristotelismus, insbesondere gegen dessen Lehre
von den Zweckursachen. So ist hier der Kampf gegen eine uralte
Vorstellung des allgemeinen Denkens verschmolzen mit dem Kampfe
gegen einen Gedanken, der in seinem wissenschaftlichen Ausdruck der
philosophischen Arbeit der Sokratischen Schulen angehört. Man
bestreitet jene, als dem Vorurtheil des gemeinen Lebens entsprungen
und durch die wissenschaftliche Forschung zu beseitigen, diesen letzteren
umgekehrt als einen Gedanken, der aus dem idealisirenden Vorurtheil
der philosophischen Denkart herstammt und durch die allgemeingültige
Arbeit des nüchternen Verstandes wieder auszutilgen ist.
Es entspricht das der Stellung, welche in unseren Tagen manche
Männer der wissenschaftlichen Zunft dem Leben und der Philosophie
gegenüber einnehmen. Mit den alten Vorurtheilen des Lebens sollen
jetzt auch die Wahnbilder der philosophischen Denkart, die nur die
letzte Form der alten unbewussten Poesie ist, zergehen und aufhören,
mit der unwissenschaftlichen Theologie der Meinung auch die wissenschaftliche
der Metaphysik.
Aber vielleicht möchte mir hier Jemand in's Wort fallen:
"Wie? Das Bestreiten jeglicher Zufälligkeit soll mit dem Streit
gegen theologische Begriffe zusammenhängen? Vielmehr das Gegentheil!
Schon die Frömmigkeit, vollends aber die wissenschaftliche
Theologie zwingt uns ja, von vorn herein in der Welt für nichts
Zufälliges eine Stätte zuzulassen."
Wenn eine solche Einrede wirklich gemacht wird, so ist sie ein
Beweis dafür, dass neben der besonderen Form der Polemik gegen
das Zufällige, wie sie uns aus der Wissenschaft der letzten Jahrhunderte
stammt, jene alten berechtigten Bedenken der Menschheit
einhergehen, deren ich schon früher Erwähnung that, nur dass diese
sich ihres Unterschiedes von jenen wissenschaftlichen Streitsätzen schärfer
bewusst werden dürften. Zu solcher Aufklärung möchten meine
Bemerkungen etwas beitragen. Dies zur vorläufigen Verständigung;
nun laichen Sie mich an die Arbeit gehen.
Was nennen wir zufällig? — Nicht zunächst Dinge, sondern
Ereignisse, Dinge nur in übertragener Weise, sofern jedes gewordene
Ding in Ereignisse aufgelöst und sein Dasein als eine Verbindung
von Ereignissen betrachtet werden kann. Ein Geschehen nun
ist zufällig, wenn an demselben eine Grundlosigkeit, Mangel in Bezug
auf die Verursachung empfunden wird. Aber wie ist also dergleichen
möglich? Da, wo völlig getrennte und gegen einander gleichgültige
Ereignißreihen zusammenstossen.
In der einen wie in der andern dieser Linien war allerdings
der Zustand jedes Augenblicks völlig begründet; aber da sie ohne
alle innere Beziehung zu einander sind, bleibt doch das Zusammentreffen,
sofern dieses etwas Anderes und mehr ist als nur ein Punkt
in jeder Linie, grundlos. Aber giebt es solche völlig selbständige
Causalitätslinien? Auf dem Erfahrungsstandpunkt unzweifelhaft.
"Zufällig begegneten wir uns —zufällig ging er vorüber." Schon
in menschliches Leben ist aus verschiedenen Causalitäten dieser Art
zusammengesetzt. "Zufällig", um mit Aristoteles zu reden, "bläst
der Baumeister die Flöte und hat der Flötenbläser eine gebogene
Nase." — Aber ist das nicht bloss empirischer Schein, wie das Aufgehen
der Sonne? Sonst ist am Ende jedes Ding als Ding zufällig,
d. h. seine Einheit unvollkommen begründet, ein Zufall.
Vieles an sich gegen einander Gleichgültiges, hat zu seiner Entstehung
zusammengewirkt.
Aber so meinen wir es doch nicht. Niemand will alle Wesen
der Welt zufällig genannt wissen, am wenigsten gerade die wichtigsten,
wohl gar die weit selbst. — Aber wie meinen wir es denn?
Ist denn Alles gleich sehr vollkommen begründet, also Alles durch
und durch nothwendig? — Woher denn jenes sonderbare Prädicat?
Es will doch offenbar allgemein menschliche Erfahrungen aussprechen
helfen. Wäre denn zwischen Nothwendigkeit aller Erscheinungen und
Zufälligkeit aller Dinge die Wahl zu treffen? Starre Einheit, die
alles Leben zum Schein macht, oder ein Auseinanderfallen des
Vielen, bei dem die Welt zum blossen Namen herabsinkt?
Hier tritt nun die alte Weisheit herzu. Freilich, — gäbe es
nur eine Ursachlichkeit und Begründung, so wäre alles, was in der
Welt Grundlosigkeit heisst, täuschender Schein; anders aber, wenn
es mehrere Ursachen oder Principien giebt. Dann kann ja ganz
wohl eine Einheit, ein Wesen von unten her vollkommen verursacht
erscheinen, aber von oben her fehlt eine Begründung seines Daseins.
Oder umgekehrt, was von den vielen Punkten des Umkreises aus
in gleichgültigem Nebeneinander fortgetrieben wird, kann zugleich,
von einem Mittelpunkt aus gelenkt, in diesem bereits zu der späteren
Einigung in Verhältniss stehen.
Dann erscheint die Zufälligkeit auf einmal als zulässig und
denkbar. Sie leugnet nicht jede Begründung, sondern nur einen
Theil, ein Glied derselben vermisst sie.
Den Hintergrund dieser Gedanken bildet eine berühmte Lehre
der griechischen Metaphysik. Die höchsten Ansichten der Alten beruhen
stets auf einfachen Betrachtungen. Daraus entspringt ihre
Lebenskraft, mit der sie durch die Jahrtausende hindurch sich immer
wieder verjüngen. Aber diese ungekünstelte Grossheit der Grundgedanken
schliesst ebenso wenig die höchste Feinheit der Entwickelung
derselben aus, als ihre kühnste Formulirung in schwer zugänglichen
Abstractionen. Beides tritt bei Aristoteles hell hervor, die hohe
Einfalt der Grundlagen und die Kunst der wissenschaftlichen zünftigen
Arbeit. Es ist die ehemals allgemein bekannte und viel gepriesene
Lehre von den vier Ursachen, die ich hier kürzlich zu erörtern
habe.
Was suchen wir, wenn wir ein gegebenes Ding ganz verstehen
wollen? Als ein Daseiendes würde es nur ein Auffassen
fordern. Das Werden ist es, welches die Arbeit des Erklärens
und Ergründens hervorruft. Aus welchen Grundelementen ist nun
die Frage nach dem wirklichen Werden der Dinge zusammengesetzt?
Um das zu erkennen, wird man ein Gewordenes scharf in's Auge
fassen müssen, und zwar wird dieses ein Ding sein müssen, an dem
das Werden möglichst vollständig erkennbar ist, vor Allem also auch
ein wirklich zu Stande, zur Vollendung gekommenes Ding; denn
vom Bekannteren muss unsere Erkenntniss zum Unbekannten fortschreiten.
Solche Dinge aber sind die Werke menschlichen Kunstfleisses.
Aber führt das nicht direct zum Anthropomorphismus? Liegt
hier nicht der Wahn zu Grunde, dass das Reich der Wahrheit im
Menschen zu finden sei? Wir suchen ja die Erkenntniss der natürlichen
oder doch der grossen Dinge, aus denen die Welt besteht,
nicht der künstlichen, die freilich gar leicht erklärbar sind. —Daraus
würden die Alten vorläufig etwa Folgendes erwidern: auch die Kunst
gehöre zur Natur und auch der arbeitende Mensch zur wirklichen
Welt. Sind also in der Kunst und in der Arbeit Principien erkennbar,
die sich nicht auf andere zurückführen lassen, so gehören
auch diese zu den Principien der Welt, und wir sind berechtigt, uns
überall in den weltlichen Erscheinungen nach ihnen umzusehen. In
welchem Umfang dieselben in ihnen wirksam sind, muss die Erfahrung
lehren. Dadurch aber, dass sie etwa nur in einer engeren
Sphäre sich offenbaren, hören sie nicht auf, ursprüngliche zu sein.
Eben diese Sphäre der Wirklichkeit könnte ja doch ohne sie nie verstanden
werden. Freilich wird hierbei vorausgesetzt, dass man im
Ernst ein Werden behauptet. Bei den menschlichen Werken ist ja
dies wirklich der Fall. Sie waren nicht da, bevor sie entstanden.
Bezweifelt man insgeheim die Wahrheit des Werdens, wie das in
Bezug auf die natürlichen Wesen wohl vorkommt, indem man etwa
meint, es gebe da nur Veränderungen in den äusseren Verhältnissen,
in der Stellung, Figur, Grösse, dann fällt natürlich auch die eigentliche
Erklärungsarbeit hinweg. Mit dem Räthsel verschwindet die
Lösung.
Das Gebäude, in dem wir versammelt sind, wie ist es zu
Stande gekommen? Ohne die Steine und das Holzwerk, und was
sonst als Material darin verarbeitet ist, wäre es nicht da. Man
kann sogar mit einem gewissen Rechte behaupten, es bestehe ganz
und gar eben ans seinem Material und ausser diesem sei gar nichts
darin zu finden. Das Nachdenken aber führt sogleich weiter. Die
Arbeit aller derer, die jene Stoffe herbeischafften und zusammenfügten,
auch sie ist in diesem Gebäude zu dauerndem Sein niedergelegt,
also die Stoffe und die bewegenden Kräfte. Aber diese allein
hätten das Haus nicht hervorgebracht; denn sie wären gar nicht zusammengekommen
und so wären die Steine nie Material dieses
Hauses und die kräftigen Männer nicht Arbeiter an demselben geworden,
wenn nicht der Plan des Baumeisters vorhanden gewesen
wäre, der jedem Stein und Balken seine Gestalt und seinen Ort
bestimmt hat, der also alle Bewegungskräfte leitete und beherrschte.
Endlich aber, dieser Plan selbst wäre nie entstanden, der Geist des
Baumeisters nicht angeregt worden, wenn nicht der Zweck dagewesen
wäre, dem dieses Gebäude gewidmet ist. Dieser Zweck war es, der
in dem Willen der Besteller Ursache ward, das Zusammenwirken
jener drei Elemente hervorzurufen, der die fortbildende Kunst des
Baumeisters, die Kräfte der Arbeiter und die mannichfaltigen Baustoffe
vereinigte.
