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Über das Bild des Arztes in Dichtung und Literatur

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 25. November 1966
Verlag Helbing & Lichtenhahn Basel 1967

© 1967 by Helbing &Lichtenhahn, Verlag, Basel
Druck von Friedrich Reinhardt AG., Basel

Seiner Zeit einen wahrheitsgetreuen Spiegel vorzuhalten und somit Zeitgefährten wie kommende Generationen zu Betrachtung und Nachdenken anzuregen, ist eine wichtige und verantwortungsschwere Aufgabe des Dichters und Schriftstellers. Recht oft und eingehend in den schillernden Zauberspiegel Dichtung und Literatur zu blicken, heißt somit nicht der menschlichen Eitelkeit frönen, sondern — ganz im Gegenteil — sich einer notwendigen, ja unentbehrlichen Prüfung zum Wohle der Selbsterkenntnis und Selbstkritik unterziehen.

So lassen Sie mich denn heute versuchen, Ihnen anhand einiger ausgewählter Beispiele ein Bild des Arztes im Spiegel der früheren wie zeitgenössischen Dichtung und Literatur zu entwerfen, um — von der Betrachtung des Bildes ganz abgesehen —das Vergangene zu wägen, die Probleme des Gegenwärtigen besser zu erfassen und um letztlich aus Vergangenheit und Gegenwart für die Gestaltung der in allem so bedrückend-bedrohlichen Zukunft zu lernen.

Wenn aber das Spiegelbild, das uns entgegenblickt, nicht immer erfreulich ist, sollten wir der Mahnung gedenken, die NIKOLAI GOGOL seinem «Revisor» als Motto vorangestellt hat:

«Nicht den Spiegel klage an:
die Fratze rührt von dir selbst her.»

Doch zunächst einige allgemeine Überlegungen:

In unseren Betrachtungen dürfen wir getrost Dichtung und Literatur im gleichen Atemzug nennen, denn

zu unserem Thema haben zu allen Zeiten sowohl wahre Dichter, und zwar in dichterischen wie schriftstellerischen Phasen oder Werken, als auch Schriftsteller — vom Nur-Schriftsteller angefangen bis zum ins Dichterische vorstoßenden Literaten — Wertvolles und Diskussionswürdiges ausgesagt 1.

Die Aussage eines Dichters und Schriftstellers ist durch seine persönlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Empfindungen zwangsläufig subjektiv gefärbt, sie ist daher gelegentlich eine im Guten wie auch im Schlechten bewußt oder unbewußt übersteigerte Stellungnahme zu den Ereignissen und Menschen.

Daß die Erfahrungen im Laufe des Lebens ein Urteil ändern können, zeigt uns beispielhaft die Einstellung von ABRAHAM A SANTA CLARA zu den Ärzten. Ihnen begegnet dieser Autor in seinen früheren Schriften mit ausgesprochener Achtung: «Die Gesundheit aber nach Gott ertheilen dem Menschen die Herren Medici und Ärzte, wessenthalben in der heiligen Schrift befohlen wird, daß man diese in allen Ehren soll haben 2.» Das grauenvolle Erlebnis der großen Pestepidemie in Wien hat jedoch dem streitbaren Gottesmann die völlige Hilflosigkeit der damaligen Medizin eindrucksvoll vor Augen geführt, so daß er in seinem letzten Werk, der «Totenkapelle», den Ärztestand nur noch als ein «malum necessarium in hac mortalitate» ansieht 3. «Ist doch der Mensch ein eitel /greulicher /abscheulicher /hesslicher / graesslicher Koth / weil er noch lebet / und wenn ein gantz Regiment Doctores und zwar der Extract, die Quint Essenz aller Galenicorum und Hippocratorum &c. lange daran flicken /purgiren /clystiren / aderlassen /schrepffen / schmieren /pflasteriren und balsamiren / so gehts doch endlich also: Heute König /morgen todt.» 4

Wir dürfen also erwarten, daß unser gleißender Zauberspiegel zwar häufig ein wahres, gelegentlich jedoch

auch ein verzerrtes Bild von Menschen und Dingen entwerfen wird. Somit sollten bei Sichtung und Auswertung der uns in Überfülle zur Verfügung stehenden Quellen persönlichkeits-, orts- und zeitbedingte Übertreibungen im Guten wie im Bösen —soweit dies möglich —in Rechnung gestellt werden.

Wenn jedoch eine ganze Epoche, wie die MOLIÈRES, seiner vielen Vorläufer, Zeitgenossen und Nachfolger — es seien hier nur noch LE SAGE und JONATHAN SWIFT genannt — den Arzt zu einer komischen Figur degradiert, wenn wir sehen, daß dieser medizinische Hanswurst mit seinem unzureichenden diagnostischen Wissen nicht die Krankheit als solche zu erkennen vermag und sich daher in mehr oder minder phantastisch-dogmatischen Vermutungen ergeht, welches der großen Organe betroffen sein könnte 5, wenn wir vernehmen, daß sein therapeutisches Können sich praktisch in

«Clysterium donare,
Postea seignare,
Ensuitta purgare» 6

erschöpft und daß er überdies sein nicht einwandfreies Latein dazu benutzt, das Nichtwissen in eindrucksvolle und bombastische, wenn auch unverständliche Phrasen zu kleiden, dann sind Dichtung und Literatur ein untrügliches Zeichen dafür, daß es mit der zeitgenössischen Medizin nicht zum besten bestellt war.

Im weiteren spielt bei der Bewertung des uns in der Dichtung und Literatur vorgehaltenen Arztspiegels die Tatsache eine Rolle, wie tiefgreifend die möglichst auf eigener Beobachtung fußenden Einblicke des Autors in das Wesen des ärztlichen Berufes waren oder sind. Daß deshalb diejenigen Dichter und Schriftsteller, die in ihrer Familie oder sogar durch eigene frühere Ausbildung und zeitweilige Erfahrung zum Arzttum in unmittelbare Beziehung geraten sind, sowie diejenigen, die

Ärzte zu ihrem engeren Freundeskreis zählten, ganz besonders aber die Dichter- und Schriftstellerärzte dazu berufen und befähigt sind, ein einigermaßen realistisches, gelegentlich poetisch verklärtes oder auch euttäuscht-hyperkritisches, in allen Fällen aber ein vom Wahren ausgehendes Bild des Arztes in seiner Zeit zu zeichnen, versteht sich von selbst.

Absehen müssen und wollen wir in unseren Ausführungen selbstverständlich von den ungezählten Literaturprodukten, für deren Autoren neuerdings die «Menschen in Weiß», die Vertreter dieses «tollen Berufs», wie sich HANS REHFISCH einmal ironisierend ausdrückt 7, und zwar vor allem der Frauenarzt, der Chirurg und der Psychiater neben Abenteurern, Lebedamen, Barkeepern, Künstlern und Artisten willkommene und beliebte Romanhelden abgeben. Daß es auf diesem Gebiet —wie überall — auch einzelne, ernst zu nehmende Grenzfälle gibt, steht außer Frage. Desgleichen sollen in unseren heutigen Betrachtungen die recht zahlreichen Ärztememoiren nicht berücksichtigt werden, obgleich sich in dieser Literaturgattung neben sehr viel Trivialem auch ausgezeichnete, ans dichterisch Verklärte grenzende Darstellungen finden —wir nennen als Beispiel des dichtenden Arztes CARL LUDWIG SCHLEICH «Besonnte Vergangenheit». Dieser Ausschluß gilt natürlich nicht für diejenigen Werke, in denen ein Dichterarzt diese Aussageform verwendet, wie dies beispielsweise im deutschen Sprachgebiet in LUDWIG FINCKHS «Rosendoktor» und in ausgesprochenem Maße bei HANS CAROSSA, so vor allem in seinem «Arzt Gion» 8 und den «Schicksalen Doktor Bürgers» der Fall ist.

Nicht in unsere Betrachtungen einbeziehen wollen wir ferner den an einem persönlichen «Scheideweg» als Einzelmensch abirrenden Arzt, der uns in verschiedenen älteren und neueren Werken begegnet, da in diesen Fällen nicht das medizinische Wissen und Können der Zeit,

nicht der Arztberuf als solcher, sondern nur der diesen Beruf ausübende Doktor X zur Diskussion steht, der in seiner menschlichen Unvollkommenheit fehlt und der genauso gut Priester, Richter, Lehrer oder Vertreter irgendeines anderen Berufes sein könnte.

Zur Anordnung des Stoffes ist zu sagen, daß in unseren vorwiegend chronologisch orientierten Ausführungen verschiedentlich, zwecks abgerundeter Darstellung eines Gedankens, Aussagen aus verschiedenen Epochen im Zusammenhang besprochen werden.

Auf die unvermeidbare Tatsache, daß eine zeitlich begrenzte Betrachtung wie unsere heutige bei der Überfülle des vorliegenden Materials zwangsweise zu einer subjektiven Beschränkung auf möglichst typische Stimmen in der so mächtigen und polyphonen Sinfonie zwingt, und daß auch diese Stimmen leider nur skizzenhaft zu Gehör gebracht werden können, sei abschließend hingewiesen.

Im Anfang unserer Betrachtungen steht HOMER. Podaleirios und Machaon, Söhne des unvergleichlichen Götterarztes Asklepios, der den Phoibos Apollon seinen Vater nannte, werden in der Ilias mehrmals als Arzte des Griechenheeres erwähnt 9. Als Machaon durch einen Pfeil an der Schulter verwundet wird, erhält Nestor von den besorgten Achäern den Auftrag, den Verwundeten schnell zu den Schiffen zu geleiten. Es folgt der bekannte Vers, der den Beruf des Arztes preist:

«Denn der Arzt ist ein Mann, dessen Wert dem vieler anderer gleichkommt.» 10

Doch nicht nur im Hellas HOMERS, auch in späterer Zeit schätzt und ehrt man den Helden pflegenden Wundarzt. So kündet noch im Mittelalter der Sänger des Nibelungenliedes:

«Die erzenîe kunden den bôt man rîchen solt
silber âne wâge, dar zuo daz liehte golt,
daz si die heide nerten nâch des strîtes nôt.» 11

Zwar ist der der homerischen Zeit —wie in der Antike überhaupt —in erster Linie Wundarzt 12. Wir erfahren jedoch durch den Epiker ARKTINOS in dessen Aithiopisfragment 13, daß — als erste Andeutung einer Spaltung des Faches in Chirurgie und Medizin — Machaon bereits zur Hauptsache als Wundarzt, Podaleinos hingegen als Arzt tätig war. Aber lassen wir im Hinblick auf die Wichtigkeit dieser Stelle Arktinos seinerseits sprechen:

«Der Vater selbst» (Asklepios) «verlieh Heilmittel den Söhnen

Beiden, ruhmwürdiger aber macht er den einen von beiden:

Diesem gewährt' er die leichtere Hand, aus dem Fleisch die Geschosse

Auszuziehn und zu schneiden und jegliche Wunde zu heilen,

Diesem dafür legt' alle Genauigkeit er in die Seele,

Unsichtbares zu kennen und Unheilbares zu arzten.» 14

Demnach wird bereits im Anfang der Spaltung — nicht alles wechselt im Lauf der Zeiten —der Chirurg als der ruhmwürdigere empfunden, der Internist hingegen als derjenige bezeichnet, dessen Aufgabe es ist, », also das Unsichtbare zu erkennen.

Bald darauf sind auch die Begriffe «Diagnose, diagnostizieren» schon im Sprachgebrauch. So spricht bereits ANTISTHENES in seiner Rede des Aias vom .» 15

Ist die Diagnose gesichert, dann ergibt sich, wie auch heute der junge Arzt noch lernt, die Aufgabe der Indikationsstellung, das heißt die rasche, aber doch wohlüberlegte Entscheidung über die einzuschlagende Therapie. So läßt bereits SOPHOKLES seinen Aias sagen:

«Denn es pflegt nicht Zaubersprüche zu jammern der kundige Arzt

Wenn das Übel zu schneiden gebietet.» 16

Bei dem Philosophenarzt PLATONS spielt das belehrende Gespräch mit dem Patienten, also eine Art Psychotherapie, neben Diätetik und Gymnastik die ausschlaggebende Rolle.

Die Anwendung von Arzneimitteln wird von PLATON nur für den äußersten Notfall anerkannt, wie wir im Timaios erfahren 17: «Denn Krankheiten darf man, abgesehen von Fällen, wo große Gefahr vorliegt, nicht durch Arzneien aufregen.» Wenn diese Einstellung auch durch die außerordentlichen Erfolge der Pharmakotherapie, vor allem im Laufe der letzten Jahrzehnte, ad absurdum geführt wurde, so würde andererseits bei der Pillen- und Injektionspolypragmasie unserer Tage eine Reminiszenz an diese Mahnung PLATONS gelegentlich nichts schaden.

Aber nicht erst heute, in einer Aera stark übertriebener medizinischer Aufklärung durch Radio, Fernsehen und mehr oder weniger ernst zu nehmende Zeitschriften und Blättlein, will der Patient vom Arzt ein Mittel, und zwar möglichst sein Mittel, verschrieben haben, spottet doch schon EPIKTET in seinen Gesprächen: «Wenn der Arzt nichts verordnet, dann sind die Kranken unzufrieden und glauben, er habe sie bereits aufgegeben.» 18 Aber nicht nur die Verordnung von Medikamenten, auch diätetische und sonstige Vorschriften oder Restriktionen erwartet häufig der Patient von seinem Arzt, so daß der deutsche Barockdichter FRIEDRICH VON LOGAU sich veranlaßt sieht zu erklären:

«Wann der Artzt läst seinen Krancken trincken, essen, was er wil,

Scheint es, daß der Artzt vermeine, Krancker habe nun sein Ziel.» 19

Am eingehendsten befaßt sich PLATON im dritten Buch des «Staates» mit dem Wesen und der Tätigkeit des Arztes. Aus der Fülle der zum Teil recht spartanisch anmutenden Gedanken und Formulierungen seien zwei

herausgegriffen. So sieht PLATON in einer unmännlichschlechten Erziehung des Menschen den Hauptgrund dafür, wenn Richter und Ärzte über Gebühr in Erscheinung treten müssen und zu einem allgemeinen Bedürfnis werden. Überdies falle der Medizin nur die Aufgabe zu, «die Wunden oder Krankheiten, wie sie die Jahreszeiten mit sich bringen» 20, zu behandeln und zu heilen, nicht aber die von PLATON auch begrifflich als töricht angeprangerten Modekrankheiten, wie die und die und .

Schon nicht mehr spartanisch, sondern geradezu gefährlich und mit unserem ärztlich-ethischen Empfinden in krassem Widerspruch stehend ist schließlich folgende These PLATONS, die er den Sokrates, ebenfalls im «Staat»21, verkünden läßt:

«Könnten wir also nicht sagen, Asklepios habe in dieser Erkenntnis nur für Menschen, die von Natur aus und durch ihre Lebensweise gesund sind, aber sich einmal eine bestimmte Krankheit zuziehen, —für diese und ihre Leiden habe er seine Kunst geoffenbart; ihr Gebrechen will er durch Heilmittel und Operationen vertreiben und ihnen im übrigen ihren gewöhnlichen Lebenswandel gestatten, um ja nicht das allgemeine Leben zu schädigen; jedoch an durch und durch kranke Körper legt er keine Hand an, etwa um mit Diätregeln bald ein wenig wegzunehmen, bald zuzugeben und so dem Mann ein langes, unseliges Leben zu bereiten und ihn eine voraussichtlich ebenso ungesunde Nachkommenschaft zeugen zu lassen; vielmehr glaubt er..., den solle man lieber gar nicht pflegen; es nütze ja weder ihm noch dem Staate.» Und Glaukon antwortet: «Das heißt ja Asklepios zum —Politiker machen», was die Zustimmung des Sokrates findet. Politiker aber im Sinne dieser Antwort, also ein nur auf das Gesamtwohl bedachter Staatsdiener, gerade das soll und darf der Arzt nicht sein, wenn er nicht eines kritischen Tages gezwungen werden

will, seine individual-medizinische Aufgabe, seinen Auftrag als Helfer und Freund des einzelnen bedrängten Mitmenschen zu verraten.

Eine derartig brutale, rein materialistische Zuchtwahldenkungsart, die — den nationalsozialistischen Begriff vom lebensunwerten Leben vorwegnehmend — das Individuum praktisch entrechtet und nur das —zudem scheinbare —Gemeinwohl in den Vordergrund stellt, aus dem Munde des großen griechischen Philosophen zu vernehmen, ist für uns schwer zu fassen.

Zum Schluß noch eine den Arztberuf betreffende juristische Feststellung PLATONS in den «Gesetzen» 22, es sei jeder Arzt von Schuld freizusprechen, «wenn ein Patient ihm wider seinen Willen stirbt». Diese klare Fassung im athenischen Recht ist als sehr fortschrittlich zu bezeichnen, wenn man beispielsweise an die heutige, recht unklare und diskutable Rechtslage in den Vereinigten Staaten denkt, wo unter Umständen die Anwesenheit und Hilfeleistung eines Arztes beim Tod eines Unfallpatienten zur Anstrengung eines keineswegs aussichtslosen Haftpflichtprozesses genügt.

