GEFÄHRDUNG DES LEBENS
VOR DER GEBURT
JAHRESBERICHT 1967/68
ART. INSTITUT ORELL FÜSSLI AG, ZÜRICH
INHALTSVERZEICHNIS
I. Rektoratsrede 3
II. Ständige Ehrengäste der Universität 22
III. Jahresbericht 23
1. Erziehungsrat und Hochschulkommission . . . . 24
2. Rektorat 25
3. Senat 25
4. Senatsausschuß 25
5. Dozentenschaft 26
6. Organisation und Unterricht 37
7. Feierlichkeiten, Kongresse, Konferenzen . . . . 55
8. Ehrendoktoren und Ständige Ehrengäste . . . . 57
9. Studierende 58
10. Prüfungen 61
11. Preisinstitut 63
12. Witwen-, Waisen- und Pensionskasse der Professoren
der Universität 65
13. Kranken- und Unfallkasse der Universität. . . . 67
14. Stiftungen, Fonds und Stipendien 67
15. Zürcher Hochschul-Verein 73
16. Stiftung für wissenschaftliche Forschung an der
Universität Zürich 75
17. Jubiläumsspende für die Universität Zürich . . . 79
18. Julius Klaus-Stiftung 81
19. Vergabungen 83
IV. Nekrologe 89
FESTREDE
DES REKTORS PROFESSOR DR. GIAN TÖNDURY
gehalten an der 135. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 29. April 1968
Gefährdung des Lebens vor der Geburt
Die heutige Medizin kann sich über außerordentliche Fortschritte
in der Diagnostik, Therapie und Prophylaxe der Krankheiten
ausweisen, welche vor allem auch die Sterblichkeit der
Neugeborenen und Kleinkinder auf einen Bruchteil von früher
reduziert haben. Leider fehlen aber gleiche Fortschritte im frühzeitigen
Erkennen und in der Bekämpfung von pränatalen Schädigungen.
Angeborene Mißbildungen sind nicht seltener geworden,
im Gegenteil, langjährige Erhebungen lassen eher eine langsame
Zunahme besonders seit Ende des Zweiten Weltkrieges erkennen.
Dank der verbesserten Hygiene leben heute mißgebildete Kinder
länger. Noch vor wenigen Jahren sind sie interkurrenten
Krankheiten, meist Infektionskrankheiten, rasch zum Opfer gefallen;
heute überleben sie. Jeder erfolgreiche neue Schritt in der
Kinderheilkunde verlängert das Leben, führt aber auch zu neuen
großen ärztlichen und sozialen Problemen. Pränatale Erkrankungen
und ihre Folgen gehören heute zu den großen Problemen
der modernen Kinderheilkunde.
Die Chirurgie kann große Fortschritte in der erfolgreichen Beseitigung
von angeborenen Mißbildungen vorweisen. Dies gilt
aber nur für relativ wenige Formen, wie für plastische Operationen
bei Hasenscharten und Gaumenspalten, neuerdings auch für
bestimmte Formen angeborener Herzfehler. In andern Fällen
kann das Kind durch einen operativen Eingriff gerettet werden,
es behält aber zeit seines Lebens einen schweren Schaden. In
diesem Zusammenhang muß die große Zahl derjenigen Kinder
erwähnt werden, die mit mehr oder weniger schweren Hirnschäden
geboren werden; diese sind zu 90% auf pränatale Erkrankungen
zurückzuführen. Von rund 4,2 Millionen Kindern, die in
den USA jährlich geboren werden, erreichen 3% (126000) nie
die Intelligenz eines 12 jährigen, 0,3% (12600) verharren auf
der Stufe unter einem 7jährigen, und 0,1% (4200) verbringen ihr
Leben als hilflose Imbezille.
Diese Hinweise genügen, um zu zeigen, wie wichtig die Beschäftigung
mit Problemen der pränatalen Entwicklung und
ihren Störungsmöglichkeiten ist, Problemen, die heute immer
wieder an internationalen Kinderärzte- und insbesondere an geburtshilflich-gynäkologischen
Kongressen diskutiert werden. Wir
müssen uns im klaren sein, daß das Leben nicht erst mit der Geburt
beginnt. Konventionell wird zwar erst der postnatale Organismus
als Individuum anerkannt. Die menschliche Individualität beginnt
mit der Konzeption; die Geburt bildet keine Zäsur, sondern
lüftet nur den Vorhang vor einer von der Konzeption bis zum
Greisentod sich in Gestalt und Funktion ständig wandelnden,
aber doch untrennbar einheitlichen Existenz (Thalhammer, 1967).
Aber das, was sich im Verlaufe der ersten Wochen der Schwangerschaft
in der Geborgenheit des Mutterleibes abspielt, bleibt entscheidend
für das ganze Leben.
Zuverlässige Daten über pränatale Erkrankungen und Todesfälle
vor, kurz nach der Geburt und im Säuglingsalter stammen
aus den USA und England; nur dort werden sie seit genügend
langer Zeit gesammelt und statistisch ausgewertet.
In den USA starben 1948 von den Neugeborenen 22,2% in
den ersten vier Wochen; 3,6%0 von diesen Todesfällen waren auf
postnatale, der Rest auf pränatale Ursachen zurückzuführen. Die
postnatalen Todesursachen sind seit 1948 seltener geworden. An
erster Stelle der Todesursachen steht heute die Frühgeburtlichkeit,
an zweiter Stelle müssen die Mißbildungen genannt werden.
An Mißbildungen starben 1953 in den USA 20012 Kinder, an
den wichtigsten Infektionskrankheiten einschließlich der heute
fast ausgerotteten Kinderlähmung dagegen nur 2544.
Der prä- und der postnatale Tod sind die schwerste Folge pränataler
Erkrankungen. Zu den tödlichen Ausgängen kommen die
menschlich, sozial und auch ärztlich noch schwererwiegenden
Defektzustände hinzu. Sie führen oft nach verschieden langer
Zeit zum Tode. Absolut gültige Zahlen sind für diese Fälle nicht
erhältlich. Niemand weiß, wie viele Kinder mit Gaumenspalten,
Klumpfüßen, angeborenen Herzfehlern und anderen Gebrechen
geboren werden; es stehen dafür nur relative Zahlen zur Verfügung.
