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DAS GESETZ DER WACHSENDEN STAATSAUSGABEN

JAHRESBERICHT 1965166
Druck: Art. Institut Orell Füssli AG, Zürich

INHALTSVERZEICHNIS Seite
I. Rektoratsrede 3
II. Ständige Ehrengäste der Universität 18
III. Jahresbericht 19
a) Hochschulkommission 19
b) Dozentenschaft 19
c) Organisation und Unterricht 29
d) Feierlichkeiten, Kongresse und Konferenzen . . . 50
e) Ehrendoktoren und Ständige Ehrengäste 53
f) Studierende 54
g) Prüfungen 57
h) Preisinstitut 58
i) Stiftungen, Fonds und Stipendien 60
k) Kranken- und Unfallkasse der Universität . . . . 66
l) Witwen-, Waisen- und Pensionskasse der Professoren
der Universität Zürich 67
m) Stiftung zur Förderung der Fürsorgeeinrichtungen
für die Professoren der Universität Zürich (SFF) . . 69
n) Zürcher Hochschul-Verein 69
o) Stiftung für wissenschaftliche Forschung an der
Universität Zürich 71
p) Jubiläumsspende für die Universität Zürich . . . 75
q) Julius Klaus-Stiftung 76
IV. Vergabungen 80
V. Nekrologe 86

I. FESTREDE DES REKTORS PROFESSOR DR. WILHELM BICKEL

gehalten an der 133. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 29. April 1966

Das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben 1.

Als vor 21 Jahren, zwar damals noch nicht an diesem Platze, aber doch beim gleichen Anlaß, mein Lehrer Eugen Großmann über «Gesetzmäßigkeiten auf dem Gebiete der öffentlichen Finanzen» sprach, nannte er unter diesen «Gesetzmäßigkeiten» mit an erster Stelle das sogenannte «Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit» oder «Gesetz der wachsenden Staatsausgaben» als die allgemein bekannte und von der Finanzwissenschaft allgemein anerkannte Formulierung eines in allen wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern zu beobachtenden, fast schicksalhaften, steten Steigens der öffentlichen Ausgaben. In der Tat wurde dieses erstmals von dem deutschen Finanzwissenschafter Adolph Wagner um 1870 aufgestellte «Gesetz» schon zur Zeit Wagners von der Finanzwissenschaft so gut wie einhellig akzeptiert und auch in der Folge unter dem Einfluß Wagners vor allem in der deutschsprachigen Finanzwissenschaft ziemlich unbesehen hingenommen. Besondere Mühe, das behauptete stete Wachsen der staatlichen Ausgaben zu belegen und insbesondere auch dessen Gesetzmäßigkeit irgendwie zu begründen, gab man sich nicht, schon weil sich die Finanzwissenschaft damals für die öffentlichen Ausgaben überhaupt nicht interessierte, sondern sie als ein Datum für die Einnahmebeschaffung betrachtete. Ein paar von Wagner übernommene Ausführungen und mehr oder minder willkürlich zusammengeraffte Zahlen mußten jeweils genügen. Erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten hat man sich im Zuge der größeren Beachtung, die man in jeder Hinsicht den öffentlichen Ausgaben

schenkte, auch etwas eingehender mit ihrer steten Zunahme befaßt. Man ist den Ursachen und Folgen dieser Zunahme nachgegangen und hat an der, wie gleich bemerkt sei, zweifellos unzulänglichen Formulierung und Begründung seines «Gesetzes» durch Wagner Kritik geübt.

Wie Sie wissen, stehen wir heute in der Schweiz vor einer neuen Welle gesteigerter staatlicher Ausgaben. Der Voranschlag des Bundes 1966, der eine Erhöhung der Ausgaben gegenüber dem Budget 1965 um mehr als 15 Prozent vorsah, hat in der Öffentlichkeit allerhand Unruhe verursacht. Meine Absicht ist nicht, zu diesem Tagesproblem und insbesondere auch nicht zu seinen konjunkturpolitischen Aspekten Stellung zu nehmen. Doch ist der Zeitpunkt vielleicht nicht ungeeignet, einmal auch einige allgemeinere Betrachtungen über die langfristige Entwicklung der öffentlichen Ausgaben und die sie bestimmenden Kräfte anzustellen. Dabei ist von dem genannten Gesetze Wagners auszugehen.

2.