Daß es für das unbedingte Hilfeleistungsgebot des Arztes keine Grenzen und Ausnahmen irgendwelcher Art gibt, zeigt uns in neuerer Zeit ERICH MARIA REMARQUE in seinem Roman «Arc de triomphe» (1946), in dem ein illegal in Paris lebender deutscher Emigrant einer unfallverletzten Frau erste Hilfe leistet und ihr das Leben rettet, ungeachtet der drohenden Gefahr, auf diese Weise mit der eingreifenden Polizei in Berührung zu kommen und als Emigrant ohne Aufenthaltsgenehmigung abgeschoben zu werden, was auch in der Folge geschieht.

Zum Thema leistungsgerechtes ärztliches Honorar kurz zwei Aussagen aus antiken Dramen. Denen, die heute im gleichen Atemzug der Ärzteschaft eine teuerungsgemäße Tarifanpassung mißgönnen und auf der

anderen Seite zu Recht über die drohende Gefährdung der ärztlichen Versorgung jammern, sei ARISTOPHANES ins Stammbuch geschrieben, der in seinem «Plutos» den schlauen Chremylos über die Lage in Athen sagen läßt:

«Wie wär' wohl noch ein Arzt in dieser Stadt?

Wo schlecht der Lohn, ist's aus mit jeder Kunst.» 23

Im Rom des PLAUTUS hingegen, also etwa 150 Jahre später, wurden die Arzte augenscheinlich besser honoriert, sonst müßte in der Komödie Aulularia der Koch Congrio, der bei einer Schlägerei eine Kopfwunde davongetragen hat, nicht klagen:

«Zwei Drachmen nur beträgt mein ganzer Taglohn.

Und wieviel mehr doch kostet mich der Arzt!» 24

Hier sei die zeitkritische Bemerkung erlaubt, daß bei einem Vergleich der heutigen Einkommens- und Tarifzahlen der unvergleichlich leistungsfähigere Arzt bei uns wesentlich schlechter dasteht als sein Vorfahre zu des Plautus' Zeiten 25.

Einen prächtigen Beitrag zum Kapitel Kurpfuschertum liefert uns schließlich PHAEDRUS in seinen Fabeln unter dem Titel «ex sutore medicus» 26. Wegen ihrer Zeitlosigkeit —der Schuster des PHAEDRUS könnte genauso gut heute bei uns, vor allem in einem gewissen Kanton, wirken — sei diese Fabel auszugsweise zitiert:

Ein unfähiger, heruntergekommener Schuster, der sein Auskommen nicht mehr fand, begab sich in die Fremde und verkündete in marktschreierischer Reklame, daß er über ein unbedingt wirksames Allheilmittel, über ein Gegengift gegen alle Gifte verfüge. Der König der Stadt, in der unser Schuster sich aufhielt, erkrankte und entschloß sich, den Mann auf die Probe zu stellen. Er befahl ihn zu sich, goß in einen Becher Wassers scheinbar Gift und hieß es den Quacksalber unter Zusicherung einer ansehnlichen Belohnung austrinken, da er doch angeblich ein sicher wirkendes Gegengift besitze. Da bekannte der Arme in seiner Todesangst, daß

er von der Heilkunst keine Ahnung habe, daß er «non artis ulla medicae.. prudentia», sondern ausschließlich der Dummheit des unkritischen Volkes seinen Ruf verdanke. Der König aber ließ seine Mitbürger kommen und sprach zu ihnen: «Welch ein Wahnsinn, einem Manne Gesundheit und Leben anzuvertrauen, bei dem man anderwärts Bedenken hatte, ihm auch nur die Füße zur Anfertigung des Schuhwerks zu überantworten.» Ein Kommentar erübrigt sich, nicht jedoch eine die Moral der zeitlosen Begebenheit erweisende Nachahmung des königlichen Beginnens.

Wir wollen, von PHAEDRUS ausgehend, zur Abrundung der Frage noch einige Stimmen zum Thema Kurpfuschertum aus späterer Zeit besprechen. Ein großer Sprung führt uns ins 19. Jahrhundert zu JEREMIAS GOTTHELF, der uns in seinem zweiteiligen Roman «Anne Bäbi Jowäger» eine eingehende und großartige Schilderung der Quacksalberei und ihrer verheerenden Folgen sowie ihrer Abgrenzung gegenüber wahrem Arzttum geschenkt hat.

Zweifellos gibt es —glücklicherweise nicht allzu häufig — eine Kurpfuschermentalität, eine gewissenlose Kommerzialisierung des Berufes auch bei Inhabern von Arztdiplomen. Das bekannteste literarische Beispiel verdanken wir JULES ROMAINS. In seiner 1923 uraufgeführten Komödie «Knock ou le triomphe de la médecine» begegnet uns als Titelheld ein ehemaliger Krawatten- und Erdnüßchenverkäufer. Seine ersten medizinischen Erfahrungen hat er als «Schiffsarzt» ohne jede Vorbildung erworben, und auch später, als er Medizin studiert und ein Arztdiplom erlangt hatte, ging sein ganzes Streben dahin, den Menschen, die mit ihm in Berührung kamen, Krankheiten in der gleichen Art und Weise aufzuschwatzen, wie er es vordem mit seinen Krawatten getan hatte. Krank werden ist für ihn ein veralteter Begriff, «qui ne tient plus devant les données

de la science actuelle» 27. Der Ausdruck «Gesundheit» ist in seinem Vokabular gestrichen, und dem Apotheker des Ortes erklärt er: «Pour ma part, je ne connais que des gens plus ou moins atteints de maladies plus ou moins nombreuses à évolution plus ou moins rapide.» 27 Seinem Wahlspruch getreu, gelingt es Knock in kürzester Zeit, fast alle Einwohner des Ortes davon zu überzeugen, daß sie ernsthaft krank seien und seiner Behandlung bedürften.

Wir haben mit dem kurpfuschenden Schuster des PHAEDRUS begonnen. Das Bild rundet sich in der neueren Lustspielliteratur mit dem schusternden Arzt «Dr. med. Hiob Prätorius» von CURT GOETZ. Der Autor läßt den Titelhelden seines Schauspiels, einen wohlausgebildeten jungen Arzt, in Erfüllung einer Stammtischwette in einem kleinen Ort einen Schuhladen aufmachen, um so «als heilkundiger Schuster in den Ruf eines Kurpfuschers zu kommen» und um bei «streng wissenschaftlicher» Behandlung seiner «Kundschaft» deren Dummheit «der Lächerlichkeit preiszugeben» 28. Der gewissenhafte junge Arzt hat Erfolg, die Praxis floriert. Als aber später offenbar wird, daß man es nicht mit einem begnadeten Heilkundigen, sondern nur mit einem diplomierten Arzt zu tun hat, verliert Prätorius den größten Teil seiner früheren, auf Wundertaten hoffenden «Kunden», und bei den wenigen, die noch kommen, ist der therapeutische Erfolg des Pseudoschuhhändlers und echten Arztes infolge des Verlustes der Suggestivwirkung bei weitem nicht mehr so groß wie ehedem.

Von PHAEDRUS über JEREMIAS GOTTHELF bis zu JULES ROMAINS bleiben die Grundlagen und Triebfedern der aktiven und passiven Kurpfuscherei wie auch des unärztlichen Arztens stets die gleichen: Es sind dies vor allem die Dummheit der durch Arzt und Heilkunde meist schuldlos und gelegentlich leider auch schuldhaft enttäuschten Menge, die wundergläubig und -süchtig

betrogen werden will, und auf seiten des Quacksalbers oder auch Kurpfuscherarztes Geldgier, verantwortungsloses Geltungsbedürfnis und hie und da wohl auch sektiererischer Fanatismus.

Bei den Minnesängern des deutschen Mittelalters — als Beispiele nennen wir HARTMAN VON AUE, WOLFRAM VON ESCHENBACH, ULRICH VON LICHTENSTEIN und GOTTFRIED VON STRASSBURG 29 — werden mehrfach Ärzte erwähnt, die Kampfeswunden der Helden pflegen, deren Hauptaufgabe also — ebenso wie im Nibelungenlied — die Wundarznei ist.

Um die Wertung des Ärztestandes und der Heilkunst in der langen Zeitspanne zu verstehen, die sich von den Tagen des Mittelalters bis weit ins 19. Jahrhundert hinein erstreckt, müssen wir bedenken, daß in dieser ganzen Zeit das objektiv gesicherte ärztliche Wissen und das diagnostisch-therapeutische Können recht bescheiden waren und daß trotz beachtlicher Mehrung der naturwissenschaftlich-medizinischen Grundkenntnisse im Zeitalter des Humanismus und dem des Barock Diagnostik und Therapie erst seit dem späten 19. Jahrhundert in der Folge des Aufblühens der Naturwissenschaften, der Bakteriologie und der Pharmakologie nennenswerte Fortschritte aufwiesen. Die Ärzte, und zwar sowohl der Chirurgus wie der Medicus — der letztere in noch ausgesprochenerern Maße —, verfügten über ein häufig eher hemmendes als förderndes dogmatisches Wissen. Im übrigen waren neben Beobachtungsgabe und Erfahrung ein sicheres, beruhigendes und Vertrauen einflößendes Auftreten, ein psychologisch geschicktes Einfühlungsvermögen sowie im Falle des leider so häufigen Nichtwissens und Nichthelfenkönnens auch ein Schuß dialektisch verbrämter, bramarbasierender Charlatanerie die wichtigsten Elemente dieses Arzttums. So spielten die Ärzte in diesen langen Jahrhunderten — von wenigen begnadeten Ausnahmen abgesehen

— nur allzu oft die klägliche Rolle, die später vom Kurpfuscher übernommen wurde und bis auf den heutigen Tag, mit zum Teil recht großem Publikumserfolg, von ihm gespielt wird. Es ist daher nicht verwunderlich, daß im Bild des Arztes, das uns Dichtung und Literatur während rund fünfhundert Jahren — vom Mittelalter angefangen bis zum 18. Jahrhundert — vermitteln, der charlatanhafte Einschlag meist beträchtlich, gelegentlich sogar dominierend ist.

Im Prolog zu den «Canterbury Tales» schildert GEOFFREY CHAUCER einen bedeutenden englischen Arzt des 14. Jahrhunderts 30. Das Vorbild CHAUCERS dürfte John of Gaddesden gewesen sein, der erste in Oxford ausgebildete Mediziner und Verfasser der «Rosa medicinae» oder «Rosa anglica» 31. Sein medizinisches Wissen verdankt dieser augenscheinlich nicht allzu fromme, auf seinen materiellen Vorteil bedachte «Doctour of Physike» ausschließlich dem Studium einer größeren Zahl von älteren und neueren medizinischen Autoren, die CHAUCER namentlich aufführt. Ein Auszug aus CHAUCERS Schilderung in deutscher Übersetzung mag uns als allgemein gültiges Bild des rein dogmatisch, mystisch. astrologisch geschulten und orientierten, dem Klerikerstand nicht angehörenden gelehrten Arztes dienen, der in dieser Zeit genauso gut wie auf den Britischen Inseln auch in einem anderen Lande hätte leben und wirken können. CHAUCER schreibt:

«Auch hatt' ein Doktor sich zu uns gesellt,
Ein Arzt. Gewiß sprach keiner auf der Welt
So klug von Chirurgie wie Medizin;
Auch Sternen-Deutung int'ressierte ihn.
Patienten fesselt' er für Stunden schnell
Mit seinem magisch-starken Naturell.
Im Sternbild konnte er in allen Fällen
Des Kranken Horoskop geschickt erstellen.

Der Krankheit Ursach fand er rasch und leicht, Ob kalt, ob heiß sie, trocken oder feucht, Wo sie erzeugt, durch welchen Körpersaft. Als Practicus war er recht meisterhaft. Hatt' er des Übels Ursach erst erkannt, Ward gleich die Medizin auch angewandt. Ein Apotheker war ihm stets zu Händen, Um Drogen und Latwergen ihm zu senden.

In der Diät war er durchaus bescheiden;
Nur solche Speisen mocht' der Doktor leiden,
Die groß an Nährwert und auch leicht verdaulich.
Das Bibel-Studium schien ihm nicht erbaulich.
Trotz prächt'ger Kleidung sparte unser Mann
Recht sorgsam, was er in der Pest gewann.
Gold gilt dem Arzt als ein Specificum,
Ausnehmend liebte er das Gold darum.» 32

Während in CHAUCERS Arztbild bei aller Anerkennung der Gelehrsamkeit eine deutliche, typisch angelsächsische Ironie mitschwingt, hat der von CHAUCER als Vorbild hochverehrte FRANCESCO PETRARCA die Ärzte — von vereinzelten Ausnahmen abgesehen — mit romanischer Leidenschaftlichkeit abgelehnt und angegriffen. Wir verweisen auf seine aus vier Büchern bestehende Schrift «Invectivae contra medicum» 33 in der PETRARCA die Ärzte anprangert, weil sie die eigentliche Heilkunst zugunsten der Astrologie, der Dialektik und anderer nichtiger Dinge vernachlässigten. PETRARCA geht so weit, dem Arzt den Vorwurf ins Gesicht zu schleudern: «Medicina autem tua pecuniam spectat et ad illam refertur et propter illam est.» 34 Aber über die Ursache der Krankheit wisset ihr nichts, ihr Ärzte: «Miseri qui sub auxilii vestri fidutia egrotant —Weh den Armen, die im Vertrauen auf eure Hilfe krank werden!» 35 Aufschlußreich ist ein Brief PETRARCAS an

CLEMENS VI. vom 13. März 1352 36, in dem der Dichter den Papst vor den ihn umgebenden Ärzten warnt und ihn an das Epitaph eines Unglücklichen erinnert, das nur die Worte aufweist: «Turba medicorum perii — Durch der Ärzte Schar verlor ich mein Leben.»

In GIOVANNI BOCCACCIOS «Decamerone» werden an verschiedenen Stellen Ärzte und Chirurgen erwähnt. Sie besuchen und untersuchen ihre Patienten, führen Operationen aus, stellen den Tod fest und führen sogar zwecks Feststellung der Todesursache Autopsien durch, wie BARFIELD ADAMS (1913)37 bereits ausgeführt hat. Dieser Autor hält es mit Recht für bemerkenswert, daß keiner von Boccaccios Ärzten mit einem der vielen Giftmorde etwas zu tun hat, von denen die Rede ist 38. BOCCACCIO steht damit in ausgesprochenem Gegensatz zu dem englischen Historiker WILLIAM HARRISON, einem Zeitgenossen SHAKESPEARES, der seinen jungen Landsleuten, die in Italien Medizin zu studieren gedenken, warnend zuruft: «Italien ist für Studenten gefährlich.» Denn wenn dort sich «gewisse Ärzte Vorteile vom Hinscheiden ihrer Patienten versprechen, geben sie ihnen Arzneien, die einen raschen Abgang bewirken» 39.

Doch auch für den Arzt selbst ist gegen das Sterben kein Kraut gewachsen. So antwortet der Tod auf die ergreifende Klage des Menschen in dem um 1400 geschriebenen «Der Ackermann und der Tod» des JOHANNES VON TEPL, diesem tiefen, großartigen Erstlingswerk deutschsprachiger humanistischer Prosa: «Die erzt die den leuten das leben lengen, die müssen uns zu teil werden. würz-kraut, salben und allerlei apteken pulperei kan sie nicht gehelffen.» 40

Den gleichen Tenor vertritt die vielfältige, meist anonyme Totentanzlyrik des 15. bis 17. Jahrhunderts. In den Totentanzbildern und deren Begleittext erscheint mit großer Regelmäßigkeit auch der Arzt. Als erstes Beispiel wählen wir die Verse, die NIKLAUS

MANUEL zu seinem zwischen 1516 und 1519 entstandenen Berner Totentanz verfaßt hat 41. Während der Arzt sich in dem Zwiegespräch seiner Kunst rühmt, «kreüter» zu brauchen und «Purgatzen» zu geben, erklärt der nicht unfreundliche Tod im Vollgefühl seiner Macht:

«Artztet wiewohl man euch soll ehren,
wil sich doch der todt nit daran kehren:
ir hand nie gesehen, geschriben, oder geläsen,
daß jemand vor dem todt möcht genäsen.»

Ein ausgesprochen geringschätziger Ton spricht demgegenüber — um ein zweites Beispiel aus der Schweiz zu nennen — aus den Versen, die im Sterbensspiegel der beiden Zürcher Maler RUDOLFF und CONRAD MEYER dem Totentanzbild des Arztes beigegeben sind 42. Die Rede des Todes und ein Ausschnitt aus der Gegenrede des Arztes mögen dies illustrieren. Der Tod läßt sich vernehmen:

«Darinn besteht dein tuhn /daß du beschawest harn;
beraubest krankne leut / und jagest sie ins garn
meins tödlichen gewalts. Man fragt dich um das leben;
so pflegest / was vor mich / dem kranknen eynzugeben.
Vermehrer meines Reychs; nicht zwar mit mord und
brand
jedoch mit artzeney und tollem unverstand.
Nun wird die Welt getröst / wann von dir wird
gesungen;
der Doctor ist (er mußt) auch an den Dantz
gesprungen.»
Und in der Antwort des Arztes heißt es:
«So bist du dann der Tod? ich aber bin der Töder /
und ist noch ungewüß / wer under uns der schnöder.
Ohn mitel / hawest du des Menschen leben ab:
durch mitel bring' ich Ihn mit feinem schein zu
grab.» 43

Gegen Ende des 15. und im Anfang des 16. Jahrhunderts wurde es —in einer Art Neubelebung der «vanitas vanitatum» 44 Stimmung —Mode, die zu verspottenden Charaktere als Narren und ihr belächeltes Tun als Torheit und Narretei zu geißeln. Die Namen SEBASTIAN BRANT, ERASMUS von ROTTERDAM, THOMAS MURNER tauchen vor uns auf. Sie alle haben das in ihrer Zeit so sinn- und aussichtslos erscheinende Bemühen des Arztes in ihren Narrenspiegeln verspottet. So schreibt BRANT in seinem Narrenschiff im Abschnitt «Von narrechter artzny» 45 über den Arzt:

«Der gat wol heyn mit andern narrn
Wer eym dottkranken bsycht den harrn
Und spricht / wart / biß ich dir verkünd
Was ich jn mynen büchern fynd.
Die wile er gat zun büchern heym
So fert der siech gön dottenheym.»