In dieser einfachen und verständlichen Erwägung sind nun
alle die Gesichtspunkte bezeichnet, die bei der Erklärung dieses gewordenen
Dinges in Betracht kommen. Jedenfalls also wird ihre
Anwendbarkeit bei jedem gewordenen und werdenden Dinge versucht
werden können. Dabei ist es ganz richtig, dass, wo Producte der
Natur oder der Geschichte ergründet werden sollen, diese Gesichtspunkte
in sehr allgemeinen Begriffen gedacht werden müssen. Es
mag Schwierigkeit haben, so einfache Abstractionen in unsere Gedanken
zu fassen. Wie haben nicht Platon und Aristoteles den
Gedanken der Materie verfeinert, indem sie ihn mit dem der Möglichkeit,
der Grösse, des relativ Nichtseienden identificirten! Und sodann,
wie schon erwähnt wurde, die Erfahrung wird entscheiden
müssen, welche von diesen Grundbegriffen sich in jedem gegebenen
Fall als unbrauchbar erweisen. Da kann es kommen, dass man
zweifelt, ob z. B. der Begriff der Materie oder des Stoffes in irgend
einem natürlichen Werden dem wahren Verständnis Hülfe
bringe, ob da nicht Alles Kraft sei und Bewegung ohne ein Bewegtes,
Trägen, Widerstehendes; ebenso, ob wirklich feste Formen,
Ideen, in der Natur sind, die den Gegenstand einer wahren Wissenschaft
bilden, oder ob, wie der Stoff, so die Form in der Natur
keine Wahrheit hat und Alles nur Fluss und Uebergang und Metamorphose
ist. So kann man zweifeln und fragen. Aber da nun
doch einmal daseiende Wesen als Erzeugnisse des Werdens überall
der Erfahrung sich darstellen, so wird jener Zweifel immer wieder
einer andern Bemühung Platz machen, entweder derjenigen, jene
Grundgedanken, statt sie zu verwerfen, den Aufgaben entsprechend zu
bearbeiten und auszubilden, etwa auch sie zu berichtigen und besser
zu formulirt, oder dem Versuch, nach dem tiefer erkannten wissenschaftlichen
Bedürfniss ein neues, besseres System solcher Principien
des Weltverständnisses aufzustellen. Aber stets werden wir darauf
hinauskommen, in dem Werden der Welt mehrere Principien, höhere
und niedere, zum Herrschen und zum Dienen bestimmte, ideale und
reale, zu unterscheiden, — wohlgemerkt, in der Welt als solcher, in
diesem ungeheuren Bau von Verwandlungen selbst, Principien daher,
deren keines mit dem Herrn der Welt zu identificiren ist. Versucht
man das mit dem idealen, so wird das andere von selbst das absolute
Nichts und es kommt Pantheismus heraus, d. h. eine unmögliche
Lehre. Neigung dazu ist in unserer heutigen Weisheit, selbst
in der christlichen, weil sie im Gegensatz zum Alterthum die Welt
gern idealisirt, wie ich später ausführen will.
Dieses sind die Gedanken, die neben anderen als leitende
Grundbegriffe den Aristotelismus der früheren Zeitalter charakterisiren.
Es ist bekannt, dass sich die neuere Wissenschaft im siegreichen
Kampfe gegen die Lehren der Aristotelischen Schulen gebildet und
ihre Methode und ersten Resultate festgestellt hat, auch das, dass
dieser Sieg zu den folgenreichsten Ereignissen in der Geschichte des
geistigen Lebens unserer Völker gehört. Das wäre nun wohl kaum
der Fall, wenn der Sturz des Aristotelismus nichts Anderes bedeutete
als die Beseitigung einer Anzahl von kosmologischen Irrthümern.
Aber er enthielt noch etwas ganz Anderes, nämlich das
Aufgeben einer wissenschaftlichen Forschungsart, nicht das Vertiefen
derselben oder ein ursprüngliches Neugestalten, sondern das Abwerfen
des höchsten Gliedes in dem Ganzen der bisher betriebenen Erkenntmassarbeit.
Es war zunächst nur die Lehre von den Zweckursachen, die
man beseitigen zu müssen glaubte. Es hat einige Zeit gedauert, ehe
man erkannte, dass mit der Wahrheit des Zweckbegriffes auch
die der Formen oder Ideen hinfalle, und noch jetzt wird das von
Vielen bezweifelt. Mit dem Formbegriff verliert aber auch der antike
Begriff der Materie seine Begrenzung und auch er löst sich
auf. Es bleibt also nur der Gedanke der Mechanik, die bewegende
Kraft, als Princip übrig; Materie, Form, Zweck fallen hin. Und
so wären wir wieder bei jener starren, tödtenden Einheit der Welt
angekommen, aus welcher die alte Weisheit uns einen Ausweg
bahnen wollte.
Als sich im Anfang der neueren Geschichte eine selbständige
Naturforschung und eine begrenzte Philosophie in inniger Gemeinschaft
entwickelten, war beiden das Bestreben eigen, ihr Gebiet gegen
das der geschichtlichen menschlichen Dinge abzuschliessen. Jede Beschränkung
bringt neben den Vortheilen auch Gefahren mit sich und
ruft leicht Missverständnisse und Irrthümer hervor. Man braucht
nicht beim Nachdenken den Geist oder das Gute zu Gegenständen
der Untersuchung zu machen, aber nachdenken kann doch nur der
Geist und das Nachdenken kann nur lebendig erhalten werden durch
das Gut der Erkenntniss, das uns vorschwebt. Der Geist ist es,
der in jeder Wissenschaft die Fragen stellt, und er ist es auch, der
sie beantwortet, indem er den fremdartigen Gegenstand zwingt, ihm
dabei behülflich zu sein. Desshalb ist es unmöglich, dass ein Erkennen
zu Stande kommen sollte, das nicht vom teleologischen Wesen der
Forschung und von der Natur des Geistes mitbestimmt wäre. Der
Geist kann nicht nur ein besonderes Ding neben anderen Dingen
sein; wäre das, so gäbe es keine Wissenschaft.
Aber auch in der Natur als Forschungsgegenstand hat
doch das Zweckprincip seine unvertilgbare Stätte. Wer hält nicht
in voller Wahrheit das Auge für ein Werkzeug? Es ist klar, dass,
wer das Bewusstsein von Zwecken und Mitteln nicht hätte, nie ein
Auge begreifen könnte, gesetzt auch, wenn das möglich wäre, dass er
alle mechanische Wissenschaft besässe und das wunderbare Gebilde
ganz nachzuahmen vermöchte. Er würde eben nie wissen, was er
mache. Wie uns erst die Mathematik die Krystallformen aus den
mathematischen Formbegriffen verstehen lehrt, obgleich kein menschlicher
Mathematiker sie gemacht hat, so wird uns das Verständniss
der Sinne und der Sinnenwelt erst eröffnet durch eine Forschung, die
Zwecke und Mittel kennt, obgleich keine menschliche Kunst jene formte.
Aber Sie werden schon lange fragen, wohin denn der Begriff
des Zufälligen gerathen sei, den ich untersuchen wollte.
Ich habe ihn nicht aus den Augen verloren und will jetzt
wieder zu ihm einlenken.
Schon früher ist der Einwendung gegen die Teleologie in der
Welt gedacht worden, daß doch das zweckliche Verhältniss keineswegs
alle Dinge in der Erfahrung unter einander verbindet. Das ist
ganz richtig und war natürlich auch den Alten nicht entgangen.
Vieles scheint weder Zweck noch Mittel zu sein und Vieles sogar
sehr unzweckmässig. Ich wiederhole, dass das der Ursprünglichkeit
dieses Princips keinen Eintrag thut, wohl aber seiner empirischen
Allgemeingültigkeit. Letzte absolute Geltung wird es behalten, da
es Princip ist, aber in den Beziehungen der vorübergehenden Erscheinungen
begrenzter Sphären werden wir die Wirklichkeit immer
erst darauf ansehen müssen, wie weit in ihr die teleologische Macht
erkennbar ist.
Hier nun eben tritt das Zufällige seinem ganzen Sinne nach
hervor. Wo die Wirksamkeit der Zweckursache fehlt, da doch an sie
gedacht, sie also vermisst wird, oder wo ein Ereigniss einer teleologischen
Wirkung ähnlich sieht, da doch in Wirklichkeit der durch
dasselbe erreichte Zweck in keiner Weise Mitursache desselben war,
da ist ein Zufall. Hier decken sich die Ursachen der weltlichen Erscheinungen
nicht. Es sind gleichsam Lücken und Mängel in dem
Gefüge der Begebenheiten, dieselben sind nur unvollkommen begründet.
Nicht in den Bewegungsvorgängen der wirkenden Ursachen fehlt
etwas, vielmehr diese lassen keine leeren Räume zu, weil sie die
niedrigsten und somit schlechthin allgemeinen sind. Aber das Eingreifen
der Ideen und Zwecke, des Verstandes und des Guten setzt
vielfach aus und diese Zwischenräume werden durch gute und böse
Zufälle angefüllt. Es ist ein böser Zufall, wenn Jemand im
Dunkeln über etwas stolperte, das da lag, aber nicht da liegen
sollte, und sich ein Auge ausfiel. Was den Mechanismus betrifft,
so hatte da freilich Alles seinen völlig zureichenden Grund. Aber
die Zweckursache fehlte und ihr Wirken vermissen wir. Und wenn
ein längst nicht mehr gesuchtes Schriftstück, an dessen Dasein etwa
das Lebensglück eines Menschen hängt, durch eine ohne jeglichen
Bezug darauf vorgenommene Zertrümmerung eines Schreins wieder
zum Vorschein kam, so ist das ein glücklicher Zufall, eben weil der
teleologische Bezug, der sich aufdrängt, die Abwesenheit des Zweckes
als einer Ursache scharf ins Licht stellt.
Es ist natürlich, dass dieser Gedanke des Zufalls vorzüglich
im menschlichen Leben seine Stätte hat. Während die Natur ihre
sicheren Wege geht, wird das menschliche Leben vom Schicksal, von
Zufälligkeiten durchkreuzt. Denn je mehr sich die Gedanken des
Guten und Besseren aufdrängen, desto leichter wird ihre Wirksamkeit
vermisst.
Auch was Aristoteles bei Aelteren gefunden hat, wonach der
Zufall etwas Göttliches oder Dämonisches zu sein scheine, wird hier
verständlich. Wie bei den Alten, so ist auch bei uns dieser Gedanke
wohlbekannt. Es hat schon Jeder gewissen Ereignissen gegenüber
den Eindruck empfunden, der sich in jenem Urtheil ausspricht, wie
nämlich auf ganz unberechenbare Weise durch ein Zusammentreffen
von Vorgängen, die offenbar ganz ohne inneren Bezug auf einander
waren, das Erreichen eines Zweckes ermöglicht wurde, der nur gerade
hier und jetzt erreicht werden konnte, — wenn nicht, dann nie und
nirgends wieder. Da steigert sich der Zufall zum wunderbaren Geschick.