Bei der kritischen Prüfung dieses Gesetzes müssen wir uns zuerst mit dem Doppelnamen, den ihm schon Wagner gegeben hat, «Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit» oder «Gesetz der wachsenden Staatsausgaben», auseinandersetzen. Die darin liegende Gleichsetzung von staatlicher Aktivität und staatlichen Ausgaben ist offensichtlich nicht ganz zutreffend, da eine Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit im weitesten Sinne auch ohne eine entsprechende Erhöhung der Ausgaben möglich ist. Schalten wir aber diejenigen Maßnahmen des Staates, die direkte Interventionen in den Wirtschaftsablauf außerhalb des Mediums der Finanzwirtschaft darstellen, aus —wie etwa die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit, Kreditbeschränkungen und dergleichen —, so kann die Höhe der staatlichen Ausgaben als ein brauchbarer Indikator des Umfanges der staatlichen Aktivität angesehen werden. Sie stellt auch an sich einen für die Volkswirtschaft sowohl kurz- wie langfristig sehr wichtigen Tatbestand dar. Wollen wir zudem aus dem Bereiche mehr oder minder vager Behauptungen

in den der exakten Messung vordringen, so kommt ein anderer Maßstab der staatlichen Aktivität als die Höhe der Ausgaben kaum in Frage. Mehr und mehr hat man denn auch in neuerer Zeit nur noch vom «Gesetz der wachsenden Staatsausgaben» gesprochen. Daß die exakte Feststellung der Höhe der staatlichen Ausgaben allerhand Schwierigkeiten bietet, sei nur im Vorbeigehen erwähnt. Doch sei noch festgehalten, daß unter «Staat» hier grundsätzlich stets die Gesamtheit der öffentlichen Körperschaften eines Landes verstanden sei.

Zum anderen muß der Begriff des Wachsens der Staatsausgaben präzisiert werden. Soll schon jede absolute Zunahme der Staatsausgaben, wie etwa eine Geldentwertung oder Bevölkerungszunahme sie verursachen kann, unabhängig von irgendeiner Beziehungsgröße als «Wachsen der Staatsausgaben» im Sinne des Wagnerschen Gesetzes angesprochen werden? Ein guter Teil der Zustimmung, die dieses Gesetz bisher fand, erklärt sich daraus, daß weder Wagner noch seine Nachfolger eindeutig definierten, was sie damit meinten, so daß einzelne Finanzwissenschafter beispielsweise gerade eine rein nominale, durch Geldentwertung verursachte Steigerung der Staatsausgaben als eine Bestätigung des Gesetzes anführten.

Will man dem Gesetz einen ökonomisch sinnvollen Inhalt geben, so muß man den Begriff des Wachsens der Staatsausgaben möglichst genau fassen. Heute versteht man darunter allgemein, daß der Anteil der staatlichen, das heißt aller öffentlichen, Ausgaben am Bruttosozialprodukt zunimmt. Oder anders ausgedrückt, daß der durch die Höhe der staatlichen Ausgaben charakterisierte öffentliche Sektor einer Volkswirtschaft relativ rascher wächst als der durch die Höhe der privaten Konsum- und Investitionsausgaben charakterisierte private Sektor. Im folgenden seien wachsende Staatsausgaben immer in diesem Sinne verstanden.

Überraschenderweise zeigt sich nun, daß das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben in dieser präzisen Form für die hundert Jahre vor Adolph Wagner nur sehr beschränkt gilt. Die Staatsausgaben haben damals in den Kulturstaaten langfristig überhaupt

nicht oder jedenfalls nur wenig zugenommen. Peacock und Wiseman 1 haben dies in einer gründlichen Studie für Großbritannien nachgewiesen. Ihnen zufolge machten die Staatsausgaben Englands im Jahre 1792 elf Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Sie stiegen dann freilich während des großen Kampfes mit Napoleon vorübergehend auf 29 Prozent im Jahre 1814, fielen nach Waterloo aber ziemlich rasch wieder auf den Vorkriegsstand ab und bewegten sich in der Folge bis gegen Ende des Jahrhunderts —mit einer kurzen Unterbrechung im Krimkrieg —ständig zwischen 9 und 12 Prozent des jeweiligen Bruttosozialprodukts, mit langfristig leicht sinkender Tendenz. Der herrschende Liberalismus hielt den Staatsaufwand in engen Grenzen. Für die Vereinigten Staaten läßt sich im 19. Jahrhundert zwar eine gewisse Zunahme der Ausgaben der Union — immer bezogen auf das Bruttosozialprodukt —feststellen, die aber durch einen relativen Rückgang der Ausgaben der Einzelstaaten und Gemeinden weitgehend kompensiert wurde. Unterbrochen wurde die Stabilität des öffentlichen Aufwandes auch nur vorübergehend durch den Sezessionskrieg und seine sich lange hinziehenden Folgen. Bei den Großstaaten des europäischen Kontinents scheint zwar eine gewisse Zunahme der Staatsausgaben im Vergleich zum Bruttosozialprodukt stattgefunden zu haben. Doch war sie jedenfalls nur gering; genauere Untersuchungen hierüber scheitern vor allem am Fehlen zuverlässiger Angaben über die Entwicklung des Bruttosozialprodukts. Zahlen für die Schweiz fehlen völlig.