Im weiteren spottet BRANT über den «artzeny»-Schatz seiner Zeit, über die «plaster» und «ungent» sowie nicht zu vergessen das «Purgyeren».

Im «Lob der Torheit» schreibt ERASMUS 46: «Jedoch auch von den Wissenschaften gelten am meisten die, welche am nächsten dem gewöhnlichen Menschenverstand, will sagen, der Torheit, verwandt sind; hungern muß der Gottesgelehrte, frieren der Naturforscher, verlacht wird der Sterndeuter und der Logiker verachtet; einzig der Arzt» —hier zitiert ERASMUS ironisch HOMER —«'ist mehr denn viele der andern', aber auch hier gilt der Satz: je unwissender, dreister und unüberlegter er ist, desto mehr imponiert er... Und doch ist die Heilkunst, zumal wie sie jetzt recht viele handhaben, nichts als ein Stück Schmeichelei, nicht minder als die Rhetorik.»

In seiner Narrenbeschwörung nimmt THOMAS MURNER 47 zunächst einmal in dem Abschnitt «Der kelber artztet» 48 verschiedene von BRANT erstmals geäußerte Gedanken auf. Die Abhängigkeit der Pharmakotherapie

von der materiellen Lage des Patienten wird mit den Worten glossiert:

«Der artzt am geh kan sehen fyn,
Was der kranck sol nemen yn.» 49

Die in der damaligen Medizin so bedeutungsvolle Uroskopie, die noch VOLTAIRES 50 als eine Schande der Medizin bezeichnet hat, wird von MURNER in «Der Narren harn besehen» mit folgenden Worten verspottet:

«Galienus, meister hypocras,
Die haben mich gelernet das,
Wa Wasser sy, do sy es nass;
Stürbt er nit, so würt im bass.» 51

Es folgt eine lange Litanei, was alles an erdichteten Gemeinplätzen der Arzt aus dem Harn ersehen zu können vorgibt; und wir werden uns bewußt, daß der harnbeschauende Kurpfuscher unserer Tage auf einen viele Jahrhunderte alten ärztlichen Ahnen zurückblicken kann, in welcher Zeit sich allerdings die Heilkunde von einem mystisch-divinatorischen Pseudowissen — im Gegensatz zum Denk- und Empfindungsvermögen vieler Patienten — zu einer Kunst und Wissenschaft entwickelt hat.

Seit dem Frühmittelalter waren sowohl die gesamte Krankenpflege wie auch zum Teil die ärztliche Tätigkeit zunehmend in die Hände von Angehörigen des geistlichen Standes, und zwar vorwiegend des niederen Klerus, geraten. Da bei der Chirurgie in besonderem Maße mit akuten, den Arzt mit einer starken Verantwortung belastenden Todesfällen während des Eingriffs gerechnet werden mußte, war der Kirche die chirurgische Betätigung der Kleriker von Anfang an weniger sympathisch als die Arznei-, Physio- und Psychotherapie. Die trotzdem zunehmende Ausübung der Wundarznei durch Kleriker mit der unvermeidbaren Folge der von ihnen und damit auch von der Kirche zu tragenden Verantwortung führte im Jahre 1215 zu

einem Beschluß des Laterankonzils, der den Kirchengliedern jede chirurgische Tätigkeit mit Ausnahme der gewöhnlichen Wundversorgung untersagte und in dem wörtlich angeordnet wird: «nec illam chirurgiae partem subdiaconus, diaconus, vel sacerdos exerceant, quae ad ustionem vel incisionem inducit.» Der Beschluß wurde in der Folge durch eine Reihe päpstlicher Dekrete und weiterer Konzilsbeschlüsse 52 bestätigt und erhärtet. Durch diese Stellungnahme der bis zur Reformation allmächtigen Kirche wurde die bereits seit der Antike angedeutete Spaltung der Heilkunde in Medizin und Wundarznei entscheidend gefördert, wobei die letztere bis zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung beider Teilgebiete zur gesamten Heilkunde im 19. Jahrhundert von der Zunft der Bader und Scherer übernommen und ausgeübt wurde.

Wenn also in der Literatur der kommenden Jahrhunderte, wie zum Beispiel in den Fasnachts- und Jahrmarktsspielen, der «Arzt» auftritt oder zitiert wird, müssen wir damit rechnen, daß der Autor in dieser Figur in vielen, ja den meisten Fällen den als Bruch- und Steinschneider tätigen Bader seiner Zeit dargestellt hat oder darstellen wollte.

HANS FOLZ, selbst Barbier und Chirurgus zu Nürnberg, ist uns als Autor eines der früheren Fasnachtsspiele des 15. Jahrhunderts bekannt, in dem die typische Handlung späterer Arztpossen zum Durchbruch kommt. In seinem «Spil von einem Arzt und einem kranken Paur» 53 preist Quenzepelsch Servus, der Diener des Arztes, seinen Meister in einer an das bekannte Lied vom Doktor Eisenbart gemahnenden Art mit folgenden Worten:

«Auch macht er die geraden lam,
Ein gut werk hat er nie getan,
Er kan die gesehenten plint machen
Und den gesunten vertreiben das lachen.»

Harnprobe und «Purgatzen» spielen auch in diesem Stück in der üblichen Weise eine wichtige Rolle.

Mit der Reformation kommen neue, zeitkritische Gedanken ins Fasnachtsspiel und damit auch in die Arztposse. Man begnügt sich nicht mehr damit, den Arzt oder den Patienten zu verlachen, auch der Medicus und Chirurgus selbst spottet nun über modische Unarten, wie die Astrologie oder die so beliebte Narrenwelt. So fällt dem Arzt im Fasnachtsspiel in erster Linie die Aufgabe zu, den Kranken —und zwar vor allem den von den Städtern zur Zielscheibe ihres Spottes ausersehenen Bauern — durch Purgieren oder durch eine Operation von den ihn plagenden und beherrschenden, durch BRANT, MURNER und andere beschworenen Narren zu entbinden. In dem um 1554 aufgeführten Mellinger Fasnachtsspiel 54 gehen schließlich der Fürst und alle Bürger zum Doktor, um sich ihre individuellen «närli» austreiben zu lassen. Neben dem «Narren-Austreiben» durch Beschwörung begegnen wir auch dem vom Steinschneiden abgeleiteten «Narrenschneiden», das HANS SACHS, der Meister des deutschen Fasnachtsspiels, in einem seiner bekanntesten Werke auf die Bühne bringt 55. Hier eröffnet der Arzt den geblähten Bauch des Patienten und entfernt nacheinander sämtliche Narren, die darin ihr Unwesen getrieben haben. Es sind dies die Narren der «hoffart» und der «geitzigkeyt», der «neydig Narr», der «Narr der unkeusch», der «Füllerey», der Faulheit und viele andere, die der Arzt beim Herausschneiden und -brechen des «Narrennestes» mit ihrem Namen nennt:

«Summa summarum, wie sie nant
Doctor Sebastianus Brandt,
Inn seinem Narren schiff zu faren»,

womit auch der Vater der zeitgenössischen Narrenwelt durch HANS SACHS gebührende Erwähnung findet. 56

Am treffendsten hat der große Nürnberger Schuster-Poet

Aufgabe und Möglichkeiten des Arztes in den Worten zusammengefaßt, die er «die Artzney» in «der todt ein end aller irrdischen ding» 57 sagen läßt:

«...Ich bin nit von Got
Gesetzt, zu vertreiben den todt.
Seind nicht all ärtzt selber gestorben?
Ipocrates in tod verdorben?
Ich bin nur ein hilf der natur,
Die kranckheyt zu ertzneyen nur.
Wo glück mit würckt, da hab ich kraft.
Sunst hilft kein fleiß noch meisterschafft.
......»

In einem schweizerischen Fasnachtsspiel aus der Mitte des 16. Jahrhunderts «Von Astrologie und Wahrsagen» 58, das 1560 in Freiburg im Uechtland aufgeführt wurde, spielt der Arzt, der seine Künste aus dem «Eulenspiegel», dem «Pfaffen von Kalenberg», dem «Doktor Schmossmann», dem «Narrenschiff» und dem «Rollwagenbüchlein» ableitet, die klägliche Rolle eines Wahrsagers von Selbstverständlichkeiten. Auch in dem 1565 oder 1567 in Luzern aufgeführten «Wunderdoktor» des ZACHARIAS BLETZ 59 benimmt sich der Titelheld ebenfalls recht unrühmlich und unärztlich.

Nach der Volks- und Gelegenheitsdichtung noch ein Wort über den großen europäischen Dramatiker und Lyriker dieser Zeit. In dem umfangreichen Werk SHAKESPEARES, das die universelle Bildung des Autors bezeugt, finden sich keine erwähnenswerten Bemerkungen über den Beruf des Arztes; dies gilt auch für die im Rahmen der Diskussionen über SHAKESPEARES medizinische Kenntnisse immer wieder zitierten Stellen aus Hamlet, Macbeth sowie Romeo und Julia.

In der Zeit der Spätrenaissance und des Barock ist trotz der schon erwähnten beachtlichen Initiative wie auch der beträchtlichen Fortschritte der wissenschaftlichen Grundlagenforschung auf verschiedenen Teilgebieten

der Medizin, und zwar vor allem der Morphologie, das Ansehen des Arztes im allgemeinen nicht besser geworden, als dies zuvor der Fall war. Nachdem einleitend bereits ABRAHAM A SANTA CLARA als Vertreter dieser Epoche angeführt wurde, beschränken wir uns darauf, den Deutschen FRIEDRICH VON LOGAU zu zitieren. In seinen für uns Heutige etwas zwiespältigen Sinngedichten geißelt LOGAU jedenfalls die Albernheiten und Mißstände seiner Zeit, so daß die das Arzttum betreffenden Sprüche als Ausdruck einer nicht gerade übermäßigen Achtung vor der ärztlichen Kunst für unsere Betrachtungen wertvoll sind. In einer großen Zahl von Sinngedichten spottet LOGAU über die Jünger Aeskulaps. Zwei Kostproben mögen uns genügen.

Zunächst:

«Ein Artzt ist ein gar glücklich Mann.
Was er berühmtes hat gethan,
Das kan die Zeit selbst sagen an;
Sein Irrthum wird nicht viel gezehlet;
Dann wo er etwa hat gefehlet,
Das wird in Erde tieff verhölet.» 60

Und:

«Wie Gott seyd ihr, ihr Ärtzte! sagt heimlich
zu dem Krancken:
Du must zur Erde werden! Und er muß noch wol
dancken.» 61

Kurz fassen können wir uns trotz ihrer außerordentlichen Bedeutung in der Theatergeschichte bei der Besprechung der «Commedia dell'arte». In dieser Kunstgattung begegnen uns von Anfang an sieben Grundgestalten, die aus den Atellanen und dem römischen Mimus abgeleitet werden können und deren eine der «Dottore» ist.

Der Bedeutung der Bologneser medizinischen Schule

entsprechend stammt er aus dieser Stadt und später allenfalls auch aus Ferrara. Sein häufigster Name ist Dottore Graziano Baloardo. Seine pfiffige Dummheit, seine selbstzufriedene Prahlerei, sein Geiz, seine unvergleichliche Geschwätzigkeit haben sich als typische Charakterzüge in die Gestalt des Arztes der französischen Komödie fortgesetzt. In seiner rasanten Eloquenz ist der Redeschwall des «Medico» der «Commedia dell'arte» zugleich Vorahnung wie Grundlage der zungenbrecherischen Arien des Dottore, zum Beispiel des Dr. Bartholo, in der Opera buffa.

Hören wir nur zwei Tiraden des «Médecin» aus dem um 1680 gespielten «Chevalier du Soleil». Voll Stolz verkündet der Jünger Aeskulaps einem Kollegen: «Je soigne, je purge, je sonde, je bistourise, je scie, je ventouse, je rogne, je déchique, je romps, je fends, je brise, j'arrache, je déchire, je coupe, je disloque, j'écarte, je taille, je tranche et je suis sans quartier» und «Je suis le foudre et la terreur des maladies. J'extermine les fièvres, les frissons, la gale, la gravelle, la rougeole, la peste, la teigne, la goutte, l'apoplexie, l'érysipèle, le rhumatisme, la pleurésie, les catarrhes, les coliques venteuses et non venteuses etc.» 62

In MOLIÈRES dramatischem Werk ist die Dar- und Bloßstellung des Betruges in allen seinen Formen sowie die lehrreiche Verspottung von Betrügern und Betrogenen das Leitmotiv 63. So ist es nicht verwunderlich, daß der wenig wissende und könnende Arzt dieser Zeit mit seinem charlatanhaften diagnostischen und therapeutischen Unvermögen wie auch der vom Arzt betrogene, tatsächlich oder zumindest eingebildet Kranke zu beliebten Zielscheiben des gallig-bitteren MOLIÈREschen Spottes werden. Dabei wirft der Dichter, ohne viel Federlesens zu machen, Arzt und Charlatan in den gleichen Topf, obwohl er sich bewußt ist, daß es Arzte gibt, die im Gegensatz zum Charlatan an ihre

Heilkunst glauben. Doch sind auch diese für MOLIÈRE nicht mehr als betrogene Betrüger und — ich zitiere — «dem allgemeinen Irrtum verfallen» 64, an die Medizin zu glauben.

Vom «Don Juan» über «L'amour médecin», den «Médecin malgré lui», den «Monsieur de Pourceaugnac» bis zum Schwanengesang des todkranken Dichters, dem «Malade imaginaire», spannt sich der weite Bogen antimedizinischer Ironie des geist- und humorvollen Misiaters MOLIÈRE. Wir müssen uns auf die Nennung von Beispielen beschränken.

Im «Don Juan» begegnet uns der Diener Sganarelle, der ein Arztgewand angelegt hat und den Bauern, die er antrifft, im Vollgefühl seines Arzttums — Kleider machen Leute —nach Belieben Vorschriften erteilt und Arzneien verschreibt. Sein Meister Don Juan antwortet ihm auf das Geständnis seiner Charlatanerie mit den verständnisvollen Worten: «... Aus welchem Grunde sollst du nicht die gleichen Vorrechte wie die anderen Ärzte haben? Sie können so wenig wie du etwas für die Heilung ihrer Kranken, und all ihre Kunst ist eine Grimasse. Sie heimsen den Ruhm ihrer zufälligen Erfolge ein; und wie sie kannst du das Glück der Kranken ausnutzen, um deinen Mitteln zuzuschreiben, was die Gunst des Schicksals und die Kräfte der Natur zu vollbringen vermögen.» 65 Und auf die erstaunte Frage des Dieners: «Wie, Herr, auch an die Kunst der Ärzte glaubt Ihr nicht?» erhält er von Don Juan alias MOLIÈRE die unmißverständliche Antwort: «Der Glaube daran ist einer der verbreitetsten Irrtümer.»

In «L'amour médecin» läßt der Dichter unter bezeichnenden Pseudonymen die fünf Leibärzte am Hofe Ludwigs XIV. auftreten, und zwar wie Guy PATIN, der bekannte «Doyen de la Faculté de Médecine de la Sorbonne» in einem Brief vom 25. September 1665 66 berichtet, zur großen Freude der in hellen Scharen die

öffentlichen Aufführungen des Werkes besuchenden Pariser. Das Konsilium der zur liebeskranken Lucinde gerufenen, in ihren diagnostischen Ansichten und therapeutischen Vorschlägen völlig divergierenden Ärzte im Schauspiel ist das satyrhafte Gegenstück zu dem gleichfalls von PATIN überlieferten Streitgespräch der Ärzte anläßlich der Todeskrankheit des Kardinals Mazarin, das PATIN in einem Brief vom 7. März 1661 folgendermaßen schildert: «Brayer dit que la rate est gâtée, Guénaut dit que c'est le foie, Valot dit que c'est le poumon et qu'il y a de l'eau dans la poitrine, des Fougerais dit que c'est un abscès du mésentère...» 67 Zwischen dem nüchternen, kritischen Bericht des Fachmannes Guy PATIN und einer spielerischen Szene des sarkastischen Dichters MOLIÈRE gibt es kaum einen Unterschied.

Filerin, einer der fünf Ärzte in «L'amour médecin», bekennt schließlich offen den ärztlichen Betrug: «... Nous ne sommes pas les seuls, comme vous savez, qui tâchons à nous prévaloir de la faiblesse humaine. C'est là que va l'étude de la plupart du monde, et chacun s'efforce de prendre les hommes par leur faible, pour en tirer quelque profit... Mais le plus grand faible des hommes, c'est l'amour qu'ils ont pour la vie; et nous en profitons... par notre pompeux galimatias, et savons prendre nos avantages de cette vénération que la peur de mourir leur donne pour notre métier:» 68

Die Uneinigkeit und Streitsüchtigkeit der Ärzte in Fachfragen hat auch MOLIÈRES Zeitgenosse LA FONTAINE in seiner Fabel «Les médecins» 69 aufs Korn genommen. An einem Krankenbett läßt er den «Médecin tant-pis» und seinen Collega «Tant-mieux» so lange miteinander streiten, bis der Patient das Zeitliche segnet, worauf Doktor Pessimist feststellt: «Il est mort, je l'avois bien prévu», während Doktor Optimist verkündet: «S'il m'eût cru, il seroit plein de vie.»