Wie steht es mit Geburtenzahl und Mißbildungsraten in der
Schweiz? Ich zitiere meinen Mitarbeiter Kistler, der eine Statistik
von Dudgeon (London) aus dem Jahre 1967 auf schweizerische
Verhältnisse umgerechnet hat. Bei etwa 100000 Lebendgeburten
pro Jahr beträgt die Zahl einfacher oder multipler Mißbildungen
etwa 2%, das heißt 2000 Kinder werden jährlich mit
mehr oder weniger starken Mißbildungen geboren.
Der frühere Münchner Pädiater von Pfaundler hat die natürliche
Absterbeordnung für die embryofetale, die pränatale Phase
und das Säuglingsalter in einer Kurve dargestellt, ausgehend von
einem Zeugungsverhältnis von 1000 Mädchen auf 1460 Knaben.
Die Mortalitätskurve der Mädchen verläuft während der ganzen
Schwangerschaft ungefähr horizontal, während diejenige der
Knaben wesentlich höher beginnt, zuerst steil abfällt und sich
vom 5. Monat an mit derjenigen der Mädchen deckt. Das Verhältnis
Mädchen zu Knaben beträgt zur Zeit der Geburt 1000
zu 1040 bis 1060.
Aus dem Überwiegen der Knabensterblichkeit wurde geschlossen,
daß der Großteil aller Absterbefälle erbbedingt, das heißt die
Folge von Letalfaktoren sei. Aber die experimentelle Embryologie
hat gezeigt, in welch ausgedehntem Maße Umweltfaktoren, wie
mechanische, thermische, chemische, osmotische Reize, die Entwicklung
junger Keimlinge beeinflussen und verschiedenartige
Störungen an ihnen hervorrufen können. Diese Versuche der experimentellen
Embryologie wurden an Amphibien- und Hühnerkeimlingen
vorgenommen. Neel ist dem Ursachenkreis von Störungen
der Embryonalentwicklung beim Menschen auf Grund
eines umfangreichen Materials nachgegangen und kommt zum
Schluß, daß 20% der beobachteten Mißbildungen erbbedingt
sind, 10% auf chromosomalen Aberrationen beruhen, während
weitere 10% auf die Wirkung von Viren zurückzuführen sind.
Bei 60% kann die Ursache nicht ermittelt werden, wahrscheinlich
handelt es sich um die Folge der Zusammenwirkung von Erb- und
Umweltfaktoren.
Es ist tatsächlich sehr schwierig, etwas Sicheres über ätiologische
Faktoren auszusagen, die bei der Entstehung menschlicher
Mißbildungen eine Rolle spielen. Dies liegt vor allem daran, daß
Mißbildungen beim Menschen im allgemeinen erst in ihrer fertigen
Form zur Untersuchung kommen. Vom Endresultat aus kann
aber nicht auf die Ursache geschlossen werden. Auch die meist
retrospektiv aufgenommene Anamnese versagt in den allermeisten
Fällen. Aus diesem Grunde wird heute die prospektive Methode
vorgezogen, in der Hoffnung, neue Anhaltspunkte zu gewinnen.
Dieses Verfahren hat gegenüber dem retrospektiven Vorgehen
den Vorteil größerer Objektivität und gestattet eine bessere Erfassung
der Gefährdung des Keimlings auch in den einzelnen
Schwangerschaftsmonaten.
Was verstehen wir aber unter einer Mißbildung? — Schwalbe,
der Begründer des Handbuches der Mißbildungen, definiert eine
Mißbildung als eine während der embryonalen Entwicklung zustande
gekommene, also angeborene, und von bloßem Auge sichtbare
Veränderung der Morphologie eines oder mehrerer Organe
oder des ganzen Körpers. Es handelt sich um einen Dauerzustand,
der die weitere Lebens- und Entwicklungsfähigkeit in verschiedenem
Grade beeinflußt. Eine isolierte Gliedmaßenmißbildung
zum Beispiel wird die Vitalität kaum beeinträchtigen, während
Mißbildungen des Herzens und des Zentralnervensystems häufig
mit schweren funktionellen Störungen verbunden sind. Ein großer,
nicht erfaßter Prozentsatz mißgebildeter Keimlinge stirbt
schon intrauterin ab und wird vorzeitig ausgestoßen; andere
Keimlinge werden ausgetragen, sind aber nicht lebensfähig. Diese
Definition der Mißbildung ist viel zu eng gefaßt und in vielen
Fällen nicht zutreffend. Bei vielen als Mißbildungen bezeichneten
Störungen handelt es sich nicht um mißglückte Bildungen, sondern
um sekundäre Zerstörungen normal angelegter Organe. Ich
denke dabei besonders an die Folgen einer Virusinfektion des
menschlichen Keimlings in der Frühschwangerschaft und die damit
verbundenen Schädigungen. Wir sprechen in diesem Falle
von einer Virusembryopathie und verstehen darunter den Folgezustand
einer Viruserkrankung des Keimlings im Verlaufe der
Embryogenese. Auch jene Fälle sind dazuzurechnen, die, ohne
gröbere Störungen zu zeigen, bleibende Funktionsbehinderungen
aufweisen.
Der Prozentsatz grober, zur Zeit der Geburt sichtbarer oder
durch die anatomische Untersuchung nachweisbarer Mißbildungen
unter Totgeburten und Kindern, die in der Neugeborenenperiode
sterben, beträgt 1,5 bis 2%. Für alle nach der 28. Woche
geborenen Kinder — mit Einschluß einer Beobachtungsperiode
von einem Jahr —steigt die Zahl der Mißbildungen auf 4 bis 5%.
Nimmt man Mißbildungen hinzu, die erst im Verlaufe der Kindheit,
beim Jugendlichen oder beim Erwachsenen manifest werden,
so kommt man nach Lamy und Frézal auf 5 bis 6%. In dieser
Zahl sind aber die vielen, infolge von Mißbildungen intrauterin
abgestorbenen Keimlinge nicht eingeschlossen.