In uns wird ein Gefühl aufgeregt, das zwischen Andacht
und Grauen hin und her schwankt. In der That kann das Gefühl
des Göttlichen nicht da rein auftreten, wo eine Wahrnehmung mangelhafter
Beziehungen zwischen den bedürftigen Wesen dieser Welt den
Hintergrund des Bewusstseins bildet. und doch ist es auf der anderen
Seite eine Hindeutung auf eine überweltliche Macht, dass, auch
wo die weltlichen Dinge wirklich von idealen Kräften verlassen erscheinen,
doch in ihnen ein Gelingen möglich ist, das über den erkennbaren
Zusammenhang hinausgreift. Durch eine in allen Stücken
teleologisch geordnete Welt könnte uns nie ein so starkes Gefühl von
der Lebendigkeit ihres Herrn erweckt werden als durch eine solche,
in der das Zufällige in's Erhabene verklärt werden kann, wie auch
für uns Menschen sich wohl darin die vollkommenste Lebensgestaltung
ahnen lässt, dass das Leben Zufälle und Unsicherheit aller Art einschliesst.
Aus diesem Zusammenhang nun, in welchem der Gedanke des
Zufälligen mit dem des Idealen steht, folgt von selbst, dass das
Bekämpfen der Idealursachen in der Wissenschaft des 17. und 18.
Jahrhunderts auch ein Bestreiten des Begriffes zufälliger Erscheinung
mit sich führte. Das ist nun in der That der Fall. Von da an
wurde es gebräuchlich, diesem Begriff jegliches Recht in einer auf
wahres Verständniss der Erscheinungen gerichteten Geistesarbeit abzusprechen.
Während die Wissenschaft denselben bis dahin in verschiedenen
Beziehungen meist unbedenklich gebraucht hatte, wurde er nun
aus der Forschung als ihrer unwürdig verbannt. Keiner der grossen
Repräsentanten der neueren Wissenschaft vertritt diese Abneigung
entschiedener als Spinoza. Ihm gegenüber zeigt Bacon eine feinere
Kritik. Aber bei Spinoza sieht man auch zugleich sehr deutlich, wie
diese Beseitigung des alten Begriffes gemeint war. Ich meine ihren
Zusammenhang mit dem Streit gegen die Teleologie. Wie er den
Begriff des Zufälligen für nichtig erklärt, so sind ihm auch die Endursachen,
die er aus der Volksmeinung sehr grob sich verdolmetscht,
Erdichtung und Tollheit, die die Natur umstürze und das Unterste
zu oberst stelle. — Bacon, dem ganz andere Kenntnisse aus der alten
Schule zu Gebote standen, der auch ein viel regeres Wissensbedürfniss
hatte, als Spinoza, und umsichtiger und geistreicher war,
beginnt mit ähnlichen Sätzen, dann aber macht sich sein weiter Sinn
geltend, es drängen sich ihm Betrachtungen anderer Art auf, und indem
er die Theilung der Wissenschaften bedenkt, fasst er Ansichten,
die, ernstlich vertreten und weiter verfolgt, für unser ganzes geistiges
Leben sehr förderlich hätten werden können. Er will nämlich nun
nur die Erforschung der Form- und Zweckursachen aus der Physik
ausgeschieden wissen, sie soll das Gebiet der Metaphysik bilden.
So lässt sich denn auch Bacon die Zufälle nicht aus der wirklichen
Welt streichen; er spricht die Ueberzeugung aus, dass der Zufall
nicht altere und dass er in der Welt noch manche erwünschte Dinge
gebären werde.
Bei der immer zunehmenden Erkenntniss von der Bedeutung
der Mathematik für die Naturwissenschaft gewannen die allgemeinen
Tendenzen der Cartesianischen Schule, die Spinoza am strengsten vertrat,
zunächst die Oberherrschaft. Trotz der Einreden Leibnitzens
wurde von den energischeren Geistern die Zweckursache als ein krankes
Gebilde der Wissenschaft abgeschnitten, mit ihm natürlich auch der Gedanke
des Zufälligen als ein Auswuchs an diesem Auswuchs. Als
eine Voraussetzung strenger Wissenschaft ging das dann in die allgemeine
Ueberzeugung der Denkenden über. Wenn Lessing die Gräfin
Orsina ausrufen lässt "Zufall ist Gotteslästerung —nichts unter
der Sonne ist Zufall," so ist das wohl nur eine religiöse Formulirung
jener wissenschaftlichen Ansicht.
Das kann man nun freilich bezweifeln — wirklich klingt in
seinem Zusammenhang das Wort nicht gerade Spinozistisch. Viele
werden einen schönen Ausdruck reiner Frömmigkeit darin zu vernehmen
glauben. Wäre es dennoch zugleich ein Gedanke eines
wissenschaftlichen Systems, so werden Sie sich freuen, dass hier ein
grosser Grundsatz dem wissenschaftlichen Mann mit dem Christen
gemein ist.
In der That ist hier ein sonderbarer Punkt, in dem der fromme
Glaube mit dem Naturalismus der letzten Jahrhunderte nahe zusammentrifft.
Wie das zugeht, ist nicht schwer einzusehen.
Leugnet etwa auch die Frömmigkeit das Wirken der Ideale?
Ganz im Gegentheil, sie hat ihren Frieden in der Ueberzeugung, dass
die Welt mit Allem, was in ihr wird, aus dem allgütigen Geist
herstammt. Es ist einleuchtend, dass man von dieser Betrachtung
aus in Bezug auf das Zufällige zunächst zu einem gleichen Resultat
zu kommen scheint wie jenes, das aus der Leugnung der idealen Ursachen
hervorging; denn eben aus der Mehrheit der Grunde erwuchs
die Dankbarkeit zufälliger Vorgänge. Für diese gilt es also gleich, ob
man die Ideale oder die Materie leugnet. Du christliche Frömmigkeit
unserer Tage hat in der That trotz aller Verschiedenheiten der Meinungen
manches Gemeinsame, das ihr aus dem geistigen Leben dieses
Zeitalters stammt. Dazu gehört die starke Abneigung gegen jegliches
wie auch immer bestimmte dualistische Element in der Weltansicht.
Sie hat nicht Unrecht, den Keim zu dualistischen Gedanken auch in
jener Lehre von den vier Ursachen zu finden. In der niederen Hälfte
derselben, besonders aber in dem antiken Begriff der Materie findet
sie einen Rest des Heidenthums. Von diesem will sie die Lehren der
Sokratischen Schulen reinigen und sie so zur echten Weisheit verklären.
Aus dem Guten allein, ohne alles Herbeiziehen eines Nothwendigen,
eines dunklen ονχ άνεν, ohne Materie soll das ganze Werden
der Welt verständlich sein.
Hier freilich stehen wir, um das Platonische Bild zu gebrauchen,
vor einer Welle, die uns über den Kopf geht. Lassen Sie mich mit
ein paar Sätzen hindurchbrechen. Dass Gott nicht als ein beschränkter
Herrscher gedacht werden kann, ist gewiss richtig. Der Eine, der
wirklich der Regent der Welt ist, der hat alle Vielheit unter sich,
auch die der höchsten Principien. Aber auch Aristoteles schliesst seine
methaphysischen Untersuchungen mit dem Worte ab: "Nur einer sei
Herrscher!" Dass gleichwohl die Welt der Erfahrung ein Geschehen
einschliesst, das nicht aus dem reinen Ideal stammt, ist durch das
Böse gewiss, für den nämlich, der den Unterschied zwischen Gutem
und Bösem ernstlich nimmt. Ich meine nicht bloss im Leben, was
freilich die Hauptsache ist (und der Fall sein kann trotz aller Irrthümer
der Theorie), sondern auch in der Wissenschaft. Da tritt
denn sofort das Bedürfniss in's Licht, die Schöpfung, damit ich mich
an gebräuchliche Formeln halte, von der Weltregierung zu unterscheiden.
Sowie man aber diesen Gedanken in seine Tiefe verfolgt,
findet man da die Unterscheidung höherer und niedrigerer Weltprincipien
wieder. Und damit ist auch der Raum für das Zufällige in
Leben und Geschichte wieder gefunden.
Aber vielleicht will der Glaube gar nicht, dass ihm ein solcher
Raum aufgedeckt werde? — In der That, der ganz ungetrübten,
kindlichen Frömmigkeit hat die Philosophie nichts zu sagen. Jene
bedarf ihrer nicht und diese schweigt gern, wo ihre Belehrung gar
nicht verlangt wird; denn höchstens vermag sie doch nur das Dunkel,
das uns umgiebt, etwas zu lichten, nicht aber dasselbe in hellen Tag
zu verwandeln. Wie sollte sie also dem, der die dunklen Gebiete
der Wirklichkeit gar nicht als solche verspürt, ihre Hülfe anbieten
wollen? Wer im Licht der Sonne wandelt, der bedarf keiner Fackel.
Und dies ist sehr ernstlich von mir gemeint. Es giebt Gemüther,
in denen Angst und Sorge nicht mehr auskommen. In dem Bewusstsein
solcher Seelen hat wirklich der Gedanke des Zufälligen keine
Stätte mehr; sie leben schon im Jenseits, und da sind ihnen die
Härten und Lücken dieser Welt schon unsichtbar geworden.