Als letztes Beispiel verweisen wir auf die klägliche Rolle der Ärzte und ihrer Kunst im «Malade imaginaire». Das Werk ist so bekannt, daß wir es uns ersparen können, genauer darauf einzugehen. Nur seine Quintessenz aus dem Munde Béraldes sei angeführt, der im Zwiegespräch mit seinem krankhaft kranken Bruder Argan den Ärzten jede Fähigkeit abspricht, heilen zu können, und nach dessen Worten «die meisten Menschen an ihren Arzeneien, nicht an ihren Krankheiten», sterben. Denn «die Herrlichkeit» der ärztlichen «Wissenschaft besteht in einem hochtrabenden Galimathias, in einem blendenden Wortschwall, der statt der Diagnose Phrasen gibt und statt der Behandlung Versprechungen.» 70

Dabei ist MOLIÈRE als Misomédecin keineswegs ein durch schlechte persönliche Erfahrungen verbitterter Einzelgänger, wie gelegentlich behauptet wird. MOLIÈRE ist, durch dichterische Begabung und Gewandtheit des Ausdrucks dazu prädestiniert, ein symptomatisches Sprachrohr seiner Zeit, die, auf dem rund hundert Jahre älteren antimedizinischen Spott eines RABELAIS und eines MONTAIGNE fußend, den Ärzten das in Paris von Hand zu Hand gehende Epigramm ins Stammbuch schreibt:

«Affecter un air pédantesque,
Cracher du grec et du latin,
Longue perruque, habit grotesque,
De la fourrure et du satin,
Tout cela réuni fait presque
Ce qu'on appelle un médecin.» 71

Unter den Zeitgenossen und Landsleuten MOLIÈRES seien noch NOËL LE BRETON DE HAUTEROCHE und JEAN FRANÇOIS REGNARD mit ihren thematisch wie in der Tendenz an MOLIÈRE gemahnenden «Crispin»-Lustspielen erwähnt. Im «Crispin Médecin» des ersten Autors stellt der in Arztkleidern steckende, pfiffige Titelheld,

der Diener Crispin, fest: «Je vois que c'est un bon métier. Sans savoir ce que l'on fait, on gagne de l'argent 72a.» An einer anderen Stelle 72b des Werkes spricht der «Diener-Arzt» sich mit den folgenden Worten Mut zu: «Quand je paroistray ignorant, il y a bien d'autres médecins qui le sont aussi bien que moy.» In REGNARDS Komödie «Les folies amoureuses» — in manchem ein Gegenstück zu MOLIÈRES «L'amour médecin» — hören wir übrigens aus dem Munde des Pseudo-Arztes Crispin 73 den als Symbol des Widersprüchlichen in der Medizin klassisch gewordenen, häufig zitierten Satz: «Hippocrate dit oui, mais Galien dit non.»

In der auf MOLIÈRE folgenden Aera wäre vor allem LE SAGE, der Schöpfer des Sittenromans, zu nennen. In seinem «Gil Blas» erscheint als bissige Persiflage zeitgenössischer Medizin der Doktor Sangrado, der, ohne eine Diagnose zu stellen, keine andere Therapie als Wassertrinken und Aderlaß kennt und hartnäckig die These vertritt: «C'est une erreur de penser que le sang soit nécessaire à la conservation de la vie.» 74 Seinem Famulus Gil Blas erklärt er, daß er sich die Mühe sparen könne, «d'étudier la physique, la pharmacie, la botanique et l'anatomie... il ne faut que saigner et boire de l'eau chaude: voilà le secret de guérir toutes les maladies du monde» 75. Über den «Erfolg» von Sangrados «Therapie» zu sprechen erübrigt sich.

Auch die Anschauungen des Engländers JONATHAN SWIFT über die Ärzte und ihre Methoden entsprechen durchaus den besprochenen Aussagen der etwas älteren oder zeitgenössischen französischen Autoren. In seinen «Gulliver's Travels» läßt SWIFT den Romanhelden eingehend über Arzt und Heilkunst in seiner Heimat berichten. «In the profession or pretence of curing the sick» 76 gäbe es dort Leute, die sich auf diese Aufgabe spezialisiert hätten. Hauptlehrsatz der zeitgenössischen Medizin sei, «that all diseases arise from repletion». Die

therapeutische Devise sei daher: Entleerung des Körpers auf allen zur Verfügung stehenden Wegen: Purgieren nach unten und Erbrechen nach oben —wir stellen fest, daß inzwischen lediglich der in Paris lange Zeit verpönte Brechweinstein zum Therapiegut des Molièreschen Arztes hinzugekommen ist. «But, besides real diseases, we are subject to many that are only imaginary, for which the physicians have invented imaginary cures.» Und dann die Prognose. Sie ist nahezu immer richtig, da sie bei wirklich schweren Krankheiten im allgemeinen den Tod verkündet. Wenn es aber wider Erwarten doch noch besser herauskommen sollte, läge es ja in der Hand des Arztes, «to approve their sagacity to the world by a seasonable dose», um nicht als falsche Propheten dastehen zu müssen. Auch in SWIFTS Spottgedicht «The beast's confession» spielen die Ärzte eine durchaus unrühmliche Rolle 77.

Kurzum, zwischen MOLIÈRES Béralde und SWIFTS Gulliver gibt es keine nennenswerten Unterschiede im Urteil über die Ärzte, über ihr diagnostisch-therapeutisches Rüstzeug und Können sowie über ihre Ethik.

Als Beispiele für das ausgehende 18. und das beginnende 19. Jahrhundert wählen wir GOETHE in der Universalität seines Überblickes über Kunst und Wissenschaft sowie den Norddeutschen MATTHIAS CLAUDIUS und den Schweizer JEREMIAS GOTTHELF. GOETHES Meinung über Medizin und Ärzte war im großen und ganzen keineswegs negativ, trotz der bekannten ironischen Definition des «Geistes der Medizin» aus dem Munde des Spötters Mephisto 78, trotz den selbstanklägerischen Osterspaziergangsbetrachtungen des Doktor Faust über seines Vaters und seine eigene ärztliche Tätigkeit:

«Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte, wer genas!

So haben wir mit höllischen Latwergen In diesen Tälern, diesen Bergen Weit schlimmer als die Pest getobt. ......» 79

Die Einstellung GOETHES zum Arzt läßt sich am besten in den Worten zusammenfassen, die er am 12. August 1827 dem Kanzler Müller gesagt hat 80:

«Unser Leben kann sicherlich durch die Ärzte um keinen Tag verlängert werden, wir leben so lange es Gott bestimmt hat; aber es ist ein großer Unterschied, ob wir jämmerlich wie arme Hunde leben, oder wohl und frisch, und darauf vermag ein kluger Arzt viel.»

Dieser Ausspruch GOETHES läßt uns innewerden, in welch ungeahntem Maß ärztliches Wissen und Können sich in den letzten eineinhalb Jahrhunderten entwickelt haben.

Während rund 150 Jahre vor GOETHE FRIEDRICH VON LOGAU noch spotten konnte:

«Ärtzte sind den Menschen gut, daß für derer Menge Endlich nicht die gantze Welt werde gar zu enge» 81, und während GOETHE ausdrücklich erklärt, daß durch das Wirken der Ärzte das Leben zwar nicht verlängert, sondern nur erleichtert und verschönert werden könne, ist es der Medizin unserer Tage, über Säuglingssterblichkeit, Krankheit und Tod auf so vielen Teilgebieten der Heilkunst triumphierend, tatsächlich gelungen, die Lebenserwartung der Menschheit um Jahrzehnte zu verlängern und eine stetig steigende, in ihren ökonomischen und politischen Folgen nicht mehr zu übersehende Vermehrung der Weltbevölkerung zu ermöglichen. Diese den Erfolgen der Heilkunde zu verdankende Bevölkerungszunahme wiederum stellt in Reperkussion bereits heute —und zweifellos in naher Zukunft noch mehr —die Medizin vor Probleme von größter ethischer und praktischer Tragweite.

Vom Faust abgesehen, kommen Ärzte nur in vier

kleineren dramatischen Werken GOETHES vor, und zwar im «Jahrmarktsfest zu Plundersweilern», in «Lila», in den «Aufgeregten» sowie in «Scherz, List und Rache».

Zwei in diesen Werken zum Ausdruck kommende Gedanken verdienen Erwähnung; so zunächst im «Jahrmarktsfest» die Feststellung, daß der Reiz des Neuen, die «Wirkung des neuen Besens», auch in der Welt des Arztes, oder sagen wir besser des Patienten, von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Und darum erklärt «Docktor Medikus»:

«Läßt sich die Krankheit nicht curiren
Muß man sie eben mit Hoffnung schmieren
Die Kranken sind wie Schwamm und Zunder
Ein neuer Arzt thut immer Wunder.» 82

Von besonderem medizinisch-psychiatrischem Interesse ist die Handlung in dem 1777 erstmals aufgeführten Singspiel «Lila». Hier finden sich nicht zu übersehende Anklänge an den von J. L. MORENO in die moderne Psychotherapie eingeführten Versuch einer Klärung und therapeutischen Bereinigung von Konfliktsituationen durch deren theatralische Darstellung im Spiel, im «Psychodrama» 83. In «Lila» hat GOETHE diese Idee vorweggenommen, indem er den weisen Seelenarzt Verazio die von Wahnvorstellungen besessene Baronin dadurch heilen läßt, daß alle Schloßbewohner, einschließlich der Patientin, deren Wahnideen in einem «psychodramatischen» Mummenschanz spielen und auf diese Weise die Kranke von ihrer Lebensangst befreien und sie in die gesunde Wirklichkeit zurückführen.

JEREMIAS GOTTHELF hat dem Arztberuf, und zwar vor allem dessen menschlich-ethischen Belangen, größtes Verständnis und ausgesprochene Achtung entgegengebracht. So schreibt er 1839 84: «Wollte einer unter euch Arzt werden, (das ich wohl leiden mag, wenn er es recht angreifet), der lege sich mit großem Ernst auf

diese Kunst. Er sey behend, willfährig, diensthaft, bedachtsam, freudig, muthig und gottesfürchtig. So man recht umgehet mit dieser Kunst, so ist keine lieblichere, nützlichere, und das Gewissen befriedigendere unter allen. Wenn ich noch zu lernen hätte, wollte ich mich selbst, vor allen andern Künsten, zur Arzneikunst begeben.»

Mit dem Arztbild GOTTHELFS hat sich der Berner Mediziner CARL MÜLLER 85 kürzlich eingehend und tiefschürfend auseinandergesetzt. Wir können uns daher darauf beschränken, die vor allem in «Anne Bäbi Jowäger» zum Ausdruck kommenden Gedanken des Dichters über den Arzt kurz zusammenzufassen.

GOTTHELFS Arztideal ist einmal der «Dienerarzt», der vorbildlich bescheiden als ein «Diener der Natur» 86 «sich demütig unter das Naturgesetz stellt» 87, und andererseits der «Mittlerarzt». Dieser übermittelt dem Kranken «die Gnadengaben Gottes in Worten und Werken, Heilungen des Leibes und der Seele». 88

Demgegenüber wird das kämpferische Aufbegehren des Arztes gegen Gottes Ratschluß geradezu als Hybris empfunden und auch bezeichnet. So wird im zweiten Teil von «Anne Bäbi Jowäger» —ich zitiere MÜLLER 89 — «die Welt des geistigen und wissenschaftlichen Arztes neben diejenige der Quacksalber und Wunderdoktoren als gleich gefährdet unter die absolute Forderung gestellt... Waren im ersten Teil Mediziner und Wunderdoktor Gegenspieler, so stehen sie nun unter der gleichen Perspektive.»

Angesichts der außerordentlichen wissenschaftlichen und praktischen Erfolge in Diagnostik und Therapie auf den verschiedensten Teilgebieten der Heilkunde, vor allem im Laufe der letzten zwei bis drei Jahrzehnte, wirkt das zweifellos wohlmeinende, tief religiöse und ethisch beispielhafte Arztbild GOTTHELFS heute, da das sprichwörtliche «Hilf dir selbst, so hilft dir Gott» Leitmotiv

medizinischer Forschung und ärztlichen Handelns wurde, ergänzungs- und korrekturbedürftig.

So wird der echte Arzt für den Dichter und Schriftsteller unserer durch das Phänomen der «Résistance» gegen exogene Gewalt ausgezeichneten Zeit im Sinne von CAMUS' Pest geradezu zum Symbol des Widerstandskämpfers, der furcht- und selbstlos der höheren Gewalt, sei sie nun übermenschlicher oder menschlicher Natur, entgegentritt. Das Arztbild GOTTHELFS und das Gegenbeispiel von CAMUS beweisen einmal mehr die Wahrheit von HENRY SIGERISTS Feststellung, daß «jede Epoche ein anderes Arztideal» aufweist, und daß «die Geschichte des Arztideals.. die Geschichte der menschlichen Gesellschaft» 90 ist.

Doch das umfangreiche und wirksame, uns Heutigen zur Verfügung stehende therapeutische Gut fehlte eben den Ärzten in GOETHES und GOTTHELFS Tagen. So finden wir auch bei dem «Wandsbecker Boten» MATTHIAS CLAUDIUS in dessen «Lied für Schwindsüchtige» die bezeichnenden und ergreifenden Zeilen:

«Die Ärzte thun zwar ihre Pflicht,
Und pfuschern drum und dran;
Allein sie haben leider nicht
Das, was mir helfen kann.» 91

Noch um die Wende des 19. Jahrhunderts überhäuft, um auch einen großen Vertreter der slawischen Literatur zu Wort kommen zu lassen, LEO TOLSTOJ, der «Weise von Jassnaja Poljana», den Ärztestand und die ärztliche Kunst mit Schmähungen, indem er —in seinen nachgelassenen Tagebüchern — erklärt 92: «Die Medizin bringt, so wie sie heute ausgeübt wird, kaum mehr Nutzen als Schaden; es ist eher umgekehrt... Der Glaube an die Ärzte —besonders der Glaube an einen bestimmten und keinen andern — obwohl doch alle ein und dieselbe Pseudo-Wissenschaft betreiben — steht auf derselben Stufe wie der Glaube an Wundertäter, Heiligenbilder,

Propheten und Naturheilkundige. Für niemanden gilt das Wort, daß das wahre Wissen darin besteht, zu wissen, was wir alles nicht wissen, so sehr wie für die Ärzte. Auch die erfahrensten und vernünftigsten Ärzte lassen sich unbedingt davon beeinflussen, daß man ihre Hilfe in Anspruch nimmt, fangen an zu glauben, daß sie wirklich helfen können, und reden sich selbst und den anderen ein, sie wüßten, was sie nicht wissen.» 93

Doch kehren wir nochmals kurz zur deutschen Literatur aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Dem zweiten Dioskuren der deutschen Klassik, FRIEDRICH SCHILLER, war der Arztberuf durch die dem Dichter aufgezwungene Ausbildungszeit an der verhaßten Karls-Schule und die unmittelbar darauffolgende, mehr episodenhafte und wenig erfolgreiche medizinische Tätigkeit augenscheinlich dermaßen verleidet, daß er — bewußt oder unbewußt — den Ärzten in der Folge in seiner Dichtung keinen nennenswerten Platz zugestand.

Des traumseligen schwäbischen Romantikers JUSTINUS KERNER Lebenswerk als Arzt und Dichter ist stark dem Übersinnlichen zugewandt. Seine stetige Begeisterung für Mesmers Lehre vom Magnetismus und für den Spiritismus kann als eine zwar falsch gedeutete und überwertete Vorahnung der unbestreitbaren therapeutischen Bedeutung von Hypnose und Suggestion bei gewissen Erkrankungen interpretiert werden. So wird KERNER von der heutigen Generation wieder etwas besser verstanden als von den Medizinern der unmittelbar auf ihn folgenden Zeit, in der eine rein rationale, naturwissenschaftliche Denkungsart die verträumte, naturphilosophische Einstellung der Romantiker ablöste.

Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert ist die Zahl der Dichter- und Schriftstellerärzte Legion. Herausgegriffen seien nur einige wenige Namen, wie ANTON PAWLOWITSCH TSCHECHOW, ARTHUR SCHNITZLER, KARL SCHÖNHERR, W. SOMERSET MAUGHAM, EUGÈNE SUE,

CHARLES-AUGUSTIN SAINTE-BEUVE, GEORGES DUHAMEL, HANS CAROSSA, LUDWIG FINCKH, ALFRED DÖBLIN und GOTTFRIED BENN. Sie alle und viele andere haben Wichtiges über den Beruf des Arztes und seine Probleme ausgesagt. Sehr groß ist auch die Zahl der nichtärztlichen Dichter und Schriftsteller, die sich mit den verschiedensten Aspekten des Arztberufes auseinandergesetzt haben. Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als kurz einige Fragen und Probleme aus dem ärztlichen Leben anzuführen, mit denen sich diese und natürlich zum Teil auch bereits ältere Autoren befaßt haben. Außer den Ärzten selbst sind Dichter und Schriftsteller zur Stellungnahme in diesen Fragen in besonderem Maße berufen. Denn wie nahe verwandt sind doch die ärztliche und die künstlerische Sensibilität; das aktive und passive Kunstinteresse und -verständnis so vieler Ärzte spricht eine deutliche Sprache. Und doch kann der Künstler, der dazu berufen ist, durch sein Werk oder durch seine Leistung ungezählte Mitmenschen zu erfreuen und zu erbauen, seine Kunst weitaus ichbezogener ausüben, als dies dem Arzte je möglich ist. Der Dichterarzt CAROSSA bezeugt dies eindrücklich, wenn er seinen «Arzt Gion» zur Bildhauerin Cynthia sagen läßt: «Hast du jemals darüber nachgedacht, was das ist: ein Arzt? In seiner höchsten Form kann er dem Künstler ebenbürtig sein; aber nicht wie dieser darf er die Stunde der Eingebung abwarten oder seine Gegenstände wählen, sondern diese wählen ihn, und seine Stunde ist immer.» 94

So muß auch heute noch der ideale, idealistisch gesinnte, leider — bei der Verständnislosigkeit des staatlichen oder halbstaatlichen Sozialpartners in den verschiedensten Ländern jedoch begreiflicherweise — zunehmend seltener werdende Allgemeinpraktiker und Hausarzt 159, sei er jung oder alt, zu jeder Stunde, zu Tages- und Nachtzeit, an Werk-, Sonn- und Feiertagen,

müde oder ausgeruht, bei guter oder schlechter Laune, bei Muße oder bei Beschäftigung mit anderen Dingen, bereit sein, auf einem ihm liegenden oder auch nicht liegenden Teilgebiet der Medizin für einen Leicht-, Schwer- oder aussichtslos Kranken seine ganze Person, sein Wissen, sein Können und seine Menschlichkeit einzusetzen.

Bevor wir uns verschiedenen ausgewählten ärztlichen Problemen zuwenden, mit denen sich Dichter und Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts befaßt haben, sei auf die selbstverständliche Tatsache hingewiesen, daß ärztliche Ausbildung und Erfahrung die Fähigkeit, Menschen zu beobachten, zu erfassen und darzustellen, unvergleichlich fördern. Stellvertretend für alle Dichter- und Schriftsteller-Ärzte bekundet dies ANTON PAWLOWITSCH TSCHECHOW, der in zahlreichen Novellen und allen größeren Dramen — mit Ausnahme des «Kirschgartens» — Ärzten eine wichtige, gelegentlich sogar ausschlaggebende und stets durchaus sympathische Rolle anvertraut, mit den folgenden Worten: «Ich zweifle nicht daran, daß die Beschäftigung mit den ärztlichen Wissenschaften ernsten Einfluß auf meine künstlerische Tätigkeit hatte. Sie erweiterte beträchtlich das Gebiet meiner Beobachtungen; sie bereicherte mich mit Kenntnissen, deren wahren Wert für mich als Schriftsteller nur jener zu erfassen vermag, der selbst Arzt ist.» 95 Als zweites Beispiel zitieren wir —in deutscher Übersetzung —einige Gedanken aus SOMERSET MAUGHAMS Selbstbiographie «The summing up» 96. MAUGHAM schreibt: «Ich kenne keine bessere Schulung für einen Schriftsteller, als einige Jahre den Beruf eines Arztes auszuüben... Der Arzt, besonders der Spitalarzt, sieht das nackte, wirkliche Leben. Man kann meistens in sich vergraben, was man verschweigen will... Aber Angst erschüttert jede Selbstverteidigung; nicht einmal persönliche Eitelkeit hilft in diesem Falle. Die meisten

Menschen haben das krampfhafte Verlangen, über sich selbst zu sprechen, und nur die Abneigung anderer, ihnen zuzuhören, dämmt sie ein... Ein Arzt jedoch ist verschwiegen; seine Pflicht ist es, zuzuhören, und keine Details sind zu intim für sein Ohr.

Natürlich muß man die Gabe haben, sich einfühlen zu können, wenn ein menschliches Dasein vor einem aufgerollt wird... Will man Vorteile aus diesen Erfahrungen ziehen, so muß man offenen Herzens sein und ein Gefühl für Menschliches haben», womit MAUGHAM auf eine unabdingbare Charaktereigenschaft des Arztes wie auch des Dichters und Schriftstellers hinweist 97. «Es ist möglich», fährt MAUGHAM fort, «daß mir die Schulung im Spital eine falsche Einstellung zum Menschen vermittelt hat, denn die Menschen, mit denen ich dort zusammenkam, waren meistens krank, arm und unerzogen. Ich habe wohl versucht, mich vor einseitiger Einstellung und vor eigenem Vorurteil zu schützen.» MAUGHAM erklärt jedoch abschließend, daß — von Ausnahmen abgesehen —die Erfahrungen, die er als junger Arzt im St.-Thomas-Hospital gesammelt habe, in der Folge meistens bestätigt wurden, und so habe er denn auch die Menschen in seinen literarischen Werken gezeichnet. In recht ähnlicher Weise äußert sich GEORGES DUHAMEL, wenn er feststellt 98, daß der Arzt «den Menschen fast immer in einem Zustand der Krise» sieht, «und das gibt ihm, wenn er zu beobachten versteht, die Möglichkeit, oft zwar bittere, stets aber tiefe Erkenntnisse zu sammeln. So lernt ein Arzt viele Dinge kennen, die anderen Menschen gewöhnlich verborgen bleiben».

Aber die ärztliche Erfahrung mehrt nicht nur das Verständnis für den Mitmenschen, für seine Ängste, Sorgen und Nöte, sie fördert nicht nur die Fähigkeit, Menschen, Tiere und Dinge zu beobachten und zu schildern, sie bietet auch in thematischer Hinsicht dem

Dichter und Schriftsteller nicht zu unterschätzende Anregung. So verwenden die Dichter- und Schriftsteller-Ärzte aller Zeiten und Länder medizinische Themen und Fragen in großer Zahl. Eindrucksvolle Beispiele aus dem Werk ARTHUR SCHNITZLERS mögen dies belegen. Eine der wenigen medizinischen Publikationen, die SCHNITZLER 1889 als «Assistent an der Allgemeinen Poliklinik in Wien» veröffentlicht hat, ist seine Mitteilung: «Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion» 99. In seinem dichterischen Erstlingswerk, dem verspielt-sinnlich-melancholischen «Anatol» (1893), zieht der Dichter die Schlußfolgerung aus seinen medizinischen Erfahrungen, indem er der Hypnose eine wichtige Rolle im Geschehen zubilligt und den Titelhelden von ihr sagen läßt: «Das Große an der Sache ist die wissenschaftliche Verwertung. —Aber ach, allzu weit sind wir ja doch nicht.» 100 Im weiteren hat G. RATH 101 vor einigen Jahren zu Recht betont, daß die 1895 von BREUER und FREUD veröffentlichten «Studien über Hysterie» in SCHNITZLERS Werk ihren Niederschlag gefunden haben, wenn dieser in seinem 1896 geschriebenen «Paracelsus»-Drama «neben der Hypnosebehandlung auch die Heilung einer hysterischen Frau schildert». Desgleichen findet sich in verschiedenen erzählenden Schriften SCHNITZLERS — es seien nur «Frau Berta Garlan» (1900) und «Der Weg ins Freie» (1905-1907) genannt — eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen FREUDS Ansichten über Entstehung und Deutung der Träume und der Rolle, die SCHNITZLER dem Traum in diesen und anderen Werken beimißt.

Unter den zu besprechenden Problemen zunächst einige Worte zur Frage des ärztlichen Berufsgeheimnisses. Wir haben bereits auf die Bemerkung MAUGHAMS über die unbedingte Verschwiegenheit des Arztes hingewiesen (S. 39). «Beruht nicht alles Vertrauen zum

Arzt auf dem Berufsgeheimnis?» läßt CAROSSA die liebenswerte und intelligente Cynthia seinen «Arzt Gion» 102 fragen. Durch ein rückhaltloses Vertrauensverhältnis in völliger Freiheit gegenüber dem Staat und vom Staate abhängigen Organisationen müssen Arzt und Patient sich miteinander verbunden wissen und fühlen. Zur Sicherung und Gewährleistung des Berufsgeheimnisses sind sowohl Reife, Zuverlässigkeit und Charakterstärke auf seiten des Arztes wie eine uneingeschränkte Anerkennung und Achtung dieses ärztlichen Grundprinzips durch Staat und Gesellschaft unbedingt erforderlich. Es ist demagogisch und gefährlich, wenn die prinzipienfeste Haltung der Ärzte in Sachen Berufsgeheimnis — unter Hinweis auf die in allen Ständen vorkommenden schwarzen Schafe —böswillig gedeutet und kommentiert wird, wie dies verschiedentlich von nichtärztlicher Seite geschieht. Dabei sind es neben dem ärztlichen Ethos die Interessen gerade der Patienten und nicht der Ärzte, die auf dem Spiele stehen. Ja, der Arzt muß sogar über das Medizinische hinaus ein durchaus verschwiegener, nur dem eigenen Gewissen verpflichteter Vertrauter seiner Patienten sein. Aus der Vielzahl literarischer Beispiele nennen wir Dr. Harvester in SOMERSET MAUGHAMS «The sacred flame». Um die von ihm betreute, von harten Schicksalsschlägen getroffene Familie vor schwerer Unbill zu bewahren, scheut sich diese erfreuliche Arztgestalt MAUGHAMS nicht, in strengster Auslegung des Berufsgeheimnisses ohne Bedenken eine Belastung des eigenen Gewissens auf sich zu nehmen. Das mag nicht immer einfach sein. Und so läßt CAROSSA den «Arzt Gion» in der Unterhaltung mit Cynthia sagen: «Weißt du denn, Kind, wieviel ein Arzt erfährt und wie er schon durch das Anhörenmüssen gewisser Berichte an den äußersten Rand des Lebens gedrängt wird?» 103

Und wenn auch der Arzt glücklicherweise nicht allzu

oft bis «an den äußersten Rand des Lebens gedrängt wird», so können ihm doch seine im Verlauf der Berufsausübung gemachten Erfahrungen die Illusion vom Menschen als einer «Krone der Schöpfung» rauben. HONORÉ DE BALZAC läßt daher am Schluß seiner Novelle «Le colonel Chabert» den Advokaten Derville die pessimistische Feststellung aussprechen: «Savez-vous, mon cher..., qu'il existe dans notre société trois hommes, le Prêtre, le Médecin et l'Homme de justice, qui ne peuvent pas estimer le monde? Ils ont des robes noires, peut-être parce qu'ils portent le deuil de toutes les vertus, de toutes les illusions.» 104 Mit dieser Behauptung geht jedoch BALZAC entschieden zu weit. Trotz allem Illusionsverlust wird der wahre Arzt davor gefeit sein, seine Illusionen zu begraben und zynisch zu werden; die Achtung vor und die Liebe zu dem noch so elenden Mitmenschen muß stets oberstes Gesetz seines Handelns sein und bleiben.

Welche Bedeutung den menschlichen Beziehungen, dem Vertrautsein zwischen Arzt und Krankem zukommt, wie wichtig das Gefühl für den Patienten ist, in der Person des Arztes weder eine Sanierungsmaschine noch auch einen Übermenschen vor sich zu haben, sondern nur einen Menschen wie er, den je nachdem auch die gleichen Bresten bedrohen wie ihn, beleuchtet eine Stelle in FRITZ REUTERS «Ut mine Stromtid». Der alte Bräsig erzählt: «Was Dokter Strump is, der behandelt mir; nich weil daß ich glaube, daß er da was von versteht — ne, weil er selbst den ßackermentschen Podagra hat, un wenn er nu so bei mir sitzt un redt so klug, un redt von Polchikum und Kolchikum, süh! denn kettelt mir das und 's is 'ne kleine Aufmunterung für mich, daß so'n kluger Mann auch den Podagra hat.» 105

Der wahre Arzt soll in unserer Welt voll des Mißtrauens, der Zwietracht und des Hasses nicht nur im Ärztlichen selbst, sondern auch darüber hinaus Menschlichkeit,

Menschenwürde und Toleranz ungeachtet aller materiellen und geistigen Grenzen vertreten. Eine große Zahl von Ärzten in Dichtung und Literatur sind uns hierfür Beispiel und Vorbild, so der wackere und menschenfreundliche Spitalchirurgus Sparchmann zu Heilsberg in BALZACS «Le colonel Chabert» (1832), die Gestalt des weisen, gütigen und von Vorurteilen freien de Silva in KARL GUTZKOWS «Und Acosta» (1833/1846), der beharrlich und mutig das Unrecht bekämpfende, wenn auch zum Schluß melancholisch-resignierende Arzt in dem auf Calderon fußenden Schauspiel «Der Turm» (1928) von HUGO VON HOFMANNSTHAL, der bereits genannte Dr. Harvester in SOMERSET MAUGHAMS «The sacred flame» (1928) bis zum edlen Dr. Renwick in CRONINS «Hatter's castle» (1931), der kleinen Chargenrolle des Doktors in TENNESSEE WILLIAMS «The rose tattoo» (1951) oder dem selbstlos-heldenhaften Ghetto-Arzt Janusz Korczak in ERWIN SYLVANUS' «Korczak und die Kinder» (1957).

Und was das Ärztlich-Menschliche betrifft, so ist dazu auch noch einiges zu sagen: Der gute Arzt muß mit dem Herzen am Leid des Kranken Anteil nehmen und mitfühlen können; er darf im Patienten nicht nur den «interessanten Kasus» sehen, wie der Doktor in GEORG BÜCHNERS «Woyzeck». In dieser Arztfigur hat BÜCHNER das Bild des nur auf den Fall, auf die Mehrung der Experimentalerfahrung, und nicht auf den Menschen bedachten, gefühllos-materialistischen Medizinertypus des späteren 19. Jahrhunderts ahnungsvoll warnend gezeichnet und vielleicht sogar einen ersten, noch recht harmlosen Vorläufer des ohne jede Hemmung und Menschlichkeit experimentierenden Konzentrationslager-«Arztes» unserer Zeit in die Literatur eingeführt 106.

Aber der Arzt sollte andererseits auch nicht vom Gefühl übermannt werden; das Mitempfinden darf nicht zu weichlicher Empfindsamkeit und Empfindlichkeit

übersteigert sein. Der menschlich beteiligte und berührte Arzt muß sich soweit in der Gewalt haben, daß nicht ein tränendes Auge die klare Sicht hindert, wo es angesichts von Leiden und Tod gilt, bei klarem Kopf mit wissenschaftlich und logisch gesicherter Diagnose sowie folgerichtiger Therapie gegen das dräuende Unheil anzukämpfen. Glücklicherweise gibt es — um es mit CAROSSAS Worten zu sagen —«Menschen, die tief in anderen leben können, ohne ihnen doch zu verfallen, und jeder echte Arzt wird so sein; er muß dem Tragischen entrückt bleiben, wenn er bewahren und heilen soll.» 107 Oder, wie es der schweizerische Literarhistoriker und Dichter ROBERT FAESI vor einigen Jahren klar und knapp ausgedrückt hat: «Man kann nicht genug Mensch sein, um Arzt zu sein, aber man darf nicht zuviel Mensch sein, um Arzt zu sein.» 108

Wenn der Arzt über das rein Ärztliche und Menschliche, über das selbstverständlich auch im Einzelfall unbedingt notwendige soziale Verständnis und Verantwortungsbewußtsein hinaus soziale oder gar politische Interessen zeigt, so ist er kraft der von ihm zu fordernden geistig-seelischen Eigenschaften zum Sozialpolitiker in besonderem Maße geeignet.

Prächtige, in dieser Hinsicht vorbildliche Arztgestalten sind der «Docteur Benassis» in BALZACS «Le médecin de campagne» (1833) und der Badearzt Dr. Stockmann in IBSENS «Ein Volksfeind» (1882). Der Landarzt BALZACS wird in mühevoller, undankbarer Arbeit zum Begründer einer neuen, besseren Gesellschaftsordnung in seiner Dorfgemeinde, zum hochverdienten Wohltäter seiner Mitbürger. IBSENS Dr. Stockmann —zweifellos die eindrucksvollste seiner verschiedenen Arztfiguren —hat in seinem Wohnort eine für die Gesundheit der Badegäste höchst gefährliche Verunreinigung des Wassers festgestellt und fordert mit Nachdruck deren Beseitigung durch den Bau moderner Kläranlagen — ein in unserer

Zeit und gerade in unserem Land sehr aktuelles Thema. Dr. Stockmann besitzt zwar anfänglich die volle Unterstützung der Presse und auch der Honoratioren des Ortes. Als sich jedoch herausstellt, welch hohe Kosten die erforderlichen Maßnahmen verursachen würden, und daß das Bad während mindestens zwei Jahren geschlossen werden müßte, fallen alle, einem kurzsichtigen Materialismus verschworenen Mitbürger von ihm ab. Der Arzt wird zum Volksfeind erklärt, verliert seine Praxis und erleidet auch sonst schwere Unbill. Aber er wird auf seinem Posten bleiben und seinen Kampf — völlig vereinsamt — als überzeugter und unbeirrbarer Idealist weiterführen.