Der menschliche Organismus antwortet auf die gleiche Alteration
während verschiedener Lebensperioden auch in verschiedener
sogenannter phasenspezifischer Weise. Dies gilt vor allem
für die Zeit vor der Geburt. Der Keimling durchläuft einzelne
kurze Entwicklungsphasen, in welchen er besonders verletzlich
ist. Diese kritischen Phasen dauern im allgemeinen nur wenige
Tage, unter Umständen nur wenige Stunden.
Als schädigende Faktoren kommen, wie erwähnt, Erb- und
Umweltfaktoren in Frage. Daß Umweltfaktoren eine viel größere
Rolle spielen, als früher allgemein angenommen wurde, haben
die Forschung der letzten 25 Jahre, die Entdeckung der schädigenden
Wirkung des Rubeolenvirus und die Thalidomidkatastrophe
gezeigt. Die durch Thalidomid verursachten Mißbildungen
haben die Frage teratogener Einflüsse auf den menschlichen
Embryo in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt
und sollen deshalb als erstes Beispiel meinen Ausführungen zugrunde
gelegt werden.
Das Thalidomid wurde 1956 von einer deutschen Firma auf
den Markt gebracht. Es handelt sich um eine Substanz, die in
zahlreichen Kombinationspräparaten enthalten ist und bei allen
möglichen Indikationen als Beruhigungs- und Schlafmittel verschrieben
wurde und besonders beliebt als Mittel bei Schwangerschaftsbeschwerden
war. Da es nicht rezeptpflichtig war, ist es
auch ohne Medikation von seiten des Arztes in unkontrollierbaren,
riesigen Mengen verwendet worden.
Am 18. November 1961 wurden anläßlich des Kinderärztekongresses
in Düsseldorf 34 Neugeborene mit mißgestalteten
oder fehlenden Gliedmaßen vorgestellt, die alle aus der Kinderklinik
in Münster, Westfalen, stammten. Schon kurz vorher hatte
Wiedemann auf eine erschreckende, fast epidemische und deshalb
alarmierende Zunahme bisher extrem seltener Gliedmaßenmißbildungen
hingewiesen: Neben Kindern, denen die Gliedmaßen
überhaupt fehlten (Amelie), beobachtete er Kinder mit robbenartig
deformierten Gliedern (Phokomelie) , bei welchen die Hände
an der Schulter, die Füße am Becken ansetzten, und Kinder mit
leichteren Abnormitäten, zum Beispiel Fehlen der Daumen und
Defekten der Speichen oder Schienbeine. Die Extremitätenmißbildungen
waren vielfach kombiniert mit einem Feuermal des
Mittelgesichtes, Ohrmuschelanomalien, Herz- und Gefäßfehlern
und Verschlüssen in den Verdauungs- und Harnwegen. Etwa
30% der geschädigten Keimlinge starben bereits vor der Geburt
ab. Die am Leben gebliebenen Kinder haben einen charakteristischen,
wachen Gesichtsausdruck; sie sind intelligent, zum Teil
sogar überdurchschnittlich intelligent.
In den Jahren 1959 bis 1962 wurde dieses Syndrom, die sogenannte
Thalidomidembryopathie, in Deutschland rund 7000-mal
gesehen. Heute leben noch etwa 3000 solcher verkrüppelter
Kinder.
Wie ist man auf Thalidomid als mögliche Ursache des beschriebenen
Syndroms gekommen? Da Experimente in naturwissenschaftlichem
Sinne am Menschen nicht durchführbar sind,
um diese Hypothese zu beweisen, blieb zur Klärung nur die retrograde
Anamnese durch persönliche Befragung der Mütter der
geschädigten Kinder übrig, die Umfrage mittels Fragebogen bzw.
die Nachprüfung von Rezeptverschreibungen. Das war kein objektives
Experiment, sondern eine zwischenmenschliche Begegnung
zwischen Frager und Befragtem. Es handelte sich also um
subjektive Äußerungen, aus denen manche Autoren Statistiken
aufgestellt haben, die dann leicht den Charakter einer gewissen
Objektivität erhielten.
Als Ergebnis der Befragungen konnten unzureichende Ernährung,
Krankheiten in der Frühschwangerschaft oder Strahlenbelastungen
als mögliche teratogene Faktoren ausgeschaltet werden.
Befragt nach Verwendung von Medikamenten, Schlaf- oder
Beruhigungsmitteln tauchte immer wieder das thalidomidhaltige
Contergan auf. Auch der Zeitpunkt der Einnahme und die
Dosierung ließen sich in vielen Fällen ermitteln, und es stellte
sich heraus, daß ungeachtet der Dosierung die Mißbildungen auftraten,
wenn die Mutter das Medikament während des zweiten
Monates der Schwangerschaft eingenommen hatte. Es wird heute
angenommen, daß eine Tablette Contergan, die 100 mg Thalidomid
enthält, zur Erzeugung einer Mißbildung genügt, wenn diese
im Verlaufe der kritischen Phase eingenommen wird. Aber nicht
jede Frau, welche die in der empfindlichen Phase als Mindestdosis
erkannte Thalidomidmenge eingenommen hat, muß zwangsläufig
ein phokomeles Kind bekommen. Viele Kinder kamen trotzdem
gesund zur Welt. Anderseits kamen Kinder mit Gliedmaßenmißbildungen
zur Welt, deren Mütter sicher kein Thalidomid eingenommen
hatten.
Dieser Bericht zeigt, daß die im Schutze des mütterlichen Körpers
heranwachsende Frucht durch eine für die Mutter harmlose
chemische Substanz schwer geschädigt werden kann, wenn dieselbe
in einer bestimmten Phase eingenommen wird. Nach den
Erhebungen von Lenz und Knapp ist das Thalidomid nur während
einer kurzen Periode wirksam. Mißbildungen kamen nur vor,
wenn es zwischen dem 37. und 50. Tag nach dem ersten Tag der
letzten Menstruation eingenommen worden war. Dies entspricht
einem Konzeptionsalter von 23 bis 36 Tagen.