Aber solche Menschen sind selten. Meistens bleibt auch bei
wahrem Vertrauen doch bei manchen Ereignissen, die wir zufällig zu
nennen pflegen, ein Gefühl von Unbefriedigtheit, ja von Grauen in
der Seele, und wo das der Fall ist, da tritt auch ein Sinnen und
Grübeln hervor. Man will jenes Wort nicht und kann sich doch
seiner nicht entschlagen. Solchen Bedürfnissen kann das unterscheidende
und begränzende Nachdenken einigen Dienst leisten. Es kann uns,
von den angedeuteten Gedanken ausgehend, lehren, dass der Begriff
des Zufälligen nichts Höheres, aber auch nichts Geringeres ist als
eine Erfahrungsvorstellung der beurtheilenden Beobachtung, gerade so
wahr wie alle abstracten Erfahrungsprädicate dieser Art, die dem
Reiche des Lebens und der Geschichte angehören. Denn zu diesen
gehört sie, — sie beruht auf dem Bewusstsein von Höherem und
Niederem, Zweck und Mittel, Idealem und bloss Natürlichem, und
war auf diesem Bewusstsein, wie dasselbe aus der unverklärten Wirklichkeit
entspringt. Denn da sehen wir ideale Mächte des Guten und
des Geistes, der Seele und des Lebens wirklich in Kampf und Arbeit
und von Gleichgültigkeit und Widerstreben umringt. Zunächst
so in der menschlichen Geschichte und freilich hier allein uns ganz
verständlich, dem forschenden Denken zu bewusster Nachbildung offen
liegend; denn da arbeiten der gute Wille, die sittlichen Ideale, indem
Seelen- und Körperkräfte von denselben ergriffen, erfüllt, geheiligt
werden, an dem Material des natürlichen Menschen. Und uns ist
beides ganz erkennbar, denn beides ist ja in uns selbst, die wir an
dem geschichtlichen, sittlichen Leben Theil haben. Aber in der Natur
ist schon ein verwandter, vorbildlicher Kampf nach der vollen und
höchsten Lebensoffenbarung, und gleichgültige Kräfte verrichten dabei
kalt, innerlich unbetheiligt, ihren vorübergehenden Dienst, und auch da
misslingt noch Vieles und Lücken des teleologischen Zusammenhangs
liegen nackt vor unseren Augen da. Ganz ähnlich, wie, wo ein Verbrechen
sich ereignet, wir mit Recht etwas vermissen, nämlich die
Tugend, vielleicht auch das wache Auge der Obrigkeit, so vermissen
wir auch die Krafthülfe, deren das ideale Wesen bedurft hätte, wenn
im Mutterleibe Zwillinge zusammenwachsen oder wo sonst ein verfehltes
Gebilde uns die Mängel dieser Welt aufdeckt. Dass wir
aber dennoch jenem Kopfschütteln einer zu kräftigen Frömmigkeit nicht
nur persönliche, sondern auch objective Wahrheit zuschreiben können,
das kommt daher, dass wir theils erkennen, theils ahnen, einmal, wie
das in der Weltherrschaft Gottes nichts ändere, sodann, wie die wirklichen
teleologischen Mängel in den einzelnen Dingen dieser Welt
den Gedanken von der höchsten teleologischen Vollkommenheit des
Ganzen keineswegs ausschliessen. Nur dass jene dadurch in keiner
Weise zu bloss scheinbaren Mängeln werden. Es vollzieht sich in
der Welt eine innere allgemeine Arbeit, deren Geheimniss sich uns
in der Geschichte unseres Geschlechts, die auf den freien und guten
persönlichen Geist hinzielt, einigermassen enthüllt.
Aber warum Ruhe ich mich, dem Gedanken des Zufälligen
ein gewisses beschränktes Recht zu vindiciren? — Weil die Anerkennung
dieses Rechtes zusammenhängt mit der der idealen Gründe
in dieser Welt. Daher kommt es, dass dieser Begriff, der dem höheren
menschlichen Urteilsvermögen angehört und unter uns im allgemeinen
Bewusstsein lebendig ist, einer unvollkommenen Betrachtungsart der
höheren Dinge gegenüber eine treffende, abwehrende Kritik übt. Gewinnt
nun die Behauptung allgemeine Geltung, dass es mit dem
Begriff des Zufälligen nichts, dass er für das Erkennen ganz unbrauchbar
ist, so wird diese natürliche Kritik an sich selbst irre. Das
Bewusstsein selbst aber ist nicht auszutilgen. So wirkt es nun wie
ein Strom, dem man sein altes Bett abdämmt; der bricht über
Damm und Ufer und überschwemmt die ganze Ebene. Auf diesem
Punkte stehen wir mit diesem Gedanken. Er droht über alle Wirklichkeit
auszubrechen, und indem dann auch zwischen Nothwendig und
Zufällig die Schranke zerbricht, unser ganzes Gedankenleben zu verschwemmen.
Während die Wissenschaft sich der mechanischen Nothwendigkeit
freut, meint das allgemeine Bewusstsein, sich eben beruhigen
zu müssen bei dem ihm unvertilgbaren Gedanken von der Zufälligkeit
aller Dinge. — Hier wende ich mich nun unserer neuesten
Wissenschaft zu.
Die religiöse Abweisung des Zufälligen ist ihrem Ursprunge
nach gerade entgegengesetzt der naturalistischen. Jene geht von dem
Glauben aus, dass Alles in der Welt aus Zweckursachen, nämlich
aus dem reinen Stoff göttlicher Absichten, verstanden werden müsse,
diese von dem Grundsatze, dass die Zweckursache ein widersprecher
Begriff, also unmöglich sei; jene stellt eben das Zufällige beni Absichtlichen
entgegen, diese dem Nothwendigen. Aber indem beide
Strömungen sich doch darin vereinigten, überall eine vollständige Begründung
der Erscheinungen zu behaupten, so erwuchs daraus dem Gedanken
von der principiellen Einheit aller Wirklichkeit und einer gewissen
Idealisirung der Welt eine Macht, wie er sie noch nie gehabt hat;
denn darin wenigstens schienen sich die Theologie und die philosophische
Physik einig. Es wurde jetzt möglich, an eine Verschmelzung zwischen
Religionslehre und Naturalismus zu denken, wie sie in der deutschen
Philosophie nach Kant allmählich zu gelingen schien. In Kant selbst
war der dualistische Gedanke, das Unterscheiden des Realen vom
Ideal, kräftig gewesen. In Schelling arbeitete das Bewusstsein von
der Mehrheit der Principien in dem Einen sich früh durch, und noch
am Abend seines Lebens hat er sich des ihm heller als irgend einem
Zeitgenossen aufgegangenen Verständnisses der Aristotelischen vier
Ursachen gefreut. Fichte und Hegel waren es, die am stärksten auf
eine vollkommen einheitliche Erklärung aller Dinge drangen. Jener
—so kann ich mich hier wohl ausdrücken — leitet sie aus der practischen
Vernunft ab, also aus dem Aristotelischen Zweckprincip, dieser aus
der theoretischen Vernunft, welche als das Princip der Formen oder Begriffe
betrachtet werden darf. So entstand jene eigenthümliche geistige
Atmosphäre, in der Schleiermacher mit seinen herrlichen Arbeiten für die
Glaubenslehre das begeisterte Lob Spinoza's, das er in seiner Jugend
verkündigt, immer noch vereinigen konnte und in der unser grösster
Dichter bei diesem poesielosesten aller Philosophen Licht und Beruhigung
fand. Was bei ihnen gleichzeitig Raum hatte, trat bei Anderen
successiv ein. Wir haben es erlebt, wie Männer, die in Hegel's
Schule gelernt hatten, alle Wirklichkeit aus Ideen abzuleiten, aus
dem reinen Geist mit grosser Leichtigkeit zum derbsten Materialismus
umsprangen, und zwar fast ohne das Bewusstsein, dass eine Veränderung
in ihren Gedanken vorgegangen sei. Und nicht nur bei
Einzelnen, — im Grossen und Ganzen unseres wissenschaftlichen
Lebens hat etwas Aehnliches stattgefunden. Nachdem wir in einer
Verherrlichung der Wirklichkeit geschwelgt hatten, die sie ganz idealisch
erklärte, ist überraschend schnell in der öffentlichen Meinung eine
völlige Umkehr eingetreten, und zwar so, dass man glaubt, die Wirksamkeit
wahrer Ideale als ein längst überwunden Vorurtheil belächeln
zu dürfen. Alles Derartige soll nur als vorübergehende
Figur und Wirkung der Naturkräfte behandelt werden, nicht im
Sinne Bacon's, einer Theilung der wissenschaftlichen Arbeit entsprechend,
sondern diese Kräfte sind das einzig Wesenhafte, deren
Kenntniss allein also wahres Wissen, und dieses soll gelten, wie in
der Natur, so auch in der Geschichte. Alle Principien der Beurtheilung
und Werthschätzung nur relativ, bedingt, also ohne Wesen
und ursprüngliche Macht; diese komme nur den wirkenden Ursachen
zu. Diese also die Wahrheit, jene der nach Naturgesetzen wechselnde
und also auch durch Kunst so oder so erzeugbare Schein. Und überall
stimmen Männer, die die idealistische Schule durchgemacht haben,
dem unbedenklich und rückhaltslos zu, als wäre das eigentlich immer
ihre eigene Meinung gewesen. — Ich denke, dieser merkwürdige Umschlag
in der wissenschaftlichen Sinnesart zeigt deutlich, was ich mit
der Behauptung meine, dass das Uebertreiben der Tendenz, alles
Werden schlechthin nur aus einem Princip oder aus einer Principienart
und in einer Richtung zu erklären, das Verwerfen also
einer jeglichen Mehrheit von Erklärungs- und Werdegründen dem
wissenschaftlichen Nachdenken einen Hintergrund giebt, in dem auch
die höchsten Unterschiede keine Festigkeit mehr haben, sondern haltlos
in einander zerfliessen. Leichter Wechsel der Gesinnung offenbart
deren Oberflächlichkeit. Eine Welt, die aus einem Element, in
einer Richtung gewebt ist, hat keine Tiefe. Einer solchen Welt
gegenüber muss die wissenschaftliche Gesinnung oberflächlich bleiben.
Tiefe ist nur, wo Geheimniss ist. Der Ernst der Forschung setzt
Geheimniss voraus, der höchste Ernst aber deutet zugleich auf einen
wahren und höchsten Kampf. Der Mann, dem das Leben kein Geheimniss
birgt, ist ein armer Mann.
Das Anschwellen dieser einseitigen Denkungsart wird nun unter
uns ganz ungemein verstärkt durch den Einfluss wissenschaftlicher
Productionen bedeutender englischer und französischer Schriftsteller.
Denn indem diese bei ihren Untersuchungen freier sind von polemischen
Hintergedanken gegen eine falsch idealisirende apriorische Vorstellungsweise,
wie sie unter uns eine Zeit lang herrschend zu werden drohte, so
zeigt sich bei ihnen die naturalistische Forschung oft gesunder oder doch
unmittelbarer, weniger negativ, daher frischer und anziehender. Unter
uns aber bemächtigt sich dann das allgemeine Interesse solcher Arbeiten
mit besonderer Vorliebe; sie werden dazu verwandt, die idealen Nachklänge
aus unserer letzten Vergangenheit vollends zum Schweigen zu bringen.
Werke dieser Art von weitgreifender Wirksamkeit und die höchsten
Interessen berührend sind in unseren Tagen erschienen und viel besprochen
worden, sowohl in der Naturwissenschaft als in der Geschichte.
Die erregende Wirkung derselben ist weit über die Grenzen der Schule
und des strengen Studiums hinausgegangen. Ich denke hierbei einerseits
an die Untersuchungen, die sich auf die Entstehung des Menschen
beziehen und die aus Darwin's glänzender Arbeit hervorgegangen
sind, andererseits an die Reform der Geschichte, die August Comte und
seine Freunde in Frankreich und England anstreben und die man durch
das Buch von Ernest Rénan, freilich sehr unvollkommen, vertreten
heissen darf. Diese Arbeiten waren es auch, die mir vorschwebte,
als ich vorhin vom Einstürzen des Dammes sprach, der das Reich
der Nothwendigkeit von dem des Zufalls trennt. Gestatten Sie mir
von meinem Standpunkt aus über diese Gegenstände noch eine kurze
Betrachtung. Zuerst über das Unbefriedigende, Verwirrende und
Täuschende in den Consequenzen, die aus jenen naturhistorischen
Untersuchungen gezogen worden sind und die allerdings in den
mangelhaften Grundgedanken derselben angelegt erscheinen; sodann
über ebendieselben Mängel, weil sie in der Geschichtsauffassung
Rénan's und seiner Lehrer erkennbar sind.
