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Bevölkerungszahlen in Vergangenheit und Zukunft

1.

Im siebten Buch seines großen Geschichtswerkes berichtet Herodot, daß die gewaltige Streitmacht, die Xerxes im Jahre 480 vor Christi Geburt zu Wasser und zu Lande nach Artemisium und an die Thermopylen führte, 2641 610 Mann gezählt habe, gefolgt von einem ebenso zahlreichen Troß, so daß sich das ganze Aufgebot auf 5283220 Köpfe belaufen habe. An anderer Stelle wird. angegeben, daß allein das Landheer, das der Großkönig aus Asien herüberbrachte, 1700000 Mann stark war. In ganz amüsanter Weise wird geschildert, wie diese riesige Masse gezählt worden sei. Man habe auf einem Platz 10000 Mann eng geschart aufgestellt, den Platz dann umzäunt, entleert und immer wieder neue Zehntausend in den Zaun hineingetrieben, bis das ganze Heer gezählt war.

Es braucht nicht lange bewiesen zu werden, daß die Zahlen Herodots trotz ihrer scheinbaren Genauigkeit, die durch ebenso genaue Angaben über die Stärke einzelner Kontingente noch untermauert wird, den Bewegungs- und Verpflegungsmöglichkeiten eines Heeres unter den technischen und wirtschaftlichen Bedingungen der Zeit keine Rechnung tragen und völlig unmöglich sind. Sie sind denn auch längst fallen gelassen worden zugunsten der auf verschiedenen Erwägungen beruhenden Annahme, daß das persische Heer mit Einschluß der Flotte wohl rund 100000 Mann stark war.

Die Erzählung Herodots bildet gewissermaßen den Auftakt con furore zu zahlreichen anderen, ebenso unhaltbaren Zahlen antiker

Schriftsteller über die Stärke feindlicher Heere. Man muß sich darüber klar sein, welcher Natur die erhaltene Literatur des Altertums größtenteils ist. Die meisten Autoren können sich keinerlei Vorstellung davon machen, was auch nur 100000, geschweige denn 1 Million Menschen sind, und welche Probleme derart große Heeresmassen stellen. Auch gehen ihnen die Farbigkeit der Darstellung und der Wunsch, die Vergangenheit zu idealisieren, über die geschichtliche Wahrheit. Je besser man das historische Pathos handhabt — wie etwa der Märchenerzähler Livius —, desto weniger kümmert man sich darum, «wie es wirklich gewesen ist». Je größer das feindliche Heer, desto glorreicher der Sieg. Nur wenige Schriftsteller wie etwa Polybios, der durch Ausmessung des Schlachtfeldes von Issos die Stärke des persischen Heeres zu berechnen suchte, sind Männer der Praxis und haben den Willen zur Erforschung der Wahrheit. Selbst ein Offizier wie Xenophon kann zwar noch 1000 Mann von 10000 unterscheiden, aber mit sechsstelligen Zahlen verbindet auch er. keine lebendige Anschauung mehr. Tritt ihm ein überraschend starkes Heer entgegen, so werden in ihm populäre Überlieferungen übermächtig, und schon beziffert er den Feind auf eine halbe Million Mann. Auch späterhin hören gerade die übertriebenen Angaben über die Stärke asiatischer Heere bis in die spätrömische Zeit hinein nicht auf. Im Gegenteil: je weiter die Schlacht oder der Feldzug zurückliegen, desto hemmungsloser verfährt man 1.

Doch fehlt es auch sonst nicht an phantastischen Zahlen über die Bevölkerung bestimmter Gebiete und Städte. Auch sie werden immer unmöglicher, je weiter die Zeit zurückliegt, für die sie angeblich gelten. Hierher gehören die sagenhaften Angaben über die Zahl der Israeliten kurz nach dem Auszug aus Ägypten 2, und die uns überlieferten Ergebnisse der Volkszählung König Davids, wonach in Israel 800000 und in Juda 5000000 waffentragende