In der Frage «Wahrheit oder fromme Lüge am Krankenbett?», wie sich der Wiener Psychiater ERWIN STRANSKY einmal ausgedrückt hat 109, muß und wird das Verhalten des Arztes ganz von den Gegebenheiten des Einzelfalles, der psychischen Kraft und religiösen Überzeugung des Patienten, dessen Lage in Beruf und Familie und andererseits von seinem eigenen Takt, Einfühlungsvermögen und subjektiven Ermessen abhängen. In der Dichtung und Literatur ist dieses menschlich packende Thema schon recht früh aufgegriffen worden. So läßt der Schelmuffsky-Autor CHRISTIAN REUTER in seinem «Lust- und Trauer-Spiel» «Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod» (1696) den Medicus Cratippo sagen: «Ja wenn wir Medici allemal denen Patienten gleich zusagen wolten, wie manchmal gefährlich diese und jene Kranckheit wäre, so würden sie uns schlecht affectioniret bleiben.» 110 Beredten Ausdruck für dieses zentrale Problem ärztlichen Verhaltens hat der aus dem Arztberuf hervorgegangene ARTHUR SCHNITZLER in seinem «Professor Bernhardi» gefunden. Der Arzt Bernhardi erachtet es als seine Pflicht, einem Geistlichen den Zutritt an das Sterbebett der ihm anvertrauten Kranken zu verwehren, die in agonaler

Euphorie ihre baldige Genesung vor sich sieht. Bernhardis Standpunkt ist: «Zu meinen Pflichten gehört es, wenn nichts anderes mehr in meinen Kräften steht, meinen Kranken, wenigstens soweit als möglich, ein glückliches Sterben zu verschaffen.» 111 Aber die Auslegung des Begriffes «Glückliches Sterben» ist für Arzt und Priester unter Umständen durchaus nicht gleich, so daß es im Fall Bernhardi zu einem politisch ausgeschlachteten Zusammenstoß zwischen dem Vertreter der Kirche und dem in dieser Auseinandersetzung unterliegenden Arzt kommt. Das Aufeinanderprallen von Arzt und Priester schildert auch der norwegische Dichter BJÖRNSTJERNE BJÖRNSON in seinem Roman «Auf Gottes Wegen». Auch hier gerät der in seinem Beruf äußerst tüchtige Arzt wegen seiner materialistischen Weltanschauung mit dem Pastor in heftigen Streit. Aber BJÖRNSON findet im Gegensatz zu SCHNITZLER einen versöhnlichen Ausklang, indem die beiden Streitenden schließlich, um schmerzliche Erlebnisse reicher, gemeinsam feststellen, daß überall dort, «wo gute Menschen gehen, . . Gottes Wege» sind 112.

Der Dichterarzt SCHNITZLER gibt in seinem Werk auch ein Beispiel dafür, daß zwei Ärzte sich bei ihrer subjektiven Entscheidung für «Wahrheit oder fromme Lüge» gegenüber dem Kranken im gleichen Fall durchaus verschieden verhalten können. So sucht in SCHNITZLERS Novelle «Sterben» (1892) der Arzt Alfred seinem lungenkranken Freunde Felix die Wahrheit zu verheimlichen und die Hoffnung bis zuletzt zu erhalten, während ein gleichfalls konsultierter Professor dem Kranken schonungslos das als unabwendbar angesehene Schicksal verkündet, um allerdings in der Folge noch vor dem Patienten zu sterben.

Die individual- wie auch sozialmedizinisch bedeutsame Frage der Schwangerschaftsunterbrechung mit all ihren menschlichen, sozialen, ethischen, medizinischen

und juristischen Aspekten, eine Frage, durch die auch der ethisch untadelige und gesetzestreue Arzt in so manchem verzweifelten Einzelfall in eine schwere Konfliktsituation geraten kann, verdiente eine wertvollere, tendenzlosere Auseinandersetzung, als sie die vorliegende neuere Literatur — von wenigen Ausnahmen abgesehen —bietet. Als typische Beispiele einer mit einem sozialen oder pseudomedizinischen Mäntelchen verbrämten Tendenzliteratur, in der die Art der Behandlung der tatsächlichen Tragweite des Problems in keiner Weise gerecht wird, erwähnen wir vier deutschsprachige Dramen der Zwischenkriegszeit, nämlich die Tragödie «Cyankali, §218» des Schriftstellerarztes FRIEDRICH WOLF, das Drama «§218 (Gequälte Menschen)» von CARL CREDÉ, das Schauspiel «Der Frauenarzt» von HANS J. REHFISCH sowie das Drama «Es» des Schriftstellerarztes KARL SCHÖNHERR. In FRIEDRICH WOLFS Schauspiel wird dem Arzt vom Autor in tendenziöser Schwarzweiß-Zeichnung die klägliche Rolle eines weitgehend korrupten Gesellen aufgezwungen. Einer Dame aus der Gesellschaft, die ihr Kind nicht austragen will, verhilft er bedenkenlos zu der gewünschten Operation, während er der Arbeiterin, die in Armut und Not keine Möglichkeit sieht, ihr durch die sozialen Wirren vaterlos gewordenes Kind zur Welt zu bringen, unter Hinweis auf den Verbotsparagraphen ärztliche Hilfe verweigert und sie so zur illegalen Abtreibung mit tödlichem Ausgang zwingt. Doch kommt auch der Autor dieses sozialrevolutionären Tendenzstückes nicht darum herum, den — wenn auch nur kurz aufflackernden —inneren Kampf des Arztes zwischen Helfenwollen und Nichthelfensollen, zwischen Mitleid und Gesetzesachtung in einer Szene darzustellen 113. In dem im gleichen Jahr wie «Cyankali» uraufgeführten, in seiner Tendenz entsprechenden Schauspiel «§218» von CARL CREDÉ wird der beamtete Arzt als heuchlerischer Schurke dargestellt,

während der hilfreiche Proletarierarzt aus innerer Überzeugung gegen das Gesetz handelt und sich strafbar macht. Von REHFISCHS Drama «Der Frauenarzt» liegen zwei Fassungen vor, und zwar eine aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg (1927) und eine zweite aus den fünfziger Jahren. Die beiden Fassungen zeigen, daß sich in der dazwischenliegenden Zeit die Einstellung des Autors zu den Ärzten wie auch zum Problem der Schwangerschaftsunterbrechung gewandelt hat. So werden in der ersten Fassung die Ärzte ganz allgemein einigermaßen lächerlich gemacht, während andererseits der Titelheld, der bereits früher einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten war und seine Praxis verloren hatte, die von ihm gewünschte Abtreibung aus Überzeugung vornimmt. In der Neufassung des Schauspiels hingegen bereut der Frauenarzt seine frühere Haltung und kann sich zu der gewünschten Abtreibung an der Patientin, die in dieser Fassung seine eigene uneheliche Tochter ist, nicht entschließen. Im Schauspiel «Es» des in den zwanziger und dreißiger Jahren viel gespielten österreichischen Volksdramatikers und Anzengruber-Epigonen KARL SCHÖNHERR wird ein Mediziner geschildert, der mit sektiererischem Eifer die These vertritt, daß die Ehen Tuberkulöser kinderlos bleiben sollten. Als bei ihm selbst eine tuberkulöse Lungenerkrankung festgestellt wird und seine Frau sich Mutter fühlt, kommt es zu einem Kampf zwischen Mann und Weib um das Leben des Kindes, das der Arzt schließlich gewaltsam abtreibt. Bevor er stirbt, zeugt er jedoch ein zweites Kind, das nun die Mutter, dem Sterbenden höhnisch entgegentretend, austragen kann und wird. ALFRED POLGAR hat diese Schauergeschichte — man wundert sich, daß ihr Autor selbst Arzt war — seiner Zeit in der Wiener Premièren-Kritik so besprochen, wie sie es verdient 114, und man muß sich die Frage vorlegen, ob es heute überhaupt noch einen Sinn hat, an

dieses nahezu vergessene «Literaturprodukt» zu erinnern. Aber es war mir daran gelegen zu zeigen, daß die Tiefe des Problems und die eines überwiegenden Teils der ihm gewidmeten Literatur alles andere als adäquat sind. Doch genug von dieser zeit- und ortsgebundenen Tendenzliteratur.

Wie anders wirkt diesen Werken gegenüber die ärztlich und dichterisch hochstehende Gestaltung des Problems in den Kapiteln über die an einer lebensbedrohenden Blutkrankheit leidende, tapfere Bauernmagd Emerenz, ihre entgegen dem ärztlichen Rat ausgetragene Schwangerschaft, ihren bewußten Opfertod sowie über das gewissenhaft-menschliche Verhalten und die Hilfsbereitschaft des Doktors durch HANS CAROSSA in seinem «Arzt Gion».

Wir kommen zum Problem der Euthanasie, mit dem sich THEODOR STORM in seiner Novelle «Ein Bekenntnis» (1887) menschlich packend und in den Folgerungen durchaus richtig — wenn auch im Medizinischen allzu konstruiert und vereinfacht — auseinandersetzt: die Frau des Arztes leidet an einer als unheilbar angesehenen Krankheit. Endlich, nach schwerem Gewissenskampf, entschließt sich der Mann aus Liebe, Mitleid und Erbarmen, ihrer Bitte zu entsprechen und die Leidenszeit abzukürzen. Bald jedoch muß er aus der Fachliteratur, deren Studium er während der Krankheit seiner Frau vernachlässigt hatte, erfahren, daß inzwischen ein neues Operationsverfahren eingeführt und bereits in einigen Fällen mit Erfolg angewendet wurde. Er betrachtet sich als Mörder, der in unerlaubter Weise in das Walten des Schicksals eingegriffen hat, und sühnt seine verhängnisvolle, gutgemeinte Tat durch ein opferreiches Büßerleben im Dienste der Seuchenbekämpfung in den Tropen.

In den «Buddenbrooks» schreibt THOMAS MANN bei der Schilderung des Todes der alten Konsulin: «Ärzte

waren nicht auf der Welt, den Tod herbeizuführen, sondern das Leben um jeden Preis zu konservieren.» 115 Soweit könnte man glauben, daß auch THOMAS MANN die Euthanasie grundsätzlich ablehnt:. Die anschließenden ironischen Bemerkungen über die Ärzte und die Grundlagen ihres Handelns verwischen jedoch das Bild und scheinen die ärztliche Haltung in dieser Frage eher als eine gefühl-, mitleid- und sinnlose Prinzipienreiterei lächerlich machen denn anerkennen zu wollen, ein weiterer Beweis für die Richtigkeit des Urteils, das unser unvergessener und unvergeßlicher WALTER MUSCHG über THOMAS MANN gefällt hat, dem es auch bei der Behandlung dieses ärztlich zentralen Problems nicht gegeben ist, uns nur «die Spur einer rettenden Wahrheit in die Hand zu geben» 116.

Nach unserer Überzeugung darf es in dieser Frage auch nicht das geringste Wenn und Aber, nicht das kleinste Abrücken von dem kategorischen Imperativ «Nein» geben, da jedes noch so gut gemeinte, mitleidvolle Nachgeben Tür und Tor zur subjektiven, dem Menschen nicht verliehenen Interpretation, zum Abgleiten auf einer schiefen Ebene öffnet.

Die deutschen Euthanasie-Prozesse haben uns mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt, wo es sonst unter Umständen endet und zu welch infernalischer Rolle der nicht unbedingt prinzipienfeste Arzt hinabsteigen kann.

Eine andere Frage, die hier nur angedeutet werden kann, ist, ob und wie lange man entsprechend den heute gegebenen Möglichkeiten die Agonie verlängern, das heißt, ob man nicht dem Sterbenden im Sinne RILKES seinen «eigenen Tod» 117 belassen solle, anstatt ihm den «Tod der Ärzte» 118, wie RILKE es nennt, aufzuzwingen. Hier wird und muß die Entscheidung des Arztes von den jeweils gegebenen Umständen abhängen.

In diesem Zusammenhang wäre auch die Problematik des technisch möglich gewordenen Vorgehens zu erwähnen,

einen bewußtlosen, unter Umständen weitgehend dezerebrierten Patienten während Wochen und Monaten künstlich am Leben zu erhalten, so daß sich in letzter Zeit geradezu eine Neufassung des gerichtsmedizinisch-juristischen Todesbegriffes aufdrängt. Das «Überleben» in Form eines durch ein Herz-Lungen-Präparat weiterhin versorgten und funktionierenden Gehirns hat bereits im Anfang unseres Jahrhunderts GUSTAV MEYRINK in seiner Gespensternovelle «Das Präparat» recht sarkastisch und drastisch zur Diskussion gestellt 119.

Ich glaube jedoch, daß der ständige technische Fortschritt — in vielem der Menschheit ein Segen, in manchem ein Fluch — uns auch in dieser Teilfrage die vielleicht nicht immer angenehme und gelegentlich wohl auch nicht sinnvoll erscheinende Pflicht auferlegt, das Letztmögliche zu versuchen.

Die schwere, viel Takt und Entschlußkraft heischende Aufgabe, die dem Arzt in der Begegnung mit Suchtkranken erwächst, wird uns am Beispiel des Nachtbesuches bei der morphiumsüchtigen Frau Kanzleirat von HANS CAROSSA im «Arzt Gion» recht eindrucksvoll geschildert 120.

Daß der Arzt sein diagnostisch-therapeutisches Augenmerk nicht nur auf das sicher oder wahrscheinlich primär erkrankte Organ richten darf, sondern gleichzeitig den ganzen Patienten in seiner körperlich-seelischen Komplexität und Individualität erfassen und betreuen muß, um ihm helfen zu können, ohne andererseits in Anwendung von mehr oder weniger verwaschenen Allgemeinmaßnahmen die gezielte Diagnose und Therapie aus den Augen zu verlieren, läßt HANS CAROSSA seinen Doktor Bürger aussprechen, der bekennt: «Ein Eingeweide heilen, ohne mich des Menschen zu versichern, nie, nie werde ich es können.» 121 Mit dieser berechtigten Feststellung greift CAROSSA einen Gedanken

auf, der in der Literatur verschiedentlich anzutreffen ist und den bereits PLATON erstmals zur Diskussion gestellt hat, wenn er in den Gesetzen erklärt, der Arzt müsse in seinem Bemühen zwar stets den ganzen Menschen im Auge behalten, dürfe aber gleichwohl das Untergeordnete, das Kleine, also das Einzelsymptom nicht vernachlässigen 122.

Zum Thema «System und Schule» hören wir LUDWIG BÖRNE, der in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einer Buchbesprechung geschrieben hat: «Es sterben viel weniger Menschen an der Schwindsucht, Wassersucht» usw. ... «als an der Systemsucht der Ärzte. Das ist gewiß die traurigste aller Todesarten, wenn man an einer Krankheit stirbt, die ein Anderer hat.» 123

Jeder Schul- und Systemstreit wie auch die Alternative: Spezialist oder Ganzheitsmediziner sind vom Übel. Spezialistentum und Ganzheitsmedizin, somatische und psychische Heilkunde müssen vereint darum bemüht sein, die Forderung zu erfüllen, die HANS MUCH zu Recht als die Aufgabe des Arztes bezeichnet hat, nämlich «zu heilen». «Wenn ihm das gelingt» —ich zitiere NEUBURGER 124 —, «ist es ganz gleichgültig, auf welchem Wege» es geschieht. In dieser Sicht erscheint auch die Diskussion müßig, ob Medizin ausschließlich Wissenschaft sei, wie es der noch ganz im naturwissenschaftlichen Denken des 19. Jahrhunderts befangene NAUNYN glaubte 125, oder ob man sie in moderner Übertreibung und Einseitigkeit als eine vorwiegend psychosomatisch eingestellte Heilkunst auffaßt.

Der in der Äußerlichkeit einer mehr oder minder bombastischen Terminologie oder auch Systemsucht verstrickte Arzt — der Literatur nach scheint es ihn zu allen Zeiten gegeben zu haben —wird von verschiedenen Autoren verspottet. Wir denken an PLATONS bereits erwähnte ironische Bemerkungen über die usw. (s. S. 10) sowie an MOLIÈRES Béralde im «Malade

imaginaire», der in seiner Philippika gegen die Ärzte erklärt: Sie «sprechen ein klassisches Latein. Sie bezeichnen alle Krankheiten mit ihren griechischen Namen. Sie beschreiben sie und teilen sie höchst ordentlich ein. Nur wie sie zu heilen sind, davon verstehen sie nicht das geringste» 126.

Ein prächtiges Beispiel finden wir in KURT TUCHOLSKYS Skizze «Der kranke Zeisig» 127, dem sein Arzt nach Abschluß der eingehenden Untersuchung erklärt: «Schlagen Sie sich den Gedanken aus dem Kopf, mit aller Gewalt gesund zu werden —das ist nicht der Zweck der Medizin. Die Medizin ist eine Wissenschaft, also der Mißbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Terminologie. Laien verspüren leicht Schmerzen: das ist völlig irrelevant. Es handelt sich nicht darum, den Schmerz zu beseitigen — es handelt sich darum, ihn in eine Kategorie zu bringen!»