Es kann Ihnen auffallen, dass ich scheinbar weit auseinanderliegende
wissenschaftliche Versuche einander nähere. Aber dass Meinungen
derjenigen Darwin'schen Schüler, die wenigstens eine von den
Grenzfragen der Untersuchung, die Entstehung des Menschen, mit
besonderem Eifer in's Auge gefasst haben, mit der Darlegung Rénan's
über die Entstehung der Kirche Verwandtschaft haben, ist in die
Rügen fallend. Die beiden Grenzuntersuchungen der Darwin'schen
Arbeit, welche bekanntlich nur die Entstehung der vielen Pflanzen- und Thierarten
betrifft, sind ja die über die Entstehung der organischen
Natur und die über die Entstehung der Menschen; denn auch der
Mensch, gesetzt auch, er bilde eine neue Ordnung, ein Reich, oder
wie sonn man die höchsten Eintheilungsglieder nennt, ist doch in der
gebräuchlichen Terminologie eine Art. lind so wird auch das ganze
Pflanzenreich oder das der Organismen überhaupt dem Artbegriff
noch angehören, wie ja jedenfalls das unterste aller Gewächse eine
Art bildet und also die Entstehung eben dieser Art in Untersuchung
gezogen werden muss. Wenn man nun diese Begriffsreihe bildet:
das organische Leben, der Mensch, die Kirche, —so ist es nicht
schwer, hierin die drei idealen Principien späterer Aristoteliker empirisch
wieder zu erkennen: die Seele, den Geist und das Gute. Meint
man nun die Frage aufwerfen zu müssen nach der Entstehung des
Guten, des Geistes und der Seele und hat man sich einmal daran
gewöhnt, unter Entstehung die äusserliche Vermittelung der Erscheinungen
zu verstehen, wo dann das Höhere immer aus dem
Niedrigeren wird, so bleibt natürlich nichts Anderes übrig, als das
Gute aus dem Geist, den Geist aus der Seele und diese aus der
Materie zu erklären, da diese wirklich von den vier Ursachen die
unterste und letzte ist. Statt jener Ausdrücke können wir auch so
sprechen: die Kirche wird aus dem Menschen, der Mensch aus dem
Thier, das Lebendige aus dem Leblosen.
Ich führe Sie hiermit wieder an die alte Theilung der idealen
und realen Principien zurück und damit auch an den Begriff, von
dem aus ich diese Betrachtung vornehme, an den des Zufälligen.
Ich glaube nun wirklich, dass an diesem Begriff, eben wenn man ihm
nicht von vorn herein allen wissenschaftlichen Werth abspricht, das
allgemeine Bewusstsein am leichtesten sich wieder in's Klare und Echte
herausarbeitet aus der Verwirrung, in der dasselbe vielfach gefangen
ist. Dass die ganze Mannichfaltigkeit des Lebendigen als völlig zufällig
erscheine, das ist ein Vorwurf, den schon der Darwin'schen
Theorie selbst, trotz ihres schönen Festhaltens an äusserlicher Teleologie,
auch Freunde derselben oft gemacht haben. Mit Recht! Der Sinn
dieses Vorwurfs ist dieser: Zufällig ist, wie wir sahen, ein Vorgang,
der das Bewusstsein idealer Ursachen in uns erweckt, bei dem aber
zugleich ihr Wirken so oder anders vermisst wird. Nun ist aber
einmal durchaus nicht zu leugnen, dass die organische Welt im Ganzen
in uns das Bewusstsein der Ideen und einer idealischen Absichtlichkeit
hervorruft. Eben deshalb hat man ja von jeher in ihr Begriffe
zu finden und zu ordnen gesucht, in denen man Wahrheit voraussetzte.
— Ist nun die ideale Ursachlichkeit in der Natur ganz auf
die Seite gestellt, so wird sie nothwendig beständig vermisst werden.
Das heisst aber gar nichts Anderes, als dass das ganze Reich der
Organismen, wie nothwendig auch immer alle seine Wandlungen sein
mögen, doch durch und durch zufällig ist. Denn, wie gesagt, wenn
man diesen Begriff auch aus der Wissenschaft verbannt, aus dem
Bewusstsein verbannt man ihn nicht, und da übt er eine förderliche,
scheidende Kritik über eine dem Idealen sich ganz entfremdende Forschung.
Wo einer wissenschaftlichen Lehre gegenüber uns ein Reich von
höherer Wirklichkeit als zufällig erscheint, da ist dasselbe eben nicht
hinreichend ergründet. An diesem Vorwurf aber, wenn er erwogen
wird, bricht sich dann von selbst jene falsche Durchführung der Darwin'schen
Theorie über ihre letzten Grenzen hinaus, jenseits deren
sie gar keine Wahrheit mehr hat. Volle Wahrheit hat sie nur da,
wo wirklich im Reiche des Organischen zufällige, d. h. ideenlose Gestaltung
ihr Wesen treibt. Wo das der Fall ist, da ist gar nichts
weiter zu erkennen, als was diese Untersuchungsweise uns finden
lehrt. Wo die Idee selbst waltet, wo das Ideal der Natur, welches
die lebendige Seele ist, in festen Stufenerscheinungen auf Grund des
Naturgesetzes sich offenbart, da lehrt uns jene Forschung nur die
eine Seite der Sache ergründen und in's Licht stellen, nämlich wie
durch äusserliche Vermittelung in allmählichen Uebergängen die bleibenden
Harmonien des lebendigen Chors erreicht werden; die andere
Seite bleibt unberührt. . Ganz falsch aber wird diese Theorie eben
deshalb da, wo wir ganz auf diese Seite, d. h. vor das Innerliche,
vor die idealen Principien selbst, treten. Die Seele oder das Princip
der Selbstbewegung des Lebens und der Geist als das Reich der
Begriffe, des Erkennens, der Wahrheit, die entstehen überall nicht
in der Welt, vielmehr ja die Welt entsteht in ihnen, geschweige denn,
dass sie aus der Materie durch äusserliche Vermittelung und allmählichen
Uebergang werden und erklärt sein könnten. In diesem Sinn
also sind allerdings der Mensch und das Organische trotz aller ihrer
Vermittelungen und Materie doch durchaus ursprüngliche und einfache
Wesen, und wie auch immer zubereitet, plötzlich, und wenn
man das ein Wunder nennen will, ein Wunder bleibt doch ihr
Durchbruch in diese Welt des Raumes und der Zeit. Und hier ist
nun das Missverständniss in unserem Denken ganz auszutilgen, das
doch auch Darwin selbst befangen zu halten scheint, als ob nämlich
der alte Satz, dass es in der Natur keine Sprünge gebe, nun wirklich
die ganze Wahrheit des Seins und des Werdens in der Natur
umfasste, da er doch gar nichts Anderes aussagt, als dass die Natur
in ihrem Sein vom Raum und im Werden von der Zeit als reinen
continuis getragen werde, dass ihr daraus also durchaus unabweisliche
Grundbedingungen für ihr ganzes sinnliches Dasein und Werden
erwachsen. Dass aber die wirkliche, die quantitative Natur selbst doch
auch ihrem Dasein nach schon in Sprüngen steht, nämlich in der
Zahl, das ist ja das Wahre der Atomistik, die doch jetzt so allgemein
geschätzt wird, und dass das auch von allem wirklichen Werden
gilt, hat schon Aristoteles schön angedeutet, wenn er uns sagt, das
Jetzt sei nicht Zeit. Auch in der Erscheinung ist das Neue immer
ein Sprung und die Natur geht auch in diesem Sinne immer in
Sprüngen; sie würde eben keine wirklichen Bewegungen einschliessen ,
sondern nur mögliche oder ideelle, wenn keine Sprünge wären. Das
aber verdeckt man sich oft mit einer sonderbaren Kunst; man macht
sich die qualitativen Entfernungen, die Unterschiede, möglichst klein,
rückt in Gedanken nun noch etwas weiter zusammen, nun sieht man
sie wirklich gar nicht mehr und meint, der Uebergang sei gesunden,
und während man da das wesenhafte Einfache, die Principien verliert,
will man sie gerade im Quantitativen allein als Atome gefunden
haben.
So ist es nun gewiss kein Zweifel, dass ich vom Adler zur
Nachtigall mit geringer Anstrengung der Phantasie, nur dass ich dieselbe
Operation recht unermüdlich wiederhole, die Gestaltübergänge
mir vorstellig machen kann. Dasselbe kann ich stereometrisch durchführen
durch alle Gewebe dieser thierischen Körper hindurch. Dass
ich mich aber da in einer Arbeit beende, die, statt Licht und Erkenntniss
zu gewähren, mich, wenn ich mich ihr allein überlasse, in's
Dunkel, nämlich eben in das reine leere continuum, führt, das
wird erst ganz einleuchtend, wenn ich diese Prozedur wirklich einmal
über alle Unterschiede hindre, und der Begriff der Art erlaubt,
ja fordert es zuletzt, da ich aus jeder Differenz einen Artbegriff bilden
kann. Da ist denn das Ende von diesem Liede ja einleuchtenderweise
dieses, dass Alles einerlei, dass alle Unterschiede nur auf äusserlichen,
ganz kleinen, unbedeutenden, wesenlosen Veränderungen beruhen,
dass also die Wahrheit nur das reine, unterschiedslose Eine sei.
Wenn so die ordnende und beschreibende Botanik und Zoologie
viel von ihrem wissenschaftlichen Werth verlieren, so könnte der Wissenschaft
vom Lebendigen dafür ein Ersatz erwachsen in der Eroberung,
die sie gerade von diesem Gedanken her unternimmt. Indem sie sich
selbst zu einer pragmatischen Geschichte der Organismen gestaltet,
kann sie hoffen, .du ganze Geschichte mit sich zu vereinigen und sie
zu einer Provinz der Naturkunde zu machen .
In Frankreich und England kommen manche Elemente einer
neuen Theorie von der Geschichte und von der wahren Historiographie
der Zukunft jenem Gedanken auf halbem Wege entgegen. Thucydides
und Tacitus, Macchiavelli und Gibbon haben von der geschichtlichen
Wissenschaft noch kein Bewusstsein gehabt. Dies wird gläubige;
wenn man die Geschichte als die letzte Abtheilung der Naturforschung
auffasst, denn Physiker waren ja diese Männer nicht.