Männer gezählt wurden 1, was einer Gesamtbevölkerung von rund 4,5 Millionen entsprochen hätte —eine wirtschaftliche Unmöglichkeit. Nach Diodor soll — um noch ein paar Beispiele zu geben — Sybaris in seiner Blütezeit ein Heer von 300000 freien Bürgern ins Feld gestellt haben, während Agrigent bei seiner Zerstörung durch die Karthager 20000 Bürger und 200000 Niedergelassene gezählt habe. Das ergäbe mit Frauen, Kindern und Sklaven für beide Städte eine Einwohnerzahl in der Größenordnung einer Million! Gelegentlich beruhen die uns überlieferten Zahlen (deren Verderbnis ja in der Regel viel schwerer zu erkennen ist als die eines Textes) auch auf Mißverständnissen und Abschreibfehlern. Wenn es beispielsweise nach einem späteren Historiker, Athenäos, in Athen 400000, in Korinth 460000 und in Aegina 470000 Sklaven gegeben haben soll, so wurden bei diesen Angaben vermutlich irgendwann einmal das griechische Zahlzeichen μ' für 40 und die Zahl μνςιοι = 10000 durcheinander gebracht.

Die aufgebauschten Heeres- und Bevölkerungszahlen der großen Mehrheit der antiken Schriftsteller sind über die Jahrhunderte hinweg fast kritiklos hingenommen worden. Die Bevölkerungsgröße vergangener Zeiten wurde in ihrer Gesamtheit weit überschätzt, und es wurde daher an eine stete Entvölkerung der Erde geglaubt. Diese These findet sich schon bei den über die Verfallserscheinungen der Gegenwart jammernden Rhetorikern und Literaten der frühen Kaiserzeit. So spricht schon Diodor unter Augustus von der Verödung der Gegenwart und vergleicht diese mit der —ach! — so schönen und volkreichen Zeit der Königin Semiramis. Und Plutarch meint rund 100 Jahre später, ganz Griechenland könne nicht mehr so viele Männer ins Feld stellen wie eine einzige mittlere Stadt im fünften Jahrhundert vor Christi Geburt. Von allem, was vorgefaßten Meinungen dieser Art widersprach, nahm man einfach keine Notiz. Schon damals zeigt sich die uns auch später wieder entgegentretende Neigung, die sittlichen Zustände der Zeit mit der Bevölkerungsentwicklung in Zusammenhang zu bringen und auf Grund falscher Zahlen über die Bevölkerungsentwicklung in der Vergangenheit

fragwürdige Prognosen für die Zukunft zu stellen. Denn wohin wird dies alles führen? meinen die Genannten. Letzten Endes zum Aussterben der Menschheit.

Auch nach der Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance hielt man an den von den griechischen und römischen Schriftstellern überlieferten Zahlen zunächst kritiklos fest. Und noch im 17. und 18. Jahrhundert war die Ansicht weit verbreitet, daß die Bevölkerung der alten Welt viel größer gewesen sei als die der Gegenwart. So vergleicht, um ein allerdings extremes Beispiel zu nennen, Montesquieu in den «Persischen Briefen» den wirtschaftlichen Zustand einer Reihe von Ländern zu seiner Zeit und in der Vergangenheit, stellt fast überall eine Entvölkerung fest und kommt zu dem Ergebnis, daß es auf der ganzen Erde nur noch den zehnten Teil der Menschen gebe, die sie im Altertum bewohnt hätten 1. Aber auch der bedeutendste Bevölkerungsstatistiker des 18. Jahrhunderts, Johann Peter Süssmilch, der es eigentlich hätte besser wissen können, nimmt in seiner «Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts» 2 die vorhin erwähnten Zahlen von Athenäos für bare Münze und fügt der überlieferung noch ein Kabinettstück bei, indem er aus Jonas 4, wo es heißt, in Ninive seien mehr als 120000 Menschen, die nicht wüßten, was links und rechts sei, folgert, die Stadt müsse mehr als eine Million Einwohner gehabt haben, da es sich bei den besagten 120000 nur um die Kinder unter vier Jahren handeln könne.

Der erste, der die für die Antike überlieferten Bevölkerungszahlen einer scharfsinnigen Kritik unterzog, war David Hume in seinem noch heute lesenswerten Essay «On the Populousness of Ancient Nations», erschienen 1752. Doch drang seine Kritik keineswegs rasch durch. Wenn man mit der Zeit auch mehr und mehr Fragezeichen hinter die ausgefallensten Zahlen wie hinter die traditionelle Sagengeschichte der Frühzeit des klassischen Altertums setzte, so blieb man doch den Angaben der antiken Schriftsteller alles in allem noch lange mehr als billig verhaftet.