Das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben war daher in dem Zeitpunkt, in dem Wagner es aufstellte, weniger die richtige Interpretation einer vergangenen oder gleichzeitigen als vielmehr die Vorwegnahme einer künftigen Entwicklung und erklärt sich letzten Endes aus dem «politischen Temperament» Wagners, das ihn «unablässig auf die soziale Entwicklung im konservativen Gefüge des bestehenden Staates (Preußen) hindrängte» 2. Erst durch die

weitere Entwicklung hat das «Gesetz» eine gewisse Bestätigung erfahren, die ihm seine allgemeine Anerkennung verschaffte. Denn von den achtziger und neunziger Jahren an begannen die öffentlichen Ausgaben in den meisten wirtschaftlich entwickelten Ländern tatsächlich rascher zuzunehmen als das Bruttosozialprodukt. Im Ersten Weltkrieg schnellen sie sprunghaft hinauf, fallen zwar nach dem Krieg wieder ab, stabilisieren sich aber schließlich auf einem weit höheren Niveau als vor dem Krieg. In und nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholt sich dieser Vorgang. Nach vorübergehendem Anstieg und Wiederabsinken bleibt ein höheres Ausgabenniveau zurück als vor dem Krieg.

Wiederum kann uns England als Beispiel hierfür dienen. Dort stiegen die staatlichen Ausgaben von 9 Prozent des Bruttosozialprodukts im Jahre 1890 auf 13 Prozent unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, bewegen sich dann, nach einer vorübergehenden Zunahme auf 52 Prozent im Jahre 1918, in den zwanziger und dreißiger Jahren mit leicht steigendem Trend zwischen 24 und 30 Prozent, erreichen im Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges, 1943, nicht weniger als 74 Prozent des Bruttosozialprodukts und liegen heute bei rund 35 Prozent. Auf Zahlen für andere Länder sei verzichtet; erwähnt sei nur noch die Schweiz, wo wir allerdings nur die Entwicklung der Bundesfinanzen verfolgen können, in denen auch die fortschreitende Zentralisation der staatlichen Aufgaben beim Bund zum Ausdruck kommt. 1913 machten die Ausgaben der Finanzrechnung des Bundes erst wenig mehr als 2 Prozent, 1938 rund 6 1/2, 1944 dann 18 und in den letzten Jahren rund 9 Prozent des Bruttosozialprodukts aus.

Schon Adolph Wagner hat sich natürlich bemüht, sein Entwicklungsgesetz auch zu begründen. Er fand diese Begründung darin, daß die europäischen Kulturstaaten aus der «staatsbürgerlichen Epoche» in eine «soziale Phase» der Entwicklung eingetreten seien. Dies wird dann im einzelnen weiter ausgeführt. Bevölkerungswachstum und wirtschaftliche Entwicklung machten vermehrte staatliche Ausgaben für Macht- und Rechtszwecke notwendig, während andererseits der Zivilisierungsprozeß steigende Anforderungen an den Staat hinsichtlich der Gemein- und Kulturbedürfnisse

stelle. Auch produktionstechnische und noch andere Gründe werden für das Steigen der Staatsausgaben ins Feld geführt. Natürlich enthalten diese Ausführungen manchen richtigen Gedanken. Weil aber von vornherein nicht klar definiert ist, was unter «Wachsen der staatlichen Ausgaben» zu verstehen sei, weiß man. schlußendlich nicht recht, was eigentlich erklärt werden sollte. Bei den Epigonen Wagners bleibt dies erst recht unklar und verschwommen.