Der Grundgedanke dieses neuen Geschichtsbegriffes ist leicht
zu verstehen. Wie über die beschreibenden und classificirenden Naturwissenschaften
die physikalisch erklärende Untersuchung sich erhebt, so
soll auch der erzählenden Chronik die causale Erklärung folgen. Das
ist nun freilich nichts Neues, wir haben das seit alter Zeit die pragmatische
Forschung genannt. Das Neue aber ist nun dieses: wie
dort die Beschreibung der Organismen ihre Selbstschätzung sehr
herabstimmen soll, so wird vollends der geschichtlichen Erzählung
und Schilderung ihr Werth anders gemessen; denn diese bleibt ja
beim Individuellen stehen. Und so geschah es, dass bis dahin auch
die erklärende Pragmatik sich an das Individuelle hielt; so aber gelangt
man nicht zur Wissenschaft. Wie wir in der Naturforschung
die bleibenden und regelmässig wiederkehrenden Erscheinungen, zu
denen auch die Arten gehören, beschreiben und eben sie zu erklären
suchen, so muss auch in der Geschichte eine allgemeine Pragmatik
gesucht werden, und wenn schon die Arten und Gattungen eine aus
der anderen durch ganz unmerkliche und zufällige Veränderungen hervorgehen,
wie viel unwichtiger werden die Differenzen sein, aus denen
die Individuen der Geschichte sich bilden! Es gilt auch hier, zu
den allgemeinen Wirkungskräften und zu den ursprünglichen Naturgesetzen
vorzudringen, aus denen dies Erscheinungsgebiet, ein: für
allemal erklärt und begriffen, aufgeschlossen vor uns da liegt. Wie
wir den Winden ihre Drehungsgesetze ablauschen, weil wir die Bewegungsursachen
kennen, so werden wir auch den menschlichen Geschichten
—nicht nur einer einzelnen, sondern allen möglichen —
und für alle Zeiten der gegenwärtigen Weltordnung ihre Bahnen
im Voraus berechnen lernen. Die Tafeln der Criminalstatistik deuten
dergleichen an. Dann wird freilich die alte Erzählungsform so überflüssig
sein, wie sie es schon jetzt fur das Aufgehen und Niedergehen
der Gestirne ist.
Wenn nun wirklich das in dieser Forschungsweise Erreichbare,
dessen Werth ja keineswegs so ganz unbekannt und wahrlich nicht
in Abrede zu stellen ist, weit über die echte, individuelle, aber zugleich
verständige und mit idealem Urtheil durchleuchtende Geschichtserzählung
eines grossen Historikers gestellt wird, so würde wohl kaum
zu einer anderen seit in Deutschland das allgemeine Bewusstsein sich
irre machen lassen; denn dass in der Geschichte das durch und durch
Individuelle, das in ihr in seinen höchsten Formen, in willenskräftigen
Persönlichkeiten und Gesellschaften, zu oberst in der der Menschheit
selbst, in grossen Thaten und Leiden eines wahren Werdeprocesses
offenbar wird, den unvergleichlichen Reiz hervorbringt, den das geschichtliche
Wissen für den menschlichen Geist hat, das drängt sich der
Reflexion sehr leicht auf. Nicht dass da Alles so ganz natürlich zugeht
und eben gar nicht anders sein kann, ist das eigenthümlich ergreifende
Licht, das der Geschichte als solcher angehört und das ihre
Erzählungen ewig jung erhält. Nicht die Bestätigung von der
Geltung allgemeiner empirischer Naturgesetze, sondern vielmehr das
so ganz unverkennbare Zusammenstossen der höchsten irdischen Natur,
des inneren Menschen, mit idealen Gesetzen, besser mit idealen
Mächten, die die Unbedingtheit Gottes widerspiegeln, — das ist es
doch, was uns in dem dramatischen, tragischen Gang des geschichtlichen
Lebens die Seele erschüttert. Wie gesagt, daran würde sonst
Niemand leicht irre werden, aber in unseren Tagen stehen wir auch
auf diesem Gebiete, besonders in wissenschaftlichen Kreisen, unter dem
Einflusse einer gewissen Strömung. Ich meine besonders uns, die
wir nicht Geschichtsforscher sind. Wie in der Naturwissenschaft die
Reaction gegen die Naturphilosophie vielfach fühlbar ist, so auch im
geschichtlichen Denken die Gegenströmung gegen die idealische Construction
der Geschichte. Jeder weiss, wie Fichte und Hegel an dieser
Aufgabe gearbeitet haben; es war wirklich Neues in dieser Betrachtungsweise,
und ihre Nachwirkung bleibt. Wir haben da gelernt,
das Ideal selbst geschichtlich aufzufassen und in der Offenbarung des
an sich Einfachen Stufen und Seiten zu erkennen, wie das einfache
Licht sich in Farben bricht. Aber wenn nun die geschichtliche Wirklichkeit
mit den Metamorphosen des Guten identificirt wurde, so war
das ein Irrthum, wie wenn Einer in einer Landschaft nur das
Farbenspectrum sähe. Gegen das Idealisiren der Geschichte ist die
Einrede noch viel dringender nothwendig als gegen das Idealisiren
aller natürlichen Erscheinungen. Unsere Geschichtsforscher haben dieselbe
auch sofort geltend gemacht. Wie sie überzeugt blieben, dass
Vieles in den menschlichen Dingen anders war und ist, als es sein
sollte, so werden sie auch ungeachtet jener Ableitung der geschichtlichen
Veränderungen aus der reinen Idee nach wie vor von den
Fragen beunruhigt, welche die der alten Pragmatik sind, wie nämlich
nun in der anschaulichen Wirklichkeit jene Veränderungen vor sich
gegangen seien, wie vorbereitet, vermittelt, durchkreuzt, bekämpft sie
endlich zum Durchbruch gekommen. Es ist das eben wieder die
Untersuchung der wirkenden Ursachen nach dem Sprachgebrauch der
Alten; die wird uns in der That weder erspart noch erleichtert durch
jene idealische Betrachtung, und je hochfahrender diese den ganzen
wahren Werth des geschichtlichen Wissens allein für sich in Anspruch
nahm, desto mehr drängte sich allmählich auch dem allgemeinen Bewusstsein
der Vorzug jener strengen und schweren Forschungsarbeit auf.
Das ist nun der Punkt, an dem wir uns in Deutschland mit
unserer geschichtlichen Theorie eben jetzt befinden, und darin finde ich
allerdings etwas, was jenen französisch-englischen Gedanken, die ich
vorher charakterisirte, förderlich ist und ihnen unter uns eine Stätte
bereitet. Wir sind eben mit gutem Grund davon durchdrungen, dass
doch ein gesunder, umsichtiger und in die Tiefe dringender Pragmatismus
die erste Methode der Geschichtsforschung sei; von einer
jeden apriorischen Phraseologie wenden wir uns müde und unmuthig
ab. Da tritt nun jene Vorstellung von einer allgemeinen Pragmatik,
nicht der einzelnen Begebenheiten, sondern der menschlichen Gattung
und ihrer abstracten typischen, d. h. immer wiederkehrenden, Schicksale,
ihres allgemeinen Lebensgehalts, vor uns hin. Diese eröffnet
die Aussicht auf eine Wissenschaft, die, pragmatisch, auf ebener Erde
einhergehend, streng erfahrungsmässig, doch zugleich mit jener idealen
Geschichte der Philosophen das gemein hat, dass sie uns aus der
Niederung der grenzenlosen und unbedeutenden Einzelheiten auf die
Höhe allgemeiner Sätze und Begriffe, echter Wissenschaft führt. Sollte
das nicht anziehen, gerade unter uns recht eifrige Adepten finden,
verworrene Hoffnungen auf eine bis dahin nie geahnte höhere Geschichtswissenschaft,
auf eine wahre, nämlich empiristische Philosophie
der Geschichte aufregen?
Etwas der Art hat schon begonnen. Ein ehemals sehr begeisterter
Anhänger der Lehre Hegel's hat uns ein englisches Werk,
das der bezeichneten Richtung, freilich in theistischer Auffassung, die
Welt als eine Maschine Gottes betrachtend, angehört, übersetzt und
dringend empfohlen. Die französischen Arbeiten, consequenter und
wissenschaftlich höher stehend, atheistisch, sind noch wenig zu uns vorgedrungen,
aber gewiss wird August Comte auch unter uns einmal
manche Bewunderer zählen. Beide, Comte und Buckle, waren bedeutende
energische Forscher, jener ein gewaltiger Autodidakt, an grosse
Aufgaben mit einseitiger, aber ungewöhnlicher Begabung in unermüdlicher
Arbeit hingegeben, dieser — so viel ich sehe — mit aufrichtigem
Ernst und mit Fleiss die ihm aufgegangenen bedeutenden Gedanken
bis zu seinem frühen Tode verfolgend.
Freilich auch dem atheistischen Empirismus der Franzosen ist
es noch bei weitem nicht gelungen, die naturalistische Geschichtsbetrachtung,
die sociale Physik, rein durchzuführen. Auch hier wieder
drängt es sich dem Bewusstsein viel zu mächtig auf, dass die Gebilde
der Geschichte schlechterdings eine andere Betrachtung verlangen als
die, nach welcher sie alle ohne Unterschied als ganz zufällige Producte
sich darstellen müssten. Wohlverstanden, zufällig, obgleich naturnothwendig,
zufällig eben in jenem höheren Sinne: nicht beabsichtigt,
ohne ideales Princip. Gesetzt auch, dass wir die organischen Wesenklassen,
die Formen des Lebens und der Seele uns so denken könnten,
zufällig, d. h. nur durch äusserliche Verhältnisse verursacht, ohne
inneres ideales Gesetz, — bei der Geschichte der Menschheit ist das
doch auf die Dauer nicht mehr möglich. Man wird vielleicht diese
Behauptung durchaus nicht einleuchtend finden, man wird etwa so
sprechen: es sei wahr, dass in der Geschichte das Absichtliche seine
unzweifelhafte Stätte habe, und in diesem Sinne, dass da Zweckursachen
und Begriffe, also ideale Principien, wirksam seien. Aber
diese Zwecke und diese Ideen seien ja nur Gedanken der Menschen,
als solche seien sie durch die Natur hervorgebracht und also nothwendig
und zufällig, nämlich der Causalität nach wohlbegründete,
aber durchaus nicht weiter bezweckte Producte. Ursachen, Mächte
seien sie also nur in einem untergeordneten Sinne, denn sie seien ja
selbst nur Erzeugnisse der wirkenden, der natürlichen Ursachen. Es
ist nun ganz richtig, dass, wenn man wirklich bei diesen Gedanken
stehen bleiben könnte, die Behauptung, die ich aussprach, grundlos
wäre; aber das eben ist unmöglich. Der einzelne mag so das innere
Wesen der Geschichte sich ertödten können, aber die Wissenschaft im
Ganzen wird dahin nicht erniedrigt werden. Das ist die Kluft,
welche die Geschichte von der Natur trennt. Der Natur gegenüber,
auch dem Thierreich, kann ich immer jenen Beurtheilungen, dass Eins
mehr sein soll und vorzüglicher als das Andere, oder überhaupt, dass
Leben und Seele bejaht wird, die Wahrheit, wenigstens die Gewissheit
absprechen. So that Cartesius. Aber der Geschichte der
Menschheit gegenüber ist es ohne inneren Widerspruch nicht möglich,
den thätigen Geist zu verleugnen, und der ist mit dem Guten verwachsen;
mit ihm stellt sich das Bewusstsein von Schön und Hässlich,
Gut und Böse, Erhaben und Scheusslich ein und auch Göttlich und
Teuflisch steigen mit dieser Reihe empor. Indem wir so die menschliche
Wirklichkeit anzuschauen innerlich gezwungen sind, zeigen sich
hier Mächte, die stärker sind als unsere Gedanken und doch nicht
äusserlicher Natur. Da sind Ideen, an denen die menschlichen Begriffe,
Zwecke, an denen alle menschlichen Absichten, Gesetze, an
denen die menschlichen Gesetze sich müssen messen lassen. Es schwebt
eine höhere Absicht über allen menschlichen Plänen und Bestrebungen
und die Idee der Wahrheit über aller menschlichen Wissenschaft, still
und unwandelbar und majestätisch, wie der Himmel über der Erde.