Das Thalidomidproblem steht heute noch im Mittelpunkt der
teratologischen Forschung in aller Welt, obwohl die Droge Ende
November 1961 aus dem Handel zurückgezogen wurde und die
von Ende 1958 bis Mitte 1962 währende «Epidemie» von Thalidomidembryopathien
vorüber ist.
Im Hinblick auf die Thalidomidkatastrophe stellt sich ganz
allgemein die Frage, in welchem Umfang das Tierexperiment
herangezogen werden kann für die Testung von Arzneimitteln
auf potentielle Teratogenität. Können im Tierexperiment gewonnene
Erkenntnisse auf den Menschen übertragen werden?
Die Beantwortung dieser Frage ist von großer theoretischer und
praktischer Tragweite.
Für die Experimente werden Ratten, Mäuse, Kaninchen und
in neuester Zeit auch Affen verwendet. Bei der Durchführung
müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden, die das
Ergebnis beeinflussen können. Zu diesen gehören neben der Dosierung,
der Applikationsweise und der Dauer der Behandlung
die Empfindlichkeit der verwendeten Tierart und das Entwicklungsstadium
des Embryo zur Zeit der Behandlung.
Die Empfindlichkeit der verwendeten Tierart ist abhängig von
Erbfaktoren; diese haben einen entscheidenden Einfluß auf die
normalen Entwicklungsprozesse und so auch auf das Zustandekommen
einer Mißbildung. Der sogenannte Genotypus ist der unvermeidliche
Hintergrund, gegen welchen teratogene Faktoren
wirken. Die Reaktion auf eine spezifische Substanz variiert nicht
nur zwischen verschiedenen Tierarten, sondern auch innerhalb
derselben Art von Stamm zu Stamm und sogar zwischen Individuen
desselben Stammes. Cortison zum Beispiel ist eine teratogene
Substanz für die Maus; auf den Rattenembryo hat es
keine teratogene Wirkung, und auch beim Menschen fehlen Anhaltspunkte
dafür. Dasselbe gilt für das Thalidomid. Es bewirkt
Mißbildungen bei der Maus und beim Kaninchen, nicht aber bei
der Ratte. Von Frauen, die Thalidomid in der kritischen Phase
einnahmen, hatten weniger als 25%mißgebildete Kinder (Mc-Bride),
die übrigen Keimlinge entkamen der Wirkung. Geringe
genetische Unterschiede genügen, um die Empfindlichkeit des Embryo
gegenüber teratogenen Substanzen zu modifizieren.
Außer genetischen vermögen andere Faktoren einen Einfluß
auf die Reaktion des Embryo auszuüben. Zu diesen gehören vor
allem das Alter der Mutter, das uterine Milieu, Fasten, Vitaminmangel,
Störungen des hormonalen Gleichgewichtes und andere
Faktoren mehr. Eine große Rolle spielt die Plazenta, das Austauschorgan
zwischen Mutter und Kind, und die mit ihrem differenten
Bau verbundene variable Durchlässigkeit für Substanzen.
Aus diesem Grunde können Ergebnisse von Experimenten an
Amphibien- und Hühnerembryonen, welche der teratogenen Substanz
direkt ausgesetzt werden, nur mit großen Vorbehalten zum
Vergleich herangezogen werden.
Das Entwicklungsstadium des Embryo zur Zeit der Einwirkung
teratogener Substanzen ist, wie die Ergebnisse der experimentellen
Embryologie gezeigt haben, von grundlegender Bedeutung.
Für die Mannigfaltigkeit frühembryonaler Schädigungen
sind nur wenige Reaktionen der formbildenden Blasteme verantwortlich,
und jeder Schädigungsmodus hat seine kritische Phase,
in der er sowohl durch erb- als auch durch umweltbedingte Faktoren
ausgelöst werden kann. Das Schädigungsmuster hängt
nicht von einem Lokaleffekt ab, sondern vom Differenzierungsgrad
des Keimlings im Moment der einsetzenden Störung. Das
Entwicklungsstadium bestimmt, welche Zellen empfindlich sind.
Der menschliche und der Säugerembryo entwickeln sich im
Innern eines anderen lebenden Organismus. Sie sind, um leben
zu können, auf die mütterlichen Gewebe angewiesen; indem sie
den Schutz der Gebärmutter genießen, müssen sie auch das Risiko
einer Erkrankung oder Ernährungsstörung der Mutter, biochemische,
immunologische und hormonale Störungen, die unter
Umständen ihr Leben bedrohen, hinnehmen.
Lassen Sie mich in kurzen Zügen die ersten Stadien der
menschlichen Entwicklung schildern.
Das Ei wird im Eileiter befruchtet, wo sich auch die ersten
Furchungsteilungen abspielen. Es ist eingetaucht in ein flüssiges
Medium und wird in noch kaum bekannter Weise in die Gebärmutter
transportiert. Im Verlaufe dieser Phase (Blastogenese), die
etwa 4 bis 5 Tage dauert, wird aus dem Ei ein kleines Bläschen
von etwa 2 mm Durchmesser, die sogenannte Blastozyste. Sie
schwimmt in einer glykogenreichen physiologischen Salzlösung
von bestimmter Wasserstoffionenkonzentration und Sauerstoffspannung
und besteht aus zwei entwicklungsphysiologisch verschiedenwertigen
Zellarten: Die äußere Schicht, der Trophoblast,
ermöglicht auf fermentativem Wege die Einnistung des Eies in
die Gebärmutterschleimhaut und liefert den kindlichen Teil der
Plazenta. Ihr Oberflächenepithel bildet den äußeren Grenzwall
zwischen Mutter und Kind und ist als semipermeable Membran
anzusehen, welche die chemische Individualität des Keimlings
garantiert. An der Innenfläche des Trophoblasten, im Bereiche
des embryonalen Pols, finden sich die formativen Zellen; sie bilden
den Embryonalknoten und liefern das Ausgangsmaterial für
die Entwicklung des Keimlings.