Erst Beloch 1 und Delbrück 2 haben vor allem mit den Vorstellungen über die enorme Zahl der Sklaven im Altertum und die Stärke antiker Heere gründlich aufgeräumt und an die Stelle der Ueberlieferung oder eines vagen Agnostizismus eine rationale, sich auf unsere Kenntnis der ökonomischen Verhältnisse der Zeit stützende Betrachtungsweise gesetzt. Ihre Methode blieb nicht unangefochten, doch werden ihre Ergebnisse heute wenigstens von der Bevölkerungswissenschaft grundsätzlich anerkannt, wenn natürlich auch die eine oder andere ihrer Zahlen der Korrektur bedurfte.

Zu Beginn unserer christlichen Zeitrechnung dürfte das Römische Reich gegen 60 Millionen Einwohner gezählt haben, während zu Montesquieus Zeit im gleichen Gebiet etwa 100 Millionen Menschen gelebt haben. Die gesamte Erdbevölkerung zur Zeit von Christi Geburt wird auf 250 bis 300 und für 1750 auf 700 Millionen geschätzt. Von einer Entvölkerung der Erde in den dazwischen liegenden Jahrhunderten kann also nicht die Rede sein, wenn sich das Bevölkerungswachstum auch nur sehr langsam und unter starken Schwankungen, verursacht durch den Zerfall der griechisch-römischen Kultur, die großen Pesten des Mittelalters und die Mongoleneinfälle in Asien, vollzogen hat.

In den letzten rund 200 Jahren hat sich die Zunahme der Erdbevölkerung dauernd beschleunigt. Vorübergehende, gewaltige Rückschläge, wie die genannten Ereignisse sie bewirkten, sind nicht mehr eingetreten. Für 1850 wird die Erdbevölkerung auf rund 1,1 Milliarden geschätzt, und für 1950 werden 2,4 Milliarden angegeben, was Wachstumsraten von rund 5 bzw. 8 Promille jährlich entspricht. Seither hat sich das Tempo der Bevölkerungsvermehrung nochmals gesteigert. Gegen Ende des vorigen Jahres zählte die Erdbevölkerung bereits gegen 3,4 Milliarden, was einer jährlichen Zunahme seit 1950 um gut 2 Prozent gleichkommt. Ein weiteres rapides Anschwellen der

Bevölkerungszahlen vor allem in den Entwicklungsländern wird allgemein erwartet. «Bevölkerungsexplosion» und «Welthungersnot» sind zu Schlagworten geworden.

2.

Das Prophezeien ist eine alte Liebhaberei des Menschen. Die einen tun es aus dem Kaffeesatz, die anderen wenden hochwissenschaftliche Methoden an, wobei sich der Skeptiker fragen mag, ob die Resultate bei diesem Vorgehen so viel besser sind als bei jenem. Wie dem auch auf anderen Gebieten sei, die Bevölkerungswissenschafter scheinen die seltene Gabe zu besitzen, sich, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, bei ihren Voraussagen immer zu irren. Die Geschichte der Bevölkerungsprognosen ist eine Geschichte der Irrtümer, was eine gewisse Zurückhaltung auch gegenüber den heutigen Propheten nahelegt.

Schon die sogenannten Politischen Arithmetiker, die am Ende des 17. Jahrhunderts mit der Sammlung von Angaben über die natürliche Bevölkerungsbewegung die Grundsteine der modernen Bevölkerungsstatistik legten, haben sich der «Torheit des Weissagens» (um mit Jacob Burckhardt zu sprechen) nicht enthalten können. So glaubte z. B. Gregory King 1 1696 auf Grund sehr problematischer Zahlen aus der Vergangenheit, daß England, dessen Bevölkerung er für seine Zeit auf 3,5 Millionen veranschlagte, im Jahre 1900 7350000, zweihundert Jahre später 9205000 und nochmals zweihundert Jahre später — also anno 2300 — 11000000 Einwohner haben werde. Die Richtigkeit der Prognose für die beiden letztgenannten Jahre mag dahingestellt bleiben; für 1900 hat King jedenfalls viel zu tief gegriffen, weil er eben von dem bisherigen langsamen Wachstum der Bevölkerung ausging und dieses in die Zukunft projizierte. Eine Bevölkerungszunahme, wie sie vom 18. Jahrhundert an einsetzte, muß ihm ganz unwahrscheinlich vorgekommen sein. Ein anderer Politischer Arithmetiker, John Graunt, versuchte schon 1662