Dieses ist die ideale Voraussetzung des geschichtlichen Bewusstseins,
und daran kann keine Theorie etwas ändern. Wer da meint, aus
einem Princip, aus bloss wirkenden Ursachen die Geschichte verstehen
zu wollen, der arbeitet vergeblich. Er wird dahin kommen, dass er die
Geschichte gar nicht mehr wahrnimmt und ihren Leichnam für ihren
Geist hält.
Eben wegen dieser inneren Unmöglichkeit einer rein naturhistorisch
gedachten und erklärten Geschichte ist auch im französischen
Naturalismus die geschichtliche Abtheilung der Naturwissenschaft immer
noch von idealen Gedanken getragen und belebt. Das sind Reste
der beseitigten alten Weisheit mit ihren Form- und Zweckursachen,
aber man ringt allerdings darnach, sie ganz in das Gewebe der
Naturgedanken umzusetzen.
Aus dieser geistigen Atmosphäre ist das Buch Rénan's hervorgegangen.
Nicht dass dieser ein Schüler Comte's heissen könnte
oder dass er gerade beabsichtigte, einer besonderen Theorie von der
Geschichtswissenschaft zu dienen, vielmehr respectirt er in freier und
ganz persönlicher Weise; den deutschen Idealismus verwendet er in
seiner Darstellung lieber als die empiristischen Formeln seiner Landsleute;
sogar der teleologischen Ausdrücke bedient er sich, wie freilich
auch die strengeren Denker es sich erlauben. Dennoch, was seiner
Arbeit ihre Wirkung auch unter Deutschen, die doch Strauss gehabt
hatten, verschaffte, das war der reine Pragmatismus der Darstellung,
die Erklärung der geschichtlichen Wirklichkeit ganz aus natürlichen,
d. h. aus von unten her wirkenden, aus innerlich mechanischen Ursachen
. In den Intuitionen des Mythos war noch etwas von einer
idealen, von oben her wirkenden, vorausbestimmenden Geistesmacht
gewesen; hier war dieselbe beseitigt und Jeder fühlte, dass die idealischen
Ausdrücke nicht die Bestimmung hatten, ihr wieder Eingang zu verschaffen.
Sie gehören nur zur überlieferten Sprache und bilden den
rhetorischen Schmuck.
Obwohl nun in diesem Werke nicht eine Darstellung aus jener
allgemeinen Gattungspragmatik vorliegt, sondern ein Versuch aus dem
in alter Weise erzählenden Pragmatismus, so ist dennoch die Bedeutung
desselben für die empiristische Philosophie der Geschichte, nach
der diese ein Glied der Naturwissenschaft ist, einleuchtend. Hier
nämlich versucht sich der reine Pragmatismus, d. h. die eine jede
andere Betrachtungsweise als unzulässig ausschliessende Erklärung des
geschichtlichen Seins aus sogenannten natürlichen, d. h. mit Nothwendigkeit
von unten her bewegenden Ursachen eines innerlichen
Mechanismus, an derjenigen geschichtlichen Wirklichkeit, die uns die
höchste ist. Gelingt das Unternehmen, so erscheint eine andere Philosophie
der Geschichte als die der Pragmatik oder der anthropologischen
Naturgesetze, nämlich eine ethische, als überflüssig. — Ich denke auch,
die Verwandtschaft dieser Bemühung mit jenen Versuchen, das Entstehen
des Menschen aus der zunächst unter ihm stehenden Thierspecies
ohne Hereinwirken eines neuen höheren Princips zu erklären,
oder, in gleicher Weise verstanden, des Lebendigen aus dem Leblosen,
drängt sich sofort wieder aus.
Aber freilich werden hier wohl Viele darauf aufmerksam machen,
dass der Unterschied, um den es sich handelt, in diesem Fall doch
ein ganz anderer sei als in jenen beiden. Hier sei ein Neues nun
einmal gar nicht abzuleugnen und am Ende auch wirklich von Allen
zugestanden, hingegen in der Begründung desjenigen geschichtlichen
Lebens, das wir das christliche nennen, sei ein solcher Anfang nicht
erkennbar und Rénan's Erklärung der Entstehung der Kirche sei
daher weit zulässiger als die Erklärung des ersten Menschen aus
einer natürlich, d. h. zufällig entsprungenen Modification in den
Organen eines Affen oder als die Erklärung des Lebens aus einer
glücklichen Combination von Leblosem. Sie sei nämlich doch nur
in eine Linie zu stellen mit der Erklärung einer der vielen Arten aus
einer anderen mit veränderten äusserlichen Verhältnissen oder mit der
Erklärung irgend einer anderen geschichtlichen Wirklichkeit aus dem
Vorausgegangenen. Sowie also für die Bildung der Arten des
Lebendigen doch jedenfalls die Seele als Idealprincip ausreiche, so
doch wohl auch für die Gestaltung und das Verständniss alles Geschichtlichen
der Mensch als der Geist dieser Welt oder die natürliche
Vernunft. Dieser seien allerdings Gesetze gegeben, nämlich die Grenzen
in der Kraft des Erfahrens und die Schranken des Unmöglichen,
und so auch natürliche unabweisliche Zwecke, nämlich in den Naturtrieben
und den mannigfaltigen Anlagen, belebt von der Fülle der
Willkür und des Individuellen. Aber das Alles und überhaupt also
alles Geschichtliche gehöre doch nur dem Gebiete des empirischen, des
natürlichen Geisteslebens an, und wie die Thierwelt über die empirischen
Seelen oder Ideen der verschiedenen Gattungen nicht hinausgehe,
so gehe auch die Geschichte nicht hinaus über die Begriffe und
Zwecke, über die Formen und Güter der empirischen, der irdischen
Vernunft.
Hier bin ich an dem Gipfel der Betrachtung angelangt; erlauben
Sie, dass ich ihn langsam erklimme.
Es ist wahr und sollte auf's entschiedenste eingeräumt und
demgemäss verfahren werden, dass, um mich gleich so auszudrücken,
der übernatürliche Ursprung der Kirche Christi, d. h. die vollkommen
ideale Natur derselben, nicht wissenschaftlich bewiesen werden kann,
nämlich weder philosophisch noch empirisch; empirisch deshalb nicht, weil
ihre Zukunft noch unbekannt, speculativ nicht, weil die wirkliche Kirche
oder das wirkliche Christenthum, oder wie sonst man dieses geschichtliche
Wesen nennen will, etwas rein Idealisches nicht ist, überhaupt
aber wissenschaftlich nicht, weil die Behauptung von der Göttlichkeit
der innerlichen Kirche eine Glaubensbehauptung ist, zu der Wollen
gehört, zuerst schon das: eine Kirche — ein nicht profanes, sondern
heiliges Gemeinwesen — Wollen! — Deshalb ist es ungebührlich,
dem Geschichtsforscher als solchem zuzumuthen, dass er ein Gläubiger
sei, und seine Leistung nach dieser Forderung zu messen. Die wissenschaftliche
Discussion hat einen anderen Boden als das seelsorgerische
Verhältniss, das freilich das erhabenere ist. — Aber wenn auch in
dieser Hinsicht manchmal ungeziemend geurtheilt wird, es ist doch
keineswegs das Missfallen, das Rénan's Buch neben dem vielen Beifall
erregt hat, auf die persönlich Glaubenden beschränkt, vielmehr unter den
Forschern aus dem Gebiet der geschichtlichen Dinge haben, wie ich meine,
wenige rechte Freude daran gehabt, und es ist da nicht viel Lobens
laut geworden, ohne viel Unterschied der eigenen religiösen Stellung.
Wie geht das zu? — Ich meine so: Wir hatten seit geraumer Zeit
gelernt, das rein pragmatische Erzählen unserer Religionsgründung,
schon als dem wahrhaft gebildeten Geschmack widerstreitend, als nicht
zum Ziele treffend, in einem ernsten und hohen Sinne als unschicklich
zu betrachten. Das ist nun auch hier wieder von unseren
Historikern empfunden worden. Dieses Gefühl hat einen tieferen
Hintergrund, der uns weiter in's Innere zieht. Wir sehen nämlich
offenbar die Sache so an, dass mit reinem Pragmatismus an die
Person unseres Religionsgründers nur der treten dürfe, der entweder
einer anderen Sittengemeinschaft angehört, oder selbst eine
neue zu gründen und anzukündigen Willens ist. Jeder, bei dem das
nicht der Fall ist, der trete zurück und schweige. In diesen Gedanken
aber spricht sich ein gesundes unmittelbares Bewusstsein von einer
unbedingten Zweckursache in der Geschichte, als von ihrem höchsten
Princip, aus. Dieses aber ist der Grundgedanke einer ethischen
Philosophie der Geschichte, die nicht empiristische Kenntnisse einiger
besonderer Naturgesetze ist. Niemand hat dieses Bewusstsein je stärker
gefördert und eine solche Wissenschaft tiefer zubereitet als Kant. Wenn
die Artbegriffe der Natur auch alle zufällig sein möchten in der Geschichte,
im sittlichen Leben des Geistes giebt es ein Ideal und Gesetze,
die unbedingte Geltung haben; denn der gute Wille ist, wie
Kant sagt, in der Welt und auch ausser der Welt das Einzige, was
unbedingten Werth hat. An diesem Punkte daher trennen sich allerdings
die Wege. Wer da meint, in der Geschichte wie in einem
Naturleben mit nur relativen Gütern und Gesetzen, mit einer wandelbaren
Sittenlehre auf blossem Erfahrungsgrund der Naturtriebe ausreichen
zu können, dem schwindet die Grenze zwischen ihrem Reich
und dem der Thierwelt hin. — Und auch das hat Kant weiter vortrefflich
ausgesprochen, dass das höchste aller geschichtlichen Ideale das
eines sittlichen, die Menschheit umfassenden Gemeinwesens sei, eines
Volkes Gottes, wie er es zu bezeichnen liebt. Wenn also ein solches
irgendwann in der Menschheit hervortritt, so tritt in der Verwirklichung
des höchsten Guten, des freien Geisterreichs, das Princip der
Geschichte in die Erscheinung, und die Gründung einer solchen unbedingt
werthvollen Wirklichkeit würde nicht erklärt werden können,
ohne dass wir die Macht des höchsten idealen Wesens, die göttliche
Macht selbst, in einer solchen Heldenseele thätig denken. Wo aber
die unbedingte Endursache wirkt, da hat die Zufälligkeit gar keine
Stätte mehr und der Pragmatismus ändert damit seine Natur, wie
wir auch schon sonst in den geschichtlichen Dingen immer weniger
von Zufälligkeit reden und an sie denken, je teleologischer die Erscheinung
ist. Helden und Heroen sind uns von einer idealen
Nothwendigkeit getragen, die etwas Anderes ist als der fatalistische
Stern der doch immer zufälligen Naturnothwendigkeit. Nur je weniger
heroisch, idealgültig, desto mehr sind für uns Alle zufällig die
Begebenheiten der Menschenwelt.