Uns stellt sich, entsprechend unserer genaueren Fassung des Begriffs des Wachsens der staatlichen Ausgaben, die Aufgabe, das zur Zunahme des Bruttosozialproduktes überproportionale Wachsen dieser Ausgaben seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zu erklären. Es ist dies nicht ganz einfach.

Es läge nahe, hierfür in erster Linie die beiden Weltkriege mit der durch sie bewirkten sprunghaften Steigerung der Ausgaben verantwortlich zu machen. Ein exogener Faktor, wie die beiden Weltkriege, kann aber jedenfalls keine innere Gesetzmäßigkeit einer längeren Entwicklung begründen. Zudem hätten, wenn nur die beiden Weltkriege wirksam gewesen wären, die staatlichen Ausgaben nach den Kriegen wieder auf ihren ursprünglichen Stand fallen müssen, vermehrt nur etwa um die Verzinsung der im Kriege eingegangenen Schulden und einige andere Posten wie Kriegsinvaliden- und -hinterbliebenenrenten. Tatsächlich erklären diese unmittelbaren Kriegsfolgelasten das erhöhte Niveau der staatlichen Ausgaben nach den beiden Weltkriegen verglichen mit der Vorkriegszeit nur zum geringen Teil.

Verbreitet ist die Ansicht, daß die gesteigerten Rüstungsausgaben der entscheidende Faktor für die Aufblähung der öffentlichen Haushalte sei. In der Tat erfordert die moderne Kriegstechnik auch in Friedenszeiten einen ungeheuren, gegenüber früher stark gesteigerten Rüstungsaufwand: es ist ja nur an die 1914 praktisch noch nicht bestehende Luftwaffe sowie die Atom- und Wasserstoffbombe zu erinnern. Trotzdem ist die Annahme, es seien in erster Linie die Rüstungskosten, die ausgabensteigernd wirkten, in dieser allgemeinen Form nicht richtig. Zwar haben die Militärausgaben zugenommen, aber nicht so stark, wie man

glauben könnte. Nehmen wir die Schweiz. Mit 55 Millionen Franken machten die Ausgaben des Eidgenössischen Militärdepartementes 1913 rund 1,2 Prozent des damaligen Bruttosozialprodukts aus; 1938 waren es 2,3, 1964 zirka 2,6 Prozent. Daß aber die Zunahme hinter derjenigen der Gesamtausgaben zurückblieb, geht daraus hervor, daß der Anteil der Militärausgaben an den Gesamtausgaben des Bundes im Jahre 1913 noch etwa 50 Prozent betrug, während er heute nur noch rund 30 Prozent ausmacht. Nun sind die Militärausgaben in der Schweiz, verglichen mit denen anderer Länder, ja sehr niedrig. In Großstaaten mit einem hohen Rüstungspotential fallen sie für die staatlichen Ausgaben und deren stetes Steigen natürlich stärker ins Gewicht als bei uns. Immerhin verlieren sie auch dort langfristig eher an Bedeutung. Es fällt zwar etwas aus dem Rahmen unserer Betrachtungen, mag aber doch erwähnt werden, daß beispielsweise unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. die Militärausgaben rund 80 Prozent des preußischen Staatshaushaltes verschlangen und daß auch in England am Ende des 17. Jahrhunderts allein die Flotte 60 Prozent des staatlichen Budgets beanspruchte. Wieviel dies im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt war, läßt sich leider nicht ausmachen.

Entscheidend für das überproportionale Anwachsen der staatlichen Ausgaben seit den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts waren keineswegs in erster Linie die Militärausgaben, sondern es war die Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit auf den verschiedensten anderen, «zivilen» Gebieten, wie vor allem der Wandel vom liberalen Staat des 19. Jahrhunderts zum Sozialstaat unserer Tage mit seiner schließlich alle Klassen der Bevölkerung und alle Lebenslagen umfassenden Wohlfahrtspflege. Doch hilft uns auch diese etwas banale Feststellung nicht sehr viel weiter, sondern ist im Grunde nur die Feststellung dessen, was wir zu erklären haben.

Man mag bezweifeln, ob sich überhaupt eine innere Gesetzmäßigkeit des überproportionalen Anwachsens der staatlichen Ausgaben begründen läßt. Mir scheint, wenn und soweit dies möglich ist, daß die Begründung in der folgenden Richtung gesucht werden muß.