nachzuweisen, daß das Wachstum Londons in Bälde zu Ende kommen müsse 1. Ähnliche Fehlurteile finden sich auch noch bei anderen. Am pessimistischsten war Montesquieu. Seine Ansicht, daß die Erdbevölkerung im Altertum zehnmal so groß gewesen sei wie in der Gegenwart, führt ihn zum Schlusse, daß, wenn die Entwicklung so weiter gehe, die Erde in zwei Jahrhunderten eine Einöde sein werde. «Voilà, mon cher Usbeck, la plus terrible catastrophe qui soit jamais arrivée dans le monde». Eine dichterische Vision —gewiß; aber sie blieb doch nicht ohne Eindruck auf die Zeitgenossen. Auch die Klagen des Viviser Pfarrherrn Jean-Louis Muret 2 über die Entvölkerung der Waadt, 1766, und Isaak Iselins «Freymühtige Gedancken über die Entvölckerung unserer Vatterstadt» 3 sind von der verbreiteten Vorstellung eines allgemeinen Bevölkerungsschwundes beeinflußt.

War das 18. Jahrhundert pessimistisch in dem Sinne, daß es das künftige Bevölkerungswachstum unterschätzte, so schlugen die Ansichten nach 1800 um, und führte die nun deutlich sichtbar werdende Beschleunigung der Bevölkerungszunahme zu einer Überschätzung der weiteren Entwicklung. Sie verband sich vielfach mit einer Übervölkerungsfurcht, die von der Malthusschen Theorie genährt wurde, daß die Bevölkerung stets danach trachte, in geometrischer Progression zu wachsen, und so ständig an die Dämme des sich nur in arithmetischer Progression erweiternden Nahrungsspielraums brande.

Namentlich in den Vereinigten Staaten, deren Bevölkerung sich in den ersten hundert Jahren nach der Gründung der Union ziemlich genau alle 25 Jahre verdoppelte, war der Glaube an eine — jedenfalls auf lange hinaus —unbegrenzte Fortdauer dieser Wachstumsrate allgemein und führte zu phantastischen Voraussagen. So errechnete beispielsweise Francis Bonynge in einem Buche «The Future Wealth of America» 1852 für das Jahr 2000 eine Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten von 703 Millionen —eine Schätzung, die uns heute nicht gerade sehr plausibel scheint. In

einer Botschaft an den Kongreß vom Jahre 1862 schätzte Abraham Lincoln die Bevölkerung der Vereinigten Staaten für 1900 auf 102 und für 1925 auf 217 Millionen 1. In Wirklichkeit waren es dann 76 bzw. 115 Millionen — 1925 also nicht viel mehr als halb so viele wie vorausgesagt. Später wurde die diesen und anderen ähnlichen Berechnungen zugrunde liegende Malthussche Annahme einer konstanten geometrischen Progression der Bevölkerungsentwicklung fallen gelassen. Einer der ersten, der davon abging, war Pritchett, der auf Grund eingehender Untersuchungen der Bevölkerungsentwicklung in den Vereinigten Staaten von 1790 bis 1880 fand, daß sich diese Entwicklung recht gut durch ein Polynom dritten Grades P =a+bt+ct 2 +dt 3 wiedergeben ließ. Obwohl Pritchett diese Funktion rein empirisch gefunden hatte und keine Erklärung dafür wußte, warum das Bevölkerungswachstum gerade so und nicht anders verlaufen war, war sein Glaube an seine Formel so groß, daß er mit ihrer Hilfe die Entwicklung der Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten für ein ganzes Jahrtausend voraussagen zu können glaubte 2. Natürlich stimmen seine Vorausschätzungen längst nicht mehr, und ob die Vereinigten Staaten im Jahre 2900 wirklich 41 Milliarden Einwohner zählen werden, ist eine müßige Frage. Mir scheint, daß wir uns darüber heute nicht den Kopf zu zerbrechen brauchen.