Die Einnistung des Eies in die Gebärmutterschleimhaut beginnt
zwischen dem 6. und 7. Tag und ist Ende der zweiten Woche
beendet. Mit der Erschließung der Nährquelle wird das Wachstum
beschleunigt. Die Zellen des Embryonalknotens legen sich
epithelartig aneinander und bilden die Keimscheibe, welche sich
flach auf dem darunterliegenden Dottersack ausbreitet. Damit
wird ein Entwicklungsprozeß eingeleitet, der zur Ausbildung der
drei Keimblätter und zur Aussonderung der Primitivorgane
führt. Im äußeren Keimblatt entsteht die Nervenplatte, die von
der Rückenseite unterlagert wird. Der Dottersack steht in enger
Beziehung zur Bildung des Darmes; in seiner Wand entstehen
früh die ersten Blutbildungsherde. Sehr rasch folgt die Entwicklung
der ersten Blutgefäße, die sich mit dem zur gleichen Zeit
entstehenden Herzen zu einem geschlossenen System, dem Dottersackkreislauf,
verbinden. Auch in der embryonalen Plazenta
bilden sich Blutgefäße; diese gewinnen ebenfalls Anschluß an
das Herz, das Ende der dritten Woche zu schlagen beginnt. Damit
wird der Stofftransport, der bis zu diesem Zeitpunkt auf
Diffusion beruhte und entsprechend langsam war, beschleunigt.
Durch Ausbildung von Zotten, die in das mütterliche Blut eintauchen,
wird die Oberfläche der embryonalen Plazenta vergrößert
und ihre Funktion als Austauschorgan verbessert.
Mit der Ausbildung der drei Keimblätter beginnt eine neue
Phase der Entwicklung, in deren Verlauf die verschiedenen Organe
erscheinen und sich die Keimscheibe zum dreidimensionalen
Embryo umwandelt. Wir bezeichnen diese Phase als die Phase
der Embryo- oder Organogenese. Beim Menschen beginnt sie am
15. Tag nach der Befruchtung des Eies und findet ihren Abschluß
am 42. Tag. Die Organogenese ist eine hochempfindliche Phase;
in ihrem Verlaufe entstehen die meisten Mißbildungen. Die Nervenplatte
erscheint am 19. Tag und beginnt sich 2 Tage später
zum Rohr zu schließen. Die Gliedmaßen sind als bogenförmige
Leisten bei Embryonen von 3 bis 4 mm eben sichtbar; dies entspricht
einem Konzeptionsalter von etwa 26 Tagen. Bei 5,5 mm
langen Embryonen (27 bis 28 Tage) lassen sich an den Knospen
bereits ein proximaler und ein distaler Teil unterscheiden. Bei
Keimlingen von 6,5 mm (29 Tage) werden die Anlagen der Hände
sichtbar, während die Fußanlagen etwas später erscheinen. Bei
Embryonen von 11,5 mm (34 bis 36 Tage) können die Fingerstrahlen
als verdickte Stränge innerhalb der Handplatte erkannt
werden. In dieser rund 10 Tage umfassenden Phase entstehen
Gliedmaßenmißbildungen. Eine Amelie, das heißt das Fehlen
einer oder mehrerer Gliedmaßen, ist nur zu erwarten, wenn der
schädigende Faktor vor dem 26. Tage wirksam war; nach dem
26. Tag sind tiefgreifende Mißbildungen im Sinne von Phokomelien
möglich, bei noch späterer Wirkung (29. bis 30. Tag) treten
nurmehr leichtere distale Schäden auf. Nach dem 36. Tag sind
keine Mißbildungen mehr zu erwarten.
Wie kann die überaus große Empfindlichkeit des Embryo
während der Organogenese erklärt werden?
Der Aufbau differenzierter Strukturen im Verlaufe der Organogenese
ist mit reger Zellteilungstätigkeit und damit mit Energieverbrauch
verbunden. Dies äußert sich unter anderem in Stoffwechselsteigerungen
mit erhöhtem Sauerstoffverbrauch. Orte
hoher metabolischer Aktivität sind besonders gefährdet; hier
kann das Gleichgewicht durch zahlreiche Faktoren leicht gestört
werden. Sie verlagern sich während der Organogenese. Die Stoffwechselgradienten
wandern von kranial nach kaudal und von
dorsal nach ventral. Damit variiert auch die Gefährdung der einzelnen
Körperteile und Organe. Wir sprechen von den «sensiblen
Phasen der Entwicklung».
Hicks hat die Wirkung von Röntgenstrahlen auf das sich entwickelnde
Nervenrohr der Ratte untersucht. Die Empfindlichkeit
ist vom 9. Tag (der 21 Tage dauernden Gravidität) an nachweisbar.
An diesem Tage vorgenommene Bestrahlungen bewirken
schwerste Schädigungen der Vorderhirnanlage, am 10. Tage sind
auch die Anlagen der übrigen Hirnabschnitte und des Rückenmarkes
verletzlich. Bestrahlungen am 11. Tag bewirken Störungen
innerer Strukturen der beiden Großhirnhemisphären, und
vom 13. Tag an entstehen nur noch Kleinhirndefekte. Es besteht
also ein klarer Zusammenhang zwischen dem Schädigungsmuster
und dem Grad der Differenzierung des Nervenrohres im Moment
der Bestrahlung.
Die gegenüber Röntgenstrahlen und verschiedenen chemischen
Substanzen hochempfindlichen Zellen im embryonalen Nervenrohr
bezeichnen wir als Neuroblasten. Als intensiv wachsende
Zellen bilden sie in großen Mengen Proteine und Nukleinsäuren.
Elektronenmikroskopische Untersuchungen von in Differenzierung
begriffenen embryonalen Zellen geben weitere Einblicke in
das Zellgeschehen: In dieser Phase wird das endoplasmatische
Retikulum, ein aus Lipoproteinen zusammengesetztes Membransystem,
konstituiert. Es tritt in der fortschreitenden Differenzierung
in massiven Mengen und ganz charakteristischen Formen
in Erscheinung und wird mit der Eiweißsynthese in Beziehung
gebracht. Die verschiedenen Formen des endoplasmatischen Reticulum
entsprechen den verschiedenen prospektiven Zelltypen.