Die mit dem Wachstumsprozeß der Wirtschaft verbundene

Wohlstandssteigerung bewirkt eine Umstrukturierung der von der Volkswirtschaft zu befriedigenden Bedürfnisse. Die Nachfrage nach dem sogenannten Existenzbedarf, ausreichender Ernährung, Bekleidung und Behausung, nimmt relativ zum Einkommen ab, während die gehobene Nachfrage nach Sicherung und Förderung der Gesundheit, nach besserer Erziehung und Ausbildung der Kinder, nach eigener Bildung, Erholung, Reisen und anderen Kulturbedürfnissen zunimmt. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse tritt immer stärker in den Vordergrund. Dies gilt nicht nur für die einzelnen Familien, sondern, sobald einmal die Masseneinkommen eine gewisse Höhe überschreiten, auch für die gesamte Volkswirtschaft. Mitunter sind neue Bedürfnisse, wie beispielsweise vermehrte wissenschaftliche Forschung und die Aufwendungen hierfür, übrigens nicht nur die Folge, sondern zugleich auch eine der Vorbedingungen wirtschaftlichen Wachstums. Mit zunehmenden Einkommen wird aber auch ein wachsender Teil des Einkommens frei, der ohne Schmälerung des existenznotwendigen Bedarfs dem Staat zur Verfügung gestellt werden kann und den der Staat seinerseits für Kulturzwecke oder für die Hebung der Lebenshaltung der ärmeren Schichten der Bevölkerung verwenden kann. So wie der Wohlhabende progressiv höhere Steuern tragen kann als der Minderbemittelte, hat auch ein reiches Volk eine höhere sogenannte fiskalische Kapazität als ein armes. Es ist eine statistisch leicht zu erhärtende Tatsache, daß der Anteil der Steuereinnahmen der Staaten am Sozialprodukt als der Voraussetzung für entsprechende staatliche Ausgaben im internationalen Vergleich mit der Kopfquote des Sozialprodukts zunimmt. Viele wirtschaftlich rückständige Länder haben gewisse sozialpolitische Maßnahmen und Einrichtungen sicherlich so notwendig wie die wirtschaftlich fortgeschrittenen Staaten, aber sie können sich diese einfach nicht leisten, weil die fiskalische Kapazität der Bevölkerung hierfür zu gering ist.

Es ist jedoch zu beachten, daß die allgemeine Hebung des Wohlstands in den wirtschaftlich entwickelten Ländern wohl eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das überproportionale Wachsen der Staatsausgaben war. Man hat, nicht mit

Unrecht, eingewendet, daß die dank der Wohlstandssteigerung von der Deckung des Existenzbedarfs frei werdenden Einkommensteile ja an sich auch individuell zur Befriedigung gehobener Bedürfnisse verwendet werden könnten. Es sei daher noch immer zu begründen, weshalb die Befriedigung der im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung neu entstehenden oder sich ausdehnenden Bedürfnisse vom Staate übernommen worden sei.

Man hat hierfür Verschiedenes geltend gemacht. Einmal produktionstechnische Gründe. Gewisse Leistungen, wie etwa der durch die wirtschaftliche Entwicklung und die Bevölkerungszunahme notwendig gewordene Gewässerschutz, könnten praktisch überhaupt nur vom Staate realisiert werden. Oder: die mit der wirtschaftlichen Entwicklung zunehmende Größe der Produktionsaggregate übersteige mehr und mehr die Kräfte der Privatwirtschaft und erzwinge eine entsprechende Verlagerung der wirtschaftlichen Aktivität von der Privatwirtschaft zum Staate. Ferner wurde vorgebracht, daß sich bei einem großen Teil der Produktionsleistungen, die der Befriedigung der überproportional zum Volkseinkommen wachsenden, gehobenen Bedürfnisse dienten, das sogenannte Ausschlußprinzip nicht anwenden lasse, das die Vorbedingung marktwirtschaftlicher Produktion sei. Unter dem Ausschlußprinzip versteht man, daß, wer ein Gut oder eine Dienstleistung erwirbt, in den alleinigen Genuß dieses Gutes oder dieser Dienstleistung kommt und alle anderen davon ausschließen kann. Viele der neuen Dienstleistungen des Staates lassen sich aber ihrer Natur nach nicht auf bestimmte Käufer beschränken, sondern kommen automatisch weiten Kreisen zugute, ohne daß diese zur direkten Bezahlung herangezogen werden könnten —ein Argument, das im Kerne schon Adam Smith für staatlichen Schulunterricht geltend machte. Und schließlich wurde behauptet, daß die Arbeitsproduktivität der Bautätigkeit und Dienstleistungen, aus denen die staatliche Aktivität vorwiegend bestehe, langfristig weniger stark zugenommen habe als die Arbeitsproduktivität der übrigen Volkswirtschaft. Dies müsse bei einem gleichmäßigen Steigen aller Arbeitsverdienste zu einer überproportionalen Zunahme der staatlichen Ausgaben führen.