Die Kritik an der Malthusschen Bevölkerungstheorie führte zu einer schon 1838 von dem Belgier Verhulst aufgestellten und 1920 von den Amerikanern Pearl und Reed selbständig weiter entwickelten Wachstumstheorie, die gleichfalls für Prognosezwecke Verwendung fand. Peari und Reed glaubten, für alle Arten organischer Wachstumserscheinungen ein bestimmtes Gesetz aufstellen zu können. Dieses Wachstum soll sich nämlich in der Form der sogenannten logistischen Kurve vollziehen. Die logistische Kurve steigt, wenn wir den Zeitverlauf auf der Abszisse

und die Bevölkerung auf der Ordinate eines gewöhnlichen Koordinatensystems abtragen, zuerst langsam an. Dann wird sie steiler, d.h. der Wachstumsprozeß beschleunigt sich. Von einem bestimmten Punkte an verflacht sich die Kurve wieder, und schließlich strebt sie asymptotisch einer Obergrenze zu.

Die Haltbarkeit des skizzierten Wachstumsgesetzes für kleine Lebewesen, für die es zuerst aufgestellt wurde, und die Frage der Zulässigkeit der Übertragung eines solchen Gesetzes auf ganze Bevölkerungen sollen hier nicht näher geprüft werden. Für die Aufstellung langfristiger Bevölkerungsprognosen bietet die logistische Kurve gegenüber der Annahme einer linearen oder einfachen exponentiellen Funktion den Vorteil, daß die Bevölkerung nicht schließlich unendlich groß wird. Nachteilig ist, daß sich zu gegebenen Zahlen ohne große Mühe mehrere Funktionen finden lassen, wenn man es mit der Güte der Anpassung nicht allzu genau nimmt und es sich gestattet, dasjenige Jahr als Ausgangsbasis der Berechnungen zu wählen, das die besten Resultate ergibt. Die ersten Vorausschätzungen, die Pearl und Reed auf Grund der amerikanischen Volkszählungen von 1790 bis 1910 für die Jahre 1920 und 1930 vornahmen, erwiesen sich in der Folge als zutreffend. 1940 blieb die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung aber beträchtlich hinter der erwarteten zurück, was Peari und Reed zu einer Korrektur ihrer Prognose veranlaßte. Dennoch hat das Bevölkerungswachstum in den Vereinigten Staaten den Genannten von da an erst recht nicht mehr den Gefallen getan, sich ihren Voraussagen anzupassen, sondern ist diesen stark vorausgeeilt. Die Prognose Pearls und Reeds für 1966 von rund 158 Millionen liegt fast 40 Millionen tiefer als der tatsächliche Bevölkerungsstand 1. Auch Versuche, die in anderen Ländern unternommen wurden, deren Bevölkerungsentwicklung auf Grund einer logistischen Kurve vorauszusagen, schlugen fehl. Meines Wissens wird diese Funktion heute nirgends mehr für Bevölkerungsprognosen verwendet.

Anders als die amerikanischen betrachteten die europäischen Demographen und Nationalökonomen das rasche Bevölkerungswachstum im 19. Jahrhundert eher pessimistisch. Obwohl sich der Lebensstandard der europäischen Industrievölker von der Mitte des Jahrhunderts an sichtlich hob, d.h. anders als von Malthus vorausgesagt, die Subsistenzmittel schneller zunahmen als die Bevölkerung, hielt die Übervölkerungsfurcht an. Nicht nur von Sozialisten, sondern auch von nichtsozialistischen Sozialreformern wurde daher die freiwillige Geburtenbeschränkung als ein Mittel zur Hebung der Lebenshaltung aller Schichten der Bevölkerung und zur Behebung sozialer Mißstände propagiert. Der sogenannte Neomalthusianismus breitete sich aus. Bevölkerungsprognosen wurden in ähnlicher Weise, wie ich es für die Vereinigten Staaten geschildert habe, durch Trendextrapolation vorgenommen, und die hohen Werte, zu denen dies führte, dienten als Argument für die Notwendigkeit einer Geburtenkontrolle.

Noch nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Nachkriegsdepression und ihre nur langsame Überwindung in weiten Kreisen einer angeblichen Übervölkerung zugeschrieben. Auch in den Vereinigten Staaten und in anderen überseeischen Ländern breitete sich jetzt diese pessimistische Einstellung gegenüber dem Bevölkerungswachstum aus und führte mitunter zu geradezu absurden Vorschlägen zu dessen Eindämmung. Als aber mit dem Ausbruch der großen Wirtschaftskrise die Heirats- und Geburtenziffern rapide fielen, wurde die Übervölkerungsfurcht mehr und mehr vom Gespenst eines drohenden Bevölkerungsrückganges und seinen angeblich katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Folgen verdrängt.