Solche Gedanken nun, glaube ich, schon seit Platon in der
Wissenschaft angelegt, besonders aber von Kant her noch lebendig
nachwirkend, geben unserer deutschen Geschichtschreibung ihre ideale
Haltung. Daher missfällt ihr die profane Darstellung einer Geschichte,
die uns Allen wenigstens insoweit eine heilige ist, als wir über sie
hinaus etwas Besseres nicht kennen. Das Entstehen einer Religion
ist das Entstehen eines neuen sittlichen Lebens. Ob das christliche
das unbedingt gültige, das vollkommene sei, das kann man sehr wohl
bezweifeln; es handelt sich nicht um die Sittenlehre, sondern um
das Leben selbst, und ob dieses einen unbedingt guten, d. h. einen
göttlichen, einen heiligen Keim in sich trage, das kann man wissenschaftlich,
allgemein gültig noch nicht wissen, sondern es nur persönlich
fühlen und fest glauben; denn es ist noch nicht erschienen, was
wir sein werden, und es können noch neue Gestaltungen des Menschenlebens
versucht werden. Aber was uns als das Beste gilt, soll
doch von uns behandelt werden als das Gute und Göttliche selbst,
denn für uns ist dies die Erscheinung eines Unbedingten.
Diese Ausstellung scheint nun um so mehr gegen Rénan berechtigt,
weil er in seiner Hochschätzung des Christenthums fast weiter
zu gehen scheint, als im Allgemeinen ein ideal gesinnter Historiker der
christlichen Cultur als solcher ohne persönlichen Glauben es vermöchte.
Dass nun hier sein Gefühlsausdruck wahrhaft sein wird, ist natürlich
nicht zu bezweifeln; aber wir dürfen wohl die Theorie der Geschichte,
der seine Darstellung angehört, hier etwas consequenter, als
er selbst thut, verfolgen und festhalten. Im Kern seiner Gedanken
wird auch er ihr treu bleiben. So dürfen wir wohl das schlechthin
Unübertreffliche, ja das unbedingt Gültige, das hie und da dem
leichten Fluss der Rénan'schen Rede entquillt, mehr für Blumen der
Beredtsamkeit oder für Empfindungsausdrücke halten als für ganz
durchdachte Behauptungen.
Denn die Theorie der Arbeit drängt sich doch wieder, wie schon
ehemals, und so auch in allen Gleichdenkenden in der Beseitigung
des Uebernatürlichen aus der menschlichen Geschichte zusammen.
Wenn man nun diese Bestrebungen in ihre tieferen wissenschaftlichen
Motive verfolgt, so handelt es sich dabei noch um etwas Anderes
als um den Zweifel an gewissen geschichtlichen Ueberlieferungen. Auch
die Frage nach der Thatsächlichkeit sogenannter Wunder überhaupt
ist nach dem gewöhnlichen Verstande derselben etwas Untergeordnetes.
Dergleichen könnte unmöglich ausreichen, um aus dem Behaupten
oder Leugnen des Uebernatürlichen die Begrenzung scharf sich gegeneinander
absetzender Gruppen in unserem gegenwärtigen geistigen Leben
zu bilden. Das obige vielmehr ist der eigentliche, wenn auch nicht
immer verstandene Sinn dieses Ja und Nein, und daran scheiden
sich in der That zwei Wege der Betrachtung, ob man nämlich in
der Geschichte über den wirkenden Ursachen der physischen und psychischen
Natur unbedingte, d. h. wahrhaft höchste, göttliche Zweckursachen,
Mächte wahrnimmt und behauptet oder nicht. Zwecke, die nicht willkürlich
aufgestellt, nimmt freilich, wie schon früher gesagt wurde,
Jeder in ihr wahr; aber vielleicht sind diese alle nur empirischer Art,
wandelbare Erscheinungen, wie alle Gebilde der Erfahrung ohne Ursprünglichkeit
und ewige Wahrheit. Dieses ist wirklich die Beseitigung
des Uebernatürlichen in der Geschichte, und da wird, wie sehr man
sich auch sträube und Alles nothwendig und selbst ideal heisse, doch
für das allgemein menschliche Bewusstsein die Weltgeschichte das Reich
der lauteren Zufälligkeit; denn die Geschichte ist für uns nun einmal
das höchste Erfahrungsgebiet. Schliesst nun auch dieses mit
ganz empirischen, relativen Zwecken und Mächten ab, so steht es mit
den idealen Principien, mit der Wahrheit und mit dem Guten doch
so, dass sie nur im Endlichen Geltung haben, — umschlossen aber
sind sie von der unendlichen Natur, der auch sie als Erscheinungen
entquellen. Ist die Geschichte nicht wirklich an dem Eintritt ihres
höchsten Gebildes mit Gott selbst in Verbindung, so ist doch alle
ideale Absichtlichkeit der Zwecke nur eine liebliche Erscheinung, die,
wie alle Herrlichkeit der Natur, einst in die ewige Nacht versinkt.
Und dieses erkennend, sprechen wir es aus, dass die Geschichte aller
Welten doch zuletzt nur zufällig sei, denn auch die Götter sind nur
geworden, auch sie zufällig! Denn sie am meisten sehen wohl nach
einer höchsten Endabsicht, nach einem wahren Idealprincip aus, aber
es ist keines da, sondern statt dessen die rastlos im Dunkel webende
Natur, die auch Religionen und Götter wie Thier- und Menschenarten
bildet und zerstört.
Ist aber ein unbedingt Gutes über dem irdischen Leben wirksam,
so wird uns da, wo dieses sein höchstes Werk offenbar werden,
die Hoffnung auf vollkommene Verklärung der Welt in dem menschlichen
Gemüth und Willen Kraft gewinnen lässt, mit Grund das
Bedürfniss sonst nicht gebrauchter Namen und Begriffe fühlbar werden.
Der die Verwirklichung des Endzwecks der Geschichte zu beginnen
vermocht, der ist aus dem überweltlichen Sein, nicht aus der
Vergangenheit zu verstehen.
Dies ist das geschichtliche Wunder! Ihm verwandt ist jedes
heroische Werk eines Gesetzgebers, Staatengründers, aber auch jede
gute That, jeder sittliche Entschluss. Ueberall da ist Neues, ist Ursprüngliches.
Wie die Natur, so geht auch die Geschichte in Sprüngen,
aber freilich auch sie durch vollkommenste Vermittelung hindurch,
meistens durch so leise Uebergänge, dass unserem Auge der Sprung
sich verbirgt und wir erst beim Ueberblicken weiter Entfernungen
seiner gewahr werden. Und diese Vermittelung gilt auch für das
Höchste der geschichtlichen Wirklichkeit, für die Begründung einer
Heiligung des Menschengeschlechtes zu einem Volke Gottes.
Ich will meine Betrachtung schliessen, aber es ist mir, als ob
ich zum Schluss gefragt würde, warum ich dieselbe gerade um den
so schwierigen und verwirrenden Begriff des Zufälligen habe sammeln
wollen.
Ich hatte dazu folgenden Grund: einmal war es mir darum
zu thun, eine Schwäche zu bezeichnen, an der mir in unserer Zeit
das ernste Denken aller wissenschaftlichen Gruppen oft zu kränkeln
scheint. Ich meine, ein Mangel an voller Redlichkeit im Auffassen
des wirklich Gegebenen, wo es düster und hässlich ist, ein falsches
Idealisiren der Welt zu einer auch im Einzelnen ganz nach dem
Princip der Naturteleologie geordneten Erscheinung. Um so mehr
wollte ich dieses hervorheben, je fester ich überzeugt bin, dass eine
Vertiefung und ganz neue Durchforschung der teleologischen Wahrheit
uns sehr noth thut, ja vielleicht mehr als irgend etwas Anderes,
weil unser wissenschaftliches Leben in Gefahr ist, mit dem Idealismus
auch die Ideale selbst zu verlieren und damit sein eigenes Wesen
zu zerstören. Ich wünschte deshalb darauf aufmerksam zu machen,
dass die Erforschung der höchsten Dinge sich nicht von den wirklichen
und noch nur unvollkommen verstandene Schwierigkeiten der Erfahrungswelt
fern halten darf. Die Entdeckungen der Zeitgenossen
fördern ergreifende Resultate an's Licht. Es sind gewonnene Kenntnisse
darunter, bewiesen, unzweifelhaft, aber zugleich sind eben diese
Kenntnisse für eine andere Betrachtungsart Probleme, die uns in ein
Dunkel hineinblicken lassen, das kaum ein leises Dämmern erhellt.
Aber auch das allgemein menschliche Bewusstsein trägt schon von Anbeginn
solche Probleme mit sich herum. Wer diese alten lichtet, steht
auch immer schon in Beziehung zu den neuen, und diese wie jene,
sie sollen nicht verdeckt, beseitigt, sondern an's Licht gezogen und bearbeitet
werden. Und mit der dringenden Aufforderung an unsere
Commilitonen, nie an der Verschüttung, wohl aber nach dem Masse
der Kräfte an der redlichen Bearbeitung der wissenschaftlichen Probleme
dereinst Theil zu nehmen, darf ich dann auch die Ermahnung verbinden,
für ein wahrhaft gedeihliches Mitarbeiten an dieser Aufgabe
sich in den schönen Studienjahren auch dadurch vorzubereiten, dass
sie eine klare und starke Ueberzeugung von dem idealen Wesen und
Walten in dieser Welt in sich begründen und für das spätere Leben
feststellen.