Es scheint mir aber fraglich, ob diese Hinweise die überproportionale Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit wirklich ausreichend begründen können. Ich glaube, daß hierfür zur Wohlstandssteigerung vor allem noch. der machtpolitische und der ideologische Faktor hinzutreten mußten. Die Demokratisierung der politischen Willensbildung ermöglichte es den minderbemittelten Schichten der Bevölkerung, ihre Interessen in steigendem Maße durchzusetzen. Der Appell an den Staat wurde anfänglich vor allem von diesen Schichten getragen, die nach dem Zerfall der vorindustriellen, ständischen Ordnung in der Industriegesellschaft, und in dieser mehr und mehr auch des Rückhaltes der Familie beraubt, die Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz gegenüber einem unübersehbaren und unkontrollierbaren Marktgeschehen nur noch beim Staate finden konnten. War die Entwicklung zum Sozialstaat einmal in Gang gekommen, so führte ihre Eigendynamik zur Ausdehnung auf immer neue Gebiete und neue Bevölkerungskreise. Stand der Liberalismus dem anfänglich ablehnend gegenüber, was den Beginn der von Wagner postulierten «socialen Phase» in den einzelnen Ländern mehr oder minder lange verzögerte, so setzte sich auf die Dauer auch im Liberalismus die von Anfang an in ihm vorhandene soziale Komponente immer stärker durch. Die dem individualistischen Liberalismus eigene Betonung der Würde des Menschen verlangte, jedem Einzelnen auch «menschenwürdige» Lebensbedingungen zu gewähren, und formte schließlich den Liberalismus manchesterlicher Prägung in den Sozialliberalismus unserer Tage um. Je höher der allgemeine Lebensstandard stieg, desto größer wurde aber auch, abseits von jeder politischen Ideologie, das rein gefühlsmäßige Unbehagen aller sozial empfindenden Menschen bei jeder Form von Armut und Not, die sich durch staatliche Maßnahmen beseitigen läßt. Es sei noch bemerkt, daß, wie zeitliche und internationale Vergleiche zeigen, mit dem Wachsen der Staatsausgaben auch der Anteil der eine Einkommensumschichtung bewirkenden sogenannten Transferausgaben —Unterstützungen und Subventionen — an den Staatsausgaben stark zunimmt. Diese Transfers sind die am stärksten überproportional zum Volkseinkommen

wachsende Komponente der Staatsausgaben. Oder anders formuliert: der reale öffentliche Aufwand hat nicht im gleichen Maße zugenommen wie die öffentlichen Ausgaben. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so hätten sich die staatlichen Ausgaben heute in manchen Ländern zu einer kaum mehr tragbaren Last entwickelt.

Hier muß ich nochmals auf die beiden Weltkriege und ihren Einfluß auf die staatlichen Ausgaben zu sprechen kommen. Ich zeigte, daß gerade die beiden Kriege zu einer sprunghaften Erhöhung des Niveaus der Staatsausgaben führten, von den eigentlichen Kriegsausgaben abgesehen. Man hat dies damit erklärt, daß der Staat die Bevölkerung für die ihr im Kriege unvermeidlicherweise auferlegten Opfer und Leiden nach dem Krieg durch erhöhte Sozialleistungen entschädigen müsse. Daran ist wohl etwas Wahres. So sei an die im Zweiten Weltkrieg vom Bundesrat der Landwirtschaft gegebene Zusage erinnert, man werde die Zurückhaltung der Landwirtschaft bei Preisforderungen während des Krieges mit einem umfassenden Agrarschutz nach dem Kriege honorieren. Dieses Versprechen hat nicht wenig zum Anwachsen der Bundessubventionen für die Landwirtschaft in den letzten zwanzig Jahren beigetragen.