Die wirtschaftlichen und sonstigen Schwierigkeiten, mit denen der Arzt zu Anfang seiner unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit zu kämpfen hat, und den Idealismus, dessen es bedarf, um mit diesen Widerwärtigkeiten fertig zu werden, hat der österreichische Schriftstellerarzt KARL SCHÖNHERR in verschiedenen Werken aus der Zeit der Krisenjahre nach dem Ersten Weltkrieg geschildert — wir denken hierbei in erster Linie an das Schauspiel «Herr Doktor, haben Sie zu essen?» und dessen Vorläufer «Vivat academia». Aber wenn auch SCHÖNHERR in seinen recht diskutablen bis indiskutablen, wohl kaum über die Zeit hinaus wirkenden Ärzte-Dramen, die eigenartigerweise anderen Werken dieses Autors an dramatischem Vorwurf und Gehalt deutlich unterlegen sind, die Problematik des Berufes, die materiellen Sorgen, vor allem des jungen Mediziners, die schwierige, verantwortungsvolle Arbeit des Landarztes, das opferreiche Wirken des Gebirgsarztes, den Kuhhandel um Stellen und Stellung sowie

den Publikumserfolg der Pseudowissenschaft und Quacksalberei in den Vordergrund stellt, bekennt er sich doch letzten Endes, wie nahezu jeder schreibende und dichtende Mediziner 128, bedingungslos zum Arzttum, so beispielsweise in der Gestalt des hungernden und mit Schwierigkeiten aller Art kämpfenden Medizinstudenten im Schauspiel «Vivat academia», der trotz allem unbeirrt erklärt: «Arzt will ich werden... den Kranken zu helfen — das ist und bleibt doch der schönste Beruf.» 129

Unter den Vertretern des Expressionismus im deutschen Sprachgebiet findet sich eine unverhältnismäßig große Zahl von Medizinern. Wir nennen neben GOTTFRIED BENN und ALFRED DÖBLIN als den bekanntesten, den Arztberuf auch späterhin ausübenden Expressionisten die medizinisch ausgebildeten und mehr oder minder lang als Ärzte tätig gewesenen REINHARD GOERING, MARTIN GUMPERT, RICHARD HUELSENBECK, WILHELM KLEMM, ERNST WEISS und FRIEDRICH WOLF. CURT HOHOFF 130 hat zudem kürzlich auf die bemerkenswerte Tatsache hingewiesen, daß auch JOHANNES R. BECHER, BERTOLD BRECHT und andere zunächst den Arztberuf erwählt und mit dem Medizinstudium begonnen hatten. HOHOFF hat die Aufgabe dieser zumindest in ihrer Bildungsphase am Arzttum interessierten und zum Teil sogar später ärztlich tätigen Dichter und Schriftsteller mit dem treffenden Satz charakterisiert: «Wissen-Wollen und Nicht-mehr-glauben-Können, Glauben-Wollen und Wissen-Müssen, das war das Schicksal der Zeit, das sie stellvertretend übernahmen und darstellten, in Werk und Leben.» 131 «Das Ekelsvokabular aus der Klinik» wird, wie HOHOFF bemerkt, «als Ausdruck der chaotischen Welt benützt» 132. So begegnen uns vor allem bei BECHER, dann aber auch bei BENN, die den Verfall, das Abscheu Erregende symbolisierenden Begriffe «Aas, Schimmel, Eiter, Geschwür, Kot und Verwesung». «Ergriffen.., und dennoch unbeteiligt» 133, um

ein Wort des älteren BENN zu gebrauchen, wandern die Expressionisten — so JOHANNES R. BECHER — «durch Kotflüsse, Furunkelstädte, Eitersümpfe, Kadaverkorridore und Spülichtkatarakte; Blut- und Kloakengeysire brechen auf» 132.

ALFRED DÖBLIN, Armenarzt zu Berlin, hat — vielleicht weil er in fortwährender ärztlicher Tätigkeit dem Arztberuf zu nahe stand —uber den Arzt nur wenig, über Krankheit und Kranke sowie deren menschliche und soziale Not jedoch viel geschrieben. Zum Thema «Arzt» ist vor allem das 1928 verfaßte Bekenntnis des Autors erwähnenswert: «Ich werde, wenn die Umstände mich drängen, eher, lieber und von Herzen die Schriftstellerei in einer geistig refraktären und verschmockten Zeit aufgeben als den inhaltsvollen, anständigen, wenn auch sehr ärmlichen Beruf eines Arztes.» 134

Der Lyriker und Essayist GOTTFRIED BENN kritisiert und ironisiert, von seinem frühen Gedichtzyklus «Morgue» angefangen, über den ihn selbst stellvertretenden «Rönne» bis in seine späten Werke das technisch-naturwissenschaftliche Denken in der Medizin und sucht, zu mystisch-metaphysischen Zusammenhängen zurückzufinden. Er empfindet «Ekel vor einem Handwerk, das nie an eine Schöpfung glaubte.» 135 «Das Wesen der Wirklichkeit» — also auch der Heilkunde — ist dem jungen Arzt in den Kriegs- und Nachkriegsjahren fraglich geworden. So empfindet er das «Gesundheitswesen» in seinem «Chanson» aus dem Jahre 1922 als «Vanitas». Da doch alle «Schäden... nur äußerlich, dekorativ beseitigt werden» können, ist in einem Spätwerk BENNS, dem «Ptolemäer», «der Held kein Arzt mehr, sondern Inhaber eines Kosmetiksalons» 136.

BENN war zeitlebens Arzt, aber der Dichter und der Arzt mußten — er schreibt dies selbst in einem späteren autobiographischen Werk — «ein Doppelleben führen. Die Abkehr des Dichters vom Arzt», von der HAMBURGER

spricht 137, «vom Arzt, der den lebendigen oder toten Körper ,mechanisch' untersucht, ohne die Seele einbeziehen zu können, hat BENN in der zum Teil autobiographischen Novellensammlung ,Gehirne' (1916) in einer ganz neuen dichterischen Prosa gestaltet». Diese innere Abkehr des weiter als Arzt tätigen Dichters vom Arzttum läßt bereits erwarten, daß GOTTFRIED BENN — ebenso wie der andere, so antagonistische Vertreter des ärztlichen Expressionismus, ALFRED DÖBLIN —über das Bild des Arztes nicht allzuviel Endgültiges und im Rahmen unserer Betrachtungen Erwähnenswertes ausgesagt hat, ganz im Gegensatz zu den eingehenden Poesie- und Prosameditationen über Körper und Seele, Fleisch und Gehirn, über Geborenwerden, Leben, Dahinsiechen und Sterben sowie über das Widersprüchliche in Wesen und Krankheit des Menschen.

Eine wichtige und kritische Feststellung zum Thema «Arzt heute» aus BENNS Essay «Kunst und Staat» 138 sei noch erwähnt. Ironisch und nicht zu Unrecht verbittert spricht hier BENN vom «Zug der Zeit, den frei praktizierenden Arzt zu antiquieren: das kommunale Forum ist es, das die Behandlung übernimmt, das Gesundheitswesen, sogenannte Prophylaxe, dringt mit Fürsorge- und Beratungsstellen vor gegen ein Jahrhundert der Sprechzimmerintimitäten; es ist die Epoche der internationalen Vertrustungen unter Staatsaufsicht, die die Pferdestärkenversicherung des Individuums als sozialisierten Keimträgers und Kalorienstapels aufzieht bis zu einem Grade von Fließsanierung der taylorisierten Muskelplastik vom Anlegen an die indexberechnete Mutterbrust bis zum drei Tage nach der Beisetzung an die Kommune rücklieferbaren Einheitssarg».

Aber in der zerstörten und zerstörerischen Gedanken- und Gefühlswelt des Expressionisten-Arztes fehlen auch konstruktiv-ärztliche Züge nicht, so zum Beispiel bei

dem aus Mähren stammenden ERNST WEISS, der in mehreren Erzählungen und Romanen das Nichtaufgeben, das Ausharren als wichtige ärztliche Grundeigenschaft herausstellt. Ein typisches Beispiel ist in seiner Erzählung «Der Arzt» die Gestalt des Medizinstudenten, der nach einem Narkosezwischenfall bei dem scheinbar toten, von den Ärzten aufgegebenen Patienten die künstliche Beatmung allein weiterführt, bis schließlich die spontane Respiration doch wieder einsetzt.

Im Anschluß an die Expressionisten ist FRANZ KAFKA zu nennen. KAFKA, in die Zeit des Expressionismus hineingeboren, ist ein von dieser Kunstrichtung nicht unbeeinflußter, prophetischer Vorreiter und jedenfalls Wegbereiter des Surrealismus wie des Existentialismus, ein Dichter, der den von quälender Lebensangst gehetzten, dem Grauen hilf- und willenlos preisgegebenen heutigen Menschen in visionärer Schau vorausahnt. So kommt es, daß in KAFKAS Werken neben dem Hauptthema einer mystisch angehauchten, fanatischen Wahrheitssuche sowohl expressionistische wie auch bereits deutlich surrealistische und existentialistische Züge in Erscheinung treten, also der drei literarischen Bewegungen, die sich die Aufgabe gestellt haben, den Menschen im Machtfeld von Bedrohung und Angst darzustellen. Für KAFKAS Erzählung «Ein Landarzt», die in vielem wie eine CHAGALLsche Bildphantasie anmutet, gilt in vollem Umfang, was der greise MAX BROD, KAFKAS Freund und literarischer Anwalt, vor wenigen Wochen in seinem Basler Vortrag in knapper, klarer Formulierung für das Gesamtwerk des Dichters als charakteristisch bezeichnet hat: stets finden wir «ein Zusammentreffen des Wunders mit dem Alltäglichen». Auch im «Landarzt» bezeugen sowohl die Gestalt des Arztes wie die des Kranken in beredter Weise «die Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz», um die nach WALTER MUSCHG «Kafkas Erzählungen kreisen»

139. Der «Landarzt» gehört zu den depressiven, keinerlei Aussicht verheißenden Werken des Dichters. In dem von KAFKA geschilderten nächtlichen Krankenbesuch des alten pflichtbewußten, überlasteten Arztes, der, auch wenn er nicht helfen kann, so doch wenigstens mit frommer Lüge tröstet, wird alles scheinbar Sinnvolle sinnlos, alles Reale phantastisch und alles Wache zum surrealistischen Fiebertraum. Es bleibt das deprimierende Fazit: zwar gelingt es dem Arzt, aus der stickigen Krankenstube zu flüchten, wo man ihn ausgezogen und zu dem an einer hoffnungslosen Wunde krankenden Patienten ins Bett gelegt hat — denn

«Entkleidet ihn, dann wird er heilen,
Und heilt er nicht, so tötet ihn!
's ist nur ein Arzt, 's ist nur ein Arzt» 140 —,

aber er ist ja doch zur Sühne seiner «metaphysischen Schuld des Menschseins», um MUSCHGS Worte 141 zu gebrauchen, ebenso wie der Kranke rettungslos verloren und gezwungen — ich zitiere KAFKA —, «Nackt, dem Froste dieses unglückseligen Zeitalters ausgesetzt» 142, von «unbeherrschbaren » 143, «unirdischen Pferden» 144 gezogen, zu aktiver Bewegung wie ein Träumender unfähig, sich umherzutreiben.

Schließlich begegnen uns in Werken aus neuester Zeit, wie in FRIEDRICH DÜRRENMATTS «Der Verdacht» 145, in ROLF HOCHHUTHS «Der Stellvertreter» 146 und in PETER WEISS'ens «Ermittlung» 147 als Inkarnation der unärztlichen, ja widerärztlichen, staatlich gelenkten Sanitätsvollstreckungsmaschine die Schandfiguren des deutschen Konzentrationslagerarztes wie auch des sogenannten medizinischen Wissenschaftlers nationalsozialistischer Observanz, beispielsweise die aus dem Leben gegriffene Figur des Professors Hirt in HOCHHUTHS «Stellvertreter». Die genannten Werke zeigen uns in eindrucksvoller Weise, wie es diesen unwürdigen Vertretern ihres Standes gelungen ist, das Berufsethos des Helfens,

Linderns und Rettens in das sinnwidrige Gegenteil des Quälens und Mordens zu verkehren, indem sie sich zu Zuhältern eines Verbrecherstaates erniedrigt und angemaßt haben, Menschen, dem Schlachtvieh gleich, auszusondern und hemmungslos mit einer Handbewegung über Tod und Leben — und zwar zumeist Tod — von Legionen zu entscheiden oder sie im Namen ihrer jedes Ethos baren Scheinwissenschaft als wert- und schutzlose Versuchstiere zu mißbrauchen.

Es ist zutiefst tragisch, daß es eine europäische Kulturnation in unserem 20. Jahrhundert fertiggebracht hat, das Bild des Arztes in Wirklichkeit und Literatur um derartige, Stand und Land schändende Figuren zu erweitern.

Für Geisteshaltung und Gesinnung dieser hemmungslosen Sadisten und Mörder in der Maske des Arztes, für die Religion, Ethik und Humanität jegliche Bedeutung verloren haben, ist das materialistisch-nihilistische Credo bezeichnend, das DÜRRENMATT den Schweizer Dr. Emmenberger, der in einem deutschen Konzentrationslager sein Unwesen getrieben hat, sprechen läßt. Hören wir dieses zynische Bekenntnis zu Unmenschlichkeit und Materialismus im Auszug 148: «Der Mensch, was ist der Mensch?.. Wie die Christen an drei Dinge glauben, die nur ein Ding sind, an die Dreieinigkeit, so glaube ich an zwei Dinge, die doch ein und dasselbe sind, daß etwas ist, und daß ich bin.., ich glaube an eine Materie..., die keinen Gott braucht, oder was man auch immer hinzuerfindet, deren einziges unbegreifliches Mysterium ihr Sein ist. Und ich glaube, daß ich bin, als ein Teil dieser Materie,.. und daß mir meine Existenz das Recht gibt, zu tun, was ich will... Es ist unsinnig, in einer Welt, die ihrer Struktur nach eine Lotterie ist, nach dem Wohl der Menschen zu trachten...

Es gibt keine Gerechtigkeit —wie könnte die Materie gerecht sein —, es gibt nur die Freiheit, die nicht verdient

werden kann...., sondern die man sich nehmen muß. Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen, weil sie selbst ein Verbrechen ist...; wenn ich einen anderen Menschen töte..., wenn ich mich außerhalb jeder Menschenordnung stelle, die unsere Schwäche errichtete, werde ich frei..., und in den Schreien und in der Qual, die mir aus den geöffneten Mündern und aus den gläsernen Augen entgegenschlägt..., spiegelt sich mein Triumph und meine Freiheit und nichts außerdem.»

Die Irrenärztin Dr. Mathilde von Zahnd in DÜRRENMATTS «Physikern» 149 ist zwar nicht in einem Konzentrationslager tätig, sondern in ihrem luxuriösen Privatsanatorium, in dem die Patienten keineswegs hungern und körperlich gefoltert werden; aber vom ärztlichen Ethos ist auch bei dieser Vertreterin des Arztberufes nicht mehr der leiseste Hauch zu verspüren. Sie schreckt, um das von dem Patienten ihres Sanatoriums, dem genialen Physiker Johann Wilhelm Möbius, gefundene «System aller möglichen Erfindungen» 150 selbst industriell-kommerziell auswerten zu können, vor keinem Vergehen gegen das ärztliche Ethos, ja vor keinem Verbrechen, wie beispielsweise der Opferung von drei Krankenschwestern, zurück. Die wertvollen Aufzeichnungen des vor der Welt in das Sanatorium geflüchteten Möbius hat sie laufend gewaltsam kopiert und ihren Inhalt sich nutzbar gemacht. «Ich war Ärztin und Möbius mein Patient. Ich konnte mit ihm tun, was ich wollte. Ich betäubte ihn, jahrelang, immer wieder, und photokopierte die Aufzeichnungen...» 151 Wenn auch das Berufsethos verraten, die Menschenwürde geschändet wird, was gilt es, winken doch als Lohn unermeßlicher Reichtum und unbeschränkte Macht. «Nun werde ich mächtiger sein als meine Väter. Mein Trust wird herrschen, die Länder, die Kontinente erobern, das Sonnensystem ausbeuten, nach dem Andromedanebel fahren.» 152 Als unausweichliche Folge dieses Machtstrebens

einer ungläubig und unmenschlich gewordenen Wissenschaft bekennt abschließend der sich mit Salomo identifizierende Möbius, wie es so weit kommen konnte, und er verkündet seine nur allzu naheliegende Vision vom Ende des Lebens auf unserem Planeten. «Ich bin der arme König Salomo. Einst war ich unermeßlich reich, weise und gottesfürchtig... Ich war ein Fürst des Friedens und der Gerechtigkeit. Aber meine Weisheit zerstörte meine Gottesfurcht, und als ich Gott nicht mehr fürchtete, zerstörte meine Weisheit meinen Reichtum. Nun sind die Städte tot, über die ich regierte, mein Reich leer, das mir anvertraut worden war, eine blauschimmernde Wüste, und irgendwo, um einen kleinen, gelben, namenlosen Stern, kreist, sinnlos, immerzu, die radioaktive Erde.» 153

Noch eine weitere Aussage DÜRRENMATTS geht in derselben Richtung. Auch der Stadtarzt im «Besuch der alten Dame» verrät — gleich korrupt und käuflich wie die Ortsbehörden — im Interesse des materiellen Vorteils der Einwohnerschaft von Güllen bedenkenlos das ärztliche Berufsethos und diagnostiziert wider besseres Wissen «Herzschlag» als Todesursache des auf Veranlassung der alten Dame in Vollzug ihrer Rachejustiz getöteten Mitbürgers III.

In die Kategorie des gewalttätigen, unärztlichen Arztes, dem Experimentalerfahrung und -erfolg mehr bedeuten als das seelisch-leibliche Wohl der ihm anvertrauten Patienten, gehört schließlich auch Dr. Maloney in JOHN KAFKAS 1960 in Wien uraufgeführtem Psychiatriedrama «Der Mann im Turm» 154. Dieser Psychiater scheut sich nicht, einen infolge einer Verwechslung in der Heilanstalt internierten seelisch-geistig Gesunden in voller Kenntnis der Sachlage ohne jede Rücksicht auf das ärztliche Ethos zu wissenschaftlich-experimentellen Zwecken hemmungslos einer Art von seelischer Vivisektion zu unterziehen.