Embryonale Zellen sind in der Aufbauphase des endoplasmatischen
Reticulum besonders sensibel. Erst wenn diese Membransysteme
vollständig aufgebaut sind, erlangt die Zelle ihre volle
Stabilität und relative Unempfindlichkeit. Dies äußert sich bei
den Neuroblasten in der Abnahme der Radiosensibilität: ein primitiver
Neuroblast, der die Differenzierung eben eingeleitet hat,
wird bereits durch 25 R getötet, eine ausgereifte Nervenzelle erträgt
viele Tausende R.
Was haben die Tierversuche zur Aufklärung der Thalidomidwirkung
beigetragen? Diese Versuche sind verwirrend und widersprechend.
Die Hauptschwierigkeit liegt in den großen art- und
rassenspezifischen Unterschieden der verwendeten Tierarten.
Erst mit 100- bis 300fachen Dosen war es zum Beispiel möglich,
bei einem bestimmten Mäusestamm Mißbildungen zu erzielen;
diese hatten aber keine Ähnlichkeit mit den beim Menschen beobachteten.
In letzter Zeit gelang J. Wilson in den USA am
Affen, Macaca mulata, das beim Menschen beobachtete Syndrom
zu reproduzieren. Eine am 25. bis 30. Tag nach der Konzeption
per os verabreichte einmalige Dosis von 100 mg genügte, um die
Gliedmaßenmißbildungen zu erzeugen.
Über den Wirkungsmechanismus tappen wir nach wie vor im
dunkeln, da bisher auch tierexperimentell kein einziger Fall in
statu nascendi untersucht werden konnte.
Das Tierexperiment wurde bis zur Thalidomidkatastrophe
nicht als pharmakologisches Experiment zum Testen von Medikamenten
verwendet, sondern als biologisches Experiment. Als
solches hat es viele grundlegende Einblicke in die kausalen Zusammenhänge
der Entwicklung vermittelt und ist aus diesem
Grunde aus der Grundlagenforschung nicht mehr wegzudenken.
Was haben die pharmakologischen Experimente gelehrt? In
verschiedenen Fällen gestatteten sie durch Erfassen der initialen
Störung den Angriffsort des schädigenden Faktors und den Entstehungsmodus
einer Mißbildung zu klären. Bezüglich der Ansprechbarkeit
auf bestimmte Substanzen bestehen aber große
Art- und Stammesunterschiede. Ein positives Ergebnis soll nicht
dramatisiert werden; es muß als Hinweis zur Vorsicht genommen
werden; ein negativer Ausfall der Versuche darf nicht verallgemeinert
werden. Es besteht keine Garantie weder in der einen noch in
der andern Richtung. Beim Thalidomid wurden zuerst Schädigungen
beim Menschen beobachtet, dann erst Tierversuche eingeleitet;
diese sind aber bis auf die neuesten Versuche am Affen
verwirrend und problematisch ausgefallen.
Kein Medikament kann als sicher nicht mißbildungserzeugend
angesehen werden, solange wir die Ätiologie der Mißbildungen
nicht besser kennen. Nach Statistiken ist sie in 60% der Fälle
nicht bekannt. Aus diesem Grunde sollte während der Frühschwangerschaft,
das heißt mindestens bis Ende der 6. Woche,
die ärztliche Verordnung, wie überhaupt die Verabreichung und
Einnahme von Medikamenten bzw. Wirkstoffen, auf ein absolutes
Minimum reduziert werden. Dies kommt fast einem therapeutischen
Nihilismus gleich.
Jede Medikation bei einer möglicherweise graviden Frau ist ein
Experiment in menschlicher Teratologie. Die Würde der menschlichen
Persönlichkeit verbietet uns aber solche Experimente. Die Ehrfurcht
vor dem Leben und den Rechten unserer Mitmenschen gilt
auch für den im Schoße seiner Mutter heranwachsenden Keimling.
Die vollständige Elimination von angeborenen Mißbildungen
wird wahrscheinlich nie erreicht werden. Spielen sich die abnormen
Vorgänge, wie nach einer Thalidomideinnahme, in der kritischen
Phase, im Verlaufe einer anscheinend ganz normalen
Schwangerschaft ab, dann ist eine Kontrolle praktisch unmöglich.
Hängt aber eine Mißbildung mit einer Erkrankung der Mutter
zusammen, dann sind die Voraussetzungen für die Erfassung
ihrer Entstehungsweise und damit ihre Kontrolle und Elimination
besser. Von größter praktischer Bedeutung sind nach wie
vor Virusinfektionen der Mutter in der Frühschwangerschaft, die
diaplazentar auf den Embryo übergreifen und zu Schädigungen
primär normal angelegter Organe führen können. Am besten bekannt
ist die deletäre Wirkung des Rubeolenvirus, die mir als
zweites Beispiel dienen soll.
Rubeolen (Röteln) wurden erstmals 1815 als selbständige
Krankheit beschrieben, die mit einem scharlachähnlichen, oft
sehr flüchtigen Hautausschlag einhergeht. In den folgenden 125
Jahren wurde erkannt, daß es sich um eine übertragbare Krankheit
handelt, die besonders Kinder und Jugendliche befällt und
schwer zu diagnostizieren ist, da sie oft einen ganz inapparenten
Verlauf nimmt. Sie hinterläßt eine sehr solide Immunität.
Röteln treten in größeren oder kleineren Epidemien auf und
sind eine typische Frühjahrskrankheit. Liegen die Epidemien
weit auseinander, dann wird die Morbidität unter der jüngeren
erwachsenen Bevölkerung größer. Dies galt 1939 in besonderem
Maße für Australien. Dieser Epidemie verdanken wir die Entdeckung
der teratogenen Wirkung des Erregers auf den jungen
menschlichen Embryo.