Die Furcht vor einer rückläufigen Entwicklung der Bevölkerung wurde durch das Aufkommen einer neuen Methode der Bevölkerungsprognose genährt, die man als die biometrische Methode der Bevölkerungsvorausschätzung bezeichnen kann. Sie beruht im Gegensatz zu der bis dahin üblichen Extrapolation der Entwicklung der Gesamtbevölkerung in der Vergangenheit gemäß mehr oder weniger komplizierten mathematischen Formeln auf einer Fortschreibung der Bevölkerung nach einzelnen

Altersjahren auf Grund des ständigen Alterns der Bevölkerung sowie altersspezifischer Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsziffern. Sie trägt so allen Veränderungen Rechnung, die in der Zahl der Geburten und Sterbefälle bei gleichbleibenden altersspezifischen Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsziffern allein schon durch eine Altersumschichtung der Bevölkerung entstehen. Es werden aber auch die mutmaßlichen Veränderungen der altersspezifischen Fruchtbarkeits- und Sterbeziffern während der Periode der Voraussage mittels Extrapolation ihrer bisherigen Entwicklung in Anschlag gebracht. Voraussetzung für die Anwendung der Methode ist natürlich die Kenntnis der altersspezifischen Fruchtbarkeit und Sterblichkeit über eine Reihe von Jahren. Altersspezifische Sterbeziffern gehören zum ältesten Gut der Bevölkerungsstatistik; altersspezifische Fruchtbarkeitsziffern, welche die laufende Ermittlung des nach dem Alter gegliederten Bestandes an gebärfähigen Frauen sowie des Alters der Mütter bei der Geburt ihrer Kinder erfordern, sind fast überall erst neueren Datums; wir besitzen sie beispielsweise in der Schweiz erst seit 1932, und auch heute noch nur in unvollkommener Form. — Wanderungen werden bei der biometrischen Methode der Bevölkerungsvorausberechnung gewöhnlich nicht berücksichtigt, doch lassen sich irgendwelche diesbezüglichen Annahmen jederzeit in die Prognose einbauen.

Die auf Grund der skizzierten Methode überall vorgenommenen Bevölkerungsvorausberechnungen zeigten nun in fast allen europäischen Industriestaaten, daß die damals noch vorhandenen effektiven Geburtenüberschüsse nur auf einer außergewöhnlich günstigen Altersgliederung der Bevölkerung beruhten und daß es selbst bei unverändertem Fortbestand der augenblicklichen altersspezifischen Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsziffern in absehbarer Zeit zu einer Bevölkerungsabnahme kommen müsse. Mit anderen Worten: der vom augenblicklichen Altersaufbau einer Bevölkerung unabhängige Reproduktionskoeffizient, der uns angibt, wie viele Mädchen eine Frau während ihres Lebens durchschnittlich zur Welt bringt, lag bereits unter 1, und die «wahre» Wachstumsrate der Bevölkerung, die sich bei unbegrenzter

Fortdauer gegebener Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsverhältnisse schließlich ergibt, war bereits negativ. Nahm man zudem an, daß sich der bis dahin beobachtete Fruchtbarkeitsrückgang fortsetzen würde, so rückte der Zeitpunkt des Beginns der Bevölkerungsabnahme in nächste Nähe. Für die übrigen europäischen Länder, Nordamerika und Australien ergab sich zum mindesten eine starke Verzögerung des Bevölkerungswachstums.

Nicht ohne Stolz schrieb 1946 die amerikanische Bevölkerungsstatistikerin Irene Taeuber 1 im Hinblick auf die moderne Bevölkerungsprognose: «With improved data and new techniques... demography tended to become science rather than literature» — Wissenschaft eher als Literatur. In der Tat: es schien, daß die Bevölkerungsstatistiker ihr Handwerk gelernt hatten.