In allgemeinerer Weise hat jedoch Peacock das nicht gleichmäßige, sondern ruckweise Anwachsen der öffentlichen Ausgaben zu erklären gesucht. Er wies darauf hin, daß die öffentliche Meinung in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Stabilität eine bestimmte Größenordnung der Steuern als «tragbar» betrachte. Ein Versuch, die Steuern darüber hinaus zu steigern, stoße auf unüberwindlichen politischen Widerstand. Dies verunmögliche die Verwirklichung bestimmter sozialer und sonstiger Ausgabenprojekte. Im Kriege würden dann unter dem Druck der Verhältnisse weit höhere Steuern hingenommen. Die Gewöhnung hieran gestatte es, auch nach dem Krieg ein höheres Steuerniveau als vorher beizubehalten und die schon vor dem Krieg in der Luft liegenden Projekte zu realisieren. Auch würde durch den Krieg das Augenmerk auf Mißstände gelenkt, deren man sich vorher nicht bewußt gewesen sei und die nun dank dem erhöhten Steuerniveau ebenfalls behoben werden könnten. Der Krieg wirkt somit gewissermaßen

als Katalysator sozialen Fortschritts. In der Folge steht einer weiteren Erhöhung der Ausgaben wiederum der Steuerwiderstand der öffentlichen Meinung entgegen. Diese Ausführungen Peacocks beziehen sich natürlich unmittelbar auf England, können aber wohl auch allgemeinere Beachtung beanspruchen.

3.

Noch haben wir zwei Fragen kurz zu erörtern. Wie wirkt sich die staatliche Aktivität auf das Wirtschaftswachstum aus, und ist auch in Zukunft mit einer weiteren, überproportionalen Zunahme der öffentlichen Ausgaben zu rechnen?

Enthalten Jean Baptiste Says Behauptung, was der Staat verbrauche, sei «perdu pour tout le monde», oder David Ricardos These, daß «as taxation proceeds, or as government increases its expenditure, the annual enjoyments of the people must be diminished », nicht einen richtigen Kern? Seit den dreißiger Jahren dürfte es allgemein anerkannt sein, daß eine Ausdehnung der staatlichen Aktivität in Zeiten wirtschaftlicher Depression befruchtend auf die Wirtschaft wirken und die überwindung der Depression erleichtern kann. Muß aber die Keynessche Short-run-Analyse nicht als die Analyse eines Sonderfalles betrachtet werden, die die langfristig gedachte, pessimistische Beurteilung der staatlichen Tätigkeit durch die Klassiker keineswegs ungültig macht?

Ob man von einem Gesetz des Wachsens der Staatsausgaben sprechen will oder nicht: die Tatsache dieses Wachsens als empirische Erscheinung der letzten 80 oder 90 Jahre ist unbestritten. Die, langfristig gesehen, sehr hohen Wachstumsraten der spätkapitalistischen Wirtschaften, die trotz diesem Prozeß der steten Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit erzielt wurden, lassen den Pessimismus Ricardos kaum als berechtigt erscheinen. Trotz den steten Klagen über die Höhe der Steuern kann doch ein Nachlassen der Unternehmertätigkeit als Motiv der wirtschaftlichen Entwicklung, ein Erlahmen des Leistungswillens oder der Risikobereitschaft der Unternehmer nicht beobachtet werden. Oder sollte der Schein so sehr trügen?