Eine besondere Arztgattung ist der auf seine homerischen Ahnen Podaleirios und Machaon zurückgehende Militärarzt. Mit ihm und seiner für Individuum und Staat unentbehrlichen, aufopfernden und gefahrvollen Tätigkeit befaßt sich ein recht umfangreiches Schrifttum. Nennen wir nur kurz einige markante Vertreter, so in erster Linie den französischen Schriftstellerarzt GEORGES DUHAMEL, selbst Mediziner an der Front im Ersten Weltkrieg, der in verschiedenen Romanen, wie vor allem «Vie des martyrs», das erschütternde Hohe Lied vom Opfergang des einfachen Soldaten und von der Tätigkeit des Truppenarztes geschrieben hat. DUHAMELS Werk entspricht hinsichtlich dichterischer Ausdruckskraft im deutschen Sprachgebiet wohl nur HANS CAROSSAS «Rumänisches Tagebuch». Im übrigen ist unter den Deutschen an erster Stelle der eigenwillige und gesinnungsstarke ALEXANDER M. FREY zu erwähnen. FREY dient allerdings in seinem packenden, aus der Sicht des Sanitätssoldaten geschriebenen «Feldsanitätsroman» «Die Pflasterkästen» das Tätigkeitsfeld des an der Front wirkenden, trotz aller Reserve mit einer gewissen Hochachtung behandelten Truppenarztes nur als realistisch geschilderte Milieukulisse, um die Sinnlosigkeit des kriegerischen Mordens und Verstümmelns junger, gesunder Menschen anzuprangern. Die gleiche Gesinnung spricht aus Werken der beiden Tschechen JAROSLAV HASEK und KAREL CAPEK. In CAPEKS Schauspiel «Die weiße Krankheit» verkündet der Marschall stolz dem Arzte Galén: «Ich war auch im Krieg, Doktor. Aber ich habe dort die Menschen fürs Vaterland kämpfen sehen. Und ich führte sie als Sieger heim», worauf er von Galén die treffende Antwort erhält: «Das ist es eben. Ich habe die gesehen, die Sie nicht heimgeführt haben. Das ist der Unterschied, Exzellenz.» In HASEKS «Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk», diesem unsagbar tragikomischen «Spottlied

wider Krieg und Militarismus» 155 — wer denkt nicht an Max PALLENBERGS erschütternde, unvergeßliche Darstellung dieses «mit einfältigem Mutterwitz begabten kleinen Mannes» 155 in der von MAX BROD und HANS REIMANN dramatisierten Fassung des «Schwejk» —, haben die vor allem in ihren negativen Eigenschaften drastisch dargestellten Militärärzte, über die wir mit Schwejk lachen dürfen, nichts zu lachen. Im weiteren sei noch auf den Bericht des deutschen Militärarztes PETER BAMM aus dem russischen Feldzug des Zweiten Weltkrieges «Die unsichtbare Flagge» hingewiesen, in dem die für Freund und Feind segensreiche Rolle des Frontarztes unterstrichen, aber keineswegs heroisiert wird. Erwähnt seien ferner die dem Wirken des Truppenarztes gewidmeten Abschnitte im «Doktor Schiwago» von BORIS PASTERNAK. Als angelsächsische Vertreter der kriegsmedizinischen Literatur nennen wir abschließend WARWICK DEEPING mit seinem zwischen den beiden Weltkriegen vielgelesenen Roman «No hero this» sowie aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges den Amerikaner FRANK GILL SLAUGHTER mit seinem «Air Surgeon» und «Battle Surgeon».

Unendlich groß ist die Zahl der realistisch-klar oder auch verschroben-skurril über Probleme ihres Faches forschenden Mediziner, die in Dramen, Novellen und Romanen ihr Wesen oder auch Unwesen treiben, vom Doktor in GEORG BÜCHNERS «Woyzeck» angefangen über EMILE ZOLAS «Docteur Pascal», die «Paracelsus»-Gestalt in der Romantrilogie von E. G. KOLBENHEYER und in vielen Werken anderer Autoren, über Robert Mayer in LUDWIG FINCKHS Roman «Der göttliche Ruf», über «Semmelweis» im Roman von THEO MALADE, über «Doktor Guillotin» in LUDWIG WINDERS gleichnamigem Schauspiel bis zum «Dr. Arrowsmith» von SINCLAIR LEWIS, zum Dr. James in «Le peseur d'âmes» von ANDRÉ MAUROIS, zum Dr. Rock in DYLAN THOMAS'

Schauspiel «The doctor and the devils» und zu verschiedenen Arztgestalten in Romanen und Novellen von A. J. CRONIN.

Daß nicht selten Dichter und Schriftsteller ihrem Arzt nach glücklich überstandener Krankheit in literarischer Form Dank abstatten, sei zum Schluß erwähnt und durch zwei Beispiele, eines in ungebundener und eines in gebundener Form, belegt. Von vorbildlicher Kürze und Ausdruckskraft ist der Dank des großen englischen Erzählers der viktorianischen Aera, WILLIAM THACKERAY. Er findet sich in der Vorrede zum dritten Band seines Romans «The history of Pendennis». THACKERAY erkärt hier kurz und bündig, daß die Geschichte ohne das wachsame Eingreifen und das Können seines Arztes Dr. Elliotson vor 13 Monaten mit dem zweiten Band ihr Ende gefunden hätte 156. In Form eines Gedichtes «An meinen Arzt, Dr. Elsässer» (1838)157 bekundet der schwäbische Lyriker EDUARD MÖRIKE seinen Dank, beglückt, sagen zu können:

«Sieh! da stünd ich wieder auf meinen Füßen
und blicke
Froh erstaunt in die Welt, die mir im Rücken
schon lag!»

Wie unser zwangsläufig eklektischer Überblick über den Arzt im Spiegel von Dichtung und Literatur in Bestätigung medizin-historischer Erfahrungen gezeigt hat, läßt das Bild unseres Berufsstandes hinsichtlich Wissen und Können eine stetige, zeitweilig mehr oder minder stagnierende, teils aber — vor allem in neuester Zeit — steil ansteigende Entwicklung erkennen.

Vom vom göttergleichen Philosophenarzt der griechischen Antike spannt sich ein

weiter Bogen bis zum vielwissenden und -könnenden, wenn auch keineswegs allwissenden Arzt unserer Tage. Der aber ist, wenn wir DÜRRENMATT sowie anderen zeitgenössischen Dichtern und Schriftstellern Glauben schenken dürfen, in bedrohlicher Weise der Versuchung ausgesetzt, mit Wirtschaft, Staat und Politik, beziehungsweise deren Funktionären konform, individualmedizinisch, sozialmedizinisch und auch metamedizinisch bestimmen, herrschen und besitzen zu wollen, anstatt unbeirrt, seiner Aufgabe getreu, dem einzelnen hilfsbedürftigen Mitmenschen und damit indirekt dem Gemeinwesen zu dienen.

Aber auch wenn der Arzt kraft seiner Ethik, kraft seines allgemeinen und beruflichen Verantwortungsbewußtseins dieser Versuchung nicht erliegt, bleibt als weiteres, zeitgemäßes Gefahrenmoment, daß er —einem stets besser und komplizierter werdenden Computer vergleichbar — zunehmend medizinische Daten speichert und wiedergibt, wodurch infolge geistig-seelischer Umprägung, Überbeanspruchung, Zeitmangels usw. die nicht minder wichtige menschliche Seite der ärztlichen Tätigkeit zwangsläufig in den Hintergrund gedrängt wird.

Unbestreitbar zeichnet sich in der Medizin unserer Tage die folgende, teils von außen aufgezwungene, teils idiogene Entwicklung ab: 1. von oben und außen, das heißt vom Staat und von der Gemeinschaft her das von Land zu Land, von Ort zu Ort zwar verschiedene, aber doch deutliche Vordringen einer mehr oder weniger staatsgelenkten Sozialmedizin auf Kosten der Individualmedizin, also eine Entwicklung vom Individualistisch-Persönlichen zum Kollektivistisch-Unpersönlichen, wenn nicht gar vom Ethisch-Freien zum Gelenkt-Unfreien, sowie 2. von unten und innen, also vom Arzt und auch vom Patienten her im Rahmen unseres trotz allen sozialen Ideen doch recht egoistischen und materialistischen

Zeitalters zunehmender Egoismus und Materialismus einer durch lange Hochkonjunktur verwöhnten Generation.

Im weiteren bedingt das unaufhaltsame und rasche Anwachsen des medizinischen Wissens eine stets zunehmende, unvermeidbare Spezialisierung und Technisierung des Arztberufes —mit all ihren unbestreitbaren Vor- aber leider auch Nachteilen —, die schließlich zu einer «Team-work-Verarztung» führen sowie die Gefahr einer Erschwerung und Minderung des vertrauensvollen Kontaktes zwischen den Gesamtpersönlichkeiten Arzt und Patient zwangsläufig in sich bergen, die Gefahr des Überwiegens einer zeitweiligen Beherrschung von Krankheit und Kranken gegenüber dem andauernden, hilfreichen Dienen des mit dem Patienten, ja seiner ganzen Familie freundschaftlich verbundenen, immer seltener werdenden 159 Hausarztes.

Überraschenderweise verzeichnet die soziale Geltung des Ärztestandes im Laufe der Entwicklung vom nahezu ausschließlich auf Intuition, Beobachtung, Gefühl und Erfahrung angewiesenen Medicus früherer Zeiten bis zu dem wissenschaftlich ausgebildeten und denkenden Mediziner unserer Tage trotz stetiger Mehrung der fachlichen Erkenntnis und des technischen Könnens keinen gradlinigen Aufstieg.

Phasen der Überschätzung und der Mißachtung, Phasen, in denen man nichts, wenig oder allzuviel vom Arzt erwartet und hält, wechseln einander ab.

Eine nüchterne Wertung der gegebenen Möglichkeiten wie auch die verdiente Anerkennung und Achtung seines Wollens und der ärztlichen Haltung sind selten. Dabei ist es diese vom Wissen und den technischen Möglichkeiten der Epoche unabhängige ethische Grundhaltung, die überall und jederzeit den wahren Arzt auszeichnet, auch wenn sie hie und da einmal durch einen zeitlosen Dr. Knox aus persönlicher Unmoral oder

durch eine gegenüber einem herrschenden Dritten, wie einem verbrecherischen Staatswesen in Abhängigkeit geratene Ärzteschaft verraten wird. Wichtiger jedoch als jede äußere Anerkennung durch die wankelmütige Menge ist das gute Gewissen. Denn warum sollte dem im letzten so menschlichen Beruf wie dem des Arztes, dem «Hippokrates mit der Dornenkrone», wie ALFRED POLGAR einmal in einer Besprechung gesagt hat 160, das «Hosianna und kreuziget ihn» erspart bleiben. Eins jedenfalls ist sicher : «Wer je Mediziner war, kann nie aufhören, es zu sein. Denn Medizin ist», wie ARTHUR SCHNITZLER bekennt 161, «eine Weltanschauung» und sollte dies stets auch bleiben. Eine feste, bindende und verpflichtende Weltanschauung aber ist ein unschätzbarer, wenn auch immaterieller Besitz. Dieses dem Gebildeten unentbehrliche Kleinod muß sich jeder einzelne denkende und fühlende Mensch anhand erfreulicher wie unerfreulicher Beobachtungen an guten und schlechten Vorbildern sowie auf Grund seiner Erfahrungen mit der Umwelt überhaupt auf dem steinigen und beschwerlichen Weg über äußere und innere Kämpfe, Zweifel und enttäuschtes Aufbegehren selbständig erwerben. Er kann diese Weltanschauung zwar anderen durch Wort und Schrift mitteilen, nicht aber auf sie übertragen. Im Hinblick auf das Immaterielle der ärztlichen Idee ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, daß einerseits die offensichtlichen technischen Möglichkeiten, die Fortschritte und Erfolge sowie andererseits die Fehler, die äußeren Widerwärtigkeiten und Anfechtungen, die inneren Versuchungen und Schwächen, die Irrungen und Wirrungen von Einzelnen oder von Gruppen im Blickfeld einer mehr realistisch und materialistisch denkenden Um- und Nachwelt stärker in Erscheinung treten und somit auch das Bild des Arztes in der Wertung durch Dichtung und Literatur in ausgesprochenerern Maße bestimmen als das immanente Ethos des zur

Menschlichkeit geborenen, zum Helfen bestellten wahren Arzttums.

Diese Idee aber ist allerwärts und allerorten außer denjenigen, denen sie in selbstlos aufopferndem Wirken Weltanschauung und Lebensinhalt wurde 162, nur wenigen Außenstehenden — darunter gerade einigen durch Gefühlswerte besonders ansprechbaren Dichtern — in ihrer ganzen Tragweite vertraut und faßbar.

Es ist nun einmal so: «On ne voit bien qu'avec le coeur. L'essentiel est invisible pour les yeux.» 163 Dies ist das große Geheimnis, das ANTOINE DE SAINT-Exupéry seinem «Kleinen Prinzen» durch den klugen Wüstenfuchs anvertrauen läßt.

Doch seien wir getrost!
«Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich;
was aber unsichtbar ist, das ist ewig»,

verkündet PAULUS in seinem Zweiten Korintherbrief 164.

Anmerkungen

Für ihre überaus wertvolle, unermüdliche Mitarbeit bei der Beschaffung der umfangreichen Literatur danke ich herzlich Fräulein FERNANDE CLOT (Haus der Bücher Basel), Fräulein ESTHER LUDWIG (Allgemeine Lesegesellschaft Basel), den Herren WALTER HEUBERGER und HERBERT SUTTER (Universitäts-Bibliothek Basel) sowie Herrn ERNST SCHAUB (Anatomisches Institut Basel).

Wel cowde ho fortunen the ascendent Of his ymages for his pacient. He knew the cause of every malaciye, Were it of hot or cold, or moiste, or drye, And where engendred, and of what humour; He was a verrey parfit practisour. The cause i-knowe, and of his harm the roote, Ânon he gaf the sike man his boote. Ful redy hadde he his apothecaries, To sende hirn drugges, and his letuaries, For ech of hem made other for to winne, Here frendship was not newe to begynne. Wel knew he the olde Esculapius, And Diascorides, and eek Rufus; Old Ypocras, Haly, and Galien; Serapyon, Razis, and Avycen; Averrois, Damascien, and Constantyn; Bernard, and Gatesden, and Gilbertyn Of his dicte mesurable was he, For it was of no superfluité, But of gret norisching and digestible. His studie was but litel on the Bible. In sangwin and in pers he clad was al, Lined with taffata and with sendal. And yet he was but esy of dispence; He kepte that he wan in pestilence. For gold in phisik is a cordial, Therfore he loved gold in special.»

Description of England in Shakspere's Youth. Edit. FR. J. FURNIVALL, Part J. The second book (N. Trübner &Co., London 1877), p. 81.

Vil nemen artzeny sich an Der dheyner ettwas do mit kan Dann was das krüter büchlin lert Oder von altten wybern hört Die hant eyn kunst / die ist so gut Das sie all presten heylen dût Und darf keyn underscheyt me han Under jung / allt /kynd /frowen / man / Oder füht / trucken /heiß / und kalt / Eyn krut das hat solch kraft / und gwalt Glych wie die salb jm Alabaster Dar uß die scherer all jr plaster Machent / all wunden heylen mit Es sygen gswär / stich / brüch /und schnyt Her Cucule verloßt sye fit / Wer heylen will mit eym ungent All trieffend ougen / rott / verblent / Purgyeren will on wasserglaß Der ist eyn artzt als Zûhsta was / Dem glych /ist wol eyn Aduocat Der jun keynr sach kan geben ratt / Eyn bichtvatter ist wol des glych Der nit kan under richten sich Was under yeder maletzy Und gschlecht der sünden /mittels sy Jo on vernunft /gat umb den bry / Durch narren mancher würt verfûrt Der ee verdürbt /dann er das spürt /

several names, and so have the drugs that are proper for them, and with these our female Yahoos are always infested. One great excellency in this tribe is their skill at prognostics, wherein they seldom fall; their predictions in real diseases, when they rise to any degree of malignity, generally portending death, which is always in their power, when recovery is not: and therefore, upon any unexpected signs of amendment, after they have pronounced their sentence, rather than be accused as false prophets, they know how to approve their sagacity to the world by a seasonable dose."

durch Hypnose und Suggestion (Wilhelm Braumüller, Wien 1889)(«Separat-Abdruck aus der Internationalen Klinischen Rundschau» 3: 405-408; 457-461; 494-499; 583-586 [1889]).

Volumes, Vol. III (Bernh. Tauchnitz jun., Leipzig 1850). Das Vorwort dieses Bandes hat folgenden Wortlaut: "To Dr. JOHN ELLIOTSON. My DEAR DOCTOR, Thirteen months ago, when it seerned likely that this story had corne to a close, a kind friend brought you to my bedside, whence, in all probability, I never should have risen but for your constant watchfulness and skill. I like to recall your great goodness and kindness (as weil as many acts of others, showing quite a surprising friendship and sympathy) at that time, when kindness and friendship were most needed and welcome. And as you would take no other fee but thanks, let me record them here in behalf of me and mine, and subscribe myself, Yours most sincerely and gratefully, W. M. THACKERAY."