Es hat ihnen nichts genützt. Eine noch im Auftrag des Völkerbundes von Notestein in Zusammenarbeit mit anderen Demographen 2 verfaßte, 1946 veröffentlichte umfassende Prognose der Entwicklung der Bevölkerung Europas und der Sowjetunion, wonach die europäische Bevölkerung um 1960 mit 421 Millionen ihr Maximum erreichen und von da an allmählich abnehmen werde, hat sich längst als ebenso irrig erwiesen wie andere Prophezeiungen der dreißiger Jahre, und zwar nicht nur etwa infolge des Krieges. Ich möchte mich von der damaligen Fehlbeurteilung der voraussichtlichen Bevölkerungsentwicklung nicht ausnehmen! ln einem 1938 veröffentlichten Aufsatz berechnete ich, daß bei der zu befürchtenden Fortdauer der augenblicklichen rückläufigen Fruchtbarkeitsentwicklung und ohne Einwanderung aus dem Ausland die schweizerische Bevölkerung nur noch bis zu einem Maximum von 4,2 Millionen Mitte der vierziger Jahre zunehmen und von da an langsam absinken werde. Zu dem fast gleichen Ergebnis kam kurz darauf auch das Eidgenössische Statistische Amt.

Aber während alle ernsthaften Statistiker stets die Prämissen ihrer Berechnungen — Fortdauer der augenblicklichen Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsentwicklung —und damit die Bedingtheit ihrer Prognosen betonten, diese auf eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne beschränkten und die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der prognostizierten Entwicklung möglichst objektiv abzuwägen suchten, waren andere Propheten auch bei uns nur allzu geneigt, die Voraussetzungen der Prognosen nach kurzer Erwähnung wieder zu vergessen, einen baldigen Bevölkerungsrückgang als eine feststehende Tatsache hinzustellen, die Prognosen ungebührlich weit in die Zukunft auszudehnen und die angeblichen Folgen einer Bevölkerungsabnahme in den dunkelsten Farben an die Wand zu malen. Auch an bedauerlichen Entgleisungen gegenüber Skeptikern hat es nicht gefehlt.

In zahlreichen europäischen Staaten wurden Maßnahmen zur Geburtenförderung ergriffen, vor allem natürlich in Deutschland und Italien, aber auch in demokratischen Ländern.

3.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schlug das Pendel wieder um. Bis zum Kriege hatten die Bevölkerungswissenschafter der Bevölkerungsentwicklung in den unterentwickelten Ländern nur wenig Interesse entgegengebracht. Dies erklärt sich aus der langfristigen Gleichmäßigkeit der Entwicklung. Bei hoher Fruchtbarkeit und Sterblichkeit nahm die Bevölkerung in den Ländern außerhalb des nordamerikanisch-europäischen Kulturkreises im allgemeinen jährlich um rund 1 Prozent zu. Bald nach dem Kriege fiel aber die Sterblichkeit in vielen dieser Länder infolge der von der Weltgesundheitsorganisation angebahnten, erfolgreichen Bekämpfung zahlreicher Todesursachen und Krankheiten jäh ab, so daß die Geburtenüberschüsse auf zwei bis drei Prozent jährlich stiegen und sich auch das Bevölkerungswachstum stark beschleunigte. Aber auch in den meisten europäischen Ländern ging einerseits die Sterblichkeit noch immer weiter zurück und änderte

anderseits die Geburtenkurve ganz unerwartet ihre bisherige Richtung und tendierte, teils schon im Kriege, teils seither, wieder nach oben.

Im Jahre 1958 veröffentlichte das Bevölkerungsamt der Vereinigten Nationen eine bis zum Jahre 2000 reichende Prognose der gesamten Erdbevölkerung und stellte damit das Bevölkerungsproblem in seiner neuesten Form zur Diskussion 1. Allerdings konnte das Amt bei seiner Prognose die vorhin skizzierte biometrische Methode nur teilweise anwenden, weil in den meisten außereuropäischen Ländern die für eine minutiöse Fortschreibung der Bevölkerung erforderlichen statistischen Unterlagen fehlen. Die Interdependenz von Bevölkerungsstruktur einerseits und von Geburt und Tod anderseits ermöglichte es dem Amt jedoch, eine Methode zu entwickeln, die im Aufbau einer Anzahl schematischer Modelle des Bevölkerungswachstums besteht. Die bisherige Entwicklung der Bevölkerung einzelner Länder kann dann auch auf Grund nur spärlich vorhandenen statistischen Materials mit einem bestimmten Modell gleichgesetzt und daraus der weitere Verlauf der Dinge abgeleitet werden. Freilich kommt man auch dabei nicht um gewisse Mutmaßungen hinsichtlich der künftigen Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsentwicklung herum — die Prognose wird sich nur dann bewahrheiten, wenn ihre Prämissen richtig gewählt sind.