Was die staatlichen Ausgaben betrifft, so ist nochmals die Änderung ihrer Struktur zu betonen. Gerade wegen des Rückzuges des Staates aus der merkantilistischen Betriebsamkeit auf wirtschaftlichem Gebiete wurden die Staatsausgaben im 19. Jahrhundert zu reinem Verbrauch und können die damaligen Leistungen des Staates höchstens als Vorbedingungen für den reibungslosen Ablauf des Wirtschaftsprozesses angesehen werden, wofür man durchaus zweckmäßigerweise so wenig ausgab wie möglich. Aber der moderne Staat wendet neben diesem nach wie vor unerläßlichen Verbrauch für «justice, police and arms» einen wesentlichen Teil seiner Mittel für die eigentliche Pflege und Förderung der Wirtschaft auf. Produktivität kann diesen Ausgaben nicht abgesprochen werden. Die staatlichen Investitionen — es sei nur an die vielen Milliarden für den Straßenbau erinnert —sind grundsätzlich genau so wachstumsnotwendig wie die privaten Investitionen. Daß die wirtschaftliche Effizienz jener geringer ist als die wirtschaftliche Effizienz dieser, müßte erst noch bewiesen werden. Problematischer ist die Wirkung der Transferausgaben auf das Wirtschaftswachstum. Wenn, wie dies wohl der Fall ist, die marginale Sparquote mit wachsendem Einkommen zunimmt, muß eine Abschwächung der vertikalen Einkommensunterschiede ceteris paribus die volkswirtschaftliche Ersparnisbildung verringern. Doch dürfte diesem Effekt die Ausdehnung des institutionellen Sparens entgegenwirken. Anders, was die Subventionen betrifft. Da sie zu einem erheblichen Teil der Erhaltung und dem Schutze von Wirtschaftszweigen und Unternehmungen dienen, die sich im freien Wettbewerb nicht selber behaupten könnten, verhindern sie die optimale Ausnützung aller Produktivkräfte und wirken wachstumshemmend. Da ich hier nur die Wirkung der staatlichen Ausgaben auf das Wirtschaftswachstum im Auge habe, lasse ich die Frage offen, ob nicht metaökonomische Gründe den Schutz der betreffenden Wirtschaftszweige und Unternehmungen rechtfertigen.

Kann ich die bisherige Entwicklung nicht so kritisch werten wie manche Nationalökonomen und Soziologen, so sollen doch deren Befürchtungen nicht verschwiegen werden. Durch eine

weitere, fortgesetzte Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit würde sich der Spielraum der privatwirtsohaftlichen Aktivität immer mehr verengern, könnten vermehrte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Spannungen entstehen und würde letzten Endes die bestehende Wirtschaftsordnung, die wir trotz ihren Mängeln um ihrer ideellen Werte zu bewahren wünschen, aus den Angeln gehoben. Es ist über all dies schon genügend geredet und geschrieben worden, als daß ich lange Ausführungen dazu machen müßte.

Aber ist ein solches weiteres Überhandnehmen der staatlichen Aktivität zu erwarten? Die Meinungen hierüber gehen auseinander.

J. K. Galbraith bat in seinem bekannten Buch «The Affluent Society» die These vertreten, daß infolge der vor allem durch überbordende Reklame künstlich geweckten Bedürfnisse nach privatwirtschaftlich erzeugten Gütern heute ein Ungleichgewicht zwischen privater Produktion und der Erfüllung öffentlicher Aufgaben bestehe. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, fordert er eine absolute und relative Ausdehnung der öffentlichen Leistungen. Ich will nicht weiter auf seine zum Teil geistreichen, zum Teil etwas seltsamen und kaum zulänglich begründeten Argumente eingehen. Ich habe Galbraith nur erwähnt, weil er eine Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit nicht nur erwartet, sondern erhofft, ohne, wie mir scheinen will, die letzten Konsequenzen genügend zu bedenken. Aber auch andere, die eine weitere Ausdehnung der staatlichen Aktivität nicht begrüßen, glauben sie doch voraussehen zu müssen. So hat man darauf hingewiesen, daß die mit der ganzen sozialökonomischen Entwicklung zusammenhängende Isolierung der Individuen in einer vermaßten Gesellschaft, die Lockerung der Familienbande und sonstigen sozialen Bindungen weitere Fortschritte machen werde und als Gegengewicht hierzu die Schaffung neuer und die Erweiterung bestehender Sozialdienste unerläßlich sein werde. Hiergegen läßt sich einwenden, daß eine dadurch bewirkte Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit bei gleichzeitiger Zunahme des Sozialprodukts keine Vergrößerung des Anteils des Staates hieran bedeuten muß. Auch ist geltend gemacht worden, daß sich bei weiterhin

steigendem Wohlstand gewisse Sozialleistungen erübrigen würden. Manche dieser Leistungen sind auf die einkommensmäßig schwachen Klassen der Bevölkerung beschränkt, so daß bei zunehmendem Einkommen aller Bevölkerungsschichten der Kreis der Empfänger kleiner werden sollte. Bisher ist hiervon allerdings nicht viel zu sehen.

Wie dem auch sei —betrachten wir Wagners «Gesetz der wachsenden Staatsausgaben» als die Formulierung einer in den letzten 80 Jahren unter ganz bestimmten Bedingungen beobachteten Entwicklung und nicht als ein zeitlich unbeschränkt gültiges Naturgesetz, so bleibt die Frage nach dem weiteren Verlauf der Dinge offen.