Der australische Augenarzt McAlister Gregg machte 1941 als
erster auf die Zusammenhänge zwischen Schädigungen des Kindes
und einer kontagiösen Krankheit der Mutter in der Frühschwangerschaft
aufmerksam. Die Beobachtungen von Gregg
wurden seither in der ganzen Welt bestätigt. Rubeolengeschädigte
Kinder sind bei der Geburt häufig auffallend klein und untergewichtig
und schwer zu ernähren. Neben Linsentrübungen
eines oder beider Augen zeigen sie Herzmißbildungen, Taubheit
und psychomotorische Störungen. Von verschiedenen Seiten
wurde auf das Vorkommen von Zahnabnormitäten hingewiesen,
die natürlich erst gegen Ende des 1. und im Verlaufe des 2. Lebensjahres
manifest werden. Nur selten zeigen die Kinder alle
diese Zeichen, welche als das Greggsche Syndrom zusammengefaßt
wurden. Im Verlaufe einer ausgedehnten Rubeolenepidemie
in den USA, die von November 1963 bis Juni 1964 dauerte
und in deren Verlauf ungefähr eine Million Menschen, darunter
auch viele schwangere Frauen, erkrankten, wurden 20000 bis
30000 Feten durch Fehlgeburten verloren oder mit Abnormitäten
geboren. Außer den bereits erwähnten Symptomen wurden
bei den Neugeborenen Herzmuskelerkrankungen, Zeichen einer
Lungenentzündung, Leber- und Milzschwellungen, kleine Hautblutungen
(Purpura) und Verkalkungsstörungen der langen Röhrenknochen
beobachtet.
Diese ausgedehnte Epidemie gab die erwünschte Gelegenheit,
das ganze Problem «Rubeolen» nochmals aufzurollen und auf
breiter Basis zu erforschen.
Bis vor kurzem fehlte der strikte Nachweis des Rubeolenerregers.
Die erfolgreiche experimentelle übertragung von Röteln
auf Kinder und Affen war zwar schon 1914 gelungen, das Virus
wurde aber erst 1962 von zwei amerikanischen Arbeitsgruppen
aus dem Blute und aus dem Auswurf von an Rubeolen erkrankten
Rekruten isoliert. 1963 hat Golda Selzer in Südafrika als erste das
Virus auch aus Zellen eines Embryo isoliert, der 10 Tage nach
Ausbruch der Röteln bei der Mutter abortiert wurde. Damit war
der Beweis erbracht, daß das Virus und nicht Toxine Ursache
der bei Keimlingen und Kindern gefundenen Schädigungen sind.
Verschiedenen amerikanischen Forschergruppen, wie Sever et al.,
Heggie und Weir, gelang die Isolierung des Virus aus Feten bis
11 Wochen nach Ausbruch der Röteln bei den Müttern; Monif
et al. berichten über den postmortalen Nachweis des Virus in den
verschiedensten Organen und in den Plazenten geschädigter Kinder.
Daraus muß man folgern, daß eine in der Frühschwangerschaft
erfolgte Infektion des Embryo durch das Rubeolenvirus chronisch
wird. Die Virusfunde in vielen Organen sind Zeichen einer allgemeinen
Aussaat des Virus im Keimling.
Wie kommt die Infektion des Keimlings zustande? Für die Klärung
des Infektionsweges muß folgendes beachtet werden. Das
Rubeolenvirus konnte bei erkrankten Jugendlichen aus dem
Nasenrachenschleim und aus dem Blute isoliert werden. Wir
sprechen von einer Virämie; diese ist bei Röteln 6 bis 7 Tage vor
Erscheinen des Hautausschlages nachweisbar und verschwindet
kurz nach Ausbruch desselben wieder. In dieser Zeit kommt es
zur Aussaat des Virus auf dem Blutwege; es gelangt auch in die
mütterlichen Bluträume der Plazenta, und es kommt zu einer
ausgedehnten, verstreuten Infektion des Zottenepithels; die dafür
empfindlichen Zellen werden zerstört.
Wie kommt es zur Verschleppung der Viren in den Embryo? In
geschädigten Zotten sind auch die Blutgefäße zum Teil schwer
verändert; die zarten, die Gefäßlichtung auskleidenden Zellen,
das sogenannte Endothel, sind gegenüber dem Virus überaus
empfindlich. Sie schwellen an, ihre Zellkerns schrumpfen, und
schließlich werden sie in das Lumen abgestoßen und mit dem
Blute in den embryonalen Kreislauf verschleppt.
Wie beantwortet der Embryo die Virusinvasion? Die ersten intraembryonalen
Krankheitsherde haben wir in der Herzwand und
in embryonalen Arterien gefunden. Die Aussaat von abgestorbenem,
das Virus enthaltendem Material oder von freien Virusteilchen
im Blute kann zum Befall der verschiedensten Organe führen.
Je jünger der Keimling im Moment der Infektion war, um so
ausgedehnter sind die Schädigungen. Mit fortschreitender Entwicklung
scheint die Empfindlichkeit nachzulassen. Dies erklärt,
daß bei Erkrankung der Mutter nach Ablauf des 1. Trimesters
der Schwangerschaft kaum mehr mit Schädigungen des Keimlings
zu rechnen ist.
Auffallend ist die Gleichartigkeit der beobachteten Schädigungen.
Bei allen Keimlingen haben wir mehr oder weniger ausgedehnte
Blutungen und Zellnekrosen gesehen. Die Blutungen
sind sicher die direkten Folgen der Gefäßwandschädigungen, die
Nekrosen die Folge der Virusinvasion in die Zellen. Außer in der
Herz- und Arterienwand spielen sich weitere nekrobiotische Prozesse
in andern hochempfindlichen Organen wie Linsen, Innenohrepithelien
und in den Schmelzorganen der Zähne ab; aber
auch die Kanälchen der Nieren waren stellenweise vollgestopft
mit abgestoßenen geschrumpften Zellen.
Es handelt sich dabei um Zerstörungsprozesse in primär ganz
normal angelegten Organen, die sich über Wochen und Monate
hinziehen und beweisen, daß die Viren über lange Zeit wirksam
bleiben. Das kommt besonders eindrücklich in den Linsen zum
Ausdruck: Die Zerstörung der Linsenfasern beginnt frühembryonal
und kommt erst mehrere Monate nach der Geburt zum Stillstand.