Die auf diese Weise vom Bevölkerungsamt der Vereinigten Nationen durchgeführten Berechnungen ergaben für das Jahr 2000 (von einer unrealistischen Variante abgesehen) je nach den getroffenen Annahmen eine Erdbevölkerung von 6,3 bis 6,9 Milliarden, also rund eine Verdoppelung der heutigen Zahl. Auch neuere Schätzungen, welche die Bevölkerungsentwicklung während der letzten Jahre mitberücksichtigen, liegen in diesem Rahmen. Sie haben in steigendem Maße das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen und, wie schon angedeutet, die größten Befürchtungen hinsichtlich der Gefahren einer solchen Bevölkerungsflut geweckt.

Es liegt außerhalb des Rahmens dieser Betrachtungen, diese

Gefahren zu erörtern. Die Frage, die wir uns stellen wollen, ist, was wir von den heutigen Vorausschätzungen des Bevölkerungswachstums halten sollen. Wir sahen, daß die in der Vergangenheit unternommenen Versuche, die Bevölkerungsentwicklung über einen längeren Zeitraum hinaus vorauszusagen, immer wieder fehlgeschlagen sind. Dürfen wir daher den heutigen Prognosen trauen? Die Fehlschläge der Vergangenheit scheinen mir dann lehrreich, wenn wir nach ihren Gründen fragen. Ich glaube, es sind ihrer zwei:

Zum einen vorgefaßte Ansichten über die Vergangenheit, Wünsche und Befürchtungen hinsichtlich der Zukunft. Wo von einer raschen Bevölkerungszunahme oder umgekehrt von einer Bevölkerungsabnahme das Schlimmste befürchtet wird, besteht die Neigung, das Hypothetische jeder Voraussage zu vergessen und die künftige Entwicklung der Bevölkerung in der einen oder anderen Richtung als schlechthin bewiesen darzustellen, um desto nachdrücklicher davor warnen zu können. Wünsche und Befürchtungen können sieh zum Glauben an einen naturgesetzlichen Ablauf der menschlichen Geschichte verdichten. Auf demographischem Gebiet führt dieser Glaube zu solchen halb-metaphysischen Spekulationen, die immer wieder von der Wirklichkeit widerlegt werden, wie die Malthusschen Bevölkerungsgesetze, die logistische Kurve Pearls und Reeds und Pritchetts Funktion dritten Grades.

Der zweite wichtige Grund für die Mißerfolge der Bevölkerungsprognosen in der Vergangenheit ist die Überbewertung verhältnismäßig kurzfristiger Entwicklungstendenzen, die uns auch auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie mitunter entgegentritt. Sie lag vor allem den Bevölkerungsvorausberechnungen der dreißiger Jahre zugrunde. Man übersah dabei, daß der damalige starke Geburtenrückgang neben einer langfristigen auch eine kurzfristige, konjunkturelle Komponente enthielt und daß es unzulässig war, auf den Geburtenzahlen verhältnismäßig weniger Jahre eine langfristige Voraussage der künftigen Entwicklung aufzubauen. Konnte man es als einen wissenschaftlichen Fortschritt begrüßen, im Reproduktionskoeffizienten und in der

«wahren» Wachstumsrate der Bevölkerung Maße des Bevölkerungswachstums gefunden zu haben, die von der augenblicklichen Altersstruktur der Bevölkerung unabhängig waren, so wurde man sich der Problematik, die in der Annahme langfristig unveränderter Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsverhältnisse liegt, erst später bewußt.

Sind die Fehlschläge früherer Bevölkerungsprognosen ein Grund, solche gänzlich zu verwerfen? Sicherlich nicht. Science is prediction. Alles menschliche Handeln, das nicht planlos ins Blaue hinein geschieht, setzt voraus, daß wir irgendwelche Annahmen über die Zukunft treffen. Auch hinsichtlich der künftigen Bevölkerungsentwicklung sind solche Annahmen unentbehrlich. Ebenso liegt es mir fern, die Probleme, die das rasche Bevölkerungswachstum in den unterentwickelten Ländern schon heute aufwirft, zu unterschätzen.

Wonach wir aber trachten müssen, ist, uns von vorgefaßten Meinungen, von Wünschen und Befürchtungen wie auch von einer Überschätzung augenblicklicher Entwicklungstendenzen freizumachen, uns des hypothetischen Charakters aller Prognosen bewußt zu bleiben und sie nicht als unabänderliches Schicksal hinzunehmen.