Nach der Geburt kann sie mit Hilfe des Augenspiegels
leicht verfolgt werden. Gregg beschrieb die klinische Form des
Linsenkatarakts bei Kindern mit Zeichen einer Embryopathia
rubeolica als eine dichte, weiße, oft perlartige zentrale Trübung
der Linse, die dem zerfallenen Kern entspricht und von einer
schwächer getrübten wie rauchigen Zone umgeben ist (Schicht
der degenerierenden Fasern); die peripher folgende Schicht ist
klar und läßt einen roten Reflex durchscheinen.
Die Schädigungen sind Ausdruck der zytopathischen Wirkung
des Virus. Viren verfügen über kein energielieferndes System und
sind damit für ihre Vermehrung auf den synthetischen Apparat
der Wirtszelle angewiesen. Sie stören den normalen Stoffwechsel
der Zelle irreversibel und sind damit pathogen. Viren werden
passiv in die Wirtszellen aufgenommen, wo sie ihre charakteristische
Struktur verlieren. Bis zur Bildung neuer Viren ist das
infizierende Virus mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln
in der Zelle nicht nachweisbar. Die Virusvermehrung beginnt
mit der Synthese spezifischer Enzyme zur Replikation der Virusnukleinsäure;
sie erfolgt im Zytoplasma. Die neugebildeten Viren
werden häufig unter Zerfall der infizierten Zelle freigesetzt, sammeln
sich in Zellzwischenräumen an und infizieren neue Zellen.
Eine Infektion des menschlichen Embryo mit dem Rubeolenvirus
in den ersten Wochen der Schwangerschaft resultiert in
einer allgemeinen Aussaat des Pathogens im embryonalen Körper.
Die Abnormitäten sind dabei das Resultat einer direkten,
destruktiven Wirkung des Virus auf die embryonalen Gewebe
und Organe. Ihr Ausmaß ist abhängig von der Empfindlichkeit
der befallenen Zellen und wird bestimmt durch die Virulenz des
Virus, die Infektionsdosis und Reaktionsweise des Keimlings;
auch das Entwicklungsstadium, in dem sich dieser gerade befindet,
spielt eine große Rolle. Der Embryo verfügt in der Phase
seiner höchsten Sensibilität gegenüber dem Rubeolenvirus über
keine Abwehrsysteme; das Virus wird von den Zellen phagozytiert
und tötet sie.
Ungleich so vielen anderen embryonalen Mißbildungen ist die
durch Röteln verursachte Embryopathie vermeidbar. Hoffen
wir, daß jeder Arzt innerhalb weniger Jahre in der Lage sein wird,
sie zu verhindern. Röteln hinterlassen eine lebenslange sichere
Immunität. Frauen, welche die Krankheit in der Kindheit oder
als Jugendliche durchgemacht haben, sind davor gefeit.
Andere menschenpathogene Viren, wie das Infiuenza-A-, das
Herpes-, das Echovirus und andere, rufen bei Versuchstieren, besonders
Hühnerembryonen, Mißbildungen hervor. Beim Menschen
führen sie zu Fehlgeburten oder Infektionen ohne Mißbildungen.
Eine Sonderstellung nimmt das Vakzinevirus ein, das
zur Impfung gegen Pocken verwendet wird. Es bewirkt keine
Mißbildungen, kann aber bei Impfung während der Schwangerschaft
den Keimling so schwer schädigen, daß er vorzeitig ausgestoßen
wird: Er zeigt eine generalisierte Infektion mit pockenartigen
Herden in der Haut und Nekrosen in inneren Organen.
Auch die Plazenta erkrankt. Sie bildet die Eintrittspforte des
Virus, welches diffus verstreute, von Auge gut sichtbare Krankheitsherde
verursacht. Von der Plazenta aus wird der Embryo
infiziert. Plazenta und Embryo sind in jeder Phase der Entwicklung
empfindlich, nur das Intervall zwischen der Impfung
der Mutter und dem Ausstoßen des Keimlings ist variabel;
es ist um so länger, je früher in der Schwangerschaft geimpft
wurde.
Für die Praxis ergibt sich hinsichtlich einer Impfung während
der Gravidität folgende Konsequenz: Um eine Schwangerschaft
nicht unnötig zu belasten und den Keimling nicht zu gefährden, muß
auf eine Pockenschutzimpfung in graviditate verzichtet werden. Sie
ist nur bei Pockenkontakt oder bei unaufschieblichen Reisen in
eudemische Pockenländer erlaubt. In allen andern Fällen muß
sie unterbleiben. Da die Plazenta keinen absoluten Schutz gegen
das Eindringen krankmachender Erreger bietet, gefährdet jede
Virämie den Keimling. Deshalb sollte der Verzicht auf eine Schutzimpfung
in graviditate auf jede Impfung mit lebenden Erregern ausgedehnt
werden. Bei Verzicht auf eine nicht genügend indizierte
Schutzimpfung der Mutter wird die intrauterine Entwicklung
der Frucht einer Störungsmöglichkeit weniger ausgesetzt.
Ich hoffe, Ihnen gezeigt zu haben, daß es unerläßlich ist, sich
intensiv mit Fragen des pränatalen Lebens zu beschäftigen, um
die Besonderheiten dieser frühesten Lebensphase verstehen zu
lernen. Erst die Kenntnis des Ablaufes der normalen Entwicklungsvorgänge
und der sie beherrschenden Gesetze schafft die
Voraussetzung für das Verständnis abnormer Prozesse, welche
das Leben des werdenden Organismus bedrohen oder als Ursachen
für Mißbildungen in Frage kommen. Dabei ist eine enge
Zusammenarbeit zwischen Embryologen, Genetikern, Biochemikern,
Pathologen, Gynäkologen und Pädiatern unerläßlich. In
einer Zeit zunehmender Spezialisierung kann der einzelne nicht
mehr die ganze Forschung überblicken; nur in einer vertrauensvollen
Zusammenarbeit können Schwierigkeiten überwunden und
schließlich Erfolge erwartet werden, die dem kranken Menschen
zugute kommen.